Arbeiterselbstverwaltung und Gewerkschaften in Jugoslawien
Gudrun Leman
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Zusammenfassung
Wenn die Arbeiterselbstverwaltung so funktioniert, wie es das Modell vorsieht, sind die Arbeitskollektive die Träger allen gesellschaftlich relevanten Handelns. Unter den Bedingungen der Arbeiterselbstverwaltung sind die Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Beziehungen aufgehoben. Die Arbeiter werden durch Assoziation, nicht durch Einstellung, Mitglied eines Arbeitskollektivs. Die Arbeitskollektive sind weitgehend autonom und fungieren als Kollektiv-Unternehmer. Es kann also in diesem System keine Polarisation zwischen Arbeitern und Arbeitgebern bzw. zwischen Arbeitern und Staat geben. Die Realität der Arbeiter-selbstverwaltung weicht von der normativen Konzeption ab. Die Einflußverteilung ist nicht gleichmäßig, sondern entsprechend der sozialen Macht der einzelnen Gruppen unterschiedlich. Am geringsten ist der Einfluß der unqualifizierten Arbeiter. Auch Partei und Regierung halten beachtliche Machtpositionen. In einem solchen Wirtschaftssystem kann die Gewerkschaftsorganisation nicht die klassischen Gewerkschaftsaufgaben übernehmen und die Arbeiterinteressen mit Hilfe von Streiks durchsetzen. Mit der Föderalisierung von Staat und Wirtschaft kam es auch zu einer Föderalisierung der jugoslawischen Gewerkschaftsorganisation. 1964 wurde das, Prinzip des demokratischen Zentralismus aufgegeben und beschlossen, daß alle Organisationen und Organe des jugoslawischen Gewerkschaftsbundes bei ihrer Arbeit selbständig sein sollen. Anfang der siebziger Jahre gab es Tendenzen, den Gewerkschaften in der Phase der unvollkommenen Arbeiterselbstverwaltung die Funktion zu übertragen, die Interessen der Arbeiterklasse innerhalb der Betriebe und gegenüber dem Staat zu vertreten. Diesen Anspruch kann die jugoslawische Gewerkschaft nicht einlösen. Die Arbeiter in den selbständigen Arbeitskollektiven haben eine Vielzahl einander widersprechender Interessen: hohe Einkommen, niedrige Preise, Sicherung der Entwicklung des eigenen Betriebes und der eigenen Region, Umweltschutz, Produktionsausweitung um jeden Preis und viele andere mehr. So bleiben den Gewerkschaften die Schutz-und Erziehungsaufgaben, sowie die Aufgabe der Konfliktschlichtung. Jeder Streik wird in Jugoslawien als ein Versagen der Gewerkschaften gewertet. Die jugoslawischen Gewerkschaften wirken eng mit Partei und Staat zusammen. Sie haben ihre Transmissionsfunktion nicht verloren.
Die jugoslawische Arbeiterselbstverwaltung gehört noch immer zu den faszinierendsten Wirtschafts-und Gesellschaftsmodellen unserer Zeit. Ihre Ausstrahlung auf die staatssozialistischen Länder ist, wie das polnische Beispiel zeigt, unvermindert stark. In diesen Ländern hat sich die Situation der Arbeiter nach der Umwandlung des Privateigentums an den Produktionsmitteln in Staatseigentum nicht in der erhofften Weise verändert. Entscheidungsfreiheit und demokratische Mitbestimmungsrechte wurden den Arbeitern vorent-halten. Es blieb bei Abhängigkeit, Unterordnung unter die Erfordernisse des Produktionsprozesses und Erscheinungen der Entfremdung. Die polnischen Arbeiter versuchten, ihre Lage mit Hilfe einer starken und von der Partei unabhängigen Gewerkschaft zu verändern. Dabei setzten sie die klassische gewerkschaftliche Waffe der Streiks ein. Sie wollen beides: unabhängige Gewerkschaften und Arbeiterselbstverwaltung. Arbeiterselbstverwaltung und unabhängige Gewerkschaften schließen jedoch einander aus, wie sich am jugoslawischen Beispiel zeigt.
Die Arbeiterselbstverwaltung
Der Anspruch der Arbeiterselbstverwaltung geht weit über alle bekannten Partizipationsmodelle hinaus: Die Entscheidungen über Inhalt und Ziele wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung sollen auf die Arbeitskollektive gesellschaft Wirtschaft und -licher übertragen werden. Die Verwaltung »freien Assoziationen Produzenten" sollen der diese Rechte direkt durch die Versammlungen oder durch Räte und Ausschüsse wahrnehmen. Die Geschichte der Arbeiterselbstverwaltung in den letzten dreißig Jahren ist eine Aufeinanderfolge von immer neuen Reformen, die auf unterschiedliche Weise alle zum Ziel hatten, durch Dezentralisation von Entscheidungsbefugnissen das „Absterben des Staates" zu forcieren und Selbstverwaltung zu ermöglichen. In Verfassung und Gesetzgebung wurden die Selbstverwaltungsrechte bis in die Details geregelt. Es klafft jedoch eine große Lücke zwischen der normativen Konzeption dieses ehrgeizigen Modells und der Realität. Viele wirtschaftliche und soziale Probleme blieben ungelöst.
Zur Geschichte der Arbeiterselbstverwaltung Die Arbeiterselbstverwaltung wurde 1950 eingeführt. Anlaß war die aus der kritischen Auseinandersetzung mit der Sowjetunion folgende Ablehnung des sowjetischen Sozialismusmodells mit seinem strikten hierarchischen Aufbau, dem Staatseigentum an den Produktionsmitteln und der ineffizienten zentralistisch-administrativen Planung. Als historische Vorbilder dienten den jugoslawischen Kommunisten damals die Pariser Kommune von 1871, die russischen Räte von 1905 und die Arbeiter-und Soldatenräte der russischen, deutschen und ungarischen Revolution von 1917— 1919. Alle historischen Vorbilder der Selbstverwaltung hatten nur eine kurze Lebensdauer. In der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Staatskapitalismus konnten die Jugoslawen auf die Gedanken Renners zurückgehen, bei den rätedemokratischen Überlegungen auf Theoretiker wie Korsch und R. Müller, die Niederländer Gorter und Pannekoek und den Italiener Gramsci Der Boden für die Einführung der Arbeiter-selbstverwaltung war jedoch auch durch die eigene historische Tradition vorbereitet. Die serbischen Gemeinden des 19. Jahrhunderts waren von den Bürgern autonom verwaltete territoriale Einheiten. Der Widerstand gegen Fremdherrschaft war hier immer dezentral organisiert. Der serbische Politiker Markovic (1846— 1875) hatte bereits visionär über eine von den Betrieben bis zur Verwaltung des gesamten Gemeinwesens reichende Selbstverwaltung nachgedacht. Auch die ländliche Großfamilie (zadruga), in der es kein individuelles Eigentum gab, kann zu den Vorläufern der Arbeiterselbstverwaltung gerechnet werden. Die jugoslawische Arbeiterselbstverwaltung beruht auf einer theoretischen Konzeption d. h. ihr Ursprung liegt in der Staatsideologie. Die normative Vorstellung davon, daß die Arbeiter fundamental-demokratisch die Macht gleichberechtigt ausüben sollen, liegt dem von oben verordneten Modell zugrunde. Die Enttäuschung der Bevölkerung über das Verhalten der Sowjetunion gegenüber Jugoslawien in der unmittelbaren Nachkriegszeit und die eigenen selbstverwalterischen Traditionen führten zu einer positiven Aufnahme der «von oben“ verordneten Konzeption des eigenen jugoslawischen Weges zum Sozialismus. Bei der Begründung der Arbeiterselbstverwaltung bedienen sich die jugoslawischen Kommunisten bestimmter Leitideen: der Idee des Absterbens des Staates bereits zu Beginn der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus, der Ausgestaltung des gesellschaftlichen Eigentums als ökonomische Kategorie und der Überwindung der Entfremdung durch Aufhebung der Trennung zwischen leitender und verwaltender und ausführender Arbeit. Der hohe Anspruch der Arbeiterselbstverwaltung schlug sich in der Verfassung und in der umfangreichen Gesetzgebung zur Regelung der Arbeiterselbstverwaltung nieder. Die Komplexität dieser Regelungen und die Häufigkeit ihrer Veränderung sind ein Ausdruck der Schwierigkeiten, die bei der Umsetzung dieser Ideologie auftreten. Sie sind aber auch ein Zeichen dafür, daß die ideologisch-politischen Ziele mit großer Flexibilität und mit Pragmatismus verfolgt werden.
Mit dem Gesetz über die Arbeiterselbstverwaltung von 1950 wurden zunächst nur in den staatlichen Betrieben und übergeordneten Wirtschaftsverbänden von der Belegschaft gewählte Arbeiterräte und Verwaltungsaus Schüsse eingeführt. Die zentrale Wirtschaftsplanung wurde erst langsam von marktwirtschaftlichen Lenkungsmethoden abgelöst. Die Periode 1952— 1965 kann als Transformationsperiode zu Selbstverwaltung und Marktwirtschaft bezeichnet werden. Entscheidende Schritte zur Autonomie der Arbeitskollektive erfolgten mit der Wirtschaftsreform von 1965. Schon 1957 waren die Tariflöhne von einem System der Einkommensverteilung des erwirtschafteten Ertrages durch die Kollektive selbst abgelöst worden. 1964 wurden die Investitionsfonds der Gebietskörperschaften aufgelöst und die Entscheidung über die Investitionen und damit das Wirtschaftswachstum den Arbeitskollektiven übertragen. Die Investitionen werden seitdem von den Betrieben weitgehend durch Bankkredite finanziert.
Träger der Selbstverwaltungsrechte in den „Organisationen der vereinten Arbeit“ in Betrieben, Schulen, Krankenhäusern usw. ist das Arbeitskollektiv. Die Zugehörigkeit wird durch Beitritt, nicht durch Einstellung, erworben. Es besteht keine Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehung. Mit der Assoziierung erhält das Mitglied eines Kollektivs alle Selbstverwaltungsrechte und das Recht auf Teilnahme an der Verteilung des erwirtschafteten Ertrages. Weder der Staat in seiner Eigenschaft als Unternehmensgründer noch Investoren außerhalb der Unternehmungen als Kapitalgeber haben ein Recht auf Teilnahme an den Entscheidungsprozessen. Daher können die Arbeitskollektive der jugoslawischen Unternehmungen als Kollektiv-Unternehmer aufgefaßt werden, die in ihrer Betriebsführung weitgehend autonom sind.
Die Reformen in den sechziger Jahren folgten der Leitidee: Abbau von staatlichen Funktionen und Übertragung dieser Rechte auf Selbstverwaltungsgremien. Dies geschah auch im Bereich der öffentlichen Dienste. Subventionen wurden abgebaut, der Außenhandel weitgehend liberalisiert, die erwirtschafteten Erträge wurden den Betrieben selbst zur Finanzierung ihrer Investitionen überlassen und die Besteuerung auf den für die persönlichen Einkommen der Kollektive erwirtschafteten Ertragsanteil verlagert. Staatliche Dezentralisation, Einführung marktwirtschaftlicher Konkurrenz und Ausweitung der Selbstverwaltungsrechte der Kollektive erfolgten parallel.
Damit stiegen das unternehmerische Risiko und die Verantwortung der selbstverwaltenden Kollektive, die sich nun nicht mehr auf staatliche Hilfe zurückziehen konnten.
Zentrale Wirtschaftsplanung wurde schrittweise von einer indikativen Globalplanung abgelöst. Direkte Eingriffe wurden durch indirekt wirkende wirtschaftspolitische Instrumente ersetzt. An die Stelle der administrativen Planung der Nachkriegszeit waren Ende der sechziger Jahre marktwirtschaftliche Lenkungsmechanismen getreten.
Durch die Verfassung von 1974 wurde die Arbeiterselbstverwaltung zur „gesellschaftlichen Selbstverwaltung" ausgeweitet. Es begann eine neue Etappe der Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen. In der Wirtschaft wurden die Entscheidungsbefugnisse und die Planungsautonomie auf die Grundorganisationen der vereinten übertragen. Die Verwaltung der öffentlichen Dienste wie Gesundheitswesen, Bildung, Erziehung, Kultur, Umweltschutz usw. ging auf die selbstverwalteten Interessengemeinschaften über.
Diese Bereiche wurden nicht nur aus der direkten Verwaltung durch den Staat, sondern auch aus der Finanzierung durch den Staatshaushalt herausgenommen. Es gibt rund 6 500 Interessengemeinschaften und selbständige Fonds mit eigenen Finanzierungsquellen aus den Beiträgen („für den gemeinschaftlichen Bedarf") der Arbeitskollektive. Aufbringung und Verwendung der Mittel werden in Gesellschaftsverträgen und Selbstverwaltungsabkommen zwischen den „Interessenten“, d. h.den Nutznießern der entsprechenden Leistungen, denen, die die Dienstleistungen erbringen und Vertretern der Gebietskörperschaften, geregelt. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie weit in Jugoslawien die im Interesse einer intensiveren Verwirklichung der Arbeiterselbstverwaltung durchgeführte Dezentralisierung vorangeschritten ist. Damit hat sich der Staat der Möglichkeit einer wirksamen zentralen Wirtschaftspolitik begeben. Durch die Übertragung der Steuerhoheit auf die Republiken und autonomen Provinzen und die Zersplitterung des Staatshaushalts bleibt z. B. kaum Raum für fiskalpolitische Maßnahmen. Dies entspricht der staatsverneinenden Ideologie, in der jede Art von öffentlichem Haushalt staatliche Herrschaftsbereiche signalisiert, die es abzubauen gilt. Die Koordination der Einnahmen und Ausgaben soll jetzt nicht mehr durch zentrale Staatsorgane „von oben" erfolgen, sondern durch selbstverwaltende Interessengemeinschaften an der Basis.
Die weitgehende Dezentralisierung macht neue Mechanismen der Lenkung und Koordination erforderlich. Diese werden in Jugoslawien vor allem in dem Netz von Selbstverwaltungsabkommen und gesellschaftlichen Verträgen gesehen. Selbstverwaltungsabkommen werden zwischen einzelnen Entscheidungsträgern (Grundorganisationen, Einzelpersonen, Institutionen usw.) für eine bestimmte Zeit zur Erreichung eines bestimmten Zwekkes geschlossen. Gegenstand der Abkommen können gemeinschaftliche Investitionen, Übertragung von unternehmerischen Teilaufgaben wie z. B. Marketing, Einkauf u. ä. auf gemeinsame Dienstleistungsabteilungen, aber auch Absprachen über Preisbildung, Markt-aufteilung und ähnliches sein.
Dagegen betreffen die Gesellschaftsverträge eine große Anzahl von Individuen und deren Organisationen. Vertragsparteien können sein: Wirtschaftsorganisationen und deren Vereinigungen, Interessengemeinschaften, Gebietskörperschaften und Gewerkschaften. Die Gewerkschaften sind an allen Gesellschaftsverträgen beteiligt, die die Lage der Beschäftigten in irgendeiner Weise tangieren. Die gesellschaftlichen Verträge sollen weitgehend den Staat als Vermittler ersetzen.
Das System der Selbstverwaltungsabkommen und Gesellschaftsverträge verändert das jugoslawische Wirtschaftssystem in entscheidender Weise. Bei den Vertragsverhandlungen werden einerseits Plattformen für die Durchsetzung — zumindest die Artikulation — von Gruppeninteressen geschaffen. Dies ähnelt in gewisser Weise der Wirkung marktwirtschaftlicher Mechanismen. Andererseits werden in den Gesellschaftsverträgen für die Planungssubjekte auf den niedrigeren Ebenen Rahmenbedingungen gesetzt, die deren Entscheidungsspielraum einengen und die planwirtschaftlichen Auflagen ähneln.
Die Abkommen und Gesellschaftlichen Verträge verursachen wegen der notwendigen langwierigen Diskussionen Zeitverluste und hohe Kosten. Gleiche oder ähnliche betriebswirtschaftliche Tatbestände werden in Selbst-verwaltungsabkommen in allen Betrieben gesondert geregelt, da die Arbeitskollektive in ihren Entscheidungen über die Verwendung des erwirtschafteten Ertrages und die Einkommensverteilung autonom sind. So werden z. B. in Tausenden von Grundorganisationen die Verteilungsregeln für die einzelnen Kategorien der persönlichen Einkommen unabhängig von den anderen bestimmt. Dabei ist es fraglich, ob sich dieser ungeheure Aufwand im Interesse der Unmittelbarkeit und Demokratie der Entscheidungsprozesse lohnt. Hier wären überbetriebliche Regelungen eher angebracht, zumal gerade bei der Einkommensverteilung den Selbstverwaltungsabkommen durch die Gesellschaftsverträge über die Einkommens-verteilung enge Grenzen gesetzt sind.
Die Organe der Arbeiterselbstverwaltung und Leitung Zu den Organen der Arbeiterselbstverwaltung gehören — die Versammlungen des Gesamtkollektivs, aufgegliedert in die Kollektive der Grundorganisationen der vereinten Arbeit, als Träger des Referendums;
— die Arbeiterräte der Grundorganisationen und der Arbeiterrat der Unternehmung;
— der Exekutivausschuß des Arbeiterrates und die selbstverwalterische Arbeiterkontrolle
Zum Aufgabenbereich der Selbstverwaltungsorgane gehören die unternehmerischen Führungsentscheidungen und die Kontrolle der Realisierung der Zielvorgaben. Neben der Hierarchie der Selbstverwaltungsorgane steht die Hierarchie der Leitungsorgane mit dem Direktor an der Spitze. Den Leitungsorganen und der professionellen Verwaltung obliegt die Ausführung der Beschlüsse der Selbstverwaltung und deren Vorbereitung. Während die Träger der Selbstverwaltungsfunktionen der Rotation unterliegen und nicht länger als zwei Jahre im Amt bleiben dürfen, gilt dieses Prinzip nicht für die Managementorgane. Hier muß sich lediglich der Direktor alle vier Jahre einer Neuwahl stellen. Die Gewerkschaftsorganisation bereitet die Wahlen zu den Selbstverwaltungsorganen vor und überwacht die Kandidatenautstellung. Gemeinsam mit der Parteiorganisation wählt sie die Kandidaten für die Direktorenstellen aus.
Probleme bei der Verwirklichung der Arbeiterselbstverwaltung
Die Wirklichkeit der Arbeiterselbstverwaltung weicht — wie zu erwarten — von der normativen Konzeption ab. Nach jugoslawischer Auffassung befindet sich die Arbeiterselbstverwaltung in ihrer Entwicklung heute ungefähr in der Mitte des Weges zwischen Start und Ziel. Das Ziel einer möglichst weitgehenden direkten Demokratie ist bis heute nicht erreicht worden. Denn die reale Einflußverteilung hängt nicht von gesetzlichen Regelungen ab, sondern von der sozialen Macht der einzelnen Gruppen in der Gesellschaft. Die Arbeiter verfügen in der Regel nicht über ausreichende Machtressourcen, um ihre Interessen durchsetzen zu können Die Gewerkschaften können im Selbstverwaltungssystem diese Aufgabe nicht wahrnehmen, ohne das System in Frage zu stellen. Kommunistische Partei und Staat halten noch beachtliche Machtpositionen. Zudem besteht ein Spannungsverhältnis zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und Demokratisierung der Entscheidungsprozesse. Jugoslawien braucht eine leistungsfähige Wirtschaft, um seine gesellschaftspolitischen Ziele verwirklichen zu können. Arbeitslosigkeit, Inflation, regionale Entwicklungsunterschiede, die leicht zu Nationalitätenkonflikten führen, und wirtschaftliche Krisenerscheinungen stellen in Jugoslawien auch immer zugleich das System der Arbeiterselbstverwaltung in Frage.
Welche Aufgaben nehmen die Gewerkschaften in der jugoslawischen Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung wahr?
Die jugoslawischen Gewerkschaften
In einem Wirtschaftssystem mit Arbeiter-selbstverwaltung weichen die Aufgaben der Gewerkschaften zwangsläufig grundsätzlich von denen in anderen Wirtschaftssystemen ab. Prinzipiell können die Arbeiter die ehemals gewerkschaftlichen Aufgaben unmittelbar übernehmen. Sie sind von der Definition des Systems her unmittelbar die Träger allen gesellschaftlich relevanten Handelns.
Den Gewerkschaften bleiben in einem solchen System — ebenso wie dem Bund der Kommunisten — Schutz-und Hilfsfunktionen. Hauptaufgabe der Gewerkschaften ist — und dies ist wiederum identisch mit dem Ziel des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens — der Aufbau der Selbstverwaltungsgesellschaft sowie die Erziehung und Befähigung der Arbeiter zur Selbstverwaltung. Während der Schwerpunkt der Arbeit des Bundes der Kommunisten im normativen politischen Richtungsweisen“ liegt, konzentriert sich die Arbeit der Gewerkschaften in Jugoslawien auf den gesellschaftlich-wirtschaftlichen Bereich. Sie sind die „Organisation des sozio-ökonomischen, beruflichen und gesellschaftlichen Engagements der Arbeiterklasse“ ). Nach DjordjeviC kann die Partei vor allem als führende und urteilende, die Gewerkschaft vor allem als partizipierende und, wenn nötig, anfechtende Organisation gesehen werden. In dieser recht vagen Definition klingt bereits das Dilemma der ju-go, slawischen Gewerkschaften an.
Organisation Die jugoslawischen Gewerkschaften sind nach dem Industrieprinzip und nach dem Territorialprinzip organisiert. Es gibt sechs Branchen-gewerkschaften, die 1978 fast Millionen Mitglieder hatten. Damit ist der Organisationsgrad der jugoslawischen Beschäftigten auf 91, 5% gestiegen. 1978 hatten die Einzelgewerkschaften folgende Mitgliederzahlen
Gewerkschaft Industrie und Bergbau 1 807 590 Gewerkschaft Landwirtschaft, Nahrungsmittel und Tabak 459 653 Gewerkschaft Bau 552 664 Gewerkschaft Verkehr und Nachrichten '411519 Gewerkschaft Dienstleistungen 781 893 Gewerkschaft öffentliche Dienste 911 307
Auf den Ebenen der Kommunen, der Republiken und der Föderation konstituieren die Einzelgewerkschaften Räte des Bundes der Gewerkschaften Jugoslawiens. Die Arbeiter in den Unternehmungen oder anderen Organisationen der vereinten Arbeit sind nach dem Produktionsprinzip in Einzelgewerkschaften organisiert und nach dem Territorialprinzip im Gewerkschaftsbund.
Nach der kommunistischen Machtübernahme wurde das jugoslawische Wirtschaftsund Gesellschaftssystem nach sowjetischem Vorbild gestaltet So wurde auch im Statut des Gewerkschaftsbundes von 1948 das Prinzip des demokratischen Zentralismus und damit die Gewerkschaftsdisziplin und die Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit sowie die Anleitung der unteren Gewerkschaftsorgane durch die übergeordneten festgeschrieben 6a). 1964 wurde dieses leninistische Prinzip aufge-geben und beschlossen, daß alle Organisationen und Organe des Jugoslawischen Gewerkschaftsbundes bei ihrer Arbeit selbständig sind. Zur gleichen Zeit wurde — parallel zu den organisatorischen Veränderungen in Partei und Staat — auch der Gewerkschaftsbund föderalisiert. Die Gewerkschaftsorganisationen der Republiken und autonomen Provinzen erhielten ein gewisses Maß an Selbständigkeit gegenüber dem Bund der Gewerkschaften Jugoslawiens. Seit dem Kongreß (1974) können die Republiken über die Gründung von Branchengewerkschaften frei entscheiden. Von dieser Möglichkeit machte 1978 der kroatiB sehe Gewerkschaftsbund Gebrauch. Es gibt dort seit 1978 16 Einzelgewerkschaften 7).
Die Organe des Gewerkschaftsbundes sind auf Bundesebene der Kongreß, der Rat des Gewerkschaftsbundes und der Kontrollausschuß. Höchstes Organ ist der Kongreß. Er tritt alle vier Jahre zusammen und bestimmt das Programm und die Richtlinien der Politik. Zwischen den Kongressen ist der Rat des Gewerkschaftsbundes oberstes Organ. Seit dem 8. Kongreß (1978) sind die Republik-und Provinzgewerkschaftsorganisationen paritätisch in allen Führungsorganen des Gewerkschaftsbundes vertreten: im Rat, im Präsidium des Rates und im Kontrollausschuß. Der Kongreß ist dagegen weiterhin proportional zur Mitgliedschaft der Einzelgewerkschaften zusammengesetzt. Alle Organe der Gewerkschaften werden nach dem Delegationsprinzip gebildet. Die Abstimmung über die Kandidaten ist geheim. Hauptamtliche Gewerkschaftsfunktionäre dürfen nicht mehr als zweimal hintereinander in die gleiche Funktion gewählt werden. Wer eine Exekutivfunktion in der Gewerkschaft inne-Kat, darf nicht gleichzeitig eine solche Funktion in der Selbstverwaltung, der Regierung oder in einer anderen gesellschaftlich-politischen Organisation ausüben. Das heißt aber nicht, daß die hauptamtlichen Funktionäre nach Ablauf ihrer Amtszeit in die Produktion zurückkehren, wie es dem ursprünglichen Sinn des Rotationsprinzips eigentlich entsprechen würde. Von Anfang an gab es die Rotation zwischen verschiedenen gleichrangigen politischen Ämtern. Svetozar Vukmanovi Tempo, einer der engsten Mitstreiter und Kampfgefährten Titos, beschreibt in seinen 1971 erschienenen Memoiren, wie er nach den großen Bergarbeiterstreiks in Trbovlje 1958 zum Gewerkschaftsvorsitzenden gemacht wurde. Anläßlich einer Sitzung der engeren Führungsspitze wandte sich Tito an Vukmano-Vit Tempo: „Es gibt zwei Möglichkeiten: wir könnten Dich oder Peter Stambolid als Kandidaten aufstellen. Wenn die Wahl auf den Genossen Peter fällt, dann müßtest Du Parlamentspräsident werden.“ Nachdem Vukmano-vit Tempo einige Einwände vorgebracht hatte, z. B. daß er kein Arbeiter sei und noch nie für die Gewerkschaft gearbeitet habe, fügte Tito hinzu: „Es gibt keinen Unterschied zwischen der Arbeit in der Partei und der Arbeit in der Gewerkschaft unter den Bedingungen der Selbstverwaltung.“
Selbstverständnis der Gewerkschaften Im Selbstverständnis der jugoslawischen Gewerkschaften hat es im Laufe der Entwicklung gewisse Veränderungen gegeben. Ursprünglich wurde ihre Rolle als Transmissionsriemen für den Parteiwillen offen anerkannt. Nach dem Übergang zur Arbeiterselbstverwaltung paßte diese leninistische Auffassung nicht mehr in die politische Vorstellungswelt. Erzieherische und soziale Aufgaben traten in den Vordergrund. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre versuchte die jugoslawische Gewerkschaft aus dem Schatten der Partei herauszutreten. 1964 war die Anerkennung der Führungsrolle der Partei offiziell weggefallen, und auf dem 6. Kongreß 1968 verpflichtete sich der BGJ in seinem Statut, selbständig gesellschaftliche Aktivität zu entfalten und selbständige Standpunkte zu den Vorschlägen anderer Organe zu formulieren Damals setzte eine intensive Diskussion darüber ein, ob die Gewerkschaften nicht in der Übergangsperiode zur funktionierenden Arbeiterselbstverwaltung zusätzliche Funktionen zu erfüllen hätten, um den Interessen der Arbeiter Geltung zu verschaffen, Funktionen, die denen echter Arbeitergewerkschaften entsprächen Djordjevic sprach in diesem Zusammenhang von einer regelrechten Renaissance des Syndikalismus als Ausweg aus den Krisen und Zwangslagen des bestehenden gesellschaftlichen und politischen Systems. Die Diskussion setzte bei der realen, nicht der normativen Situation der Selbstverwaltung an: „Die Arbeitskraft ist genauso stark ausgebeutet und entwertet... wie es den Arbeitern an wirtschaftlicher und politischer Macht, an praktisch relevantem gesellschaftlichen Wissen, an Ideen, Normen und Organisationen der Selbstverwaltung usw. fehlt, die notwendig sind, um sich und die Gesellschaft von der Herrschaft der Lohnverhältnisse zu emanzipieren.
Man kam damals zu der Überzeugung, die Gewerkschaften sollten eine über ihre Hilfsfunktionen hinausgehende Aufgabe als „kollektive Arbeiterkontrolle“ zur Abwendung von Fehlern und Schwächen übernehmen, solange die Arbeiterselbstverwaltung noch nicht voll verwirklicht sei. Die Gewerkschaften sollten eine Kontrollund Beratungsfunktion erfüllen. Dazu müßten sie, wie Roggemann herausgearbeitet hat zwei Voraussetzungen erfüllen: Sie stehen erstens als gesellschaftliche Verbände außerhalb der Arbeitsorganisation und können einen Anspruch auf neutrale Streitschlichtung bei Auseinandersetzungen innerhalb der Unternehmungen und zwischen den Betrieben legitimieren. Die zweite Voraussetzung, die Unabhängigkeit vom Staat, gegen dessen Fehlentscheidungen sie ja auch vorgehen sollten, ist schon schwieriger zu erfüllen. Dazu müßten die jugoslawischen Gewerkschaften die herkömmliche Rolle der Gewerkschaften in staatssozialistischen Ländern brechen. Sie dürften nicht mehr als verlängerter Arm der Partei agieren.
Die öffentlichen Diskussionen über eine Eigenständigkeit der jugoslawischen Gewerkschaften, die sogar die Legalisierung des Streikrechts einbezogen, endeten mit der Beilegung der kroatischen nationalistischen und liberalistischen Krise 1971/72. Seither ist eine erneute stärkere Anbindung der gesellschaftspolitischen Organisationen an die Partei zu verzeichnen, und die Bereitschaft des jugoslawischen Gewerkschaftsbundes zur öffentlichen Auseinandersetzung mit der Regierung hat spürbar nachgelassen
So verstehen sich die Gewerkschaften heute in erster Linie als integrierender Bestandteil des Selbstverwaltungssystems. Da es in diesem Wirtschaftssystem keine Polarisierung zwischen Arbeitern und Eigentümern der Produktionsmittel gibt, sehen sich die Gewerkschaften als vermittelnde und schlichtende Kraft bei den Konflikten zwischen Arbeitern und Selbstverwaltungsorganen, Arbeitern und Management oder zwischen Unternehmens-gruppen und staatlichen Trägern der Wirtschaftspolitik. Nach der offiziellen jugoslawischen Doktrin sollen die Gewerkschaften nicht Transmissionsinstrument für die Parteidirektiven sein, sondern umgekehrt als Transmission der Initiativen und Vorstellungen der Arbeiter zur Partei hin wirken.
Aufgaben der Gewerkschaften Die Aufgaben der jugoslawischen Gewerkschaften werden in der Verfassung und im jeweiligen Statut niedergelegt. Man kann sie in zwei große Gruppen einteilen: gesellschaftspolitische Funktionen und Aufgaben, die in den Unternehmungen zu erfüllen sind. Zu den gesellschaftspolitischen Funktionen gehören: — die organisierte Beteiligung an der Verwirklichung und Entwicklung sozialistischer Selbstverwaltungsbeziehungen, — die Beteiligung an allen Entscheidungsprozessen der Selbstverwaltung auf allen Ebenen und Sicherung der dominierenden Stellung der Arbeiterklasse und — die Steigerung des Lebensstandards.
Auf Bundesebene sollen die Gewerkschaften vor allem durch ihre Einwirkung auf den Gesetzgebungsprozeß und die Gestaltung der Wirtschaftspolitik die folgenden Aufgaben erfüllen: — Herstellung einer überregional einheitlichen Grundlage für die Einkommensermittlung und -Verteilung, — Überwindung von Arbeitslosigkeit und Inflation, — Einfluß auf die langfristige Entwicklungsplanung und Lösung des Problems der unterentwickelten Gebiete, — Vorschläge an die Adresse des Parlaments und der Regierung, die den Ausbau des Selbstverwaltungssystems und Vorschriften betreffen, die für die „Arbeiterklasse“ wichtig sind.
In Jugoslawien hält man die zuletzt genannte Aufgabe für besonders wichtig, solange der Staat das Recht hat, in großem Umfang die Wirtschaftsbedingungen und die Verwendung des Volkseinkommens zu regulieren Diese recht allgemein formulierten Ziele der Gewerkschaften decken sich im Wesentlichen mit den Zielvorstellungen der Partei und der Regierung.
Für die Ebene der Unternehmungen lassen sich aus der Resolution des VII. Kongresses des BGJ (1974) dagegen konkrete Aufgaben der Betriebsgewerkschaftsorganisationen entnehmen: 1. politische Funktion: Entwicklung der Selbstverwaltung im Betrieb, 2. soziale Aufgaben: Urlaubsgestaltung, Förderung von Sport, Kultur und sozialer Fürsorge für die Beschäftigten, 3. betriebswirtschaftliche Aufgaben: Beteiligung an der Ausarbeitung der Einkommensverteilungsregelungen im Betrieb, an der Gestaltung der Arbeitsverhältnisse, Beschäftigungspolitik, aktive Teilnahme an der Erarbeitung von Selbstverwaltungsabkommen, Anregung und Unterstützung von Maßnahmen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität, 4. Schlichtung von Konflikten, 5. Korrektur betriebsegoistischer Tendenzen: Sorge für die Offenheit der Grundorganisationen vereinter Arbeit — z. B. für die Aufnahme neuer Kollektivmitglieder,'
6. Beteiligung an der Ausbildung und Organisation von Einheiten der Volksmiliz.
Die Gewerkschaften vertreten ein Konglomerat unterschiedlicher Interessen und unterschiedlicher Arbeitsgruppen. In dieser komplizierten Situation muß es zwangsläufig zu Interessenkonflikten kommen.
Bei den betriebswirtschaftlichen Aufgaben wird aber auch die integrative Bedeutung der jugoslawischen Gewerkschaften besonders deutlich. Sie füllen die Lücke, die der Staat bei seinem Rückzug aus der Wirtschaft offen gelassen hat. Durch ihre aktive Teilnahme am Abschluß der Selbstverwaltungsabkommen auf Unternehmensebene und der Gesellschaftlichen Verträge auf überbetrieblicher volkswirtschaftlicher Ebene sollen sie gesamtgesellschaftlichen Interessen gegenüber partikularen Interessen Geltung verschaffen. Innerhalb der Betriebe sollen sie auftretende Konflikte zwischen Arbeitern und Verwaltungsorganen oder anderen Gruppen schlichten. Das heißt aber nicht, daß sie in jedem Falle auf der Seite einer engeren Arbeitergruppe stehen. Wenn die Gewerkschaften ausdrücklich die Aufgabe haben, betriebsegoistischen Tendenzen entgegenzuwirken, um z. B. in den Arbeitsorganisationen neue Arbeitsplätze zu schaffen und die Arbeitslosigkeit vermindern zu helfen, so handeln sie in einem solchen Fall gegen das Interesse ihres engeren Arbeitskollektivs, das in erster Linie an der Erhaltung eines höheren Einkommensniveaus und der Maximierung des Profits je Arbeiter interessiert ist Die Aktionsfähigkeit der Gewerkschaft wird denn auch von den jugoslawischen Arbeitern als äußerst gering eingeschätzt. Nach verschiedenen Umfrageergebnissen rangiert die Gewerkschaft in der Einflußskala der betrieblichen Gruppen an letzter Stelle. Am kritischsten wird die Gewerkschaft von den ungelernten Arbeitern bewertet, überwiegend positiv hingegen von der Gruppe des Managements
Die Ergebnisse der konkreten Politik der Gewerkschaften sind weit entfernt von ihren proklamierten Zielen. Bis Anfang der siebziger Jahre gab es in Jugoslawien heftige Diskussionen über die Aufgaben und Erfolge bzw. Mißerfolge der Gewerkschaften, die sich in der Presse und in zahlreichen soziologischen Untersuchungen niederschlugen. Jugoslawische Angaben stammen daher vorwiegend aus dieser Zeit. Seither ist die Diskussion für die Öffentlichkeit weniger transparent, was jedoch nicht heißt, daß sich die Problematik grundsätzlich verändert hätte.
Die Bedeutung der gewerkschaftlichen Arbeit im Bereich der Urlaubsgestaltung und der Weiterbildung der Arbeiter ist in Jugoslawien unumstritten. Durch die Schaffung von Erholungsheimen wurde vielen Arbeitern zum er-sten Mal im Leben ein Erholungsurlaub ermöglicht. 1978 verfügte der BGJ über rund 150 000 Betten in eigenen Hotels vorwiegend an der Adria. An 236 eigenen Arbeiteruniversitäten (radniki univerziteti) wurden 1977/1978 fast 1, 7 Millionen Arbeiter weitergebildet. 1953 besuchten 115 000 Teilnehmer die Kurse der damals bestehenden 15 Arbeiter-universitäten. Weitaus schwieriger ist es jedoch für die Gewerkschaft, die materiellen Interessen der Arbeiter in einer Wirtschaftsordnung zu vertreten, die auf der Arbeiterselbstverwaltung der Produzenten beruht. So haben die jugoslawischen Gewerkschaften bei der Bekämpfung der seit den siebziger Jahren rapide ansteigenden Inflationsraten keinen Erfolg gehabt. Die Inflation machte 1981 über 40% aus und ist nicht nur durch den Preisanstieg auf den internationalen Märkten zu erklären. Zum größten Teil ist die jugoslawische Inflation durchaus hausgemacht. Gewerkschaftliche Bemühungen müssen hier wegen der widersprüchlichen Situation, in der sich die Gewerkschaften befinden, scheitern. Jede Preiserhöhung in einem Wirtschaftszweig verbessert die materielle Lage der dort beschäftigten Produzenten und vermehrt deren Einkünfte. Die gleiche Preiserhöhung verschlechtert aber gleichzeitig die Lage der Arbeiter als Verbraucher in anderen Wirtschaftszweigen. Sie verteuert die Produktion und erhöht die Lebenshaltungskosten. Das Dilemma, es allen Gruppen recht zu machen, kam unter anderem anläßlich der Preiserhöhungen für einige Grundnahrungsmittel 1971 zum Ausdruck. Im Interesse der landwirtschaftlichen Erzeuger unterstützte die Gewerkschaft den Vorschlag, die garantierten Mindestaufkaufpreise anzuheben. Gleichzeitig verurteilte sie aber als Interessenvertreterin der Arbeiter die Tendenz, die Lage der Landwirtschaft allein. durch Preiserhöhungen zu verbessern, weil sich solche Maßnahmen negativ auf den Lebensstandard auswirkten
Nach der Einführung marktwirtschaftlicher Verhältnisse im Gefolge der Wirtschaftsreform von 1965 kam es in Jugoslawien zu großen Einkommensunterschieden zwischen den Unternehmensgruppen, die zu sozialen Span-16 nungen und einer Welle von Streiks führten. Als Antwort darauf wurden die Gesellschaftlichen Verträge über die Einkommensverteilung eingeführt, in denen Mindest-und Höchstgrenzen für die persönlichen Einkommen der einzelnen Beschäftigungskategorien festgesetzt wurden. Vertragspartner sind die Gewerkschaften, die Vertreter der Wirtschaft und der Gebietskörperschaften. Diese Regelung führte zu einer Verringerung der Unterschiede zwischen den persönlichen Einkommen, nicht jedoch der Ertragskraft der einzelnen Unternehmen. So erwirtschaftete z. B. 1981 in der Unternehmensgruppe der Energiemaschinenerzeuger das beste Unternehmen ein um 14, 7 mal höheres Einkommen pro Arbeiter als das schlechteste. Die Unterschiede in den persönlichen Einkommen betrugen aber nur 60 %. Bei den Fleischverarbeitern ist der Ertrag pro Arbeiter beim besten Unternehmen um das 9, 2fache höher als beim schlechtesten, die persönlichen Einkommen sind jedoch nur um 7 % höher. Es hat sich herausgestellt, daß mit der Angleichung der Löhne — wobei Ausgleichsfonds den weniger prosperierenden Unternehmen Zuschüsse zu den persönlichen Einkommen ermöglichen — Leistungsanreize verloren gegangen sind Durch die Gleichmacherei, zu der die Gewerkschaften nicht wenig beigetragen haben, wurde der Grundsatz der „Verteilung gemäß der Arbeit" verletzt Hier liegt auch einer der Gründe für die katastrophal niedrige Arbeitsdisziplin und die hohen Ausfallzeiten in den jugoslawischen Betrieben
Die Gewerkschaft konnte keinen Beitrag zur Inflationsbekämpfung leisten. Um den Lebensstandard der Arbeiter zu erhalten, setzte sie sich in vielen Fällen für eine Steigerung der persönlichen Einkommen ein. Dadurch wurde der Wettlauf zwischen Einkommen und Preisen noch verschärft. Eine grundlegende Veränderung des Systems der Einkommensverteilung und der Preisbildung, die einen Ausweg aus dem Inflationsdilemma weisen könnte, kann die Gewerkschaft nicht fordern. Sie käme dann in Konflikt mit Partei und Regierung.
Die Stellung der jugoslawischen Gewerkschaften zu Streiks Streiks gibt es in Jugoslawien seit dem Ende der fünfziger Jahre. Seit auch aus den offiziellen Verlautbarungen die Illusion von der Konfliktlosigkeit des Selbstverwaltungssozialismus verschwunden ist, wird in Partei und Gewerkschaft die Frage der Streiks offen diskutiert. Zwischen 1958 und 1969 wurden in Jugoslawien 1906 Streiks statistisch erfaßt. Für die Jahre 1973 bis 1976 hat die Gewerkschaft der Republik Slowenien Daten über 190 Streiks, für 1978 wurden 48 Streiks in Slowenien und elf Arbeitsniederlegungen in Kroatien registriert. Die tatsächliche Zahl der Arbeitsniederlegungen muß jedoch als wesentlich höher angenommen werden, da in Jugoslawien keine regelmäßige statistische Erfassung erfolgte Die Streiks unterscheiden sich wesentlich von den Streiks in Ländern mit anderen Wirtschaftssystemen. Sie beschränken sich meist auf einen Betrieb oder sogar eine Abteilung, sind von kurzer Dauer und haben eine geringe Teilnehmerzahl. Sie werden in keinem Fall von der Gewerkschaft organisiert. Die Arbeitsniederlegungen verlaufen in den meisten Fällen friedlich. Es kam jedoch Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre zu einer Zunahme von Gewalttätigkeiten und öffentlichen Demonstrationen, die sich in einigen Fällen (Kosovo) gegen das System der Selbstverwaltung richteten. Ursache der Streiks sind fast immer Streitigkeiten über die Einkommensverteilung innerhalb einzelner Betriebe und zu niedrige Einkommen der Arbeiter als Folge der ungünstigen Wirtschaftslage einer Branche, hoher steuerlicher Belastung, schlechter Arbeitsorganisation und niedriger Produktivität Die jugoslawischen Gewerkschaften haben sich bisher nicht eindeutig zu der Frage geäußert, ob es sich bei den Streiks um eine Erscheinungsform des Kampfes der Arbeiter für die Verwirklichung der Arbeiterselbstverwaltung handelt oder um eine gefährliche Schwächung des Selbstverwaltungssystems. Noch 1966 sagte der damalige Vorsitzende des jugoslawischen Gewerkschaftsbundes, Vukma-B novit Tempo, in einem Interview mit der Borba: Jedes Arbeitskollektiv hat Möglichkeiten, entstandene Widersprüche mit den normalen Selbstverwaltungsmitteln zu lösen. Unter anderem kann es durch Referendum jeden Beschluß der Verwaltungsorgane ändern ..." (Borba vom 16. 10. 1966). Seither sind die Auffassungen differenzierter geworden. Die Diskussionen über eine Legalisierung der Streiks wurden jedoch bald ad acta gelegt Streiks werden als unerfreuliche Erscheinungen angesehen, die in der gesellschaftlichen Realität ihre Ursache haben, aber sie werden nicht gebilligt Gelingt es nicht, die innerbetrieblichen Konflikte im Vorfeld von Streiks beizulegen, wird dies den Gewerkschaften als Mißerfolg angelastet
Heute dürfte sich die Haltung der Gewerkschaft gegenüber den streikenden Arbeitern an folgender Einschätzung der Lage orientieren
1. Es bestehen Machtunterschiede zwischen den einzelnen sozialen Gruppen. Die Macht der Produktionsarbeiter, Entscheidungen zu beeinflussen, ist geringer als die anderer Gruppen.
2. Es bestehen Unterschiede bei der Einkommenserzielung. In der Regel erhalten die streikenden Arbeiter ein persönliches Einkommen auf der Basis ihrer Arbeitsergebnisse (Leistung). Andere Gruppen erhalten persönliche Einkommen, die von ihrer Funktion abhängig sind.
Grenzen der Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften Unter dem Eindruck der Streikwelle Anfang der siebziger Jahre war den Gewerkschaften die Aufgabe übertragen worden, in der Periode der unvollkommen entwickelten Arbeiterselbstverwaltung die Interessen der Arbeiterklasse überall dort wahrzunehmen, wo sich diese Interessen nicht unmittelbar oder durch die Selbstverwaltungsorgane durchsetzen können. Es ist jedoch schwierig, in der jugoslawischen Realität die Gegner der Arbeiter-Interessen (was auch immer diese sein mögen) zu identifizieren. Denn die zum „Feind der Ar-beiterklasse" stilisierten Gruppen: Bürokratie, Technostruktur, sogenannte unkontrollierte Machtzentren, sind eng mit den dominierenden Herrschaftsstrukturen verknüpft teilweise mit ihnen identisch. Die Rotation leitender Funktionäre zwischen den Führungspositionen der Wirtschaftsbürokratie, Partei, Regierung u. ä. macht solche Gegenpositionen noch heikler.
Im Selbstverwaltungsmodell sind die Gewerkschaften eine Übergangserscheinung. Dies wird auch durch ihre Aufgaben deutlich. Es gibt keine institutionalisierte Polarisierung der Interessen. Konflikte sind etwas System-fremdes, wenn das Modell so funktioniert, wie es konzipiert worden ist. Das System der Selbstverwaltung setzt eine harmonische Kooperation zwischen den einzelnen Gruppen im Rahmen ihrer Selbstverwaltungsrechte voraus. Im Gegensatz zur klaren Rollendifferenzierung und Rollenerwartung im kapitalistischen System sind die Rollen im Selbstverwaltungssystem diffus. Die Gewerkschaftsorganisation kann sich z. B. bei der Durchsetzung der staatlichen Wirtschaftspolitik als Verbündete des Staates verhalten. Dann wird die Mehrzahl der Arbeiter in ihrer Erwartung enttäuscht, daß die Gewerkschaft ihre Interessen vertritt. Sie könnte sich im Interesse der Arbeiter der Investitionsgüterindustrie gegen die Liberalisierung der Investitionsgütereinfuhren wenden. In diesem Falle würden die Erwartungen von staatstragender Partei und Regierung enttäuscht, daß die Gewerkschaften die Stärkung des Systems der sozialistischen Marktwirtschaft unterstützen. Ähnlich ungewiß ist die Rollenerwartung bei den Organen der Arbeiterselbstverwaltung und der Leitung in den Unternehmungen. Diese Ungewißheit der Rollenerwartungen führt zu Frustration und Effizienzverlusten.
Identität und Rollenverständnis der Gewerkschaften sind in der Arbeiterselbstverwaltung am stärksten in Frage gestellt. Die Gewerkschaften wollen sich nicht mehr als Transmissionsriemen des Parteiwillens begreifen und sie können nicht als klassische Arbeitergewerkschaften wirksam werden. Die Unternehmerfunktionen liegen in einem Wirtschaftssystem mit Arbeiterselbstverwaltung bei den selbstverwaltenden Arbeitskollektiven, die auf dem Markt gegeneinander konkurrieren.
Gudrun Lemn, Dr. rer. pol., Dipl. -Kfm., Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin; zahlreiche Studien-und Arbeitsaufenthalte in Jugoslawien; bis 1974 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin; seitdem freiberufliche wissenschaftliche und publizistische Tätigkeit. Veröffentlichungen u. a.: Stellung und Aufgaben der ökonomischen Einheiten in den jugoslawischen Unternehmen, Berlin 1967; Das jugoslawische Modell, Köln, Frankfurt 1976; zus. m. Gramatzki: Arbeiterselbstverwaltung und Mitbestimmung in den Staaten Osteuropas, Hannover 1977; Wirtschaftsplanung im System der jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung. Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln 1982.
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