Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Ist Israel ein theokratischer Staat? Zionismus und religiöse Tradition | APuZ 10/1979 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 10/1979 Artikel 1 Das Wiedererstarken des Islams als Faktor sozialer Umwälzungen Staat und Religion in Israel Ist Israel ein theokratischer Staat? Zionismus und religiöse Tradition

Ist Israel ein theokratischer Staat? Zionismus und religiöse Tradition

Rolf Rendtorff

/ 48 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Ist Israel ein theokratischer Staat, d. h. ein Staat, in dem die Religion die Staatsordnung bestimmt? Aus der Sicht der orthodoxen Tradition müßte ein jüdischer Staat theokratisch sein — aus der Sicht der nichtreligiösen Zionisten kann und darf er es nicht sein. Dieser Konflikt bahnte sich schon in der Zeit des britischen Mandats in Palästina an; seit der Gründung des Staates Israel gehört er zu den schwierigsten und brisantesten innenpolitischen Problemen. Er findet seinen Niederschlag z. B. im Streit um die Ehegesetzgebung, um die Einhaltung des Sabbat, um die Frage „Wer ist Jude?“ und nicht zuletzt um das Problem, wie eine Verfassung des Staates Israel aussehen sollte (die es bis heute nicht gibt). Eine neue Dimension erhielten die Auseinandersetzungen durch den religiös begründeten Anspruch auf den Besitz des ganzen biblischen Landes Israel einschließlich der 1967 besetzten Gebiete und durch die Koalition zwischen religiösen und nationalistischen Expansionisten, die seit dem Regierungsantritt Menachem Begins im Mai 1977 zur herrschenden Macht im Staate geworden sind. Hier zeigt sich die außenpolitische Bedeutung eines theokratischen Verständnisses des jüdischen Staates.

Ist Israel ein. theokratischer Staat? Diese Frage stellt sich dem Israelbesucher fast unausweichlich, wie Uri Sahm in seinem Beitrag „Staat und Religion in Israel“ anschaulich zeigt. Als Theokratie (wörtlich: Gottesherrschaft) bezeichnet man einen Staat, in dem die religiöse und die staatliche Ordnung eine Einheit bilden. Trifft dies für Israel zu? Welche Rolle spielen religiöse Vorschriften im öffentlichen Leben? Welchen Einfluß haben religiöse Kreise auf die Politik? Worin haben diese Erscheinungen ihre Wurzeln? Welche Probleme der jüdischen Geschichte und des jüdischen Selbstverständnisses werden darin sichtbar? Wie stellt sich die gegenwärtige Situation dar und welche Entwicklungstendenzen zeichnen sich ab? „Werden wir im Judenstaat am Ende eine Theokratie haben? — Nein! Der Glaube hält uns zusammen, die Wissenschaft macht uns frei. Wir werden daher theokratische Velleitäten unserer Geistlichen gar nicht aufkommen lassen. Wir werden sie in ihren Tempeln festzuhalten wissen, wie wir unser Berufsheer in den Kasernen festhalten werden. Heer und Klerus sollen so hoch geehrt werden, wie es ihre schönen Funktionen erfordern und verdienen. In den Staat, der sie auszeichnet, haben sie nichts dreinzureden, denn sie werden äußere und innere Schwierigkeiten heraufbeschwören." Dies schrieb Theodor Herzl 1896 in seiner programmatischen Schrift „Der Judenstaat". Wie sieht die Wirklichkeit mehr als achtzig Jahre später aus, dreißig Jahre nach der Gründung des Staates Israel? Von der Rolle des Militärs soll hier nicht die Rede sein. Aber wie die Situation im Blick auf die Religion von einem engagierten israelischen Zeitgenossen betrachtet wird, soll ein weiteres Zitat zeigen. Amos Elon, ein bekannter und umstrittener israelischer Schriftsteller, hat in seinem Bestseller „Die Israelis — Gründer und Söhne" 1971 (deutsch 1972) geschrieben: „Wenn der Zionismus nur dazu bestimmt war, die Errichtung einer weiteren nationalen Theokratie herbeizuführen, die mittelalterliche Orthodoxie mit modernem Chauvinismus vereinigt, dann hätten sowohl Juden als auch Araber einen zu hohen Preis dafür gezahlt."

Herzl hatte deutlich erkannt, daß hier ein schwieriges und für seine Vision vom Juden-staat gefährliches Problem lag. Er versuchte es durch sein beschwörendes „Nein!" zu bannen. Aber dies konnte nicht gelingen, weil die Gründe und Voraussetzungen viel zu tief in der jüdischen Geschichte verankert lagen.

Die Entstehungsgeschichte des Zionismus zeigt, daß sich in ihm — wenn auch unter veränderten Voraussetzungen und in mehrfach gebrochener Weise — die religiösen und geistigen Traditionen des jüdischen Volkes einen neuen Ausdruck verschafft haben Deshalb mußte sich schon von hier aus die Frage stellen, wie sich ein jüdischer Staat heute zu seiner religiösen Tradition verhalten soll. Denn es ist keineswegs eine Überspitzung, wenn man sagt, daß es ohne die jüdische Religion — und zwar in ihrer traditionellen, „orthodoxen" Form! — heute kein jüdisches Volk mehr gäbe. Die Religion hat — scheinbar paradoxerweise — das Volk am Leben erhalten. Wie soll nun das jüdische Volk nach seiner Emanzipation im 19. /20. Jahrhundert mit dieser seiner religiösen Tradition umgehen? In welchem Maße kann sich überhaupt das Judentum „säkularisieren", ohne aufzuhören, Judentum zu sein? Und welche Folgerungen soll und muß ein jüdischer Staat aus diesem geschichtlichen Zusammenhang mit seiner religiösen Tradition ziehen?

Die Gründer des Staates Israel waren sich dieses Zusammenhanges durchaus bewußt. Die Proklamationsurkunde, mit der am 14. Mai 1948 der Staat Israel (auf der Grundlage des Beschlusses der Vollversammlung der Vereinten Nationen vom 29. November 1947) gegründet wurde, beginnt folgendermaßen: „Im Lande Israel entstand das jüdische Volk; hier wurde sein geistiges, religiöses und politisches Wesen geformt; hier lebte es ein Leben in staatlicher Unabhängigkeit; hier schuf es seine nationalen und universellen Kulturgüter und schenkte der Welt das ewige . Buch der Bücher'. Nachdem das jüdische Volk mit Gewalt aus seinem Land vertrieben worden war, bewahrte es ihm in allen Ländern der Zerstreuung die Treue und hörte nicht auf, um die Rückkehr in sein Land und um die Erneuerung seiner politischen Freiheit in ihm zu beten und darauf zu hoffen. Aufgrund dieser geschichtlichen und moralischen Verbundenheit versuchten Juden in allen Generationen zurückzukehren und in ihrem alten Heimatlande Fuß zu fassen-, in den letzten Generationen kamen sie in großen Scharen in ihr Land zurück."

Die Anfänge vor der Staatsgründung

Schon lange vor der Staatsgründung wurde das Problem des Verhältnisses von religiöser Tradition und moderner Gesllschaft für die jüdische Gemeinschaft in Palästina unmittelbar akut. Die zionistischen Einwanderer, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nach Palästina kamen, waren ja keineswegs die ersten Juden, die sich nach der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. dort ansiedelten. In bestimmten Teilen des Landes hatte zu allen Zeiten eine mehr oder weniger große Anzahl von Juden gelebt, und immer wieder waren andere einzeln und in Gruppen ins Land gekommen und hatten sich dort niedergelassen. Neben Jerusalem waren Safed in Galiläa, Tiberias und Hebron die besonderen Sammelpunkte jüdischer Gemeinden, über Jerusalem selbst schrieb ein dort lebender Jude im 17. Jahrhundert, daß dort jetzt „mehr Angehörige unseres Volkes" lebten als jemals seit der Vertreibung durch die Römer, und gegen Ende des 19. Jahrhunderts bildete die jüdische Bevölkerung die Mehrheit der Bewohner Jerusalems. Alle diese Juden waren aus religiösen Gründen ins Land gekommen und führten dort ein intensives religiöses Leben. Sie hatten also ein völlig anderes Verhältnis zur jüdischen Religion und ihren Traditionen als die große Mehrheit der zionistischen Neueinwanderer. Denn diese waren sich der religiösen Wurzeln der zionistischen Idee kaum bewußt. Sie hatten die Impulse zur Einwanderung nach Palästina und zur Gestaltung eines neuen jüdischen Gemeinschaftslebens einerseits aus dem wiedergewonnenen Verständnis vom jüdischen „Volk" im nationalen Sinne empfangen, das wesentlich vom nationalstaatlichen Denken des 19. Jahrhunderts geprägt war, andererseits aus sozialistischen Ideen, die sie hier unter ganz neuen Voraussetzungen verwirklichen wollten.

Diese verschiedenen jüdischen Gruppen hatten zunächst kaum Berührungen miteinander, so daß ihr unterschiedliches Verhältnis zur Religion keinen unmittelbaren Anlaß zu Konflikten geben mußte. Dies änderte sich erst mit dem Beginn des britischen Mandats über Palästina nach dem Ersten Weltkrieg. Die Engländer übernahmen für die Verwaltung ihres Mandatsgebiet wesentliche Elemente aus dem Recht und der Verwaltungspraxis des os-manischen Reiches, das bis dahin dieses Gebiet beherrscht hatte. Dazu gehörte vor allem auch die weitgehende Autonomie der verschiedenen Bevölkerungsgruppen für bestimmte Bereiche. Diese Gruppen wurden aber nicht national, sondern religiös definiert. Die Engländer hielten an dieser religiösen Abgrenzung fest, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil von alters her vor allem die grundlegenden Personenstandsangelegenheiten wie Eheschließungen, -Scheidungen usw. ebenso wie die Erziehungsfragen ein Privileg der religiösen Gemeinschaften und ihrer Institutionen waren. Daran konnten und wollten die Engländer nichts ändern; das bedeutete aber, daß sie für die Einrichtung entsprechender religiöser Institutionen sorgen mußten, die von der Mandatsmacht mit den nötigen rechtlichen Vollmachten ausgestattet werden konnten.

Für die jüdische Bevölkerung des Mandatsgebiets ergab sich daraus die Notwendigkeit, sich eine Organisationsform zu geben, die diesen Anforderungen entsprach. Der Jischuv (hebräisch: Bewohnerschaft), wie sich die jüdische Gemeinschaft in Palästina damals nannte, schuf sich deshalb im Jahre 1920 eine demokratische Organisation. Die Knesset Isra- el (Versammlung Israel) wählte in allgemeinen Wahlen eine Abgeordnetenversammlung und einen Nationalrat (Va'ad Le'uini). Außerdem wurde als oberste religiöse Institution das Oberrabbinat eingesetzt. Dies war nun für alle religionsrechtlichen Angelegenheiten der Angehörigen der Knesset Israel zuständig und damit auch für den ihm von der Mandatsregierung übertragenen Bereich des Personenstandsrechts

Das Oberrabbinat als oberste religiöse Instanz

So wurde die höchst heterogene und pluralistische jüdische Gemeinschaft in Palästina unter das gemeinsame Dach des Oberrabbinats gezwungen. Damit war der Keim für eine Vielzahl von Konflikten in der Zukunft gelegt. Dies zeigt sich schon in der Konstruktion des Oberrabbinats. Es repräsentiert nur die eindeutig traditionsgebundene Richtung im religiösen Judentum, die Orthodoxie. Innerhalb der Orthodoxie gibt es allerdings eine Unterscheidung, die sich in bemerkenswerter Weise im Oberrabbinat widerspiegelt. Trotz der Übereinstimmung in den wesentlichen Grundfragen haben sich im Laufe der Jahrhunderte zwei verschiedene Formen des orthodoxen Judentums entwickelt: Einerseits das sephardische Judentum, das seinen Namen von dem hebräischen Wort für Spanien (Sepharad) erhalten hat; da nach der Vertreibung des spanischen Judentums im Jahre 1492 von dort aus starke Einflüsse auf das Judentum des ganzen Mittleren Ostens ausgingen, wurde das Wort in weiterem Sinne zu einer Bezeichnung für das gesamte orientalische Judentum. Andererseits das aschkenasische Judentum, dessen Name aus der hebräischen Bezeichnung für Deutschland (Aschkenas) abgeleitet worden ist; auch hier gab es eine Bedeutungsverschiebung, da die Tradition des deutschen Judentums später vor allem in Osteuropa weiterlebte, so daß jetzt das gesamte europäische und westliche Judentum (einschließlich Amerika) unter diesem Namen zusammengefaßt wird. Die jüdische Bevölkerung Palästinas war zunächst in ihrer großen Mehrheit sephardisch. Seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts waren jedoch in steigendem Maße aschkenasische Gruppen ins Land eingewandert und hatten ihre eigenen religiösen Traditionen mitgebracht. (So ist etwa bis heute das orthodoxe Viertel Me’a Sche'arirn in Jerusalem ganz von der aschkenasischen Überlieferung geprägt.

In der Knesset Israel waren nun beide Gruppen miteinander verbunden. Man konnte sich allerdings nicht auf die Einsetzung eines gemeinsamen Oberrabbiners einigen, so daß es seither (und bis heute) zwei Oberrabbiner gibt, einen sephardischen und einen aschkenasischen. Abgesehen von den Konflikten, die zwischen diesen beiden und den von ihnen repräsentierten Gruppen bestehen*), zeigt sich darin noch ein weiteres gewichtiges Problem. Im europäischen Judentum, und von dort ausgehend auch in Amerika, hatten sich seit der Aufklärung und der ihr folgenden Emanzipation der Juden Veränderungen im religiösen Selbstverständnis vieler Juden vollzogen. Eine der Folgen davon war eine Reform der jüdischen Religion, die ihren Niederschlag in der Entstehung des „Reformjudentums" fand, das bald seine eigenen Synagogen und seine eigene Organisation besaß. Es brachte das geschichtliche Gewordensein und die damit gegebene geschichtliche Bedingtheit der religiösen Traditionen zum Bewußtsein und bemühte sich um eine Neugestaltung der jüdischen Religion in Lehre und Gottesdienst. Neben dem Reformjudentum (auch als „Progressive Judaism" bezeichnet) entstand in den Vereinigten Staaten von Amerika eine gemäßigte Richtung, die eine Zwischenstellung zwischen Reform und Orthodoxie einnimmt: das konservative Judentum. Diese drei Gruppen haben in den USA wie auch in anderen Ländern ihre eigenen Synagogen und Organisationen und repräsentieren gleichberechtigt das religiöse Judentum.

Bei der Einsetzung des Oberrabbinats in Palästina spielte diese Unterscheidung jedoch keine Rolle. Nur das orthodoxe Judentum fand im Oberrabbinat seine Repräsentanz. Der Grund dafür liegt vor allem in der Tatsache, daß keine Vertreter der anderen religiösen Gruppen im Lande anwesend waren, die den Anspruch auf eine Berücksichtigung ihrer Belange erhoben hätten. Vielmehr standen sich damals in Palästina nur zwei Gruppen gegen-über: das orthodoxe Judentum und die an religiösen Fragen weitgehend uninteressierten Zionisten. So konnte es dazu kommen, daß die jüdische Gemeinschaft in Palästina in religiöser Hinsicht einen Anachronismus darstellte. Einerseits spiegelte sie ein äußerst vielschichtiges Bild des tatsächlichen jüdischen Lebens wider mit der ganzen Vielfalt der Möglichkeiten des Verhältnisses zur religiösen Tradition, andererseits erhob eine Richtung für sich einen Monopolanspruch auf die religiöse Repräsentation der jüdischen Gemeinschaft nach innen und nach außen. Das hat zur Folge, daß es seither in Palästina und später in Israel offiziell nur eine Definition dessen gibt, was im religiösen Sinne „Judentum" ist: die orthodoxe; und daß nach Auffassung der herrschenden religiösen Kreise überhaupt keine andere legitime Definition von Judentum existiert.

Die Folgen zeigten und zeigen sich bis heute besonders spürbar im Bereich der Personenstandsgesetzgebung. Jeder Jude, der eine Ehe eingehen will, muß dies vor einem orthodoxen Rabbiner tun. Das bedeutet nicht nur, daß er sich dabei einer religiösen Zeremonie unterziehen muß, die für ihn u. U. keinerlei Bedeutung hat. Vor allem unterliegt er damit den traditionellen jüdischen Ehebestimmungen. Sie machen es z. B. unmöglich, daß ein jüdischer und ein nichtjüdischer Partner eine Ehe miteinander schließen Auch für jüdische Partner ergeben sich oft Probleme, da die Frage, ob jemand Jude ist, ebenfalls nach den Bestimmungen der jüdischen religiösen Tradition, der Halacha, vom Rabbinat entschieden wird. Die grundlegende Bestimmung lautet: „Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde oder zum Judentum übergetreten ist." Aber was ist eine jüdische Mutter? Bei Einwanderern aus Ländern, in de-nen Ehen zwischen Juden und Nichtjuden häufiger vorkamen, ist diese Frage oft schwer zu entscheiden. Und ob ein Übertritt zum Judentum von den Rabbinatsbehörden anerkannt wird, hängt wiederum davon ab, ob es orthodoxe oder von der Orthodoxie anerkannte Rabbiner waren, die den Aufnahmeakt vollzogen haben. So war und ist der Monopol-anspruch der Orthodoxie für viele Juden im Mandatsgebiet Palästina und im heutigen Israel ein Ärgernis und ein Anlaß zu ständigen Konflikten.

Gleichwohl hatten diese Probleme vor der Staatsgründung für das Leben der jüdischen Gemeinschaft in Palästina keine wesentliche Bedeutung. Die verschiedenen Gruppen lebten nebeneinander, ohne daß sich allzu viele Berührungspunkte zwischen ihnen ergaben. So entwickelte sich z. B. in der Kibbuzbewegung — um nur einen wichtigen und in der Frühzeit prägenden Sektor des Gemeinschaftslebens zu nennen — ein jüdisches Selbstverständnis, das völlig anders geartet war als das der religiösen Orthodoxie. Ebenso entstand ein zionistisch-jüdisches Bildungsund Erziehungswesen, das ebenfalls von den orthodoxen religiösen Vorstellungen weitgehend unberührt blieb — bis hin zu seiner höchsten Ebene, der Hebräischen Universität Jerusalem (gegründet 1918, tätig seit 1925), die ihre wesentlichen Impulse dem Kulturzionismus verdankte, d. h. einer Bewegung, die bewußt nicht „religiös" im Sinne der Orthodoxie war. Das Oberrabbinat hätte kaum, selbst wenn es dies gewollt hätte, auf diese vielfältigen Entwicklungen eines neuen, „säkularen" israelischen Judentums Einfluß nehmen können. Vollends fehlten ihm jegliche Möglichkeiten, in die politischen Vorgänge der Zeit vor der Staatsgründung unmittelbar einzugreifen.

Die Monopolstellung der Orthodoxie nach der Staatsgründung

Dies änderte sich mit der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948. Nun wurde die Orthodoxie zu einem gewichtigen politischen Faktor.

Zunächst einmal wurde die bisher geltende Regelung beibehalten, daß die Personenstandsangelegenheiten in die Zuständigkeit der re-ligiösen Institutionen fallen. Das bedeutet, daß es weiterhin keine Standesämter und keine Zivilehe gibt. Vor allem aber blieben die jüdischen religiösen Institutionen bestehen, die für die Durchführung dieser Angelegenheiten zuständig sind: das Oberrabbinat und die ihm nachgeordneten Rabbinatsbehörden. Hier wird die Kontinuität mit der Mandatszeit augenfällig: die politischen Organe der Knesset Israel wurden durch neue Organe des Staates abgelöst, die religiösen Organe blie-ben jedoch bestehen. Ein wesentlicher Unterschied besteht allerdings darin, daß die Zugehörigkeit zur Knesset Israel grundsätzlich freiwillig war; jeder im Mandatsgebiet lebende Jude konnte durch eine Erklärung seine Streichung aus dem Mitgliederverzeichnis veranlassen. Jetzt aber ist das Oberrabbinat für alle jüdischen Staatsbürger Israels zuständig.

Hier ergibt sich sogleich eine grundsätzliche Überlegung zu der Frage, ob Israel als Theokratie angesehen werden kann. Das Wesen einer Theokratie im strengen Sinne besteht ja darin, daß religiöse Gesetze ohne als solche, einen besonderen gesetzgeberischen Akt des Staates, Gültigkeit Dies ist in Israel besitzen.

nicht der Fall. Religiöse Gesetze und Vorschriften sind nur insoweit allgemeinverbindlich, als der Staat dies durch entsprechende Gesetze verfügt hat. Im Falle der Personenstandsangelegenheiten ist dies durch das „Gesetz über die rabbinische Gerichtsbarkeit (Heirat und Scheidung)" aus dem Jahre 1953 geschehen. Dieses Gesetz besagt, daß Eheschließungs-und Scheidungssachen von Juden in Israel der ausschließlichen Rechtsprechung des rabbinischen Gerichtshofes unterstehen und daß sie in Übereinstimmung mit dem jüdischen religiösen Recht zu vollziehen sind. Insoweit hat also der staatliche Gesetzgeber das religiöse Recht für verbindlich erklärt.

Das Gesetz enthält aber die Einschränkung, daß in anderen Personenstandsangelegenheiten die Zuständigkeit des Rabbinatsgerichts nur gegeben ist, wenn alle betroffenen Parteien ihr Einverständnis damit erklärt haben. Hier sind also deutlich die Grenzen erkennbar, innerhalb deren religiöse Gesetze Wirksamkeit haben. Außerdem sind alle staatlichen Gesetze, welche Personenstandsangelegenheiten betreffen, auch im Bereich der rabbinischen Gerichtsbarkeit rechtsverbindlich. Dies gilt z. B. für das Gesetz über das Eheschließungsalter, das an einem Punkt die Gültigkeit der religiösen Tradition aufhebt; auch das Gesetz über die Gleichberechtigung der Frau greift in das traditionelle religiöse Eherecht ein, indem es die Gleichstellung von Mann und Frau in allen Rechtsvorgängen festlegt und jede Gesetzbestimmung, „die hinsichtlich irgendeines Rechtsvorganges die Frauen diskriminiert", für unwirksam erklärt. (Wie die Praxis aussieht, ist eine andere Frage; aber dies ist ja gerade im Blick auf die Gleichberechtigung der Frau nicht nur ein israelisches Problem!)

Wenn man somit auch im formal-rechtlichen Sinne nicht davon sprechen kann, daß Israel eine Theokratie sei, so zeigt doch gerade dieser Bereich sehr deutlich, wie sich auch nach der Staatsgründung die Monopolstellung der religiösen Orthodoxie erhalten und gefestigt hat. Sie ist nun zudem durch staatliche Gesetze abgesichert und dadurch noch schwerer angreifbar geworden. Andererseits müssen sich hier auch notwendigerweise immer wieder Konflikte entzünden, die nicht nur in zahlreichen Fällen persönliche Schicksale betreffen und bestimmen, sondern die immer wieder auch die Öffentlichkeit erregen und dadurch die bestehenden Spannungen allgemein bewußt machen. So wird z. B. die -Forde rung nach Einführung einer zumindest alternativen Zivilehe von nichtreligiösen Kreisen (bzw. solchen, denen der Einfluß der Religion auf das öffentliche Leben zu groß erscheint und die sich durchaus auch unter Religiösen finden) immer wieder erhoben. Zu einem akuten Problem in der Öffentlichkeit wird diese Frage aber vor allem dann, wenn spektakuläre Einzelfälle die ganze Widersprüchlichkeit der geltenden Bestimmungen deutlich machen. Dies war z. B. vor einigen Jahren in der Frage der „Mamserim" der Fall, als den Geschwistern Langer die Eheschließung mit ihrem jeweiligen Partner vom Rabbinatsgericht verweigert wurde, weil sie angeblich im „Ehebruch" gezeugt worden seien. Die zweite Ehe ihrer Mutter war nach rabbinischem Recht für ungültig erklärt worden, so daß die Kinder aus dieser Ehe jetzt als außereheliche Kinder einer verheirateten Frau galten. Wenigstens für solche Ausnahmefälle, wie z. B. auch für die Heirat eines jüdischen Partners mit einem nichtjüdischen, wird von immer weiteren Kreisen die Einführung der Zivilehe gefordert. Allerdings scheiterten solche Forderungen bisher grundsätzlich an den innenpolitischen Konstellationen (s. u.).

Ein weiteres Problem wurde oben schon angeschnitten. Das religiöse Judentum stellt sich außerhalb Israels in differenzierter Weise dar, wobei vor allem die drei großen Gruppen des orthodoxen, konservativen und Reformjudentums vielfach gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Diese Frage hat sich in Israel nach der Staatsgründung insofern zugespitzt, als sich diese Differenzierung des religiösen Lebens jetzt auch hier nach und nach vollzieht. Neben den zahlreichen orthodoxen Synagogen verschiedenster Ausprägung, die vielfach die Traditionen ihrer Herkunftsländer treu bewahren, sind konservative und in stiegendem Maße auch Reformsynagogen entstanden. In der Ausübung ihres religiösen Lebens werden sie nicht behindert; denn einerseits herrscht in Israel die gesetzlich garantierte Freiheit der Religionsausübung, andererseits ist nach jüdischer Tradition ohnehin jede Gemeinde selbständig, und jederzeit können Juden überall in der Welt aus freiem Entschluß eine Gemeinde bilden. (Für einen Gottesdienst nach den Regeln der jüdischen Tradition ist nur ein „Minjan" erforderlich, d. h. eine Zahl von zehn erwachsenen jüdischen Männern; ein Rabbiner oder sonstiger Amtsträger wird nicht benötigt.) Jedoch gibt es eine entscheidende Einschränkung: Der Vollzug von rechtlich gültigen Eheschließungen ist nur solchen Rabbinern erlaubt, die vom Oberrabbinat zugelassen sind. Diese Erlaubnis wird aber Reformrabbinern grundsätzlich verweigert. (Konservative Rabbiner werden unter bestimmten Bedingungen anerkannt.) So ergibt sich die groteske Situation, daß die Mitglieder der ständig wachsenden Reformgemeinden für die Hochzeitszeremonie einen orthodoxen Rabbiner heranziehen müssen. Dadurch wird es auch unmöglich gemacht, daß sich gerade in diesem für viele Menschen besonders wichtigen Bereich neue Formen herausbilden, die dem heutigen religiösen Bewußtsein entsprechen.

Allerdings muß hier noch einmal nach den Gründen für diese Entwicklung gefragt werden. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß bei der Bildung der Knesset Israel zu Beginn der britischen Mandatszeit und bei der Einsetzung des Oberrabbinats als höchster religiöser Autorität keine Vertreter anderer religiöser Richtungen da waren, die ihre Ansprüche geltend gemacht hätten. Dasselbe war zur Zeit der Staatsgründung der Fall. Die Monopolstellung der Orthodoxie konnte deshalb so reibungslos und unwidersprochen aufrechterhalten werden, weil keine anderslautenden Forderungen geltend gemacht wurden. Dies gilt insbesondere für das Reformjudentum. Keiner seiner führenden Vertreter war 1948 in Israel, um dort die Mitwirkung und Repräsentanz des Reformjudentums bei der Gestaltung des jüdischen Lebens im neuentstehenden Staat sicherzustellen. (Die führenden Köpfe des deutschen Reformjudentums waren nicht nach Palästina, sondern nach Amerika emigriert.) Dies ist zwar aus der Geschichte der Reformbewegung heraus durchaus erklärbar; denn in ihr gab es lange Zeit eine starke, sogar dominierende antizionistische Strömung. Man muß dies aber in Rechnung stellen, wenn man jetzt Vorwürfe gegen das Verhalten der Orthodoxie erhebt. Und man muß zugleich sehen, daß es nach dem Verständnis der Orthodoxen ja gar keine andere legitime Form von religiösem Judentum gibt; deshalb wäre es illusionär zu glauben, daß die Orthodoxie von sich aus die einmal errungenen Positionen räumen würde. Hier müßten neue Anstöße aus der israelischen Gesellschaft heraus kommen. Sie könnten wesentliche Unterstützung aus der Diaspora erhalten, vor allem aus den einflußreichen Kreisen des Reformjudentums in den USA, das inzwischen ganz auf eine zionistische Linie eingeschwenkt und zu einem wichtigen Faktor der Unterstützung Israels geworden ist.

„Wer ist Jude?" — eine politische Machtfrage

Auch die Frage „Wer ist Jude?" hat nach der Staatsgründung eine veränderte politische Relevanz bekommen. Sie hat jetzt, außer im Bereich des Eherechts, noch in verschiedener Hinsicht politisch-rechtliche Bedeutung. Dies gilt zunächst für das „Gesetz über die Rückkehr". Der erste Paragraph dieses Gesetzes aus dem Jahre 1950 lautet: „Jeder Jude hat das Recht, in dieses Land einzuwandern." Die rechtlichen Folgen werden im Gesetz über die Staatsbürgerschaft von 1952 präzisiert: „Jeder Einwanderer im Sinne des Rückkehrgesetzes wird Staatsbürger." Hier wird ein grundlegender Aspekt des Selbstverständnisses des Staates Israel deutlich: Er ist der Staat aller Juden und sieht sich in der Kontinuität mit dem biblischen Israel. Jeder Jude, der einwandert, ist ein Rückkehrer foleh) und wird mit der Einwanderung Staatsbürger. (Dies bedeutet auch, daß für die Gestaltung dieses Staates das Verhältnis zur jüdischen Diaspora eine wesentliche Rolle spielt!) Damit kommt aber der Frage, wer als Jude gilt, eine entscheidende politische und rechtliche Bedeutung zu — ganz abgesehen von den sozialen und wirtschaftlichen Privilegien, die jüdische Neueinwanderer in Israel genießen.

Diese Frage hat außerdem einen innenpolitischen Aspekt. Die israelischen Personalausweise (nicht aber die Pässe!) enthalten eine Rubrik, in der die „Nationalität" vermerkt wird. Es wird also zwischen Nationalität und Staatsbürgerschaft unterschieden. Dementsprechend sind auch die Begriffe „jüdisch"

und „israelisch" keineswegs identisch, da es ja auch israelische Staatsbürger gibt, die keine Juden sind und deshalb eine andere „Nationalität" besitzen. Im Jahre 1958 kam es zu einer großen innenpolitischen Auseinandersetzung, die sogar zu einer Koalitionskrise führte, weil das Innenministerium Bestimmungen erlassen hatte, nach welchen Kriterien die Eintragung als „Jude" erfolgen sollte.

Darin hieß es: „Jeder, der in gutem Glauben erklärt, daß er Jude sei, soll als Jude registriert werden, ohne daß weitere Prüfungen erforderlich sind." Die Regierung ergänzte diese Bestimmung: „Jeder, der in gutem Glauben erklärt, daß er Jude sei und keiner anderen Religion angehört..." Hier wird, vor allem in der ergänzten Fassung, die ganze Komplexität des Problems erkennbar. Einerseits, steht die Formulierung in striktem Widerspruch zu den Bestimmungen der Halacha, von denen schon die Rede war, die nur die Geburt von einer jüdischen Mutter oder den formellen Übertritt zum Judentum anerkennt; eine Erklärung „in gutem Glauben" gilt hier als völlig irrelevant. Andererseits bleibt aber nach der Halacha jeder Jude sein Leben lang Jude, selbst dann, wenn er zu einer anderen Religion übertritt. Er ist dann zwar ein „Abtrünniger", aber er bleibt Jude. Deshalb steht auch dieser Zusatz im Widerspruch zur religiösen Überlieferung.

Die Auseinandersetzung endete damals ohne Ergebnis. Sie flammte aber seither immer wieder auf, wenn durch konkrete Einzelfälle das Problem erneut ins öffentliche Bewußtsein gerückt wurde. Vor allem zwei Fälle können als exemplarisch gelten und haben politische und rechtliche Folgen grundsätzlicher Art gehabt. Der erste war der Fall Rufeisen. Der polnische Jude Oswald Rufeisen hatte in der Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung zahlreichen Juden das Leben gerettet. Er mußte dann in einem Kloster untertauchen und trat zum Katholizismus über. Später kam er als Karmelitermönch „Bruder Daniel" nach Israel und beantragte die Staatsbürgerschaft nach dem Rückkehrgesetz, da er sich trotz seines Religionswechsels als nationaler Jude betrachtete. Nach der Halacha hätte sein Antrag angenommen werden müssen, da er ja nach dieser Auslegung tatsächlich Jude geblieben war. In der öffentlichen Meinung überwog aber in einer sehr heftig geführten Diskussion die Auffassung, daß ein Jude, der freiwillig zu einer anderen Religion ubergetreten sei, nicht mehr das Recht für sich in Anspruch nehmen könne, als Jude betrachtet zu werden. Dahinter stand nicht zuletzt der Gedanke, daß immer wieder im Laufe der Geschichte Juden ihr Leben aufs Spiel gesetzt und oftmals auch verloren haben, weil sie sich weigerten, einen anderen Glauben — zumal den christlichen! — anzunehmen. Der Oberste Gerichtshof lehnte schließlich im Jahre 1962 den Antrag Rufeisens ab; er entschied also im Sinne der Regierungsvorlage von 1958. Allerdings blieb diese Entscheidung damals zunächst noch auf den Einzelfall beschränkt.

Der zweite Fall bezog sich auf die Frage der jüdischen „Nationalität“. Der Major Benjamin Schalit beantragte für seine Kinder die Anerkennung ihrer jüdischen Volkszugehörigkeit. Sie waren in Israel geboren, ihre Mutter war aber nichtjüdischer Herkunft und auch nicht zum Judentum übergetreten. Diesmal entschied der Oberste Gerichtshof (der übrigens bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal in seiner vollen Besetzung mit neun Mitgliedern zusammentrat!) im Jahre 1970 mit fünf gegen vier Stimmen zugunsten des Antragstellers — also wieder gegen die halachische Tradition.

Der Gerichtshof erklärte aber zugleich, daß er es nicht als seine Aufgabe betrachtet habe, eine Entscheidung über die Frage „Wer ist Jude?" zu fällen. Die Knesset (das israelische Parlament) zog dann jedoch die gesetzgeberischen Konsequenzen aus diesem Urteil und benutzte die Gelegenheit, gleichzeitig auch die Folgerungen aus dem Urteil im Fall Rufeisen nachzuholen. So fügte sie im Jahre 1970 eine Definition in das Rückkehrgesetz ein, wer im Sinne dieses Gesetzes als Jude zu betrachten sei: „Für den Zweck dieses Gesetzes bedeutet „Jude’ eine Person, die von einer jüdischen Mutter geboren oder zum Judentum übergetreten ist und nicht einer anderen Religion angehört." Damit wurde also die halachische Definition zugrunde gelegt (anders als in der Regierungsvorlage von 1958), zugleich aber entgegen dieser Definition im Sinne des Rufeisen-Urteils der Übertritt zu einer anderen Religion als Ausschlußgrund festgesetzt. Wesentlich weiter entfernte sich die Knesset von der religiösen Tradition mit der zweiten Ergänzung des Rückkehrgesetzes. Sie legte fest, daß die Rechte eines Juden nach dem Rückkehr-und Staatsbürgergesetz „auch dem Kind und Enkel eines Juden, der Ehefrau eines Juden und der Ehefrau des Kindes oder Enkels eines Juden" gewährt werden, wiederum „mit Ausnahme einer Person, die Jude war und willentlich ihre Religion gewechselt hat". Dementsprechend wurden auch die Bestimmungen zur Eintragung der Nationalität ergänzt. So kann man also jetzt im rechtlichen Sinne Jude werden durch Heirat mit einem Juden, und auch Kinder aus „Mischehen" gelten als Juden. (Allerdings bleibt das Personenstandsrecht davon unberührt, weil in ihm nach wie vor die rabbinische Jurisdiktion herrscht.)

Staatsordnung und Religion

Hinter diesem Streit um Definitionen stehen ganz offenkundig Machtfragen. Im Grunde geht es dabei immer wieder um die Frage, ob Israel eine Theokratie sein soll oder nicht, und das bedeutet zugleich: wie weit der Einfluß der religiösen Orthodoxie auf das öffentliche Leben gehen soll. Schon unmittelbar nach der Gründung des Staates Israel entzündete sich der Streit um die Gestaltung der Verfassung. Der Provisorische Staatsrat hatte im Juli 1948 eine Verfassungskommission eingesetzt, die einen Entwurf erarbeiten und der Knesset vorlegen sollte. In der Generaldebatte dieses Ausschusses erklärte der Sprecher der ultraorthodoxen Partei Agudat Israel: „Für eine Verfassung, die eines Menschen Werk ist, gibt es keinen Raum in Israel", und beantragte zu beschließen, daß die Thora die Verfassung des Staates Israel sei. (Thora im engeren Sinne sind die Fünf Bücher Mose, im weiteren Sinne auch deren religionsgesetzliche Auslegung im Talmud.)

Die Knesset debattierte im Jahre 1950 mehrere Monate lang über das Problem der Verfassung. Dabei ging es vor allem um die Frage, ob überhaupt eine vollständige Verfassung ausgearbeitet und beschlossen werden sollte. Auch hier waren es zunächst wieder die Vertreter der religiösen Parteien, die eine Verfassung ablehnten. Ihr Sprecher erklärte: „Israels Verfassung hat Tausende von Jahren bestanden, und wir brauchen keinen Ersatz. Wenn aber die Zeit für eine auf der Thora beruhende Verfassung nicht reif ist, so laßt uns lieber gar keine Verfassung machen." Auch die Mitglieder der sozialdemokratischen Mehrheitspartei, der Mapai, sprachen sich gegen eine Verfassung aus und plädierten statt dessen für die Verabschiedung einzelner Grundgesetze. Dabei spielten wohl auch Überlegungen eine Rolle, daß eine Verfassung zu schwerfällig sein könnte, um den sich verändernden Gegebenheiten zu genügen. Vor allem aber scheute die Mapai die Auseinandersetzung über die Stellung der Reli-gion im Staat, die bei dem Versuch, eine Verfassung auszuarbeiten, mit unabweisbarer Notwendigkeit hätte geführt werden müssen. Sie hätte zweifellos nicht nur für die Knesset selbst, sondern für die gesamte israelische Öffentlichkeit eine große Belastung bedeutet; denn es konnte kaum zweifelhaft sein, daß die Mehrheit der Knesset der Religion in der Verfassung nicht diejenige Bedeutung einräumen würde, die die Orthodoxen forderten. Das hätte aber, abgesehen von der heftigen öffentlichen Auseinandersetzung, zu einer Ablehnung der Verfassung nicht nur durch die extremen religiösen Gruppen führen können, die den Staat ohnehin ablehnten und sich nicht an der politischen Arbeit beteiligten, sondern auch durch die in der Knesset vertretenen religiösen Parteien. Deshalb wurde beschlossen, einzelne Grundgesetze zu verabschieden, die „sich in ihrer Gesamtheit zur Verfassung des Staates zusammenschließen" sollten

Im Blick auf diese Debatte könnte man zugespitzt formulieren, daß Israel zwar auf Grund der politischen Mehrheitsverhältnisse keine Theokratie sein kann, daß aber das politische Gewicht der Orthodoxen es verhindert, daß dies in aller Form festgestellt wird, und daß der tatsächliche Einfluß der Orthodoxie auf das öffentliche Leben immer wieder die Frage entstehen läßt, ob Israel nicht faktisch doch eine Theokratie sei. Einer der Gründe dafür sind die Mehrheitsverhältnisse im israelischen Parteiengefüge. Von der Staatsgründung im Jahre 1948 an bis 1977 bildete stets die Mapai die stärkste Partei. (Seit 1968 ist sie mit der zuvor links von ihr stehenden Achdut Ha'avoda und der 1965 von ihr abgesplitterten Gruppe um Ben Gurion, der Rafi, zur Israelischen Arbeiterpartei zusammengeschlossen.) Sie ging außer mit der sozialistischen Mapam und mit der Unabhängigen Li-beralen Partei auch regelmäßig Koalitionen mit religiösen Parteien ein, vor allem mit der National-Religiösen Partei, die 1956 aus der Verbindung von zwei religiösen Parteien entstanden war. (Die extrem orthodoxe Agudat Israel war nur von 1949 bis 1951 im Rahmen der „Religiösen Front" an einer Regierungskoalition mit der Mapai beteiligt.) Die Rücksicht auf den religiösen Koalitionspartner nötigte die Mapai (bzw. die Arbeiterpartei) immer wieder zu Kompromissen, die das Gewicht der religiösen Gruppen weit über ihre tatsächliche Bedeutung hinaus verstärkten. Schon die Koalitionsverhandlungen gestalteten sich oft schwierig, da die Vertreter der religiösen Parteien ihren Eintritt in die Koalition von weitgehenden Zusagen abhängig machten, daß bestimmte Forderungen im Laufe der Legislaturperiode in ihrem Sinne geregelt werden sollten. Sie hatten damit dann auch stets ein Druckmittel gegenüber der Koalitionsmehrheit in der Hand. Im übrigen versuchte die Mapai die Konflikte dadurch zu verringern, daß sie in der Regierung den einzelnen Ministerien einen verhältnismäßig großen Spielraum ließ, innerhalb dessen diese die Dinge nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten konnten. Die National-Religiöse Partei (NRP) hatte fast stets die beiden für sie wichtigsten Ministerien inne: das Religionsministerium und das Innenministerium. So konnte sie über Jahrzehnte hinweg unter dem Schutz der sozialdemokratischen Mehrheit in ihren Bereichen eine Politik treiben, die an den Grundsätzen der religiösen Orthodoxie ausgerichtet war.

Religiöser Einfluß im Erziehungswesen

Die Ergebnisse dieser Politik zeigen sich z. B.

sehr deutlich im Erziehungswesen. Zunächst gab es in Israel ein aus der vorstaatlichen Zeit stammendes Schulsystem, das parteipolitisch gegliedert war. Im Jahre 1953 verabschiedete die Knesset ein Gesetz über das „staatliche Erziehungswesen". Darin wurde ausdrücklich festgestellt, daß die Erziehung in den staatlichen Schulen „ohne jede Bindung an eine Partei, gemeindliche Körperschaft oder sonstige Organisationen" erfolgen solle. Gleichzeitig wurde diese Bindung aber durch eine andere ersetzt; denn das nunmehr gesetzlich verankerte Schulsystem ist keineswegs einheitlich, sondern unterscheidet zwei Arten von staatlichen Schulen. Neben den allgemeinen „staatlichen Schulen" gibt es „religiöse staatliche Schulen", und das Gesetz unterscheidet zwischen „staatlicher Erziehung" und „religiöser staatlicher Erziehung". Die letztere ist dadurch gekennzeichnet, daß „ihre Einrichtungen nach Lebensart, Lehrplan, Lehrern und Inspekteuren religiös sind". Dies findet seinen Niederschlag vor allem in den Ergänzungslehrplänen, die zu den allgemein-verbindlichen Grundlehrplänen hinzutreten; sie sind „dem Studium des schriftlichen und mündlichen religiösen Rechts (d. h.der Thora) gewidmet", haben „eine religiöse Lebensweise zum Ziel" und bedingen „innerhalb des Erziehungsinstituts religiöse Bräuche und Atmosphäre". Das Gesetz schreibt auch die Bildung eines „Rates für die religiöse staatliche Erziehung“ vor, dem der Erziehungsminister die Ergänzungslehrpläne für die staatlichen religiösen Schulen vorlegen muß und der u. a. auch sein Veto bei der Anstellung und Weiterbeschäftigung von Lehrern, Schulleitern und Inspekteuren einlegen kann Es gehört keine große Phantasie dazu, sich die Einflußnahme des orthodoxen Establishments auf diesen Teil des staatlichen Schulwesens im einzelnen vorzustellen.

Neben den beiden Formen von staatlichen Schulen gibt es außerdem „staatlich anerkannte Schulen", die unter bestimmten Voraussetzungen (z. B. Einführung des Grundlehrplans) vom Staat finanziell weitgehend getragen werden, aber in der Gestaltung ihrer Angelegenheiten freier sind. Hier zeigt sich wieder die Differenzierung innerhalb der Orthodoxie: Während die Kreise, die in den religiösen Mehrheitsparteien vertreten sind, die staatlichen religiösen Schulen als ihre Domäne betrachten, unterhält die extrem orthodoxe Agudat Israel ihre eigenen staatlich anerkannten Schulen und bleibt damit bewußt außerhalb des staatlichen Erziehungssystems. übrigens zeigt sich gerade am Erziehungssystem, wie schwer es ist, die Bedeutung der Religion im Bewußtsein der israelischen Bevölkerung genauer zu bestimmen. Die Wählerzahlen der religiösen Parteien bewegen* sich seit der Staatsgründung regelmäßig zwischen etwa 12 und 14 Prozent der Wählerstimmen. Die religiösen Schulen werden jedoch von etwa einem Drittel der jüdischen israelischen Kinder besucht. Welche Gründe für die Wahl der Schule im einzelnen maßgebend sind, läßt sich kaum ermitteln. Immerhin bringt ein Drittel der Bevölkerung durch die Wahl der Schule seine grundsätzliche Überein-stimmung mit den Vorstellungen und Zielen der religiösen Orthodoxie zum Ausdruck.

Das Erziehungswesen ist nur ein Beispiel für den Einfluß der religiösen Parteien auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens. Daneben gibt es eine lange Liste von Themen, die immer wieder Gegenstand der öffentlichen Diskussion und oft heftiger Auseinandersetzungen sind und die regelmäßig auch als Themen der Koalitionsverhandlungen auftauchen. Eins der wichtigsten wurde schon genannt: der Bereich des Personenstandsrechts und die Frage „Wer ist Jude?". Der Streit über diese Fragen ist keineswegs beendet; vielmehr wird jede gesetzliche Regelung bei nächster sich bietender Gelegenheit wieder in Frage gestellt. Dies gilt besonders für die Definition des Begriffs Jude im Rückkehrgesetz, die die Orthodoxen wieder ganz im Sinne der halachischen Tradition gefaßt wissen wollen; außerdem fordern sie jetzt, daß durch Gesetz festgelegt werden soll, daß auch im Ausland erfolgte Übertritte zum Judentum nur anerkannt werden sollen, wenn sie vor einem orthodoxen Rabbinerkollegium vollzogen wurden. Damit soll also der liberalisierende Einfluß des Diasporajudentum weiter zurückgedrängt werden.

Der Sabbat als Politikum

Ein anderes Thema, das vielfältigen Stoff für dauernde Konflikte enthält, ist die Einhaltung des Sabbats. Der siebente Tag der Woche, der Sabbat, ist seit der biblischen Zeit für die jüdische Religion ein besonders ausgezeichneter und geheiligter Tag. Er hat vor allem in der Diaspora für die Juden eine zentrale Bedeutung gewonnen, weil er ein sehr deutlich sichtbares Unterscheidungszeichen gegenüber der nichtjüdischen Umwelt war. Zudem ist er im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende mit vielfältigen religiösen Inhalten erfüllt worden, die für viele Juden geradezu die Quintessenz des jüdischen Lebens darstellen.

Die zentrale biblische Vorschrift für den Sabbat besagt, daß man an ihm keinerlei Arbeit tun, sondern „ruhen" soll, wie Gott am siebenten Schöpfungstag geruht hat. So steht es im Dekalog, in den „Zehn Geboten" (2. Mose 20, 8— 11). Im Laufe der Zeit haben sich zahlreiche detaillierende und präzisierende Vorschriften darum herumgebildet. Sie stellen ein sehr charakteristisches Beispiel für die Auslegungstradition der jüdischen religiösen Gesetze dar, die in ständigem Bemühen, alle denkbaren Möglichkeiten zu erfassen und alle vorstellbaren Übertretungen von vornherein auszuschließen, ein dichtes Geflecht von Vorschriften wie einen „Zaun“ um das jeweilige Gebot oder Verbot herum errichtet haben.

Solche Traditionen haben aber stets die Neigung, sich zu verselbständigen. Sie wird noch dadurch unterstützt, daß die jüdische Überlieferung die „schriftliche Thora" (d. h. die hebräische Bibel, insbesondere die Fünf Bücher Mose) und die „mündliche Thora" (d. h. die Auslegung der Bibel, zunächst in der Mischna, dann im Talmud, der selbst wiederum eine Auslegung der Mischna darstellt) als grundsätzlich gleichwertig betrachtet. Deshalb haben nach orthodoxer Auffassung die ergänzenden und schützenden Bestimmungen der Auslegungstradition ihre eigene religionsgesetzliche Bedeutung, ungeachtet der Frage, ob sie unter veränderten Umständen tatsächlich noch die Funktion haben, das ursprüngliche biblische Gebot oder Verbot zu schützen.

Ein kennzeichnendes Beispiel dafür ist die Verwendung von „Feuer" am Sabbat. In der Antike und bis zum Beginn der Neuzeit stellte das Anzünden von Feuer zweifellos eine „Arbeit" dar und war deshalb am Sabbat verboten. Man ließ am Freitagabend (der Sabbat beginnt jeweils am Freitag mit dem Sonnenuntergang) die Lichter ausbrennen und aß am Sabbat vorgekochte und warmgehaltene Speisen. (übrigens wurde daraus eine regelrechte Kunst entwickelt, so daß die Sabbatmahlzeit trotz dieser Behinderung besonders gut zu sein pflegt.) Das Verbot, am Sabbat Feuer anzuzünden, hat sich aber verselbständigt, so daß auch das Einschalten des elektrischen Lichts, eines Elektro-oder Gasherdes usw. nach herrschender orthodoxer Auffassung darunter fällt. Die weitergeführte Gesetzesinterpretation hat sogar ausdrücklich das Einschalten des elektrischen Stroms in das Verbot einbezogen, so daß dies auch für andere Verwendungen, z. B. für die Benutzung des Telephons, gilt, (übrigens ist auch das Rauchen am Sabbat deshalb verboten, weil man dazu Feuer anzünden muß.)

Es gibt jedoch Auswege aus den dadurch entstehenden Schwierigkeiten, die für den Außenstehenden oft schwer verständlich sind. Nicht nur, daß sich Speisen in einem Elektroherd, der eingeschaltet bleibt, beliebig lange und auf jeder gewünschten Temperatur warm halten lassen, auch das Einschalten des Stroms läßt sich ohne menschliches Zutun mit Hilfe einer Zeituhr, einer „Sabbatuhr", bewerkstelligen — denn es ist ja nur dem Menschen verboten, diese „Arbeit" zu tun. Man sollte allerdings, bevor man diese Dinge belächelt oder verurteilt, das darin zum Ausdruck kommende Verhältnis zur jüdischen Tradition genauer bedenken.

Das eben erwähnte Beispiel berührt allerdings kaum unmittelbar die öffentliche Diskussion, da jeder in seinen eigenen vier Wänden tun und lassen kann, was er will, so daß niemand in seiner persönlichen Lebensführung durch diese Bestimmungen eingeschränkt wird. Anders steht es mit der Thora-Auslegung, die das Fahren am Sabbat verbietet. Auch dies war jedenfalls in früheren Zeiten mit Arbeit verbunden, zumal die biblische Vorschrift ausdrücklich die Haustiere in das Gebot der Sabbatruhe mit einbezieht, d. h. also auch die Zugtiere für ein Fahrzeug. Auch diese Bestimmung hat sich verselbständigt und gilt nun ebenfalls für moderne Verkehrsmittel, die ohne Menschen-oder Tierkraft angetrieben werden. Die orthodoxen Kreise haben stets versucht, ein allgemeines Verkehrsverbot für den Sabbat durchzusetzen. Das ist ihnen jedoch nicht gelungen. Allerdings ist es auf indirekte Weise zu einem weitgehenden Stillstand des öffentlichen Verkehrs am Sabbat gekommen. Grundlage dafür ist einerseits das Gesetz über die Ruhetage aus dem Jahre 1948, wonach der Sabbat und die jüdischen Feiertage als allgemeine Ruhetage gelten (wie in den christlichen Ländern!). Andererseits besagt das Gesetz über die Arbeitszeitregelung aus dem Jahre 1951, daß jedem Arbeitnehmer einmal in der Woche eine zusammenhängende Arbeitspause von mindestens 36 Stunden zusteht und daß diese für jüdische Arbeitnehmer mit dem Sabbat zusammenfallen muß. Entsprechende Regelungen gelten für die Feiertage. Dadurch ergibt sich ein weitgehender Arbeitsstillstand am Sabbat und an den jüdischen Feiertagen — ganz ähnlich wie in den meisten christlichen Ländern am Sonntag und an den christlichen Feiertagen. Dem ausländischen Besucher fällt aber besonders auf, daß dies auch für den öffentlichen Verkehr gilt, und er wird zudem in aller Regel auch auf die damit zusammenhängenden Probleme und Diskussionen hingewiesen, (übrigens sind für den innerstädtischen Verkehr die örtlichen Instanzen zuständig; deshalb gibt es in Haifa, im Unterschied zu den übrigen Städten, am Sabbat einen begrenzten Autobusverkehr.)

Hier ergibt sich wieder eine interessante, differenzierte Antwort auf die Frage, ob Israel eine Theokratie ist. Einerseits ist wiederum deutlich, daß dies im formalen Sinne nicht zutrifft, denn das von der jüdischen Tradition geforderte allgemeine Verkehrsverbot gibt es nicht. Der private Verkehr bleibt von der beschriebenen Regelung völlig unberührt; wer will, kann am Sabbat sein Auto ungehindert benutzen. Es gibt auch private Taxiunternehmen, die in den Städten am Sabbat und an den Feiertagen auf festen Routen zu einem verbilligten Fahrpreis verkehren. Auch der Touristenverkehr mit Autobussen läuft praktisch uneingeschränkt weiter. Gleichwohl geht gerade in dieser Frage ein ständiger Druck von den orthodoxen Kreisen aus. Straßen, Wohnviertel, ja ganze Ortschaften werden am Sabbat für den Verkehr gesperrt, um auf diese Weise die Einhaltung des Fahrverbots zu erzwingen. Und immer wieder wird versucht, eine verschärfte Sabbat-Gesetzgebung durchzusetzen. Sie soll nicht nur den Verkehr betreffen, sondern z. B. auch das Offenhalten von Cafes, Restaurants und Tankstellen verbieten, die Benutzung von Telephon und Fahrstühlen in Hotels untersagen, keine Rundfunk-und Fernsehsendungen am Sabbat zulassen usw. Es ist leicht erkennbar, daß hier ständig ein erheblicher Konfliktstoff bereitliegt, der jederzeit wieder die israelische Öffentlichkeit in heftige Auseinandersetzungen stürzen kann. Die Forderung, daß Israel möglichst weitgehend einer Theokratie entsprechen solle, verstummt keineswegs, sondern findet gerade in jüngster Zeit neuen Auftrieb.

Es soll hier jetzt nicht auf die lange Liste weiterer Probleme eingegangen werden, die die ständige öffentliche Diskussion in Israel über die Rolle der Religion im öffentlichen Leben wachhalten. (Uri Sahm schildert vieles davon in seinem Beitrag.) Viele von ihnen sind Dauerthemen, wenn auch von verschiedener Bedeutung und P. c-ichweite: die Einhaltung der jüdischen Speisevorschriften, insbesondere das Verbot von Schweinefleisch; die Befreiung der Mädchen vom Militärdienst — jedenfalls der religiösen Mädchen!; der Kampf gegen die Autopsie, die aus medizinischen Gründen bei Verstorbenen vorgenommen wird (sie gilt als Leichenschändung) und vieles andere.

Religiöse Territorialansprüche

Wir haben bisher zwei Phasen des Problems der theokratischen Struktur des jüdischen Gemeinwesens in Palästina bzw. Israel behandelt. In der Zeit vor der Staatsgründung betraf die religiöse Seite der Organisation der jüdischen Gemeinschaft im Mandatsgebiet überwiegend das Privatleben des einzelnen Juden; er konnte sich dem aber entziehen, indem er aus dem Verband der Knesset Israel ausschied. Nach der Errichtung des Staates Israel wurde dies jedoch zu einem Problem der Struktur des Staates, welches das öffentliche Leben ständig beschäftigte und vielfach belastete. Allerdings blieb es zunächst im wesentlichen auf den innenpolitischen Bereich beschränkt.

Dies änderte sich jedoch mit dem Jahre 1967. Im Junikrieg dieses Jahres eroberte Israel umfangreiche Territorien, die vorher nicht zum Gebiet des Staates Israel gehört hatten. Abgesehen von allen militärischen und Sicherheitsfragen, die hier nicht im einzelnen erörtert werden sollen, hatte die faktische Herrschaft über diese Gebiete für die Israeli eine sehr grundsätzliche Bedeutung: Es handelte sich um wesentliche Teile des Landes, in dem das Volk Israel in biblischer Zeit gelebt hatte. Damit erhielt die Frage der Bedeutung der Religion für die israelische Politik einen neuen Gegenstand und, wie sich bald zeigen sollte, eine neue Dimension.

Die religiösen Traditionalisten hatten zwar schon immer die Auffassung vertreten, daß Israel aus religiösen Gründen Anspruch auf das ganze Gebiet habe, das ihm in-biblischer Zeit gehört hatte. Diese Auffassung blieb aber ohne politische Bedeutung; denn bis zum Junikrieg 1967 hat keine israelische Regierung jemals ernsthaft erwogen, die Grenzen (oder genauer gesagt: die international anerkannten Waffenstillstandslinien) von 1949 von sich aus in Frage zu stellen oder gar gewaltsam zu verändern — auch wenn von arabischer Seite oft das Gegenteil behauptet worden ist. Deshalb blieben derartige Forderungen wirkungs-lose Deklamationen und wurden auch allgemein als solche betrachtet.

In der ersten Zeit nach dem Junikrieg standen in der öffentlichen Diskussion in Israel die Sicherheitsfragen und das Problem eines möglichst baldigen Friedens mit den arabischen Nachbarstaaten im Vordergrund. Die religiöse Bedeutung der eroberten Gebiete schien zunächst kein zentrales Thema zu sein. Allerdings war sie von orthodoxen Kreisen schon bald nach dem Krieg ausgesprochen worden. So erließ der sephardische Oberrabbiner von Israel, Jizchak Nissim, ein religiöses Edikt, das die Räumung der besetzten Gebiete verbot. Dieses „Verbot" wurde in einer Psak halacha erlassen, die mit einer päpstlichen Bulle oder Enzyklika zu vergleichen ist. Darin ermahnte der Oberrabbiner die Juden als Individuen sowie die israelische Regierung, sich auch nur „des Gedankens" zu enthalten, jenes Gebiet zurückzugeben, das Gott seinem Volk verheißen hatte.

Wer die Situation in Israel in den Jahren nach 1967 beobachtet hat, konnte deutlich eine allmähliche Verschiebung der Akzente beobachten. Bis dahin hatte man mit den Grenzen von 1949 gelebt. Eine ganze Generation war herangewachsen, für die Israel in diesen Grenzen die Heimat war. Auch das nationale Geschichtsbewußtsein hatte sich darauf eingestellt. Die Bibel war und ist in Israel vor allem auch deshalb ein so wichtiges Buch, weil sie die Geschichte des eigenen Volkes in ihren entscheidenden Anfängen erzählt und weil der Israeli die Schauplätze dieser Geschichte mit eigenen Augen sehen kann. Deshalb gehören Ausflüge zu historischen Stätten zum festen Programm der Schulausbildung. Aber man stellte sich auf die Orte und Gebiete ein, die man besuchen konnte; das übrige war mehr oder weniger ferne Vergangenheit ohne konkreten Bezug zur eigenen Realität. (Es war oft überraschend, wie die vorzügliche Sachkenntnis der israelischen Fremdenführer über die biblische Geschichte an den damaligen Grenzen Israels schlagartig abbrach.)

Nun erschlossen sich plötzlich ganz neue Bereiche. Man konnte nicht nur in die Altstadt von Jerusalem, an die „Klagemauer" (die von den Juden nie so genannt wurde, sondern die „Westmauer" oder einfach die „Mauer", hakotel, heißt), sondern auch in die Kerngebiete des Berglandes, das in biblischer Zeit einen wesentlichen Teil des von den Israeliten bewohnten Landes gebildet hatte. Man konnte jetzt so traditionsträchtige Stätten besuchen wie Hebron, Bethlehem, Jericho, Sichern und Samaria. Das Geschichtsbild erweiterte sich, und damit veränderte sich auch das Verhältnis zu diesen Stätten. Man fing an, sich daran zu gewöhnen, es als selbstverständlich zu nehmen, daß alle diese Gebiete des biblischen Israel zugänglich waren und daß sie faktisch zu einem Bestandteil des gegenwärtigen Israel geworden waren. Dies kommt auch in der Terminologie zum Ausdruck. Die Diskussion darüber, ob man von „eroberten", „besetzten", „verwalteten" oder gar „befreiten Gebieten" reden sollte (meistens sagt man im allgemeinen Sprachgebrauch einfach: „die Gebiete"), erledigte sich für das Bergland der „Westbank", d. h.des Westufers des Jordan, am einfachsten dadurch, daß man die biblischen Bezeichnungen verwendete: Juda (Jehuda) für den Südteil und Samaria (Schomron) für den Nordteil. So wird es weitgehend praktiziert — bis hin zur Wetteransage in den Rundfunknachrichten.

Mit den biblischen Bezeichnungen trat auch der biblische Aspekt der jüdischen Geschichte stärker ins Bewußtsein. Nicht nur die Heldentaten Josuas, Jephtas, Davids usw., nicht nur die Kämpfe mit den Kanaanäern, Philistern, Assyrern, Babyloniern usw., sondern auch die religiösen Aussagen über das Land wurden immer häufiger zitiert. Im Vordergrund standen dabei jene biblischen Texte, in denen es heißt, daß Gott den Israeliten das Land gegeben habe. Sie wurden nach und nach für viele, die früher kaum religiöse Argumente verwendet hatten, zur Begründung für den Anspruch Israels auf das ganze Land. Vielfach wurde die Argumentationsbasis ausdrücklich verändert. Während man früher die Legitimität des Staates Israel mit dem UNO-Beschluß vom November 1947 zu begründen pflegte, kann man heute hören: „Wir sind nicht hier auf Grund irgendeines UNO-Beschlusses, sondern auf Grund der Bibel." Man spricht von „historischen Rechten" und begründet sie mit religiösen Aussagen der Bibel.

Koalition zwischen Orthodoxie und Nationalismus

Bemerkenswert ist dabei die Tatsache, daß dies keineswegs nur die Argumentation religiöser oder nationaler Extremisten ist, sondern daß der „Mann auf der Straße" und vor allem die Jugend weithin so denkt. Ihre politische Brisanz erhält diese Bewußtseinsveränderung allerdings erst dadurch, daß sie zum Mittel der Politik gemacht wird. Schon seit längerem zeichnete sich eine geheime Koalition ab, die seit dem Regierungsantritt Menachem Begins im Mai 1977 auch zur offiziellen Koalition geworden ist: Die Nationalisten der extremen zionistischen Rechten haben sich mit den religiösen Extremisten der Orthodoxie verbündet und kämpfen gemeinsam für das religiös-historisch-nationale Recht auf das ganze Land.

Die Situation hat sich vor allem aus zwei Gründen erheblich zugespitzt. Der eine Grund ist die Tatsache, daß der religiös-nationale Anspruch auf die 1967 eroberten Gebiete nicht mehr nur verbal und mit politischen Mitteln vertreten wird, sondern daß religiöse Gruppen seit einigen Jahren damit begonnen haben, durch militante und illegale Unternehmungen Fakten zu schaffen und damit die Regierung unter Druck zu setzen. Dies gilt insbesondere für die 1974 gegründete Bewegung „Gusch Emunim" („Block der Getreuen"), die eine militante Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten betreibt. Sie verficht mit äußerster Konsequenz und mit kämpferischem Fanatismus das Ziel, daß das ganze Land, das in der Zeit der Bibel zu Israel gehörte, ihm auch heute gehören soll. Sie tut das mit einer Begründung, die sich auf die einfache Formel bringen läßt: „Gott hat uns dieses Land gegeben, darum gehört es uns."

Der zweite Grund für die Zuspitzung liegt in der neuen politischen Konstellation seit 1977. Bis dahin agierten die religiösen Extremisten von Gusch Emunim und andere aus der Opposition heraus. Sie setzten zwar die Regierung ständig unter Druck, und diese gab ihnen auch nach, aber sie machte sich die religiösen Argumente der Annexionisten niemals ausdrücklich und öffentlich zu eigen. Dies jedoch hat Begin vom ersten Augenblick an und ohne jede Zurückhaltung getan. Das ist insofern nicht verwunderlich, als die Forderungen der religiösen Extremisten mit Begins eigenem politischen Konzept im Grundsatz übereinstimmen. Der Wahlspruch der von ihm geführten nationalistischen Cherut-Partei entstammt einem Gedicht ihres führenden Kopfes aus der Anfangszeit, Wladimir (Zeev) Jabotinski: „Beide Ufer des Jordan — dieses gehört uns und das andere auch."

Damit stellt sich die Frage, ob Israel ein theokratischer Staat ist oder sein will, in neuer Weise und mit größerer Schärfe als je zuvor. Denn niemals bisher hat eine israelische Regierung in dieser Form religiöse Argumente zur Grundlage ihres politischen Handelns erklärt, wie Begin es tut. Darin wird aber zugleich auch die ganze Widersprüchlichkeit sichtbar, die in einer solchen Haltung liegt. Israel nimmt einerseits immer wieder für sich in Anspruch, ein Staat „wie jeder andere" zu sein, der keine Nötigung sieht, seine Existenz anderen gegenüber zu rechtfertigen. Andererseits begibt sich die Regierung Begin mit ihrer Argumentation „Gott hat uns dieses Land gegeben" auf eine Ebene, die sich jeder politischen Beurteilung entzieht und die deshalb von vornherein keine Basis für sinnvolle politische Verhandlungen darstellen kann. Denn wie sollen sich Andersdenkende und Anders-glaubende — Muslime, Christen, Atheisten usw. — darauf einlassen, daß politische Entscheidungen damit begründet werden, Gott habe den Juden dieses Land gegeben?

Religiöses Recht auf das ganze Land?

Gleichwohl seien einige Anmerkungen zu den theologischen und historischen Aspekten dieser Argumentation gemacht. Die Israeliten haben in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends v. Chr. das Land zwischen Jordan und Mittelmeer, Libanon und Negevwüste nach und nach besetzt. Die historische Forschung ist sich heute darüber einig, daß dies ein allmählicher Vorgang war, bei dem die israelitischen Stämme, die bis dahin als Nomaden in den Steppengebieten an den Rändern des Landes gelebt hatten, zunächst in die un-besiedelten Gebiete eindrangen, teils durch Rodung neue Siedlungsmöglichkeiten schufen (vor allem auf dem Gebirge), schließlich aber mit den damaligen Bewohnern des Landes, den Kanaanäern, den Kampf um die Vorherrschaft im Lande austragen mußten, den sie zu ihren Gunsten entscheiden konnten. Nur die südliche Küstenebene blieb von den Philistern bewohnt. Es besteht kein Zweifel daran, daß die Israeliten dies, wie alle antiken Völker, zugleich als einen Sieg ihres Gottes über die Götter der anderen Völker betrachteten. Das fand seinen Niederschlag darin, daß in der Bibel immer wieder dieses Land als eine Gabe Gottes an Israel bezeichnet wird, die auch schon den Erzvätern verheißen worden sei.

Ein fundamentalistisches Verständnis der Bibel, wie es bei Orthodoxen aller Religionen und Konfessionen üblich ist, wird eine solche historische Betrachtung nicht anerkennen, sondern wird sich auf den Wortlaut der göttlichen Verheißungen berufen, wie sie etwa an Abraham ergangen ist: „Erhebe deine Augen und sieh von der Stelle aus, an der du stehst [die Szene spielt auf dem nördlichen Gebirge in der Nähe von Bethel], nach Norden, nach Süden, nach Osten und nach Westen; denn das ganze Land, das du siehst, will ich dir und deinen Nachkommen für alle Zeiten geben" (1. Mose 13, 14 f.). Allerdings wird sich auch eine solche Auffassung mit der Zeitbedingtheit dieser Texte auseinandersetzen müssen. Denn im 5. Buch Mose wird z. B. die göttliche Anweisung gegeben, die kanaanäischen Bewohner des Landes auszurotten (z. B. 5. Mose 7, 1 ff.). Will man auch dies heute als unmittelbar gültiges Gotteswort verstehen? Oder wo liegen die Grenzen und welches sind die Kriterien für die Auswahl?

Eine weitere Frage, die sich in diesem Zusammenhang ergibt, ist die der Staatsform. Israel war seit der ersten Staatsgründung unter Saul und seinem Nachfolger David (etwa um 1000 v. Chr.) eine Monarchie, zeitweilig auch geteilt in die beiden Königreiche Israel im Norden (mit der Hauptstadt Samaria) und Juda im Süden (mit der Hauptstadt Jerusalem). Politische Selbständigkeit hat Israel nie in einer anderen Staatsform besessen. Jahrhundertelang hatte es jedoch unter persischer und hellenistischer Herrschaft keine staatliche Souveränität; in dieser Zeit war der Hohepriester die höchste religiöse und zugleich politische Instanz. (Damals war Israel also eine Theokratie!) Die Erwartungen auf Wiederherstellung der nationalen Einheit und Selbständigkeit, wie sie in der Bibel ausgesprochen werden, setzen stets das Wiederkommen eines Königs aus der Dynastie Davids voraus. Deshalb ist es konsequent, wenn ganz extreme orthodoxe Gruppen den Staat Israel überhaupt ablehnen, weil nur der Messias selbst als der erwartete Nachfolger Davids einen jüdischen Staat errichten kann. Eine moderne parlamentarische Demokratie läßt sich nicht biblisch begründen. Sie muß eine heute vertretbare politische Begründung finden (die der Staat Israel zweifellos besitzt!).

Schließlich zur Frage der Grenzen! Die religiöse Argumentation lautet: Wir haben Anspruch auf das ganze Land. Aber was ist das „ganze" Land? Oft wird in diesem Zusammenhang von einem „historischen Recht" gesprochen, so daß die Frage auch historisch gestellt werden muß. Die extreme Forderung der Cherut-Partei — jedenfalls in ihrem Wahlspruch — wurde schon erwähnt: beide Ufer des Jordan! Historisch ist dazu zu sagen, daß in der Tat in der Zeit der größten Ausdehnung des israelischen Reiches der nördliche Teil des Ostjordanlandes dazugehörte. Das heutige Amman war aber die Hauptstadt des Ammoniterreiches und südlich davon lebten Moabiter und Edomiter. David hatte außerdem noch eine Reihe von Nachbarstaaten unterworfen und tributpflichtig gemacht, so daß sein Herrschaftsgebiet weit über israelitisches Territorium hinausging. Dies spiegelt sich in der Form einer göttlichen Verheißung an Josua wider: „Von der Wüste und dem Libanon bis an den großen Strom, den Euphrat, das ganze Land der Hethiter, und bis an das große Meer gegen Sonnenuntergang soll euer Gebiet reichen" (Josua 1, 4). Ist dies das „ganze" Land, auf das sich die religiöse Tradition beruft — bis zum Euphrat?

Die tatsächlichen Grenzen der Königreiche Israel und Juda waren großen Schwankungen unterworfen. Im Jahre 722 v. Chr. vernichteten die Assyrer das Nordreich Israel, so daß von da an die Staatsgrenze nur wenig nördlich von Jerusalem verlief; das nördliche Gebiet, das heute als „Samaria" bezeichnet wird, wurde seither von einer Mischbevölkerung bewohnt, den späteren Samaritanern. Auch das verbleibende Gebiet von Juda wurde in den Kämpfen mit den Assyrern und später mit den Babyloniern mehr und mehr reduziert, so daß der judäische König zeitweilig nicht viel mehr als den etwas erweiterten Stadtstaat Jerusalem beherrschte. Die Abtrennung von Gebieten durch feindliche Mächte wurde aber von den Propheten oft ausdrücklich als gottgewollte Strafe bezeichnet. Auf welche Grenzen will Israel also ein religiös begründbares „Recht" geltend machen? (übrigens gehörte die südliche Küstenebene mit den Philisterstädten Asdod, Askalon usw., die heute im Kerngebiet des Staates liegt, in biblischer Zeit niemals zu Israel!)

Diese Überlegungen sollen nur zeigen, wie vage solche Begründungen eigentlich sind und wie wenig es möglich ist, ein religiös-historisches Recht Israels auf die staatliche Beherrschung des Landes in bestimmten Grenzen zu definieren. Die ganze Frage wird dadurch vollends problematisch, daß auch die islamischen Araber für sich in Anspruch nehmen, daß dieses Land für sie religiös geheiligter Boden ist. Auch der Islam hat dieses Land im Namen Gottes erobert. Im siebten Jahrhundert n. Chr. nahmen die Heere des Propheten Mohammed Jerusalem ein. Sie errichteten auf dem weiten Platz, den einst der König Her-ödes um den Tempel herum angelegt hatte, den Felsendom (die sogenannte Omar-Moschee) und die Aksa-Moschee und machten dadurch Jerusalem zu einem Teil des dar-alislam des „Hauses des Islams", d. h.der islamischen Welt, und zu einem der wichtigsten islamischen Wallfahrtsheiligtümer. Haben deshalb nicht auch die muslimischen Araber ein religiös begründetes „historisches Recht" auf das Land? Zählt das historische Recht derer, die vor zweitausend Jahren aus dem Land vertrieben wurden, mehr als das historische Recht derer, die seit dreizehnhundert Jahren dort leben? Wie will man eins gegen das andere abwägen? Und ist nicht der Gott des Propheten Mohammed derselbe eine Gott wie der Gott Abrahams und Davids?

Was ist religiöser Zionismus?

Schließlich gehört zum Gesamtbild dieser neuen, theokratischen Tendenzen, daß dabei nicht selten offen antidemokratische Töne vernehmbar werden. So erklärte etwa Rabbiner Mosche Lewinger, der Führer der Siedler von Kirjat Arba bei Hebron, die ihre Siedlung in einem langen Kampf gegen die israelische Regierung durchgesetzt und legalisiert haben: „Die jüdisch-nationale Wiedergeburt ist wichtiger als Demokratie." Und auch der Friede ist nur „ein Instrument für die Erfüllung einer Vision", nämlich der Vision von der „moralischen und irdischen Integrität des jüdischen Volkes und Eretz Israels (d. h.des Landes Israel), die wichtiger ist als hypothetischer Friede"

Allerdings haben sich inzwischen auch andere Stimmen erhoben. Es gibt eine breitgefächerte Sammlungsbewegung, die sich Zionut acheret („ein anderer Zionismus") nennt und sich entschieden gegen die Siedlungspolitik des Gusch Emunim wendet. Zu ihr gehört auch die religiös-zionistische Gruppe Oz weSchalom („Kraft und Frieden"), die sich bewußt als Gegengruppe zu Gusch Emunim versteht. Sie bestreitet vor allem die Berechtigung, den Besitz des Landes als wichtigste religiöse Forderung zu erklären und alle ethischen Grundsätze der jüdischen Religion dahinter zurücktreten zu lassen. Der Sprecher dieser Gruppe, Professor Uriel Simon von der religiösen Bar-Ilan-Universität, erklärte dazu: „Das jüdische Volk ist erwählt worden, um mehr Verpflichtungen statt mehr Rechte zu übernehmen. Während ein Anhänger von , Gusch Emunim'sagen wird, daß die Araber keine nationalen Rechte im Lande haben, erklären wir, daß es unsere Aufgabe ist, gegenüber den Arabern volle Gerechtigkeit zu üben ... , Oz weSchalom'ist angetreten, um für einen alternativen religiösen Zionismus zu kämpfen, der die Aufforderung, gegenüber Minoritäten gerecht zu sein, als eine religiöse jüdische Pflicht begreift. Diese Pflicht wiegt nicht leichter als diejenige, das Land aufzubauen. Wir glauben, daß das jüdische Volk mit seinem schweren Schicksal als verfolgte Minderheit einen Staat aufbauen muß, der mit anderen ethnischen Minoritäten in Frieden lebt. Nicht die Größe des Landes bildet den Maßstab für den Erfolg oder den Mißerfolg des Zionismus, sondern seine Qualität entscheidet."

Das letzte Zitat zeigt noch einmal sehr deutlich, daß das Problem der theokratischen Tendenzen in der israelischen Politik auch eine nach außen gerichtete Seite hat. Sie betrifft vor allem das Verhältnis zu den palästinensischen Arabern, den Mitbewohnern der israelischen Juden in dem von beiden beanspruchten Gebiet. Die Äußerungen Simons machen zudem sichtbar, wie gerade in religiösen Kreisen auch die ethische Komponente dieses Problems erkannt wird.

Der Kampf um das Selbstverständnis des jüdischen Staates

Ist Israel ein theokratischer Staat? Unsere Skizze der historischen Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Religion in Israel konnte diese Frage nicht abschließend beantworten. Sie hat aber einige Grundprobleme deutlich gemacht.

Die Frage „Wer ist Jude?" ist insofern eine Schlüsselfrage, als in ihr der Kern des Problems besonders klar erkennbar wird. Die traditionelle Antwort auf diese Frage setzt die religiöse und die nationale Zugehörigkeit zum Judentum ineins. Wer Jude ist, ist zugleich Angehöriger des jüdischen Volkes und der jüdischen Religionsgemeinschaft; eine Trennung beider Aspekte ist von der jüdischen Tradition her nicht möglich. Dies wird besonders deutlich beim Übertritt eines Nichtjuden zum Judentum: er wird dadurch nicht nur im religiösen Sinne Jude (wie etwa im Christentum), sondern zugleich auch Angehöriger des jüdischen Volkes. Insofern ist diese traditionelle Definition des Juden ihrem Wesen nach theokratisch.

Demnach müßte ein jüdischer Staat auf der Grundlage dieses traditionellen Verständnisses von Judentum notwendigerweise theokratisch verfaßt sein. Seit der Aufklärung hat sich aber das Selbstverständnis eines Teils der Juden, vor allem in Europa, grundlegend gewandelt, so daß für sie diese Identität von religiösem und nationalem Judesein nicht mehr gegeben ist. Deshalb wäre ein jüdischer Staat, der ausschließlich nach den Vorstellungen der Zionisten gestaltet worden wäre, gewiß weit von jeglichen theokratischen Tendenzen entfernt gewesen. (Auch die zahlenmäßig kleine religiös-zionistische Misrachi-Partei trat damals nicht für einen theokratisch verfaßten Staat ein.) Durch die Zusammenfassung von nichtreligiösen Zionisten und in Palästina lebenden religiösen jüdischen Bevölkerungsgruppen in der Knesset Israel zur Zeit des britischen Mandats wurde der Konflikt jedoch für den Augenblick der Staats-gründung gleichsam vorprogrammiert.

Denn was für die Definition des Judeseins gilt, findet seine Entsprechung in allen wichtigen Fragen der Lebensgestaltung. Für das traditionelle Judentum sind sie in der Thora bzw. in der sie auslegenden Halacha festgelegt, für den modernen säkularisierten Juden hingegen haben diese Überlieferungen keine verbindliche Bedeutung mehr. Deshalb entstand hier unausweichlich ein Grundsatz-konflikt, der sowohl prinzipielle Entscheidungen als auch ständig neue Regelungen im Einzelfall notwendig macht und dennoch nie zur Ruhe kommen kann.

Dabei wird im Grunde mit sehr ungleichen Waffen gekämpft. Die große Mehrheit der Israeli ist sich durchaus der Bedeutung bewußt, die die religiöse Tradition in der zweitausend-jährigen Geschichte der Diaspora für den Zusammenhalt und das überleben des jüdischen Volkes gehabt hat, und ist infolgedessen zur Rücksichtnahme auf die traditionsbewußten Kreise und zu Zugeständnissen bereit, sofern sie das persönliche Leben oder das der Gemeinschaft nicht in unzumutbarer Weise beeinträchtigen. Die Vertreter der Orthodoxie hingegen versuchen in oft militanter Weise, ihren Einfluß ständig zu vergrößern und die Befolgung der halachischen Vorschriften für immer weitere Lebensbereiche verbindlich zu machen.

Hier zeigt sich, daß es dabei nicht einfach um das Verhältnis von Staat und Religion geht, sondern daß der Konflikt seine eigentliche Schärfe dadurch bekommt, daß die religiösen Gesichtspunkte von einer intoleranten und militanten Orthodoxie vertreten werden, die nicht an einem gemeinsamen Bemühen um die Gestaltung des jüdischen Staates interessiert, sondern nur auf die Durchsetzung ihrer Forderungen bedacht ist. Insofern wäre die Situation in Israel wesentlich anders, wenn dort die gleiche Differenzierung des religiösen Lebens herrschte wie etwa in den USA und wenn diese auch ihren Niederschlag in der offiziellen Repräsentation der religiösen Gruppen mit den entsprechenden Auswirkungen auf die Gesetzgebung fände.

Die Zukunft der jüdischen Religion in Israel

Eine solche Differenzierung des religiösen Lebens könnte auch insgesamt zu einer anderen Einstellung eines Teils der israelischen Bevölkerung zur jüdischen Religion führen. Die durchaus vorhandenen traditionellen und emotionalen Beziehungen zur Bibel und den religiösen Überlieferungen finden keine Ausdrucksform, die für einen nichtorthodoxen jungen Israeli akzeptabel wäre. Es gibt aber viele Hinweise darauf, daß die ablehnende Haltung gegenüber der Religion in erster Linie eine Ablehnung der Orthodoxie ist, während eine liberalere, gegenwartsbezogene Form religiösen Lebens durchaus Widerhall finden würde.

Allerdings kann ich die Auffassung von Uri Sahm nicht teilen, daß die Gusch-Emunim-Bewegung einen positiven Ansatzpunkt darstellt Ich sehe in ihr eine höchst gefährli-ehe Verbindung von religiösem und nationalistischem (um nicht mit Amos Elon zu sagen „chauvinistischem") Fanatismus, die ich eher als Mißbrauch der Religion für einseitige politische Zwecke betrachten muß. Zudem würde ich es für außerordentlich bedenklich halten, wenn dies die zukünftige Weise wäre, „die israelische Wirklichkeit... religiös zu interpretieren", und der Weg, auf dem die „Suche nach der eigenen Identität und Religion" weiter voranschreiten sollte. Ich habe oben auf die ethischen Probleme aufmerksam gemacht, die in der prinzipiellen Mißachtung der Rechte anderer Menschengruppen im Namen der eigenen Religion liegen, und es er-schiene mir verhängnisvoll, wenn dies weiter um sich greifen würde. Zudem halte ich militanten Nationalismus, wo und in welcher Gestalt er immer auftauchen mag, in jedem Fall für einen Irrweg. Für Israel müßte er notwendig in die vollständige Isolierung führen. Schließlich müssen, hier noch einmal die Beziehungen zwischen Israel und der Diaspora zur Sprache kommen. Sie sind im Blick auf unser Thema keineswegs einheitlich. Auf der einen Seite werden aus der Diaspora heraus ständig Erwartungen und Forderungen an eine möglichst weitgehende Durchsetzung der religiösen Tradition im Sinne der Orthodoxie an Israel gerichtet. Die orthodoxen Kreise außerhalb Israels beobachten aufmerksam die Entwicklung und versuchen sie direkt oder indirekt zu beeinflussen. Man begegnet in Israel auch immer wieder Juden aus der Diaspora, die zwar in ihrem eigenen Lande die religionsgesetzlichen Vorschriften nicht allzu genau befolgen, die aber von Israel als jüdischem Staat erwarten, daß dies dort geschieht, und die selbst während ihres Aufenthalts in Israel ein Leben nach der Halacha führen möchten. Auf der anderen Seite gehören einflußreiche Kreise des amerikanischen Judentums nicht-orthodoxen Gruppen an und betrachten mit Mißtrauen die Entwicklung, vor allem nach der Übernahme der Regierung Begin und der damit verbundenen Stärkung des Einflusses der Orthodoxie in Israel.

Dies zeigt, daß die Frage der weiteren Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Religion in Israel nicht ohne den Blick auf die Diaspora beantwortet werden kann. Das gilt vor allem auch für die Möglichkeit der Entwicklung neuer religiöser Formen in Israel. Die Anstöße dazu kommen im wesentlichen aus dem Ausland, vor allem wiederum aus Amerika. Dabei ist interessant, daß gerade diese Kreise auch die Beziehungen zwischen Israel und der Diaspora als solche für ein Thema halten, dem sehr viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden muß, als es weithin geschieht. In Israel besteht vor allem unter den Jüngeren wenig Interesse und Verständnis für die Probleme der Diaspora. Der Blick ist oft mit einer erstaunlichen Einseitigkeit auf die eigenen Probleme gerichtet. Ohne die lebendigen Wechselbeziehungen mit der Diaspora kann Israel aber auf Dauer nicht existieren.

Wie wird die Zukunft aussehen? Hier muß ich noch einmal Uri Sahm entschieden widersprechen, wenn er im Schlußsatz seines Aufsatzes meint, daß „die Frage nach Religion in Israel auf die Dauer irrelevant“ werden könnte. Ich sehe keinerlei Anlaß für die Vermutung, daß dies geschehen könnte; meine eigenen langjährigen Beobachtungen gehen eher in die entgegengesetzte Richtung. Vor allem sehe ich nicht, daß in absehbarer Zukunft „die organisierte Orthodoxie auf eine kleine Gruppe unzeitgemäß lebender Sekten zusammenschrumpfen" könnte. Hier liegt m. E. eine völlige Verkennung der religiösen Vitalität der Orthodoxie wie auch ihrer institutioneilen Stärke zugrunde. Man mag das bedauern, aber es erscheint mir völlig unrealistisch, derartiges zu erwarten.

Das bedeutet aber nichts anderes, als daß die Auseinandersetzungen um die Frage, ob und in welchem Umfang Israel ein theokratischer Staat sein soll und kann, auch in Zukunft weitergehen werden. Dabei werden viele Faktoren den Gang der Dinge im einzelnen mitbestimmen: die innenpolitischen Kräfteverhältnisse, die außenpolitische Entwicklung, die Beziehungen zur Diaspora usw. Es ist schon oft die Gefahr beschworen worden, daß es bei einem Nachlassen des Drucks von außen in Israel zu einem „Kulturkampf" kommen könne. Selbst diese Möglichkeit ist keineswegs auszuschließen. Allerdings hat sich bisher immer wieder gezeigt, daß es genug besonnene Kräfte gab, um eine solche Gefahr zu bannen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. R. Rendtorff, Die religiösen und geistigen Wurzeln des Zionismus, in: Aus Politik und Zeit-geschichte B 49/76, S. 3— 17.

  2. Vgl. dazu im einzelnen Y. Freudenheim, Die Staatsordnung Israels, 1963; J. Badi, Religion und Staat in Israel, 1961.

  3. Beispiele dafür bei U. Sahm, oben, S. 24 f.

  4. Zur Verfassungsdebatte vgl. im einzelnen Freudenheim, a. a. O., S. 10— 43.

  5. Vgl.den Text des Gesetzes bei Badi, a. a. O., S. 158 ff.

  6. Vgl. hierzu und zu den folgenden Zitaten: Schonzeit für Vernunft. „Gusch Emunim" und die Folgen, Dokumentation des Deutsch-Israelischen Arbeitskreises für Frieden im Nahen Osten, Bonn 1978.

  7. Sahm, a. a. O.

Weitere Inhalte

Rolf Rendtorff, Dr. theol., geb. 1925 in Preetz/Holstein; nach dem Krieg Studium der Theologie in Kiel, Bethel, Göttingen und Heidelberg, -seit 1963 Professor für Alttestamentliche Theologie an der Universität Heidelberg; 1970— 1972 Rektor der Universität; Mitbegründer und Vizepräsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft 1966— 1977; Mitbegründer und Vorsitzender des Deutsch-Israelischen Arbeitskreises für Frieden im Nahen Osten; Vorsitzender der Studienkommission Kirche und Judentum der Evangelischen Kirche in Deutschland; Mitglied des Council of the World Union of Jewish Studies. Zahlreiche Veröffentlichungen auf dem Gebiet der alttestamentlichen Wissenschaft; ferner: Israel und sein Land, 1975; gemeinsam mit H. Meier-Cronemeyer und U. Kusche: Israel in Nahost, 3. Auflage 1975 (darin: Religion und Gesellschaft in Israel); Die religiösen und geistigen Wurzeln des Zionismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 49/76.