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Grenzen des Wachstums? Gegenstimmen zu den Untergangsprognosen | APuZ 5/1977 | bpb.de

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APuZ 5/1977 Strukturpolitik soll Arbeitsplätze sichern Konzept für eine Wirtschaftspolitik zur Bewältigung des strukturellen Wandels Das Meer: Müllkippe, Selbstbedienungsladen oder „Erbe der Menschheit"? Anmerkungen zur 3. Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen Grenzen des Wachstums? Gegenstimmen zu den Untergangsprognosen

Grenzen des Wachstums? Gegenstimmen zu den Untergangsprognosen

Theodor Sonnemann

/ 28 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Umweltdiskussion wird beherrscht von Thesen, die mittels Hochrechnungen beweisen wollen, daß die Menschheit dem Untergang entgegentreibe, wenn sie den bisherigen Weg technischen Fortschritts und wirtschaftlichen Wachstums weitergehe. Sie vergifte den Boden, das Wasser, die Luft, sie treibe unverantwortlichen Raubbau an nicht ersetzbaren Rohstoffen und Energien, und die rapide Zunahme der Weltbevölkerung, die schon jetzt nicht ausreichend ernährt werden könne, bedrohe viele Millionen mit dem Hungertode. Gegen diese Behauptungen, die geeignet sind, Panik zu verbreiten und den Erfindungsreichtum der modernen Industriegesellschaften zu lähmen, stehen in zunehmendem Maße Wissenschaftler und Politiker auf. Sie wenden sich gegen den Weltuntergangspessimismus und sie. bestreiten die Möglichkeit, die Zukunft der Menschheit mit dem Computer ermitteln zu wollen. Wie soll eine vermeintlich immer weiter wachsende Weltbevölkerung ernährt werden, wenn Fanatiker und Schwärmer den Gebrauch chemischer Dünge-und Schädlingsbekämpfungsmittel unterbinden wollen? Droht wirklich die vielberedete Bevölkerungsexplosion? Ist es nicht vielmehr so, daß die Nahrungsgütererzeugung weltweit schneller steigt als die Bevölkerungszahl? Läßt sich das Ende der Rohstoffreserven exakt vorausberechnen? Oder eröffnen neue Entdeckungen und Erfindungen neue Lösungen? In diesem Beitrag wird der erste Ansatz einer umfassenden Gegenposition zu der Unheilsprophetie, wie sie in den „Grenzen des Wachstums" beschrieben worden ist, zur Diskussion gestellt.

Der folgende Beitrag ist vom Autor als Ansatz zum Aufbau einer umfassenderen Gegenposition in der derzeit wieder heftig geführten Debatte zur Wachstumsproblematik gedacht. Die Redaktion greift diese Anregung auf und stellt hiermit die Thesen des Verfassers zur Diskussion.

Forresters Weltmodell und die beiden Berichte an den Club von Rom haben ihre These von den „Grenzen des Wachstums" in den Mittel[punkt einer die ganze Welt erfassenden Diskussion gerückt. Eine nicht mehr übersehbare I und ständig zunehmende Zahl von Wissen; schaftlern und Publizisten ist in ihre Fußstapfen getreten, hat ihre Theorien aufgegriffen und variiert. John Maddox faßte sie samt und sonders unter dem Begriff der Weltuntergangs-(propheten zusammen.

I Unter denen, die der Weltuntergangsprophetie > einen optimistischen Zukunftsglauben entgegenstellen, stehf er in der vordersten Linie

Der Legionenzahl von Naturwissenschaftlern, Philosophen und Politikern, die verkünden, daß die Selbstvernichtung der Menschheit nahe bevorstehe, tritt er mit scharfen Waffen, mit Ironie, aber auch gründlicher Sachkunde gegenüber. Den „Unheilspropheten der letzten Tage", wie er seine Widersacher nennt, und i ihrer „Kassandraliteratur" hält er entgegen, daß sie nicht nur in ihrer Argumentation bis zur Unsachlichkeit übertreiben, sondern auch, daß sie die Abwehrkräfte lähmen und entmutigen, statt sie gegen wirkliche oder vermeintliche Gefahren zu mobilisieren.

Er billigt ihnen zu, daß sie vielschichtige und interessante Fragen aufgeworfen haben, auch, daß sie sich um Auswege bemühen, „aber leider in einer Haltung, die an Zweckpessimismus Auszugsweiser Vorabdruck eines Kapitels aus dem in Kürze bei Hoffmann und Campe, Hamburg, erscheinenden Buches des Verfassers: „Die Menschheit hat noch eine Chance — Alternativen für die Welt von morgen". Mit freundlicher Genehmigung des Verlages. grenzt. Zu oft wird die Wirklichkeit stark vergröbert oder völlig außer acht gelassen. Ein großer Teil dieser düsteren Vorahnungen über unsere Zukunft dürfte deshalb genau das Gegenteil von dem erreichen, was seine Urheber beabsichtigt hatten. Anstatt die Menschheit aufzuklären, zerstört man damit ihre Fähigkeit, ihren Weiterbestand selbst zu sichern. Dieses Weltuntergangssyndrom steht allen anderen Problemen, die sich die Gesellschaft selbst bereitet hat, an Gefährlichkeit kaum nach."

Dabei ist er weit davon entfernt zu meinen, unsere Welt sei heil und in guter Ordnung.

Aber Maddox hält den Weltuntergangspropheten vor daß es um ihre Anliegen besser bestellt wäre, wenn sie sich mehr auf Tatsachen als auf Meinungen stützten, wenn ihre Argumente „einen besseren Sinn für geschichtliche Perspektiven, ein Gespür für Wirtschaftsfragen und weniger Gefühlsduselei" aufwiesen.

Wer immer genötig ist, einer schwungvollen Agitation mit nüchternen Sachargumenten und publikumswirksamen Behauptungen, mit der Darlegung des Beweisbaren und Bewiesenen, dazu noch mit dem Hinweis auf die Grenzen des Realisierbaren entgegenwirken zu müssen, befindet sich von vornherein in einer ungünstigen Defensivposition. Vor einer solchen undankbaren und unpopulären Aufgabe stehen diejenigen, die sich sowohl der beiden Seiten gemeinsamen Sache als auch sachgerechten Lösungen verpflichtet fühlen, die z. B. die Angst-vorstellungen, die Rachel Carsons Alarmruf in den Herzen und den Köpfen unzähliger Menschen hervorgerufen hat, und die dieser Lebensangst entspringenden Therapien auf ein gesundes, auch wissenschaftlich vertretbares Maß zurückführen wollen.

In dieser Rolle befanden und befinden sich diejenigen Wissenschaftler und Praktiker, die darangingen, sich mit dem von Rachel Carson und ihrem geistigen Gefolge geforderten radikalen Verbot aller chemischen Schädlingsbekämpfungsmittel kritisch auseinanderzusetzen.

Vor allem Jamie L. Whitten, Vorsitzender des Haushaltsausschusses für Landwirtschaft im amerikanischen Repräsentantenhaus ist Rachel Carson entgegengetreten. Sein 1966 erschienenes Buch „Damit wir leben können" ist, wie Denis Meadows'„Grenzen des Wachstums", ein Bericht, der sich allerdings nicht an ein Gremium von Privatleuten wendet, wie es der Club von Rom ist, sondern zusammengestellt ist nach einem offiziellen Kongreßbericht; er führt „Tatsachen über die Auswirkungen von Pestiziden auf die Volksgesundheit, über ihre Anwendung, Gefahren, ihren Beitrag für das Allgemeinwohl" auf, wobei unter Pestiziden alle Verfahren des chemischen Pflanzenschutzes und der chemischen Schädlingsbekämpfung verstanden werden. Sein Buch — oder sein Bericht — ist der erste Versuch, Rachel Carsons Behauptungen anhand von dokumentarischem Material auf ihren Tatsachengehalt zu untersuchen. „Damit wir leben können" ist nach den einleitenden Worten F. Beerens'„durchaus keine Darstellung eines Extremisten, der sich schützend vor die Giftverbreitung stellt, sondern das Ergebnis einer ernsten, wissenschaftlich einwandfreien Prüfung der Materie, ein Buch, das die großen Aufgaben des modernen Pflanzenschutzes und der Schädlingsbekämpfung im Dienste der Volksgesundheit realistisch in das rechte Licht rückt, aber auch die aus den Fortschritten auf diesen Gebieten entstandenen Probleme in zutreffender Weise beleuchtet."

Jamie L. Whitten unternimmt es, in der aufgeregten Atmosphäre, die durch die Publikation des „Stummen Frühling" ausgelöst wurde und sich zu einer regelrechten Alarmstimmung steigerte, Rachel Carsons Darstellung Punkt für Punkt zu widerlegen. Er weiß, daß er gegen halbe Wahrheiten und vorgefaßte Theorien, gegen eine aufgebrachte öffentliche Meinung, die gefühlsmäßig ihre Position bereits bezogen hat, ankämpfen muß. Er weiß auch, daß er die Meinung einer Minderheit verfechten muß. Als berufenem Agrarpolitiker sind ihm die Erfahrungen nicht erspart geblieben, die jeder machen muß, der es als seine Aufgabe betrachtet, inmitten einer modernen, d. h. großstadt-orientiertenIndustriegesellschaft die ökonomischen und sozialen Interessen der Landwirtschaft zu vertreten, die Lebensrechte einer zahlenmäßig schrumpfenden und mithin für den Parteipolitiker uninteressanter werdenden Bevölkerungsgruppe zu verteidigen. „Die Produzenten von Nahrung und Fasern'— nämlich die Landwirte — „spielen keine prominente Rolle mehr bei den Planungen unserer gewählten Funktionäre", schreibt er, und er wisse wohl, daß die städtisch orientierte Presse wenig bereit sei, sich mit Problemen der Landwirtschaft zu beschäftigen. Dennoch sei eine gesunde Landwirtschaft nach wie vor ein wichtiges und unentbehrliches Glied der modernen Volkswirtschaft, von dem mehr abhängt, als nur eine gesicherte Volksernährung. Daher dürfe man der Landwirtschaft, die mit immer weniger Menschen eine immer höhere Produktionsleistung erbringe, nicht Steine in den Weg legen durch Verbote unentbehrlicher Produktionsmittel, die auf unbewiesenen Behauptungen fußen.

„Wenn unsere städtische Bevölkerung kein Verständnis für die landwirtschaftlichen Probleme aufbringt" — also auch nicht für die Notwendigkeit chemischer Hilfsstoffe —, „werden künftige Generationen hungern; unsere Nation wird einen Niedergang erleben wie in der Vergangenheit die Stadtstaaten. Letzten Endes wird der Konsument der Verlierer sein, dem die Landwirtschaft dient."

Als Whitten daranging, „die Rolle der Pestizide" zu verteidigen — und das sind nach deutschem Sprachgebrauch alle anorganischen Pflanzenschutz-und Schädlingsbekämpfungsmittel —, fiel es ihm nicht ein zu leugnen, daß sie giftig sind und daß sie bei falscher Anwendung die Gesundheit von Menschen und Tieren schädigen können. Aber an vielen Beispielen und immer abgesichert durch gutachtliche Feststellungen namhafter Wissenschaftler legt er dar, daß die bestehenden und laufend verfeinerten Vorschriften über Anwendung und Dosierung völlig ausreichen, um die Gefahren für die menschliche Gesundheit auszuschließen — was allerdings eine laufende und wirksame behördliche Überwachung voraussetzt. Wenn wirklich bei gebrauchsfertigen Nahrungsmitteln Restmengen — Rückstände — festgestellt worden sind, dann ist das ein Ergebnis der immer mehr verfeinerten Testverfahren. Verbesserte Untersuchungstechniken bedeuten jedoch keine vergrößerten Gefahren.

„Die Entwicklung dieser vollkommenen Nachweismethoden sollte uns aber nicht irreführen oder uns veranlassen, den Gebrauch von Chemikalien einzuschränken, wo keine Beweise für schädliche Auswirkungen bei richtigem Gebrauch vorliegen"; hinzuzufügen wäre, daß der Gebrauch von wirklich schädlichen Stoffen, für die Nulltoleranzen gelten, überhaupt verboten ist.

Whitten zitiert eine Äußerung des Direktors der Abteilung Ernährung der Fakultät für Volksgesundheit der Harwarduniversität, Frederic F. Strac. Einer besorgten Hausfrau, die sich mit Lukrezia Borgia vergleicht, weil sie ihrer Familie mit jeder Mahlzeit Gift auf den Tisch setze, und ihn fragt, ob sie auf dem Wege sei, ihre Familie umzubringen, antwortet der Professor: „Trotz Fehlens von Beweisen haben viele Menschen jetzt den Eindruck, daß Pestizide unsere Nahrungsmittel verunreinigen und schädlich sind, ja wahrscheinlich tödlich wirken. Diese Kluft zwischen Tatsachen und Fantasie muß geschlossen werden, wenn wir nicht wünschen, daß große Schäden daraus entstehen, daß wir Krankheiten und Hungersnot in der Welt Vorschub leisten." Und er fährt fort: „Sind Pestizide giftig? Selbstverständlich, deshalb sind sie ja wirksam. Sie sind giftig für Insekten, Würmer, Ratten, Unkräuter und andere Schädlingseinflüsse, gegen die wir sie anwenden. Im Hinblick auf die strenge gesetzliche Reglementierung und die Toleranzbestimmungen jedoch ist die Gefahr von Pestizidenrückständen in der Nahrung für Menschen nahezu nicht existent. Sie sind gefährlich, wenn wir sie sorglos handhaben oder wenn wir sie liegen lassen, wo Kleinkinder mit diesen Dingen spielen können. Sie können volles Vertrauen zu unseren Nahrungsmitteln haben. Sie sind nicht vergiftet, wie einige Nahrungsmittelfanatiker glauben machen wollen. Sie sind nahrhaft, und die Qualität ist viel besser, als dies eine Generation zuvor der Fall war. Eßt und genießt sie."

Voll Zorn und Ironie spricht Stare von der „verbreiteten Hysterie über landwirtschaftliche Chemikalien, die unter den Türschwellen der amerikanischen Heime durchsickert". Das ist auch Whittens Meinung. „Der Mensch soll keine Wunder erwarten, soll nicht besorgt sein über unbedeutende Mengen von Spurenelementen, die zu identifizieren ihn seine Erfindungskraft befähigt. Er soll sich eher dafür interessieren, was von Bedeutung ist. Es zählt nicht die Kleinheit der Dimension, die gemessen werden kann, sondern der Effekt."

Den im wesentlichen eingebildeten Schäden an der Volksgesundheit, den die heute zuge-lassenen Pestiziden unter extremen Bedingungen allenfalls verursachen könnten, steht ihr kaum meßbarer Nutzen gegenüber. Ohne diese Schädlingsbekämpfungsmittel wäre eine moderne Land-und Forstwirtschaft ebensowenig wie eine gesicherte und hygienische Vorrats-haltung wie auch eine Bekämpfung der Seuchen möglich, die noch bis vor wenigen Jahrzehnten Menschen und Tiere dezimiert und beispielsweise die Pontinischen Sümpfe vor den Toren Roms bis in die ersten Dezennien unserers Jahrhunderts unbewohnbar gemacht haben.

Daß die Lebenserwartung der Menschen in den hochentwickelten Industrienationen gegenüber 1900 um 20 Jahre höher liegt und jährlich um ein weiteres halbes Jahr steigt, ist, wie Whitten darlegt, mindestens zum großen Teil auf den Einsatz der chemischen Schädlingsbekämpfungsmittel zurückzuführen, die es ermöglicht haben, daß wesentlich mehr Nahrungsmittel von erheblich höherer Qualität erzeugt werden, außerdem auf die erfolgreiche Bekämpfung von Krankheiten, die durch Insekten übertragen werden. „Nun, da die Anwendung der unentbehrlichen Pestizide heftig kritisiert wird, ist es an der Zeit, die städtische, auf ihre Gesundheit sehr bedachte Bevölkerung daran zu erinnern, daß wir uns nicht erlauben können, die Hände jener 8 % unserer Bevölkerung zu binden, die uns mit Nahrungsmitteln versorgen, nur weil wir Testmethoden so vervollkommnet haben, daß wir Spuren von Pflanzenschutzstoffen bis in den Bereich von einem Teil Pflanzenschutzstoff zu einer Milliarde Teil Nahrungsmittel nachweisen können."

Diese Auffassungen Whittens werden bestätigt durch die Erfahrungen, die aus der Bundesrepublik Deutschland vorliegen. In unserem Lande sind gesetzliche Bestimmungen erlassen worden, die auch strengen Anforderungen von Seiten des Natur-und Umweltschutzes durchaus gerecht werden. Für die Rückstände von Pflanzenschutzmitteln sind Höchstmengen festgesetzt worden, die weit strenger gefaßt worden sind als entsprechende Regelungen in anderen Ländern. Und was wesentlich wichtiger ist als der Erlaß solcher Bestimmungen: sie werden beachtet.

Sorgfältige und breit angelegte Kontrollen haben selbst in den ersten Jahren nach Inkrafttreten der Rückständeverordnung nur ganz verschwindende Überschreitungen festgestellt — und diese in gesundheitlich unbedenklichen Dosierungen. Inzwischen sind solche unerheblichen Reste verschwunden, und jede Gesundheitsschädigung des deutschen Konsumenten wäre ausgeschlossen, wenn in allen Ländern, die pflanzliche Nahrungsgüter —insbesondere Gartenbauerzeugnisse — exportieren, Bestimmungen von der gleichen Observanz bestünden und beachtet würden.

Gute Gesundheit bei vollen Speisekammern, das ist das Ziel neuzeitlicher Ernährungswirtschäft. Es gilt keineswegs nur für die USA, auf deren Boden der Meinungsstreit um die chemischen Bekämpfungsmittel zuerst ausgetragen worden ist und deren Bürger ohnehin zu den bestversorgten und besternährten der Welt gehören. In verstärktem Maße muß es die Landwirtschafts-und Ernährungspolitik der unterentwickelten Länder bestimmen. Die meisten von ihnen sind Agrarländer. Deren wirtschaftliche, gesellschaftliche und letzten Endes politische Stabilität hängt, auf eine kurze Formel gebracht, entscheidend davon ab, daß die Bauern dieser Länder in die Lage versetzt werden, nicht nur sich selbst zu versorgen. Darüber hinaus sollen sie nun aber auch die schnell wachsende nicht-landwirtschaftliche Bevölkerung ernähren, die in den aus dem Boden schießenden Großstädten zusammenströmt, aber nicht imstande ist, die Devisen zu erwirtschaften, die sie nötig hätte, um importierte Ernährungsgüter zu bezahlen. Ob es nun zu der viel beredeten Bevölkerungsexplosion kommt oder nicht und wenn ja, in welchen Zeiträumen und Ausmaßen: in jedem Falle muß die Landwirtschaft dieser Länder so weit entwickelt werden, daß sie mehr für den Markt, mindestens für ihren eigenen, produziert.

Wie aber soll das geschehen, wenn wir ihnen keine chemischen Düngemittel liefern können, weil diese von einigen in der Durchsetzung ihrer Auffassungen erfolgreichen Gesundheitsaposteln als gesundheitswidrig und als Störung des natürlichen Gleichgewichtes angeprangert werden? Und wie sollen sie ihre Ernten, ihre Herden, ihre Vorräte schützen, wenn wir ihnen keine Mittel an die Hand geben dürfen, mit denen sie sich der Heuschrecken, der Tsetsefliege, der Ratten erwehren könnten?

Whitten erinnert daran, daß in den Jahren 1845 bis 1849 Irland von einer Hungersnot heimgesucht wurde, daß mehr als eine Million Menschen in diesem europäischen Land buchstäblich verhungerten und daß mehr als 11/3 Millionen das Land, das sie nicht mehr ernähren konnte, fluchtartig verließen, unter ihnen die Vorfahren der Kennedys. Die Ursache dieser plötzlich hereinbrechenden Katastrophe war das Auftreten der bis dahin unbekannten, durch ein Schadinsekt hervorgerufene Kartoffelfäule, die dieses Hauptnahrungsmittel der Iren vernichtete und das Land entvölkerte.

Dieser Schädling hat sich auch auf dem Kontinent ausgebreitet. Aber er konnte mit chemischen Mitteln praktisch vertilgt werden.

In unserem eigenen Lande gab es Ende der zwanziger Jahre genügend tüchtige und weitblickende Bauern, die meinten, mit dem Kartoffelanbau in Deutschland sei es vorbei, weil man mit dem Kartoffelkäfer, dem Coloradokäfer, nicht fertig werde. Bei seinem ersten Auftreten versuchte man, dieses gefährlichen Schädlings Herr zu werden, indem ganze Schulklassen in die Kartoffelfelder geschickt wurden, um Staude für Staude abzusuchen — ein kostspieliges, heute nicht mehr denkbares und letztlich ziemlich wirkungsloses Unterfangen. Aber als die chemische Industrie nach vielen Experimenten das geeignete Gegenmittel entdeckt hatte, waren mit einem Schlage die durch den Kartoffelkäfer heraufbeschworenen Gefahren für einen so wichtigen Teil der Volksernährung beseitigt.

Was Whitten veranlaßt, gegen Rachel Carson und für eine vernünftige, den bestehenden Erkenntnissen und Vorschriften entsprechende Anwendung chemischer Schädlingsbekämpfungsmittel zu Feld zu ziehen, ist allein die Furcht vor Folgen der Panik, die der „Stumme Frühling" ausgelöst hat. Er will verhindern, daß die Nahrungsmittelproduktion, von deren fortlaufender Steigerung die Ernährung der Weltbevölkerung abhängt, auf Grund von unbewiesenen Behauptungen und überspitzten, I dem Laien leicht eingängigen Thesen rückwärts läuft.

Whitten weiß, daß er damit einen schweren j Gang antritt, und er zögert, weil er Rachel ; Carson wegen ihrer Leistungen sowohl als Bio-; login wie als Schriftstellerin Respekt entgegenbringt. Aber „obwohl man sich ungern mit einer Frau von so eindrucksvollen Fähigkeiten, die über eine so glänzende Feder verfügt, in eine Auseinandersetzung einläßt", scheint es ihm doch angebracht, die Kräfte zu betrachten, die sie zu ihrem Alarmruf veranlaßt haben. Es ist zunächst ihre tiefe Liebe zur Natur, die sie zu Schilderungen von dichterischer Größe befähigt hat, aber auch eine romantische die den idyllischen Stätten ihrer Jugend nachtrauert. In einem Traumdorf, das Rousseausche Züge trägt, in unberührter ländlicher Umgebung, möchte sie die „gute, alte Zeit" wiedererstehen lassen, wo „das Leben in Harmonie mit der Umwelt zu stehen scheint“.

Whitten ging nicht allein in die Arena. Der Ausschuß des Landwirtschaftsministeriums, dessen Vorsitzender er war, beschloß die Einsetzung einer Kommission, die die insbesondere von Rachel Carson aufgestellten Behaup-B tungen nachprüfen sollte. Zu ihren Untersuchungen zog sie eine große Zahl von Experten aller angesprochenen Fachrichtungen hinzu. Das Ergebnis faßt sie wie folgt zusammen: dem Team wurde von Wissenschaftlern und Ärzten erklärt, daß das Buch — der . Stumme Frühling'— oberflächlich wissenschaftlich ist, indem es eine Anzahl unbewiesener wissenschaftlicher Fakten anführt. Es ist jedoch un-wissenschaftlich, indem es einerseits unkorrekte Schlüsse aus unzusammenhängenden Tatbeständen zieht und sich andererseits in seinen Folgerungen auf Möglichkeiten stützt, die bis jetzt zu unerprobt sind, um als aktuelle Tatsachen betrachtet werden zu können."

In diesem Untersuchungsresultat findet Whitten seine ablehnende Skepsis bestätigt. Das amerikanische Volk und darüber hinaus alle, die „Silent Spring" so begierig gelesen haben, sollten sich vor Augen halten, daß es keine abgewogene Darstellung über das Problem der chemischen Bekämpfungsmittel beinhaltet. „Man muß wissen, daß Rachel Carsons Schlußfolgerungen von der überwiegenden Mehrheit der zur Beurteilung autorisierten Wissenschaftler und Ärzte nicht bestätigt wurden. Man muß erkennen, daß es sich um eine Polemik und nicht um eine Voraussage handelt."

Damit könnten wir auch den „Stummen Frühling", was seinen sachlichen Inhalt angeht, getrost beiseite legen, allerdings nur, wenn überall und nicht nur in den hochentwickelten Ländern, die Grundvoraussetzung erfüllt ist, von der auch Whitten und die von ihm zitierten Wissenschaftler ausgehen, nämlich, daß alle vorgeschriebenen Vorsichtsmaßnahmen korrekt beachtet werden.

Daß die Verkündung, die Menschheit treibe dem Untergang durch Selbstvernichtung entgegen, scharfe Reaktionen auslösen würde, war zu erwarten. Solange nicht die Untergangsstimmung Allgemeingut geworden war, mußten sich Gegenstimmen zu Worte melden. Der düstere Pessimismus, den die Anhänger der Katastrophentheorien so wortreich verbreiten, hat zukunftsfrohe und zukunftssichere Gegenargumente geradezu provoziert. Er hat eine heftige wissenschaftliche Kontroverse hervorgerufen. Diese richtet sich zunächst gegen das Schema des Weltmodells, das Jay Forrester dargestellt und das andere übernommen haben, gegen die Methodik der Analyse und, wie könnte es anders sein, gegen die Ergebnisse der Prognosen, dazu gegen eine allzu oberflächliche, unrealistische-und häufig auch undurchsichtige Beweisführung.

Gegenstand dieser Kritik sind nächst Rachel Carson einmal Meadows’ „Grenzen des Wachstums", sodann Mesarovic-Pestels „Menschheit am Wendepunkt", vor allem wohl, weil sie das größte Aufsehen erregt haben.

Kritische Einwände werden zunächst gegen den Versuch erhoben, die Zukunft mit Computern und Hochrechnungen enträtseln zu wollen. Sie treffen einen wunden Punkt. Denn die Schöpfer des Weltmodells räumen selbst ein, daß es sowohl unvollständig wie besserungsbedürftig sei.

In einer selbstkritischen Betrachtung ihrer Arbeit setzen sie sich auseinander mit dem Vorwurf, daß ihr Verfahren zu technokratisch sei, daß sie die Welt und ihre Zukunft allzu statisch betrachten, daß sie nicht genügend berücksichtigen, daß der menschliche Geist nicht still steht, daß neue Entwicklungen und Erfindungen heute sich auftuende Schwierigkeiten überwinden werden, so wie es seit eh und je in der Geschichte der Menschheit immer wieder geschehen ist, wenn scheinbar unüberwindliche Hindernisse sich vor ihr auftürmten. Sie müssen sich wehren gegen die Auffassung, daß sie den Menschen, wie ein russischer Wissenschaftler es bezeichnet hat, allzu sehr als eine „biokybernetische Maschine" sehen. Sie müssen sich entgegenhalten lassen, daß sie nur die eine Seite der denkbaren Entwicklungen sehen, nämlich die, die auf eine Weltkatastrophe zutreiben, während sie die Möglichkeit, Gegenkräfte zu mobilisieren — die auch überall in Erscheinung getreten sind —, außer acht lassen. Und das, obgleich die Menschheit doch tagtäglich beweist, daß sie beginnt, die tatsächlichen Gefahren zu begreifen, daß ihr technisches Ingenium nicht aufgehört hat zu wirken, vielmehr im Angesicht der Bedrohung unaufhörlich Entdeckungen und Erfindungen hervorbringt, die einige Jahre früher noch als Phantasiegebilde angesehen worden wären.

Ist es überhaupt mit einem Anspruch auf wissenschaftliche Gültigkeit möglich und angängig, auf Grund von heutigen Zustandsgrößen und von Veränderungsraten, die mit Hochrechnungen ermittelt werden, ein einigermaßen verläßliches Bild darüber zu gewinnen, wie gewisse Fakten sich zu bestimmten, in weiter Zukunft liegenden Zeitpunkten darstellen werden? Heinrich Niehaus bezweifelt das Die Weiterführung bekannter Entwicklungslinien über die nächsten zehn Jahre hinaus ist nach seiner Ansicht Spekulation. „Auf einem sol-chen Terrain bewegen sich Wissenschaftler nur ungern, weil sie aus Erfahrung wissen, wie unsicher Ausblicke in die Zukunft sind, wenn der Zeitraum mehr als zehn Jahre umfaßt." Deshalb kann er die „Grenzen des Wachstums" und die vielen Diskussionen, die sie ausgelöst haben, nicht recht ernst nehmen. Für ihn sind sie etwas, „was man als intellektuelles Höhen-gewitter bezeichnen könnte". Unter diesen Umständen, meint er, sei es schon ein Glück, wenn ab und zu einmal ein Blitz komme, der die Landschaft erhellt. Einen eigenen Beitrag zur Aufhellung der düsteren Umweltszenerie leistet Niehaus, indem er sich mit den Annahmen über die Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums auseinandersetzt.

Das Weltmodell, auf das sich die Autoren der beiden Berichte an den Klub von Rom stützen, geht davon aus, daß die sozialen Größen wie die Einkommensverteilung, die Einstellung zur Familiengröße — eine Umschreibung für die angenommene Zunahme der Weltbevölkerung —, der Bedarf an materiellen Gütern, Dienstleistungen und Nahrungsmitteln sich so weiterentwickeln werden, wie in den letzten Jahrzehnten, also in der Form exponentiellen Wachstums. Wenn das aber geschieht, dann wäre, so Meadows und seine Gefolgsleute, ein Zusammenbruch des Weltsystems nicht mehr zu vermeiden. Auch hier werden die Dinge in die Zwangsjacke eines mathematisch berechenbaren Ablaufs gepreßt.

Niehaus hält ein exponentielles Wachstum über einen längeren Zeitraum überhaupt für unmöglich. Er belegt seine Ansicht mit dem geläufigen Beispiel der Zinseszinsrechnung, die dem geduldigen Sparer nach hundert Jahren goldene Berge in Aussicht stellt — sofern sich in diesen hundert Jahren nichts ereignet, was die ganze schöne Rechnung über den Haufen wirft. Nach Niehaus bedarf es weder eines Computers noch anderer komplizierter Rechnungen, um festzustellen, daß viele Wachstumsraten, die uns in einer Epoche länger anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwungs als selbstverständlich erscheinen, nicht über hundert Jahre durchgehalten werden können.

Er verweist auf die Wertschöpfung je Kopf der Erwerbstätigen. Sie ist in der Zeit der Hochkonjunktur in der Bundesrepublik jährlich um rund 4 v. H. gestiegen. Würde sich dieser Wachstumsvorgang mit der gleichen Steigerungsrate von Jahr zu Jahr fortsetzen, so würde sich bereits nach fünfzig Jahren ein Multiplikator von 719 ergeben. Die Wertschöpfung würde sich demnach auf mehr als 116 400 DM belaufen; 1970 betrug sie rund 16 000 DM. Nach hundert Jahren würde sie auf mehr als 832 000 DM angestiegen sein. „Diese Zahlen führen, soweit sie über die nächsten fünfzig Jahre hinausgehen, ins Märchenreich. Das wird noch besonders deutlich, wenn wir sie mit den Daten aus dem letzten Jahrhundert vergleichen. In den hundert Jahren von 1870 bis 1970 nahm die Wertschöpfung pro Erwerbstätigen in der Bundesrepublik, in Kaufkraft von 1913, etwa auf das Siebenfache zu. Das entspricht einer Wachstumsrate von durchschnittlich 2 v. H.. Bei einem Wachstum von 4 v. H., wie wir es in den letzten Jahren erlebt haben, würde sich die Versiebenfachung schon in den nächsten fünfzig Jahren ergeben und schon einen unwahrscheinlichen Wert erreichen. Aber ein Anwachsen auf das 50fache in hundert Jahren bis 2070 ist in realen ökonomischen Größen nicht mehr vorstellbar. .. Damit haben wir unser Problem unter Einfluß aller kritischen Bemerkungen auf die Frage eingeengt, welche Kräfte in den nächsten fünfzig Jahren die Wachstums-struktur in den entwickelten Industrieländern drosseln werden."

Wachstumshemmungen werden eintreten allein schon durch Produktionskostensteigerungen. Sie entstehen einmal durch die von Seiten des Umweltschutzes zu erwartenden, zum Teil bereits erfolgten Auflagen, die der Reinhaltung der Luft und des Wassers, der Lärm-bekämpfung usw. dienen sollen. Die Verursachungskosten würden weitgehend vom Endverbraucher getragen werden müssen. Sie reduzieren sein Einkommen, dämpfen die Nachfrage und verlangsamen das wirtschaftliche Wachstum, sofern sie nicht durch Rationalisierungsmaßnahmen oder durch Anhebung der Realeinkommen aufgefangen werden können. Bei manchen knapper werdenden Rohstoffen wird-der Rückgriff auf bisher unrentable Vorkommen erhöhte Herstellungskosten verursachen. Dazu kommt, daß bei manchen Industrieprodukten, aber auch im Wohnungs-und Straßenbau, der durch Kriegs-und Nachkriegszeit aufgestaute Nachholbedarf inzwischen gedeckt und ein natürlicher Sättigungsgrad erreicht worden ist. Auch von daher ergibt sich eine Abschwächung der Nachfrage und damit des wirtschaftlichen Wachstums.

In der gleichen Richtung wirken die durch das Erdölembargo ausgelösten, stark erhöhten Energiegewinnungskosten. Diese und andere Faktoren, Elemente einer wahrscheinlich weltweiten Konjunkturwende, sind sämtlich in den mathematischen Reihen des Weltmodells nicht berücksichtigt worden, eben weil sie sozusagen regelwidrig, unvorhersehbar, um nicht zu sa-gen schicksalshaft und daher mit dem Computer nicht erfaßbar sind. Sie lassen aber erkennen, daß der Ablauf der Dinge, schon wenige Jahre nach der so viel verheißenden Konstruktion des Weltmodells, ein wesentlich anderer ist, als die diesen zugrunde liegenden Annahmen.

Die immanenten Kräfte der Geschichte wirken über die Gegenwart hinaus. Sie entziehen sich dem technisch noch so vollkommenen Versuch, die Zukunft zu entschleiern. Selbst mit den Mitteln der Elektronik kann der Mensch nicht über hundert Jahre voraussehen. Auch im Atomzeitalter sind Kräfte am Werk, die mit dem Verstand nicht registriert und reguliert werden können. Sie sorgen von selbst dafür, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Wenn aber die Grenzen des Wachstums viel früher fühlbar werden und ganz woanders liegen, als die Konstrukteure des Weltmodells unterstellt haben, ist dann, so fragt Niehaus, „die kopernikanische Wendung in der Verhaltensweise der Bevölkerung nötig, die der Club von Rom für erforderlich hält, muß staatlicher Zwang ausgeübt werden oder sind in der Wirtschaft selbst Gegenkräfte vorhanden?" Mit anderen Worten: Lösen sich nicht manche Probleme von selbst? Aber ebenso gewiß ist es, daß manche andere nicht ohne die ordnende Hand des Gesetzgebers und ohne wachsende öffentliche Meinung zu lösen sind.

Hier haben wir einen ersten wesentlichen Anhaltspunkt für die sich rührende Kritik an Forresters Weltmodell. Die mathematischen Reihen, auf denen die Schlußfolgerungen der „Untergangspropheten" aufgebaut sind, mögen noch so überzeugend wirken: sie stimmen nicht, weil sie die lebendige Wirklichkeit nicht erfassen und nicht erfassen können. In der Praxis des Alltags verlaufen sie ganz anders, weil eben, nach Niehaus, immer etwas nicht Eingeplantes dazwischenkommt: bei der Zinseszinsrechnung Inflationen und Wirtschaftskrisen und bei der sogenannten Bevölkerungsexplosionen Seuchen und Kriege — und Naturkatastrophen, die auch in einer friedlichen Welt nicht auszuschließen sind —, aber auch der technische Fortschritt, der, soweit er den Massenwohlstand hebt, ganz von selbst zum Rückgang der Geburtenzahlen führt.

Die Wachstumskurven werden also auch ohne unser Zutun oder aus Gründen, die in das Weltmodell nicht eingegangen sind, einen anderen Verlauf nehmen als den, der uns der Katastrophe entgegentreiben soll. Sie werden sich abflachen, vielleicht sogar abfallen oder sich umkehren, bevor sie das kritische Stadium erreicht haben.

Die gleichen Einwände müssen auch gegenüber der Annahme geltend gemacht werden, daß die Weltbevölkerung ebenfalls in sprunghaften „exponentiellen“ Steigerungsraten zunehme und daß das vielzitierte Raumschiff Erde, sofern es nicht gelinge, die Kinderzahl weltweit auf zwei zu beschränken, spätestens in fünfzig Jahren unbewohnbar werde, weil die dann auf ihr lebenden Menschen nicht mehr ernährt werden könnten. Ein Unterschied gegenüber den Prognosen über das wirtschaftliche Wachstum liegt allenfalls darin, daß sie hinsichtlich der angeblich drohenden Bevölkerungsexplosion noch prononcierter sind, jedenfalls in der extremen Diktion von Paul und Anne Ehrlich.

Außerdem werden bei diesen Voraussagen die Zweifel an dem Aussagewert von Hochrechnungen noch dadurch verstärkt, daß bei der Beurteilung von Verhaltensweisen, die in der Intimsphäre liegen, wie Geburtenbeschränkung und Geburtenkontrolle, noch weit mehr unwägbare, emotionell-seelische, auch religiöse Faktoren eine entscheidende Rolle spielen. — Faktoren, die sich einer exakten datenmäßigen Erfassung noch mehr entziehen als diejenigen, die das Wachstum der Wirtschaft beeinflussen. Für Niehaus sind die Verkünder einer das Gefüge der Welt sprengenden Bevölkerungszunahme allein schon durch den Vergleich mit Malthus widerlegt, den sie selbst immer wieder als Kronzeugen für ihre Thesen in Anspruch nehmen. Robert Malthus, „ein englischer Geistlicher, der aus Hobby Nationalökonomie betrieb", sei dadurch berühmt geworden, daß er behauptete, die Bevölkerung wachse exponentiell und die Nahrungsmittelproduktion nur linear. Aber seine Annahme stimmte nicht. Die Bevölkerung ist, insgesamt gesehen, nicht schneller gewachsen als die Erzeugung von Lebensmitteln, eben weil auch hier „immer etwas dazwischengekommen ist"

Maddox wird auch im Hinblick auf das Bevölkerungsproblem wesentlich deutlicher. Er hält den '„Unheilsaposteln" unverantwortliche Übertreibungen vor. Die Schuld an der weit-verbreiteten, panikartigen Angst vor den Folgen eines unkontrollierten Bevölkerungswachstums schiebt er den zu stark vereinfachenden Voraussagen zu. Insbesondere setzt er sich mit Ehrlich, seinen Prognosen und den von ihm vorgeschlagenen Abhilfemaßnahmen auseinander. Diese haben in der Tat mit demokratischen Begriffen von der Freiheit des Individuums nichts mehr zu tun und könnten allenfalls in Diktaturen stalinistischer Prägung verwirklicht werden, obgleich sie bisher nicht ein-mal in kommunistisch-absolutistischen Herrschaftsbereichen aufgegriffen worden sind.

Maddox hakt ein bei Ehrlichs Behauptung — die sich auch in pessimistischen Hochrechnungen der Vereinten Nationen findet —, daß sich die Fruchtbarkeit der Frauen im gebährfähigen Alter bis zur Jahrhundertwende nicht ändern werde. Dem hält er entgegen, daß in Westeuropa die Fruchtbarkeitsquote laufend abgenommen habe und daß sich auch in den Entwicklungsländern deutliche Anzeichen einer rückläufigen Entwicklung bemerkbar machen würden. Außerdem wendet er sich heftig dagegen, daß man sich im Westen den Kopf über die Bevölkerungsprobleme „der Völker in den anderen Erdteilen" in einer Weise zerbreche, die. mit aufdringlichen und taktlosen Ratschlägen, diesen wie „herablassender Neokolonialismus“ vorkommen müsse. Wir sollten und könnten es diesen Völkern getrost überlassen, diese ihre Probleme, für die sie allein verantwortlich sind, selbst zu lösen.

Wie sieht es denn in den Entwicklungsländern Südostasiens, Schwarzafrikas und Südamerikas aus, in denen die Bevölkerung, nach mehr oder minder unbestimmten Schätzungen, die nicht vorhandene Volkszählungen ersetzen müssen, immer noch schnell wächst? Dank einer wesentlich verbesserten Gesundheitsfürsorge und einer erfolgreichen Bekämpfung der epidemischen Krankheiten ist in den meisten dieser Länder die Sterblichkeit gesunken, und zwar vergleichsweise schneller als vor hundert Jahren in den heutigen Industrieländern Dennoch sieht Maddox deutliche Anzeichen für eine Verlangsamung des Bevölkerungswachstums, die schließlich zur demographischen Stabilität führen werde. Die Ursache liegt in dem Wettlauf zwischen dem Rückgang der Sterblichkeit und dem schnelleren Rückgang der Geburtenhäufigkeit. Das gilt für die westlichen Länder. Diese Tendenz wird aber auch auf die Länder übergreifen, die heute noch als Entwicklungsländer gelten, selbst wenn eine fortschreitende Bekämpfung der Kindersterblichkeit für einige Zeit noch einen Bevölkerungszugang bewirken wird. Sollte sich dieser Trend bestätigen, so würde daraus, nach Maddox, zu schließen sein, daß die Voraussetzungen über die zu erwartenden Bevölkerungszahlen viel zu hoch angesetzt sind. diese Ansicht, mit der er den Strom Für gegen der herrschenden Meinung schwimmt, kann Maddox gewichtige Belege anführen. „In vielen Entwicklungsländern zeigt sich bereits heute deutlich die Abnahme der Fruchtbarkeit die zur Vollendung des demographischen Über-gangsnotwendig ist. Es besteht immer eine zeitliche Verzögerung zwischen sinkender Sterbeziffer und Fruchtbarkeit. Aber offenbar scheint der Prozeß um so schneller abzulaufen, je später er einsetzt."

Maddox weist darauf hin, daß die Fruchtbarkeit besonders deutlich in der Sowjetunion abnimmt. Hier ist die jährliche Geburtenziffer in den letzten 70 Jahren in jedem Jahrzehnt um etwa 4, 7 je 1 000 Geburten gesunken. In vielen Entwicklungsländern scheine die Geburtenziffer noch schneller zurückzugehen. Seit der Mitte der fünfziger Jahre habe sie beispielsweise in Taiwan, Hongkong, Singapur, auf vielen karibischen Inseln und auch in Albanien sehr stark abgenommen. In Singapur habe sich die jährliche Geburtenziffer von 4, 7 v. FI. Ende der vierziger Jahre auf 2, 2 v. H. im Jahre 1969 vermindert, in Puerto Rico von über 40 v. H. Anfang der dreißiger Jahre auf 2, 4 v. H. im Jahre 1969, und seitdem sei sie weiter zurückgegangen. „Natürlich ist diese Entwicklung noch nicht abgeschlossen, aber die Statistik bewegt sich schnell in der richtigen Richtung."

Diese Auffassung stützt er auf eine Zusammenstellung statistischer Daten der Vereinten Nationen, die erkennen läßt, daß in einer ganzen Reihe von ausgewählten Ländern Asiens, Afrikas und Amerikas die Geburtenziffern gegenüber Höchstwerten zu Beginn der sechziger Jahre stagnieren oder zurückgehen, offenbar ein Zeichen dafür, daß sie ihr Maximum überschritten haben und sich nunmehr dem Zustand demographischer Ausgeglichenheit nähern.

Maddox wirft die Frage auf, ob man die Geschwindigkeit des Bevölkerungswachstums in den Entwicklungsländern der medizinischen Forschung zur Last legen müsse, etwa weil sie die Säuglingssterblichkeit mit allzu durchschlagendem Erfolg bekämpft habe. Diese Frage klingt, gelinde gesagt, paradox. Dabei wußte er noch nicht, daß Mesarovic-Pestel diesen absurden Vorwurf tatsächlich erhoben haben. Sie halten der Medizin vor, daß sie ihre mühselig erworbenen Kenntnisse dazu mißbrauche, „in die natürlichen Prozesse einzugreifen" — indem sie Kranke heilt und die Sterblichkeitsquote senkt. Das aber bedeutet in Mesarovic'-Pestels Begriff von Humanitas ein Aufreißen „der Kluft zwischen Fertilität Mortalität" und mit der Folge der Bevölkerungsexplosion, „die, wenn sie nicht eingedämmt wird, zum Kollaps der Menschheit führen muß. Damit würden alle medizinischen Bemühungen, die ja in erster Linie Leben bewahren sollten, schließlich wieder zunichte gemacht. Was aber nützt es, einen Menschen von einer Krankheit zu heilen, wenn man nachher nur noch zusehen kann, wie er verhungert

In schlichtem Deutsch kann das doch nur heißen, daß die Ärzte, jedenfalls in den Entwicklungsländern, ihre Bemühungen lieber einstellen sollten, damit möglichst viele Menschen — Säuglinge und Alte — sterben und so die Statistik, die Bevölkerungsbilanz, wieder ins Gleichgewicht gebracht wird. Eine Aufforderung zur Euthanisie? Das Ethos des hippokratischen Eides wäre damit einer Hochrechnung von zweifelhaften Wert, zum Opfer gebracht.

Die „Propheten des Unheils", meint Maddox, „wären gut beraten, wenn sie die Gründe zu verstehen suchten, weshalb die Fruchtbarkeit im Verlauf der demographischen Änderung unweigerlich abzusinken scheint". Das sei weniger auf die Enthaltsamkeit zurückzuführen, wie Malthus sie predigt, auch nicht in erster Linie auf empfängnisverhütende Mittel. Vor allem ist es ein verändertes Sozialverhalten, das, wenn auch nicht von heute auf morgen, Geburt und Tod ins Gleichgewicht bringt. Bevölkerungskontrolle muß jedenfalls in einer freiheitlichen Welt Sache privater Entscheidungen bleiben, was insbesondere Paul und Anne Ehrlich ent1 wäre, die einen Katalog von staatlichen Zwangsmaßnahmen anbieten.

Offenbar funktioniert die Geburtenkontrolle auch auf individueller Basis: Die Auflösung der Großfamilien, das Wohnen auf beengtem Raum, die Erkenntnis, das große Familien weit schwerer zu versorgen sind als ein Vier-Personen-Haushalt, tragen dazu bei. Auch Bildungseinflüsse spielen eine wichtige Rolle. In einigen Entwicklungsländern zeigt sich deutlich, daß Menschen mit Schul-oder Universitätsbildung bestrebt sind, ihre Familien klein zu halten.

Vor allem aber drückt das Wohlstandsdenken auf die Geburtenziffern. Wer es zu einer gewissen Wohlhabenheit gebracht hat, hegt den Wunsch, daß seinen Kindern die gleichen Erleichterungen und Annehmlichkeiten zuteil werden. Das setzt in der Regel voraus, daß die Zahl derer, die sich das Familieneinkommen teilen müssen, klein gehalten wird. Zahlreiche Beispiele aus den Entwicklungsländern beweisen, daß die wohlhabenderen Familen zumeist auch die kleineren sind. Ein schnelleres Anwachsen des Bruttosozialproduktes hat durchweg eine Verlangsamung des Bevölkerungs-V Wachstums zur Folge, womit noch nichts über b die Lage der großen Massen von armen Leuten und deren Verhalten zur Familienplanung gesagt ist.

Die Katastrophenliteratur nimmt diese Tatsache wohl deshalb nicht zur Kenntnis, weil sie einerseits an der Vision der Bevölkerungsexplosion festhält, andererseits aber den Kollaps an die Wand malt, der der Menschheit droht, wenn auch in den jungen Ländern die Industrialisierung und Verstädterung fortschreiten.

Damit ist eine viel weiter führende Frage angeschnitten. Besteht denn überhaupt eine zwingende Notwendigkeit, das demographische Gleichgewicht mit staatlichen Mitteln und noch dazu kurzfristig herbeizuführen, Geburts-und Sterberaten in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen, das zudem jeden Augenblick durch unvorhersehbare und unvermeidbare Naturereignisse erschüttert werden kann? Und welcher Art sind diese vermeintlichen Zwänge? Ergeben sie sich aus der Nahrungsmittelproduktion, der angeblich drohenden Rohstoffverknappung oder aus der Umweltverschmutzung oder gar aus der Summe dieser Faktoren? Bedeutet es wirklich die von den Unheilsverkündern angekündigte Katastrophe, so fragt auch Maddox wenn die Weltbevölkerung bis zum Ende des Jahrhunderts auf sieben Milliarden ansteigt?

Diese sieben Milliarden sind sehr hoch gegriffen, höher als die Beobachtungen der Vereinten Nationen, die für das Jahr 2000 drei Schätzungen vorgelegt haben. Nur die höchste kommt auf knapp sieben Milliarden, die mittlere auf rund 6, 1 Milliarden und die niedrigste auf rund 5, 4 Milliarden

Die im August 1974 in Bukarest veranstaltete Weltbevölkerungskonferenz der Vereinten Nationen, die bis dahin die Zunahme der Weltbevölkerung ebenfalls als bedrohlich angesehen haben, hat sich mit diesen Fragen beschäftigt. Sie hat sensationelle Ergebnisse erbracht. Die Volksrepublik China, die Sowjetunion, fast alle übrigen Ostblockstaaten, aber auch eine ganze Anzahl nicht-kommunistischer Länder haben mit Nachdruck die Auffassung vertreten, daß es für sie ein Bevölkerungsproblem nicht gebe. Die Chinesen haben der Weltorganisation sogar den Einblick in die Bevölkerungssituation ihres Landes verwehrt mit der Begründung, das sei eine Angelegenheit ihrer Souveränität.

Alle diese Länder haben die Auffassung bekundet, das eigentliche Problem der Bevölke-rungsentwicklung liege nicht in deren Zunahme, sondern in der bestehenden Ordnung der internationalen ökonomischen Beziehungen, d. h. in dem Ungleichgewicht von Reichtum und Armut. Im übrigen würden sie mit diesen Dingen allein fertig. Es klang sogar die kameralistische Auffassung durch, daß eine große und wachsende Bevölkerung ein wertvolles nationales Gut sei, eine Prämisse für wachsenden Wohlstand.

Die chinesische Delegation, die jeden Versuch, souveränen Staaten Maßnahmen mit dem Ziel einer Verminderung der Weltbevölkerung aufzwingen zu wollen, als eine unzulässige Einmischung in deren innere Angelegenheiten bezeichnete, wies darauf hin, daß der Erfindungsreichtum der Massen, sich schöpferisch zu entwickeln, ständig zugenommen habe. Die „Bevölkerungsexplosion" sei eine kapitalistische Erfindung. Die Chinesen waren es auch, die auf den Zusammenhang zwischen Bevölkerungszahl und Agrarerzeugung eingingen. Seit 1950, so verkündeten sie voller Stolz, habe sich die Bevölkerung ihres Landes um nahezu 60 v. H. vermehrt, nämlich von ungefähr 500 auf z. Z. nahezu 800 Millionen; in dem gleichen Zeitraum seien aber die Getreideernten mehr als verdoppelt worden. Im Jahresdurchschnitt habe die Bevölkerung um ungefähr 2 v. H., die Getreideproduktion um 4 v. H. zugenommen.

Da diese Ergebnisse unter rigorosem Einsatz der Zwangsmittel eines totalitären Regimes erzielt wurden — und wahrscheinlich nur auf diese Weise erzielt werden konnten —, ist zu fragen, ob sie im Rahmen einer freiheitlichen Staats-und Gesellschaftsordnung mit ähnlicher Wirksamkeit erzielt werden könnten. Hier können wir uns darauf beschränken, die Fakten zu registrieren. Sie sprechen für sich und tragen dazu bei, die Auffassung zu erschüttern, daß die Annahme einer kaum abwendbaren Weltkatastrophe als Folge von Überbevölkerung auf wissenschaftlich haltbaren Erkenntnissen beruhe. über die Methode, Schrecknisse an die Wand zu malen, urteilt John Maddox mit der ihm eigenen Deutlichkeit. Er nennt sie schlicht einen „faulen Trick", z. B. wenn Paul Ehrlich, nachdem er den Weltuntergang durch den Bevölkerungskollaps angekündigt hat, erklärt, er sei eigentlich ganz froh, daß seine düsteren Voraussagen nicht einträfen, weil dann die Menschheit doch wenigstens am Leben geblieben sei. Die Rechtfertigung für dieses Verfahren heiße, so Maddox, man müsse übertreiben, um die Leute aufmerksam zu machen und überhaupt etwas zu erreichen. „Aber der Mensch wird durch Wiederholung eher abgestumpft, und der Weltbewegung kann trotz allem, was sie bisher erreicht hat, die Gefolgschaft gerade dann versagt werden, wenn sie besonders notwendig gebraucht wird — lediglich, weil man die Holzhammermethode leid ist."

Fussnoten

Fußnoten

  1. John Maddox, Unsere Zukunft hat Zukunft — Der jüngste Tag findet nicht statt, Stuttgart 1973.

  2. John Maddox, a. a. O., S. 8.

  3. Jamie L. Whitten, Damit war leben können, New York 1966. S. 197 ff.

  4. Jamie L. Whitten, a. a. O., S. 104 f.

  5. Jamie L. Whitten, a. a. O., S. 204.

  6. Jamie L. Whitten, a. a. O., S. 16.

  7. Jamie L. Whitten, a. a. O., S. 125.

  8. Jamie L. Whitten, a. a. O., S. 198.

  9. Heinrich Niehaus, Wirtschaftswachstum — wie-viel und wohin?, Vortrag auf der Hochschultagung der Landwirtschaft!. Fakultät Bonn, 2. /3. 10. 1973.

  10. Niehaus, a. a. O.

  11. Niehaus, a. a. O.

  12. Maddox, a. a. O„ S. 50 ff.

  13. Mihailo Eduard Mesarovic-Pestel, Menschheit am Wendepunkt. Zweiter Bericht an den Club of Rome, Stuttgart 1974. S. 83.

  14. Maddox, a. a. O., S. 55.

  15. UN World Population — Prospekt as Assessed in 1963 Population Studios Nr. 41, New York 1966, S. 184 ff.

  16. John Maddox, a, a. O„ S. 208.

Weitere Inhalte

Theodor Sonnemann, Dr. Dr. h. c., geb. am 2. 9. 1900, Studium der Nationalökonomie und Geschichte; 1923 bis 1936 Syndikus im Reichslandbund bzw. ab 1934 Stabsleiter im Reichsnährstand. 1936 entlassen wegen angeblicher Sabotage der NS-Agrargesetze, 1936 bis 1945 Seeoffizier; 1946 bis 1949 Hauptgeschäftsführer des Niedersächsischen Landvolkverbandes, 1949 bis 1961 Staatssekretär des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, 1961 bis 1973 Präsident des Deutschen Raiffeisenverbandes und Präsident des Deutschen Genossenschafts-und Raiffeisenverbandes sowie Präsident des Bundes-verbandes der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken.