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Die Sozialversicherung in Deutschland 1881— 1914. Entstehung — Charakter — Wirkungen | APuZ 34/1983 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 34/1983 Arbeitszeitflexibilisierung -Alternative zu allgemeinen Arbeitszeitverkürzungen? Selbsthilfe in der Sozialpolitik — ein Lösungsansatz? Die Sozialversicherung in Deutschland 1881— 1914. Entstehung — Charakter — Wirkungen

Die Sozialversicherung in Deutschland 1881— 1914. Entstehung — Charakter — Wirkungen

Gerhard A. Ritter

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Zusammenfassung

Die kaiserliche Botschaft von 1881 leitete jenes umfassende Gesetzgebungswerk ein, mit dem die vielfach existenzgefährdenden Folgen der Industrialisierung Schritt für Schritt aufgefangen werden konnten. Damit begann in Deutschland das Zeitalter des sozialen Wohlfahrtsstaates. Deutschland, der Nachzügler im Prozeß der Modernisierung seit Beginn des 19. Jahrhunderts, entwickelte als erster Staat ein weitgreifendes System sozialer Sicherung, das die spätere Entstehung ähnlicher, oft auch in wichtigen Grundzügen abweichender Sozialversicherungssysteme in anderen Industrienationen und schließlich auch in einigen Entwicklungsländern seitdem wesentlich beeinflußt hat. Der Aufsatz untersucht erstmals die Wurzeln, Entstehung und Entfaltung des Systems sozialer Sicherung in Deutschland von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Er zeigt, daß aufgrund des Einflusses des Reichstages, der Bürokratie und der Unternehmerorganisationen, aber auch seiner Eigendynamik das System schließlich erheblich von den Vorstellungen seines Schöpfers Bismarck abwich. Besonders nachdrücklich werden die Auswirkungen der Sozialversicherung auf die Arbeiterorganisationen, die Arbeiterfamilien, die Entwicklung des Gesundheitswesens und der Medizin, die Organisation sozialer Gruppen wie der Angestellten und der Ärzte, das private Versicherungswesen, den Ausbau der kommunalen Sozialpolitik sowie die Verfassungs-und Verwaltungsstruktur untersucht. Der Aufsatz leistet damit einen Beitrag zum Verständnis der Herausbildung des modernen Sozialstaates, dessen Entwicklung und Ausprägung nur aus wirtschaftlichen und politischen Kräfteverhältnissen im Verlauf der Industrialisierung angemessen zu verstehen ist, und dessen Auswirkungen auf die Veränderung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung kaum unterschätzt werden kann.

Die modernen Systeme sozialer Sicherheit in den westlichen Industriestaaten sind als Antworten auf die sozialen Folgen der Industrialisierung entstanden. Sie ersetzten Schritt für Schritt die überkommenen Methoden der Daseinsversorgung und entsprachen damit auch den Forderungen einer Arbeiterschaft, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend Gehör verschaffte. Sie nahmen schließlich mehr und mehr die Aufgabe wahr, politische Herrschaft zu legitimieren und die bestehende Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung zu stabilisieren.

Heute garantiert vor allem das Sozialversicherungswesen kollektive Sicherheit vor den sozialen Folgen der industriekapitalistischen Produktionsweise. Allerdings ist in letzter Zeit die optimistische Annahme, daß ständig steigende Sozialausgaben die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft nicht gefährden, den Steuer-und Beitragszahler nicht überfordern und die individuelle Leistungsbereitschaft nicht beschränken würden, stark erschüttert worden. Geburtenrückgang und steigende Lebenserwartung, die Verkürzung der täglichen und der Lebensarbeitszeit, die Kostenexplosion im Gesundheitswesen und vor allem die Rezession mit ihren Folgen für die Arbeitslosigkeit — dies alles hat beinahe notwendig eine intensive Diskussion über die „Grenzen des Sozialstaates" heraufbeschworen, die gerade in der Bundesrepublik Deutschland von größter innenpolitischer Brisanz ist. Dies ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, daß bei einem Sozialbudget von rund 450 Milliarden DM im Jahr 1980 und einem Anteil der Sozialausgaben am Bruttosozialprodukt von deutlich über 30% seit 1975 Fragen der staatlichen und kommunalen Haushaltspolitik und der Lebensstandard sozialer Gruppen und Familien auf stärkste vom System der sozialen Sicherheit berührt werden.

Diese Arbeit will keinen Beitrag zu der Diskussion leisten, ob, und wenn ja, in welcher Weise das bestehende System der sozialen Sicherheit reformiert werden muß. Sie beschränkt sich auf Entstehung, Charakter und Wirkungen der deutschen Sozialversicherung vor 1914, will aber deutlich machen, daß auch das nicht irrelevant für die gegenwärtige Situation ist. Wenn auch das Sozialbudget vor 1914 nur ca. % des Bruttosozialprodukts betrug und erst in de zwanziger Jahren, zum Teil durch die Kriegsfolgelasten bedingt, auf über 10%, seit 1960 auf über 20% und seit 1975 auf über 30% kletterte 2), weist jedoch das System der Sozialversicherung in Deutschland trotz der in diesen Zahlen widergespiegelten außerordentlichen Ausweitung der Leistungen und des Kreises der Versicherten eine bei der Radikalität der politischen Umbrüche von 1918, 1933 und 1945 geradezu erstaunliche Kontinuität in den Grundzügen seit nunmehr über 100 Jahren auf.

I. Soziale Frage und Sozialversicherung in Europa am Ende des 19. Jahrhunderts

Am Anfang der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts hat die bereits sehr viel ältere Diskussion der sozialen Frage vor allem in Mittel-, Nord-und Westeuropa eine neue Aktualität erlangt. Die Hauptursache dafür waren einmal die schwere ökonomische Depression nach 1873, die den Glauben an die Selbstregulierung der Marktkräfte und die Fähigkeit des einzelnen, sich aus eigener Kraft gegen Armut, Elend und Ausbeutung zu schützen, erschütterte, und zweitens die tiefe Beunruhigung der herrschenden Schichten durch die Pariser Kommune von 1871, die das Gespenst einer sozialen Revolution an die Wand gemalt hatte. Diese doppelte Herausforderung durch die Krise der kapitalistischen Industriegesellschaft und die Herausbildung eines revolutionären Proletariats führte zur Neubelebung und Verstärkung der Kräfte, die das Konfliktpotential durch konkrete soziale Reformen entschärfen wollten. Neben den Kirchen spielten bürgerliche Sozialreformer in der Kritik am Manchester-Liberalismus, der Erweckung des sozialen Gewissens, der Identifizierung sozialer Probleme und der Ausarbeitung spezifischer Vorschläge zu ihrer Lösung eine entscheidende Rolle.

Neben dem Ausbau des Arbeiterschutzes hat die Sozialversicherung als eine neue Form der Daseinsvorsorge, die das traditionelle, auf eine relativ stabile agrarische Welt zugeschnittene System der Armenfürsorge zunehmend ablöste, seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Diskussion der sozialen Frage in Europa zunehmend bestimmt. Die Ursachen dafür wird man zunächst in dem durch Industrialisierung, Urbanisierung und Binnenwanderung vorangetriebenen Prozeß des sozialen und ökonomischen Wandels sehen müssen. Die Auflösung von Ständegesellschaft und Zunftverfassung, das Ausscheiden von immer mehr Menschen aus der eine gewisse Sicherheit gewährenden Dorfgemeinschaft, der Rückgang der Bedeutung der Familie als einer Gemeinschaft zur Vorsorge gegen Not, die Herausbildung neuer Formen des Pauperismus, die Entstehung des Industrieproletariats waren gewiß notwendige Voraussetzungen. Trotzdem ist Sozialversicherung, vor allem staatliche Sozialversicherung, nicht einfach Konsequenz eines bestimmten Stadiums wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung. Sonst hätte nicht Deutschland, sondern Großbritannien und Belgien, die Schweiz und Frankreich — in dieser Reihenfolge — die ersten Systeme staatlicher Sozialversicherung errichten müssen. Die Eigenart der jeweils dominierenden politischen und sozialen Traditionen, die spezifische Ausprägung des Verfassungssystems, die Stärke und das Prestige der staatlichen Bürokratie, die Konstellation der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Kräfte, der Zeitpunkt und das Ausmaß der politischen Mobilisierung der Arbeiterschaft, die Vitalität und Flexibilität der traditionellen Formen der Armenfürsorge sowie die Stärke der Tradition der Selbsthilfe, schließlich auch der Stand und der Einfluß der empirischen Sozialwissenschaft haben den Zeitpunkt der Entstehung und die Form der Sozialversicherung in den einzelnen Staaten entscheidend beeinflußt. Daneben hat zweifellos auch das seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts bestehende deutsche Vorbild einer relativ umfassenden, funktionierenden, obligatorischen Arbeiterversicherung die internationale Diskussion wesentlich befruchtet. Dabei konnte neben der mehr oder minder vollständigen Übernahme des deutschen Modells, wie es etwa in Österreich, in Ungarn oder dem noch dem Zollverein angehörenden Luxemburg der Fall war, auch die Ausarbeitung alternativer Lösungen in kritischer Auseinandersetzung mit dem deutschen Vorbild, wie sie in den westeuropäischen Ländern zunächst vorherrschte, stehen. Neben dem deutschen Modell obligatorischer staatlicher Versicherungen fand vor allem die auf dem liberalen Grundsatz der Hilfe zur Selbsthilfe, aber in den katholischen Ländern auch auf dem Subsidiaritätsprinzip beruhende staatliche Unterstützung freiwilliger Versicherungen vor 1914 noch weite Verbreitung. Es ist jedoch kennzeichnend, daß sich das von der deutschen Regierung massiv propagierte deutsche Beispiel schließlich in immer mehr Ländern durchsetzte. Dies hängt damit zusammen, daß das deutsche System auch die Einbeziehung der zur Selbsthilfe nicht fähigen Teile der Unterschichten unterhalb der Facharbeiterschaft ermöglichte.

II. Die historische Tradition des Wohlfahrtsstaates in Deutschland

Jede Erörterung der deutschen Sozialversicherung muß zunächst nach den Gründen für deren besonders frühe Entstehung — die Vorläufer gehen z. T. in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück — fragen. Unter diesen sei hier besonders hervorgehoben: 1 Die Auffassung von der besonderen Rolle und Funktion des Staates als eines Instruments zur Förderung von Wohlfahrt und sozialer Kontrolle blickte in Deutschland auf eine alte Tradition zurück. Sie stützte sich nicht zuletzt auf die altständische Vorstellung vom Anspruch des Untertanen auf angemessene Subsistenzvorsorge, sobald und solange der Untertan seinen Pflichten gegenüber der Obrigkeit genügte. Auf einer eigenen Tradition beruhte überdies die interventionistische Verwaltungspraxis deutscher Staaten, die auch im 19. Jahrhundert nicht abgerissen ist 2. Diese Tradition der Staatsintervention lebte erstmals während der Revolution 1848/49 in Gestalt einer aktiven Sozialpolitik auf. Je mehr sich in diesen Monaten, die Gefahren eines herandrängenden Proletariats vor Augen, das politisch schwache Bürgertum mit dem Erreichten zufriedengab, desto freiere Hand gewannen nach der Revolution die deutschen Bundesstaaten in der scharfen Unterdrückung aller radikal-und sozialdemokratischen Bestrebungen. Diese Politik versuchten die größeren Staaten, darunter besonders Preußen, durch sozialpolitische Palliative zu entschärfen.

Mit der Einführung des Beitragszwangs für Arbeitgeber, der in der europäischen Sozialpolitik der damaligen Zeit keine Parallele hatte und der sich nach ihrem Anteil von zwei Dritteln der Gesamtbeiträge richtenden starken Beteiligung der Versicherten an der Selbstverwaltung der Kassen, hat das preußische Unterstützungskassengesetz von 1854 das Krankenversicherungsgesetz von 1883 vorweggenommen. Allerdings blieb der Anwendungsbereich dieses Gesetzes'auf einzelne Orte beschränkt; auch wurden Heimarbeiter, Tagelöhner und Landarbeiter ausgeschlossen, und die Unterstützung bezog sich nur auf Krankheit, nicht auch auf Alter und Invalidität. Von zentraler Bedeutung als Vorbild für die spätere Sozialversicherungsgesetzgebung der 1880er Jahre war schließlich das preußische Knappschaftsgesetz von 1854, durch das die älteren, schon stets aus Beiträgen der Arbeitgeber und der Arbeiter finanzierten Knappschaften zu Trägern einer öffentlich-rechtlichen Arbeiterversicherung gemacht wurden. Die Bergarbeiter erhielten damit eine freie medizinische Versorgung, wurden gegen die finanziellen Folgen von Erwerbsunfähigkeit aufgrund von Krankheit, Unfall, Invalidität und Alter abgesichert Im Fall des Todes der Bergarbeiter konnten die hinterbliebenen Witwen und minderjährigen Waisen eine Unterstützung beanspruchen.

Die Motive dieser konstruktiven preußischen Arbeiterpolitik der Jahre 1849— 1855 entsprechen denen der Versicherungsgesetze der achtziger Jahre. Sie lagen weniger in der Linderung der sozialen Not an sich als in dem Versuch, eine vom Proletariat ausgehende Gefährdung der politischen und sozialen Ordnung durch vorbeugende Maßnahmen zu begegnen.

III. Motive und Grundzüge der Sozialversicherungsgesetze der 1880er Jahre

Der Versuch, der durch das Sozialistengesetz seit 1878 verbotenen Sozialdemokratie durch konkrete Sozialreformen das Wasser abzugraben und damit der von ihr nach Bismarcks Meinung ausgehenden revolutionären Gefährdung von Staat und Gesellschaft offensiv zu begegnen, war auch der letztlich entscheidende Grund für die Sozialversicherungsgesetze der achtziger Jahre.

Die Funktion der Sozialversicherungsgesetzgebung als positive Ergänzung des Sozialistengesetzes wurde von der Regierung immer wieder betont. Durch die Sozialversicherungsgesetze sollten die von der sozialdemokratischen Agitation noch nicht erfaßten Arbeiter gegen diese immunisiert, die bereits infizierten Arbeiter von ihren Führern getrennt und geheilt und die Arbeiterschaft insgesamt „durch erkennbare direkte Vorteile" enger an den Staat gebunden werden.

Politischen Erwägungen kam daher Priorität zu: So wurden die von der sozialistischen Partei am stärksten gefährdeten gewerblichen Arbeiter die ersten und eigentlichen Adressaten der Sozialversicherungsgesetze, und nicht z. B. Landarbeiter, Dienstboten und Heimarbeiter, deren Not sehr viel größer war. Dennoch sollte man aber die Sozialversicherungsgesetze nicht nur als eine Strategie zur Bekämpfung der Arbeiterbewegung und zur sozialen Kontrolle der Arbeiter im Rahmen der bestehenden monarchischen Staats-und Gesellschaftsordnung interpretieren, sondern auch die ökonomischen und sozialen Motive der Gesetzgebung stärker, als das in der Forschung bisher der Fall ist, berücksichtigen.

Starker Reformdruck hatte sich angestaut durch die Erhöhung der Unfallgefahren in den Fabriken, durch die höchst unbefriedigenden Konsequenzen des Reichshaftpflichtgesetzes von 1871, aufgrund dessen nur etwa ein Fünftel der Betriebsunfälle entschädigt wurden, durch die geringe Zahl der über Hilfskassen gegen Krankheit versicherten Personen und durch die Verkürzung der Le- bensarbeitszeit der Beschäftigten in der an älteren Arbeitskräften nicht interessierten Industrie, endlich überhaupt durch den von hoher geographischer Mobilität beschleunigten Verfall der alten Formen der Daseinssicherung in Familien und Geburtsgemeinden und durch die zunehmende Belastung der Kommunen durch die Armenfürsorge.

Die Sozialversicherungsgesetzgebung muß schließlich in einem stärkeren Umfang, als das meist geschieht, im Zusammenhang nicht nur mit dem Sozialistengesetz, sondern auch mit den zentralen Zielen der Wirtschafts-und Finanzpolitik Bismarcks seit dem Ende der siebziger Jahre gesehen werden. Man kann mit vollem Recht argumentieren, daß durch die Schutzzollpolitik von 1879 und vor allem die Erhöhung der Getreidezölle auf das Fünffache bis 1887 eine Verteuerung der Lebens-haltung der Arbeiterfamilien eintrat die die Aufwendungen für die Daseinsvorsorge durch die Beitragsanteile der Unternehmer zu allen Versicherungen und den Zuschuß des Reiches zur Rentenversicherung mehr als auf-wog. In Bismarcks subjektiver Einschätzung diente die Zollschutzpolitik jedoch dem „Schutz der nationalen Arbeit" und kam damit als ein Mittel zur Überwindung der Wirtschaftskrise und Verringerung der Arbeitslosigkeit gerade auch den Arbeitern zugute.

In Bismarcks Innenpolitik nahm von der Mitte der siebziger Jahre bis zu seiner Entlassung die Sicherung der Reichsfinanzen und die Umverteilung der Steuerlasten in einem von der historischen Forschung noch keineswegs erkannten Maße den zentralen Platz ein. Durch die Steigerung der indirekten Steuern, vor allem aber die Einführung eines Tabakmonopols des Reiches, sollte dessen Abhängigkeit von den jährlich durch Beschluß des Reichstages festgesetzten Matrikularbeiträgen der Bundesstaaten beseitigt, der Einfluß des Reichstages reduziert und z. B.

in Preußen die Möglichkeit zur Abschaffung der schwer auf den Unterschichten lastenden Klassensteuern gegeben werden. Vor allem aber sollten damit die finanziellen Mittel für eine allein vom Reich getragene Alters- und Invalidenversorgung der Arbeiter und anderer Teile der Unterschichten beschafft werden. Bismarck ist mit seiner Steuerpolitik am Widerstand des Reichstages gescheitert. Das hatte tiefgreifende Auswirkungen für das System der deutschen Sozialversicherung.

Einige der wesentlichen, die deutsche Sozialversicherung grundlegend etwa vom englischen System der staatlichen Daseinsvorsorge unterscheidenden Kennzeichen — z. B. die ursprünglich nicht vorgesehene Staffelung der Beiträge und Leistungen in der Rentenversicherung nach dem Verdienst des Versicherten wie auch das hohe Maß der Selbstbeteiligung der Versicherten und die geringe Beteiligung des Reiches — entsprachen so nicht dem ursprünglichen Konzept der Regierung. Sie erwiesen sich aber als besonders zukunftsträchtig. Während die meisten Systeme der staatlichen Sozialversicherung in Europa zunächst vom Grundsatz der Sicherung eines Existenzminimums ausgingen und daher ohne Rücksicht auf das frühere Einkommen des Versicherten gleiche Leistungen für alle vorsahen, waren die Leistungen der deutschen Sozialversicherung — vor allem zur Alters-und Invalidenversorgung — im Kaiserreich zwar so niedrig angesetzt, daß sie häufig nicht einmal zur Befriedigung der notdürftigsten Lebensbedürfnisse ausreichten sie erwiesen sich aber der Anlage nach später als eine entscheidende Voraussetzung für den Ausbau in Richtung auf eine möglichst weitgehende Erhaltung des während des aktiven Arbeiterlebens erreichten Lebensstandards. Dieser Grundsatz wurde jedoch erst bei der Reform der Rentenversicherung von 1957 annähernd verwirklicht. Auch die starke Verankerung des Selbstverwaltungsgedankens war letztlich ebenfalls weniger die Folge eines bewußten Anknüpfens an ältere korporative Traditionen als vielmehr eine notwendige Konsequenz der Art der Finanzierung der Versicherung.

IV. Die Haltung der politischen und sozialen Kräfte zur Sozialversicherung und deren Ausbau bis 1914

An der Entstehung der Sozialversicherungsgesetze haben die verschiedensten Einflüsse und Kräfte mitgewirkt. Obwohl Bismarcks Identifizierung mit den Gesetzen nicht überbetont werden soll — er bezeichnete das Krankenversicherungsgesetz als ein „untergeschobenes Kind" und das Invalidenversicherungsgesetz nach seiner Entlassung abfällig als einen „parlamentarischen und geheimrätlichen Wechselbalg“ —, darf man doch auch seine Rolle nicht zugunsten einzelner, an der Vorbereitung der Gesetze wesentlich beteiligter hoher Beamten zu sehr herunterspielen. Ohne Bismarcks Macht und Energie wären die Gesetze jedenfalls zu diesem Zeitpunkt nicht durchgesetzt worden. Ihre politische Zielsetzung und ihre Ausrichtung auf die gewerbliche Arbeiterschaft gehen unmittelbar auf ihn zurück. Auch die Geschlossenheit des Gesetzgebungswerkes, das außer der Arbeitslosigkeit und der erst 1912 eingeführten begrenzten Versorgung von Witwen und Waisen alle wesentlichen Lebensrisiken erfaßte, die Verankerung des Prinzips'des Versicherungszwanges und die Bildung öffentlich-rechtlicher Zwangsversicherungen als Organisationsform unter völliger Ausschaltung der von Bismarck scharf abgelehnten kommerziellen Versicherungen sind von ihm durchgesetzt worden.

Die starke Berücksichtigung der Unternehmerinteressen, die besonders in der Unfallversicherung, aber auch in seiner Ablehnung eines Ausbaus der Arbeiterschutzgesetzgebung zum Ausdruck kam, entsprach ebenfalls Bismarcks Bestreben, die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu erhalten.

Von den deutschen Parteien hat vor allem das Zentrum, dessen Zustimmung für die Mehrheitsbildung im Reichstag bis zur Kartellwahl von 1887 unerläßlich war, einen entscheidenden Einfluß auf die Sozialversicherungsgesetzgebung ausgeübt. Die Sozialdemokratie, deren sozialpolitische Forderungen hauptsächlich auf dem Gebiet des Arbeiterschutzes lagen, hatte anfangs kein Konzept für ein System staatlicher Sozialversicherung. Sie hat die Sozialversicherungsgesetze zunächst abgelehnt, weil sie offensichtlich mit der Rep. ressivpolitik des Sozialistengesetzes verbunden waren, aber auch wegen der Ausklammerung weiter Bevölkerungsschichten, der ungenügenden Leistungen und der geringen Beteiligung des Reichs. Sie nahm aber in ihrer Agitation, an eine unvorsichtige Äußerung Bismarcks anknüpfend, nicht zu Unrecht in Anspruch, daß es ohne die Furcht vor der Partei nicht zur Sozialreform gekommen wäre. Tatsächlich stärkten die Versicherungsgesetze der 1880er Jahre entgegen Bismarcks Absicht die Arbeiterorganisationen und verbesserten deren Agitationsmöglichkeiten. Die durch das Krankenversicherungsgesetz zugelassenen freien Hilfskassen, die allein von den Versicherten finanziert und verwaltet wurden, boten Chancen eines legalen Einflusses auf die Arbeiter und dienten vielfach als Ersatz für die verbotene Parteiorganisation, aber auch als Ausgangspunkte für den bereits in den 1880er Jahren vorgenommenen Wiederaufbau zentraler gewerkschaftlicher Verbände. Die Diskussion der Gesetzentwürfe und Gesetze wurde von den Sozialdemokraten zur Wiederbelebung der unter dem Sozialistengesetz zunächst fast völlig unterbundenen Versammlungstätigkeit genutzt. Schließlich wurden die Ortskrankenkassen noch im Kaiserreich zu Hochburgen der sozialistischen Arbeiterbewegung, die Tausenden von Sozialdemokraten und Gewerkschaftlern eine sichere Stellung und mehreren hunderttausend Arbeitern Erfahrungen in der Selbstverwaltung gaben. Die Bedeutung dieser praktischen Tätigkeit für die Überwindung der gesellschaftlichen Isolierung der Arbeiter, den Abbau von Klassenspannungen und das Vordringen reformistischer Tendenzen in den Arbeiterorganisationen kann kaum überschätzt werden.

Indem die Sozialversicherung den Korpsgeist der Betroffenen stärkte, die direkte Abhängigkeit der Arbeiter vom Arbeitgeber verringerte, die Rechtsstellung der Arbeiter verbesserte und ihre geographische Mobilität erleichterte, hat sie auch zu deren Emanzipation beigetragen.

Nachdem bei den Sozialdemokraten bereits in den kontroversen parteiinternen Diskussionen der achtziger Jahre über den mehrheitlich abgelehnten Staatssozialismus die Versicherungsgesetze eine Rolle gespielt hat-B ten, setzte sich etwa seit der Jahrhundertwende eine positivere Beurteilung der Sozialversicherung, deren Ergänzung und Ausdehnung auf immer weitere Bevölkerungskreise jetzt gefordert wurde, durch.

Alle Versuche der Arbeiterorganisationen, öffentliche Versicherungen gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit zu schaffen oder das Reich, die Einzelstaaten und die Kommunen zur Unterstützung der seit den achtziger Jahren in zunehmendem Maße eingeführten gewerkschaftlichen Arbeitslosenversicherung zu veranlassen, blieben jedoch vor 1914 — von wenigen Ausnahmen in einzelnen Städten abgesehen — erfolglos. Erst im Ersten Weltkrieg wurde die Erwerbslosenfürsorge erweitert, und erst nach 1927 wurde nach verschiedenen Vorläufern die generelle Arbeitslosenversicherung eingerichtet.

Dagegen wurde durch ein Reichsgesetz vom Dezember 1911 eine gesonderte Renten-und Hinterbliebenen-Versicherung für Angestellte geschaffen. Dabei spielten neben der besonders großen Zunahme der kaufmännischen und technischen Angestellten politische Motive eine entscheidende Rolle. Die Schaffung einer gesonderten Versicherung für Angestellte mit höheren Beiträgen und höheren Leistungen als die der Arbeiterrentenversicherung war die zentrale Forderung einer seit der Jahrhundertwende schnell an Gewicht gewinnenden, sich mehrheitlich scharf von der Lohnarbeiterschaft abgrenzenden Angestelltenbewegung, die angesichts des Wählerpotentials der Angestellten von den politischen Parteien nicht ignoriert werden konnte. Ihre Forderungen wurden schließlich trotz finanzieller Bedenken von der Regierung aufgegriffen, um einen Damm gegen das Vordringen der Sozialdemokratie in den sogenannten „Neuen Mittelstand" zu errichten. Die Angestelltenversicherung hat ihr politisches Ziel, das Sonderbewußtsein der keineswegs einheitlichen Angestelltenschaft gegenüber der Arbeiterschaft zu fördern und damit ihre politische Organisation durch die Sozialdemokratie und ihre gewerkschaftliche Organisation durch sozialistische Verbände zu erschweren, zumindest bis zum Ende der Weimarer Republik teilweise erfüllt Sie wurde gleichzeitig zu einem Modell, an dem sich in Zukunft alle Forderungen zur Verbesserung der Arbeiterversicherung und zur Gleichbehandlung der Arbeiter in der Sozialversicherung, die bis 1957 schrittweise erreicht wurde, orientieren konnten.

V. Soziale und wirtschaftliche Auswirkungen der Sozialversicherung vor dem Ersten Weltkrieg

Die außerordentlich tiefgreifenden sozialen, ökonomischen und politischen Wirkungen der deutschen Sozialversicherung sind bisher erstaunlicherweise von der Forschung noch nicht systematisch analysiert worden.

Die Lage der Arbeiterfamilien ist durch den Schutz gegen die Folgen von Krankheit, Betriebsunfällen, Invalidität und Alter schon im Kaiserreich erheblich verbessert worden. Sicher wäre es verfehlt, die gewaltige Steigerung der durchschnittlichen Lebenserwartung um volle zehn Jahre bei Neugeborenen und fünf Jahre bei 15jährigen in den drei Jahrzehnten nach 1871 allein oder auch nur überwiegend auf die Leistungen der Sozialversicherung zurückzuführen. Die allmähliche Verbesserung der Wohn-und Ernährungsverhältnisse, die steigenden Reallöhne, der Ausbau des Arbeiter-und Mutterschutzes, Stadt-sanierungen und Maßnahmen der sozialen Hygiene, die verbesserte Säuglingsfürsorge vor allem in den Städten, die Untersuchung von Schulkindern durch Schulärzte und andere Maßnahmen präventiver Gesundheitspflege sowie natürlich auch die Fortschritte der medizinischen Forschung, vor allem in der Bekämpfung von Infektionskrankheiten, haben zusammen eine sicher noch größere Bedeutung gehabt. Auch haben neuere Forschungen gezeigt, daß die „soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod" in der Zeit des Kaiserreichs nicht nur fortbestand, sondern sich eher noch verschärfte. So setzte der Rückgang der Säuglingssterblichkeit zuerst beim „Neuen Mittelstand“ der Beamten und Angestellten ein und war hier auch bis 1913 eindeutig am stärksten ausgeprägt.

Auch der Rückgang der Tuberkulosesterblichkeit — die Tuberkulose war die bedeutendste Volkskrankheit der Zeit — auf etwa die Hälfte zwischen 1876 und 1910 beendete noch nicht die in Beruf, Wohn-und Ernährungsweise liegende unterschiedliche soziale Disposition zu Erkrankung und Tod durch Tuberkulose. Trotzdem hat das große Interesse besonders der Invalidenversicherung an vorbeugenden Maßnahmen, aber auch an der Wiederherstellung der Arbeitskraft der an Tuberkulose Erkrankten, die die bei weitem größte Gruppe der Invaliden unter jüngeren Arbeitnehmern bildete entscheidend zur Intensivierung der Bekämpfung dieser Krankheit beigetragen, überhaupt widmete man jetzt dem Problem der Berufskrankheiten zunehmende Aufmerksamkeit.

Durch die Krankenversicherung wurde so nicht nur die Therapie von Krankheiten erleichtert — ein Großteil der Unterschichten erhielt erstmals eine adäquate medizinische Versorgung —, sondern die Wirksamkeit aller Sozialversicherungen trug wesentlich dazu bei, die Ursachen von Krankheit und Invalidität klarer zu erkennen und ihnen gerade auch durch vorbeugende Mittel zu begegnen. Zu diesen prophylaktischen Maßnahmen gehörten die immer detaillierter ausgeführten Unfallverhütungsvorschriften der durch die Unfallversicherung gebildeten Berufsgenossenschaften. Die Krankenversicherung, über die schließlich 1913 etwa 50% der Bevölkerung medizinische Betreuung beanspruchen konnte hat nicht nur eine frühzeitige und zweckmäßige'Behandlung der Versicherten ermöglicht, sondern sie hat auch eine sozialpädagogische Wirkung gehabt, indem sie half, die Arbeiter langsam an einen pfleglicheren Umgang mit der eigenen Gesundheit und an eine bessere Vorsorge gegen den Eintritt dauernder oder vorübergehender Erwerbsunfähigkeit zu gewöhnen und damit auch ihre Anpassung an die Bedingungen der modernen Industriegesellschaft zu fördern.

Die Sozialversicherung hatte erhebliche Auswirkungen auf den Ärztestand und beeinflußte auch die Entwicklung der Medizin. Nachdem die Ärzte bei der Einführung der Sozialversicherung in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts fast völlig ignoriert worden waren, hatte sich in Frontstellung gegen die Krankenkassen, die in den Großstädten und Industriebezirken ein weitgehendes Nachfrage-Oligopol ausübten und die wirtschaftliche Existenz der von den Kassen ausgeschlossenen Mehrheit der Ärzte in Frage stellten, in dem 1900 gegründeten Hartmannbund eine Organisation zur Vertretung ärztlicher Interessen gebildet. Dieser konnte 1913 in dem sogenannten Berliner Abkommen mit den zentralen Verbänden der Krankenkassen das Prinzip des ärztlichen Kollektivvertrages und ein geregeltes Verfahren der Zulassung von Ärzten zur Kassenpraxis durchsetzen. Insgesamt hatte die gesetzliche Krankenversicherung, deren Durchschnittszahlungen an die praktizierenden Zivilärzte von jährlich knapp 800 Mark 1887 auf über 3 000 Mark 1913 — d. h. auf etwa den dreifachen Jahresverdienst eines Arbeitnehmers in Industrie, Handel und Verkehr — stiegen, wie die Erhöhung der Reallöhne und die Verstädterung, einen positiven Einfluß auf die wirtschaftliche Situation der Ärzte, die ihren Patientenstamm und damit ihre Einnahmen wesentlich erhöhen konnten. Gleichzeitig nahm die Ärztedichte erheblich zu und die Zahl der Krankenhäuser, die für die Massen ihren Schrekken als Sonderformen von Armenhäusern weitgehend verloren, stieg.

Zu den direkten und mittelbaren Wirkungen der Sozialversicherung auf die Medizin zählten neben der bereits erwähnten Intensivierung des Kampfes gegen die Tuberkulose unter anderem eine verbesserte Vorsorge gegen die Ursachen von Berufskrankheiten, der Ausbau der Unfallmedizin, die seit der Jahrhundertwende forcierten Bemühungen um die Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten, in der die moralische Verurteilung zugunsten einer sachlichen Aufklärung und einer zweckmäßigen medizinischen Behandlung zurücktrat, und das Vorgehen gegen den Aikoholismus als einer gefährlichen und für die Volkswirtschaft kostspieligen Krankheit Auch der intensive Ausbau der Kinderheilkunde und die Verringerung der Sterblichkeit von Kindern im Alter von 1 bis 15 Jahren um die Hälfte waren wesentlich durch die Sozialversicherung mitbedingt worden, denn Kinder, deren Erkrankung und Tod bei der Geringschätzung des kindlichen Lebens in den Unterschichten früher meist als Naturereignis hingenommen wurde, erhielten vielfach erst jetzt im Krankheitsfall ärztliche Betreuung und ihre Mütter ärztliche Beratung über Vorbeugungsmaßregeln.

Verarmung als Folge von hohem Alter und vorzeitiger Invalidität war ein Schicksal, dem die Arbeiter auch durch das zunächst nur lok-B ker geknüpfte Netz der sozialen Sicherheit meist nicht entgehen konnten. Dazu war die Durchschnittsrente viel zu niedrig und setzte zudem vor ihrer Gewährung einen so hohen Grad an Invalidität bzw. ein so hohes Alter voraus daß die Masse der Arbeiter, besonders in Industrie und Handwerk, ihre ursprünglich qualifizierteren Arbeitsstellen bereits verloren und einen schmerzhaften Dequalifikationsprozeß durchgemacht hatten, ehe sie — sofern sie nicht vorher starben — überhaupt in den Genuß einer Rente kamen. Trotzdem trat eine nicht unwesentliche Verbesserung der Situation der Alten und Invaliden ein. So hat offenbar besonders auf dem Lande der Invalide oder alte Arbeiter aufgrund des von ihm mit seiner Rente in den Haushalt eingebrachten Bargeldes mit mehr Respekt und einer besseren Versorgung rechnen können als vorher, wo eventuelle Mittel der Armenfürsorge erst nach der völligen Aufzehrung seines Vermögens gewährt wurden, von den zum Unterhalt verpflichteten nahen Verwandten eingeklagt werden konnten und zudem an eine Gemeinde gebunden waren. Wesentlich als Konsequenz der Alters-und Invalidenversicherung stieg die Zahl der von Vermögen und Renten lebenden Personen von 1882 bis 1907 um fast das Dreifache auf fast 2, 3 Millionen. Insbesondere die Kranken-sowie die Alters-und Invalidenversicherung führten zu der von Bismarck beabsichtigten erheblichen Entlastung der Armeniürsorge, die aber als „Unterstock'1 des sozialen Sicherungssystems für die von den Versicherungen nicht oder nur ungenügend erfaßten Bevölkerungsgruppen erhalten blieb.

Die Sozialversicherung hat den Ausbau der Wirtschafts-und Sozialstatistik im Deutschen Reich beschleunigt. So gehen die 1882 erstmals vorgenommenen Erhebungen über die berufliche und soziale Gliederung des deutschen Volkes und die parallele Gewerbe-statistik, die mit den späteren Erhebungen von 1895 und 1907 die wesentlichen Grundlagen für jede Analyse der Sozial-und Wirtschaftsstruktur des Bismarckreiches und ihre Veränderungen zwischen 1882 und 1907 bilden, unmittelbar auf Bismarcks Wunsch zurück, für die Unfall-und Altersversicherung zuverlässige statistische Unterlagen zu erhalten.

Die Sozialversicherung gab wesentliche Impulse zum Ausbau des privaten Versicherungswesens, vor allem der Kranken-und Lebensversicherung für Angestellte und Beamte. Schließlich wurden die durch die Vermögensbildung vor allem in der Rentenversicherung angesammelten großen Kapitalien — 1913 verfügten die reichsgesetzlichen Sozial-versicherungen über Rücklagen in Höhe von über 3 Milliarden Mark — zu einem nicht geringen Teil für präventive Sozialpolitik, vor allem den Ausbau von Kranken-und Genesungshäusern, Volksheilstätten, Volksbädern, Blindenheimen, Kleinkinderschulen, Wasserleitungs-, Kanalisations-und Entwässerungsanlagen und die Errichtung billiger Kleinwohnungen angelegt.

VI. Die Sozialversicherung als Faktor zur Veränderung von Staat, Verfassung und Verwaltung

Schließlich ist auch die Verfassungsund Verwaltungsstruktuf des Deutschen Reiches durch die Versicherungsgesetzgebung wesentlich verändert worden. Die tendenzielle Entwicklung von der Hoheits-zur Leistungsverwaltung wurde gefördert und die Zahl der öffentlichen Angestellten um die ca. 20 000 Beschäftigten der Sozialversicherungsorgane (1914) vermehrt. Neben der damit in Verbindung stehenden Verstärkung der Bürokratie trat aber auch die Schaffung neuer Organe der Mit-und Selbstverwaltung, an der sich neben den Arbeitgebern auch Arbeiter in entscheidenden Funktionen beteiligten. Durch die Ausweitung des Bereichs der Reichsgesetzgebung und die Gründung des Reichsversicherungsamts sowie den Aufbau einer Reichsversicherungsanstalt für Angestellte wurde die Stellung des Reiches auf Kosten der Bundesstaaten, die allerdings in den Landesversicherungsanstalten und Landesämtern neue Einflußmöglichkeiten erhielten, gestärkt. Die Gemeinden wurden zwar aufgrund der Übernahme von gewissen Aufgaben der früheren Armenpflege finanziell entlastet, verloren aber gleichzeitig einen Teil ihrer bisherigen Funktionen und büßten an Bedeutung ein. Die Stellung des Reichstages wurde entgegen den Plänen Bismarcks durch dessen entscheidende Mitwirkung an der Sozialversicherungsgesetzgebung eher gestärkt und der Prozeß der Organisation der wirtschaftlichen und sozialen Kräfte in der Gesellschaft wesentlich beschleunigt. Das wird besonders deutlich an der durch das Unfallversicherungsgesetz erzwungenen Schaffung von Berufsgenossenschaften der Arbeitgeber bestimmter Industriezweige, die die Kartellisierungsbestrebungen in der deutschen Industrie verstärkten, an der Selbstorganisation der Ärzte als Antwort auf das Krankenversicherungsgesetz, an der Formierung der Angestelltenbewegung um die Forderung nach einer eigenen Pensionsversicherung, aber auch an der unbeabsichtigten Stärkung der politischen und gewerkschaftlichen Arbeiterorganisationen. Das Rechtssystem wurde durch die Schaffung von Spezialgerichtsbarkeiten für die Sozialgesetze, die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes, den Ausbau der Schiedsgerichtsbarkeit und die verstärkte Heranziehung von Laien zur Rechtsprechung im Sozialversicherungswesen ergänzt.

Vor allem aber wurden mit der Legitimation der Daseinsvorsorge als Staatsaufgabe die Funktionen des Staates im ökonomischen und sozialen Bereich neu betont und damit die Weichen für den unaufhaltsamen Weg in den modernen Sozialstaat gestellt. Zu dessen Kennzeichen gehört eine teilweise Umvertei. lung des Sozialprodukts zugunsten der materiell schlechter gestellten Schichten der Bevölkerung. Wenn auch das Ausmaß dieser Umverteilung in Deutschland — im Vergleich zu England — vor allem wegen des auch durch föderalistische Bedenken der Bundesstaaten unterstützten Widerstandes gegen Staatszuschüsse und der im Gegensatz zu Bismarcks Intentionen erfolgten vorherrschenden Orientierung der Leistungen der Sozial-versicherungen am Prinzip der Äquivalenz für Beitragszahlungen statt an deren Ausrichtung nach den Kriterien der Bedürftigkeit vor 1914 relativ begrenzt blieb, so hatte doch die Einführung der Sozialversicherung weitgehende Konsequenzen für die Haltung der Arbeiterschaft. Man muß hierbei allerdings unterscheiden zwischen der Nahwirkung der Gesetze, die nicht zu der von Bismarck erhofften Trennung von Arbeiterschaft und sozialistischer Arbeiterbewegung führten, und der Fernwirkung der Sozialversicherung, die durch die Verminderung der Lebensangst in Arbeiterfamilien dazu beitrug, Massenloyalität zu schaffen, und mit der allerdings nur begrenzten Förderung der sozialen Emanzipation der Arbeiter, deren Integration in Staat und Gesellschaft zu erleichtern.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Beitrag beruht im wesentlichen auf dem Buch des Verfassers, Sozialversicherung in Deutschland und England. Entstehung und Grundzüge im Vergleich, München 1983. E. Tradt, Sozialbudget 1980. Konsolidierung erreicht, in: Bundesarbeitsblatt (1980) 7— 8, S. 17— 23, hier S. 20— 22.

  2. Zahlen nach D. Zöllner, Landesbericht Deutschland, in: P. A. Köhler/H. F. Zacher (Hrsg.), Ein Jahrhundert Sozialversicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Österreich und der Schweiz, Berlin 1981, S. 45— 179, hier S. 171; E. Tradt, a. a. O. (Anm. 1), S. 22.

  3. Vgl. Begründung zum Entwurf eines Gesetzes betr. die Unfallversicherung der Arbeiter, in: Sammlung sämtlicher Drucksachen des Reichstags, IV. Legislaturperiode, IV. Session 1881, Bd. 1, Nr. 41, S. 17.

  4. Man hat geschätzt, daß aufgrund der Zollschutzpolitik die Kosten für Lebensmittel, die im Durchschnitt etwas über die Hälfte aller Lebenshaltungskosten in Arbeiterhaushalten ausmachten, in Deutschland 1905 etwa um 8% höher lagen als in Großbritannien. Vgl. G. A Ritter, Staat, Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung in Deutschland. Vom Vormärz bis zum Ende der Weimarer Republik, Berlin-Bonn 1980, S. 17.

  5. Die durchschnittliche Höhe der Alters-bzw.der Invalidenrente stieg von 1891— 1914 von 123 auf 168 bzw. von 113 auf 201 Mark jährlich. Vgl. H. -G. Reuter, Verteilungs-und Umverteilungseffekte der Sozialversicherungsgesetzgebung im Kaiserreich, in: F. Blaich (Hrsg.), Staatliche Umverteilungspolitik in historischer Perspektive. Beiträge zur Entwicklung des Staatsinterventionismus in Deutschland und Österreich, Berlin 1980, S. 107— 164, hier S. 131. Von diesem Beitrag entfielen pro Rente 50 Mark auf einen Zuschuß des Reiches. Die Renten betrugen nur etwa ein Sechstel bis ein Fünftel des durchschnittlichen Jahresverdienstes eines Arbeitnehmers in Industrie, Handel und Verkehr.

  6. H. Rothfels, Theodor Lohmann und die Kampf-jahre der staatlichen Sozialpolitik (1871— 1905). Nach ungedruckten Quellen, Berlin 1927, S. 55.

  7. Ansprache Bismarcks an die Abordnung der Anhalter am 21. 4. 1895, abgedruckt in: H. Kohl (Hrsg.), Reden und Ansprachen des Fürsten Bismarck. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 13, 1890 bis 1897 (Neudruck der Ausgabe Stuttgart 1905), Aalen 1970, S. 369— 373, bes. S. 372.

  8. Grundlegend dazu: R. Spree, Soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod. Zur Sozialgeschichte des Gesundheitsbereichs im Deutschen Kaiserreich, Göttingen 1981.

  9. M. Mosse, Einfluß der sozialen Lage auf die Tuberkulose, in: M. Mosse/G. Tugendreich (Hrsg.), Krankheit und Soziale Lage, München 1912/13, S. 551— 607, hier S. 563.

  10. Vgl. Atlas und Statistik der Arbeiterversicherung des Deutschen Reichs. Beiheft zum Reichs-Arbeitsblatt, Juni 1904, hrsg. vom Kaiserlichen Statistischen Amt, Abteilung für Arbeiterstatistik. Bearbeitet im Reichs-Versicherungsamt, Berlin 1904, S. 34.

  11. F. Tennstedt, Sozialgeschichte der Sozialversicherung in: M. Blohmke (Hrsg.), Handbuch der Sozialmedizin, Bd. 3, Stuttgart 1976, S. 385— 492, hier S. 388.

  12. Für die Gewährung der Invalidenrente mußte eine um mehr als 663/3% verringerte Erwerbsfähigkeit vorliegen. Die Altersrentner mußten über 70 Jahre alt sein.

  13. Chr. Sachße/F. Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Vom Spätmittelalter eis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart u. a. 1980,

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Gerhard A. Ritter; Dr. phil., B. Litt. (Oxon), geb. 1929; o. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität München, Honorary Fellow des St Antonys College der Universität Oxford.