Systemeinverständnis und gesellschaftliche Leitbilder von Jugendlichen
Klaus R. Allerbeck
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Zusammenfassung
Durch den Vergleich von Umfragen unter wissenschaftlich gesicherten Stichproben von Jugendlichen in der Bundesrepublik in den Jahren 1962 und 1983 wird die Entwicklung des Systemeinverständnisses von Jugendlichen untersucht Dabei zeigt sich, daß die Zustimmung zu demokratischen Normen erheblich zugenommen hat. Entgegen verbreiteten Vermutungen hat die Zustimmung zu neonazistischen Vorstellungen deutlich abgenommen. Wesentlich als Folge der Bildungsexpansion hat das Interesse an Politik, das Jugendliche äußern, zugenommen. Die heutige Existenz einer eigenen Jugendpartei, der GRÜNEN, signalisiert eine Änderung gesellschaftlicher Leitbilder. Die Zustimmung zu deren Positionen bei Themenbereichen wie Kernkraft oder Friedensbewegung geht weit über die Zustimmung zu der Partei hinaus. Die in den zwei Jahrzehnten kaum veränderte Stärke der politischen Sozialisation in der Familie ist geeignet zu erklären, warum die inhaltlichen politischen Positionen der Mehrheit der Jugendlichen sich vergleichsweise gering in Parteipräferenzen umsetzen.
Das Einverständnis von Jugendlichen mit dem politischen System ist in der Bundesrepublik Deutschland seit ihrer Gründung immer ein vieldiskutiertes Thema gewesen. Allerdings haben sich die Schwerpunkte verschoben. Galten in der Gründungsphase der Republik und für die folgenden anderthalb Jahrzehnte die Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie und die Aufklärung über den Nationalsozialismus als die vordringlichen Aufgaben politischer Bildung, so ist heute die Anerkennung der parlamentarischen Demokratie gegenüber fundamentaldemokratischen (und/oder „antidemokratischen“) Vorstellungen gerade in der jüngeren Generation ein Schwerpunkt. — In einem normativ so stark besetzten Bereich ist es hilfreich, sich des empirischen Sachverhalts genauer zu versichern. Umfragen unter Jugendlichen sind dazu ein heute weithin akzeptiertes Mittel.
I. Umfragen als Erkenntnisquelle
Die methodischen Standards, die Voraussetzung der Gültigkeit von auf Umfragen beruhenden Aussagen über das Bewußtsein der Bevölkerung oder von Teilgruppen wie Jugendlichen, sind allerdings bis heute kaum in das Bewußtsein der Öffentlichkeit eingedrungen. Immer wieder ist es daher möglich, mit grotesken Zahlen und abenteuerlichen „Stichproben“ Entwicklungen zu dramatisieren, die es nicht gibt, und Befürchtungen zu wecken, die unbegründet sind. So kam es aufgrund einer höchst merkwürdigen „Umfrage" unter Schülern in den letzten Jahren zu einer öffentlichen Diskussion über den Neonazismus unter der Jugend; nur kurz zuvor wurde aufgrund kaum weniger eigentümlicher „Daten“ erörtert, ob tatsächlich die Mehrheit der westdeutschen Studenten dem Kommunismus sowjetischer Prägung zuneige. Dies sind nur Andeutungen bekannter Beispiele. Sie machen verständlich, daß heute vielfach aJJen Umfrageergebnissen mit pauschalen Zweifeln begegnet wird. Leicht wird so das Instrument Umfrage verworfen, bloß weil es auch hier Scharlatane gibt. Für das Thema Systemeinverständnis und gesellschaftliche Leitbilder Dieser Beitrag faßt ausgewählte Ergebnisse des Projekts „Integrationsbereitschaft der Jugend im sozialen Wandel", das von der Stiftung Volkswagenwerk gefördert wird, zusammen. Eine themenübergreifende Gesamtdarstellung wird im April nächsten Jahres unter dem Titel Klaus R. Allerbeck/Wendy J. Hoag, Jugend ohne Zukunft?, München 1985, erscheinen. kann man jedoch ohne zuverlässige Daten aus Umfragen keine gültigen Aussagen machen. Deswegen müssen hier einige Bemerkungen zu dem wichtigsten der methodischen Probleme gemacht werden.
An dieser Stelle soll nur die Spitze des Problem-Eisbergs genauer beleuchtet werden, nämlich die Deutung von Frageformulierung und zugehörigen Prozentzahlen. In dem halben Jahrhundert, seit das Mittel Umfrage verfügbar ist, hat die empirische Sozialforschung enorme Fortschritte gemacht: in der Stichprobentheorie, in der Datenanalyse, mit der Verwendung der Computertechnologie und auf etlichen anderen Teilgebieten. Trotz allen Fortschritts der Forschung ist ein letztes Rätsel geblieben: Was verstehen die Befragten unter den Fragen, die ihnen die Interviewer stellen? Das gilt nicht nur für technisch unbrauchbare Fragen (also Fragen, die für den Befragten oft nicht verständliche Begriffe, hochkomplexe Wortkonstruktionen oder mehrfache Verneinungen enthalten — solche Fragen gibt es leider häufig, etwa wenn Vorstellungen aus akademischen Demokratietheorien unmittelbar, d. h. unübersetzt, in Fragebogen übernommen werden), sondern auch für technisch einwandfreie Fragen. Unverdrossen wird jedoch häufig in Unkenntnis des von den Befragten verstandenen Sinns den reinen Prozentzahlen eine Bedeutung unterlegt anschließend wird sofort erwogen bzw. beklagt, daß dies viel sei, vielleicht gar zu viel oder eben zu wenig. Dagegen verwenden Fachleute selten isolierte Prozentsätze von Antworten auf Einzelfragen, sondern konzenB trieren ihre Aufmerksamkeit auf Muster, die in den Antworten deutlich werden, und auf Vergleiche — zwischen Teilgruppen, zwischen Zeitpunkten usw. — hinsichtlich von Fragen, (übrigens ist dies genau das Verhalten, das wir im Alltag zeigen. Wenn wir uns beispielsweise über das Wetter unterhalten, sagen wir vielleicht „das Barometer -steigt", und jeder weiß, was damit gemeint ist Mit Millibar-Zahlen können dagegen die wenigsten etwas anfangen, und deswegen werden diese kaum isoliert mitgeteilt — jedenfalls nicht den Wetter-Laien. Mit Prozentzahlen der Umfrageforschung sollte auch die Öffentlichkeit genauso umgehen: statt einzelne Prozentzahlen absolut zu setzen, sollte sie mehr auf Vergleiche achten.)
So sagt die einzelne Prozentzahl — wieviel Jugendliche auf eine bestimmte Frage hin . gute Seiten am Nationalsozialismus“ finden — für sich fast nichts aus. Nimmt dagegen dieser Anteil auf identische Fragen hin im Lauf von zwei Jahrzehnten ab, dann weist dies eine Entwicklung auf, die in eindeutigem Widerspruch beispielsweise zu Aussagen von Schriftstellern steht, die heute von einem zunehmenden Neonazismus unter der deutschen Jugend sprechen.
Im folgenden sollen nun Daten zu den gesellschaftlichen Leitbildern von Jugendlichen und zu ihrem Einverständnis mit dem politischen System dargestellt und miteinander verglichen werden, die im Abstand von mehr als 20 Jahren erhoben wurden -Dabei war die jetzige Erhebung darauf angelegt, daß ihre Ergebnisse mit denen der Vorgängeruntersuchung von 1962, die von Ludwig von Friede-burg geleitet wurde, vergleichbar waren. Die Fragen wurden exakt reproduziert; jedwede »Verbesserung", . Anpassung“ oder Änderung von Frageformulierungen und Antwortkategorien unterblieben. Fragen, die ohne eine „Anpassung" nicht hätten verwendet werden können, wurden dementsprechend aus dem Erhebungsprogramm gestrichen. Da die Zielgruppe 1962 mittels einer Wahrscheinlichkeitsstichprobe aus Einwohnermelderegistern ermittelt wurde (also dem einzigen wissenschaftlich vertretbaren Vorgehen bei Jugenduntersuchungen zu solchen Themen), ging unsere Wiederholungsuntersuchung ebenso vor Hierdurch sind die methodischen Voraussetzungen für einen Zeitvergleich gegeben; die Unterschiede, die gefunden werden, können folglich nicht durch methodische Differenzen wegerklärt werden, sondern sind ausschließlich als Unterschied zwischen den Zeitpunkten zu deuten
II. Zustimmung zum politischen System
Abbildung 2
Abbildung 2
Abbildung 2
Wie hat sich also unter Jugendlichen die Zustimmung zum politischen System der Bundesrepublik Deutschland entwickelt? Nimmt man als Maßstab Fragen, die sich auf den Nationalsozialismus und die deutsche Vergangenheit beziehen, oder Fragen der Akzeptanz demokratischer Normen, Bereitschaft zu oder Hinnehmen von Diskussionen, Bereitschaft zur Äußerung politischer Ansichten usw., dann hat die Zustimmung zur demokratischen Ordnung unter Jugendlichen in der Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen.
Bevor allerdings die einzelnen Fragen vergleichend betrachtet werden, stellt sich natürlich die Frage, warum wir nicht eine umfassende Frage zum Systemeinverständnis verwenden. Nicht selten wird ja in der deutschen Umfrageforschung z. B. einfach nach Zufriedenheit „mit dem politischen System“ gefragt, wobei die Befragten die Möglichkeit haben, eine von drei vorgesehenen Antwortmöglichkeiten zu wählen. Sämtliche Schwierigkeiten, die sich ergeben, will man Systemeinverständnis als komplexes Phänomen mit einer einzigen simplen Frage messen, können an dieser Stelle nicht erörtert werden. Hier kann nur auf die Verschärfung des Problems beim Zeitvergleich hingewiesen werden, am besten am Beispiel eines früheren Versuchs der Messung des Einverständnisses mit einer einzigen Frage in der Studie 1962. Diese Frage erlaubte den Befragten die Wahl zwischen den folgenden vier Möglichkeiten:
1. Es gibt manches in der Bundesrepublik, das ich nicht gut finde, aber an diesen Dingen kann niemand etwas ändern.
2. Einige Dinge finde ich in der Bundesrepublik nicht gut; vielleicht könnte aber eine andere Regierung etwas daran verbessern.
3. Es gibt vieles in der Bundesrepublik, das ich nicht gut finde-, eine andere Regierung könnte bestimmt sehr viel verbessern.
4. In der Bundesrepublik ist schon alles gut so; man braucht nicht mehr viel zu verändern. Dies mag 1962 eine akzeptable Formulierung der Alternativen gewesen sein. Aus heutiger Sicht aber ist es nicht akzeptabel, will man Systemeinverständnis gültig messen, daß sich durch sämtliche Antwortvorgaben die Prämisse hindurchzieht: nur durch die Regierung könnten die erwünschten Veränderungen bewirkt werden. Da vielmehr heute gerade unter Jugendlichen Gruppen vermutet werden, die zur Veränderung der Realität alle möglichen Mittel und Wege ersinnen, sich jedoch von einem Regierungswechsel wenig versprechen, ist dies infolgedessen eine Vorstellung, die nicht mehr selbstverständlich ist. Ein anderer Aspekt desselben Sachverhalts ist die heimliche Erfassung der Parteipräferenz durch jene Frage in der damaligen Formulierung. Da mit dieser Frage das Einverständnis heutiger Jugendlicher mit dem politischen System nicht gemessen werden kann, weil sie die heutigen Formen und Begründungen der Ablehnung des politischen Systems nicht angemessen erfaßt, und eine Wiederholung einer solchen pauschalen Frage folglich wertlos wäre, wurde 1983 darauf verzichtet.
Schon dieses eine Beispiel zeigt, daß zur Messung wie zum Verständnis des Einverständnisses mit dem politischen System die Kenntnis der — expliziten oder impliziten — Alternative erforderlich ist, die jeweils zum je gegenwärtigen politischen System gedacht wird, denn eine denkbare „absolute" Stellungnahme zum politischen System ist empirisch nicht realistisch. Für den Umfrageforscher besteht hier das Problem darin, nicht zu wissen, welcher der Vergleichsmaßstab ist, an den die Befragten dachten. Die Frage „Wie zufrieden sind Sie mit der Demokratie in der Bundesrepublik?" läßt die Befragten möglicherweise an die DDR oder an das Dritte Reich als Vergleichsmaßstab denken, aber es mögen ihnen auch abstrakte Konzeptionen der Demokratietheorie in den Sinn kommen. Daß die Frageformulierung keinen Vergleich einführt, heißt jedoch nicht, daß die Befragten nicht vergleichen. Es ließe sich daher vielleicht auch begründet ausführen, daß sich die Alternativen zum Bestehenden, an die jeweils gedacht wurde, im Laufe der Jahrzehnte vergleichsweise stark verändert haben, während sich das politische System nur wenig wandelte; denn auch die Benennung der Alternativen ist anders geworden. Im folgenden wird deswegen vergleichend von den Ergebnissen von Einzelfragen berichtet, deren Summe Schlüsse auf die Entwicklung des Systemeinverständnisses zuläßt.
Der Nationalsozialismus hat in den vergangenen 20 Jahren an Unterstützung verloren. War schon 1962 die Zustimmung zum NS-System, die Wahrnehmung von guten Seiten oder Schuldzuschreibung an die Opfer nur bei einer Minderheit der Jugendlichen vorhanden, so zeigt Tab. 1, daß diese Meinungen unter Jugendlichen heute noch seltener geworB den sind Von zunehmenden Tendenzen zum Neonazismus unter Jugendlichen kann also überhaupt nicht die Rede sein. Obwohl mit dieser Methode die Ursachen des Rückgangs natürlich nicht bestimmt werden können und man nicht exakt quantifizieren kann, welches genaue Verdienst im einzelnen dabei Maßnahmen der politischen Bildungsarbeit zukommt, kann aber unstreitig festgestellt werden, daß die hier nachgewiesene Tendenz sehr im Sinne und zugleich eine Bestätigung politischer Bildungsarbeit ist.
Glauben Sie, daß die Juden es sich teilweise selbst zuzuschreiben haben, was ihnen während des Dritten Reiches geschehen ist, oder glauben Sie das nicht?
Im Hinblick auf Veränderungen verdient auch der Wandel des Sprachgebrauchs Berücksichtigung, wobei hier nicht allein an neue Vokabeln (. Jugendsprache") zu denken ist. So konnte beispielsweise der 1962 jedem Befragten zur Stellungnahme vorgelegte Satz „Deutschland ist und bleibt das Bollwerk gegen den Bolschewismus“ nach den Ergebnissen von Vortests für die heutige Jugend nicht übernommen werden — obwohl es großes Interesse gab, diesen Indikator für Antikommunismus zu wiederholen —, da ein zu großer Teil der heutigen Jugendlichen nicht weiß, was mit dem Wort „Bolschewismus“ gemeint'ist
III. Haben Jugendliche eigene Meinungen?
Abbildung 3
Tabelle 2: Politik verdirbt den Charakter, ein anständiger Mensch hält sich draußen
Tabelle 2: Politik verdirbt den Charakter, ein anständiger Mensch hält sich draußen
Ein vergleichbar schwieriges Problem, herauszufinden, ob Jugendliche eigene Meinungen haben, ergibt sich aus der Literatur zum Thema Umfrageforschung: Dürfen wir überhaupt voraussetzen, daß junge Menschen Einstellungen zum politischen System, zu gesellschaftlichen Leitbildern, kurz: zu politischen Themen haben? Ein Zitat mag das Problem verdeutlichen: „Eine der Grundeinsichten jeder politischen Meinungsforschung unter Jugendlichen muß wohl die sein, daß das Maß an Verständnis der Jugend für abstrakt rationale Regierungsformen sehr beschränkt ist“ — so leitete Helmut Schelsky den Ab-schnitt „Die Einstellung der Jugend zur Politik und zum Staat" in seiner berühmten Untersuchung über „Die skeptische Generation" 1957 ein. In diesem recht kurzen Abschnitt seines umfangreichen Werks betont er vor allem, daß die Jugend unpolitisch sei, und zwar nicht nur diese „skeptische“ Generation, sondern Jugend überhaupt: „Das Entscheidende scheint mir zu sein, daß gegenüber der Fremdheit und Kompliziertheit der modernen Politik und Öffentlichkeit in der Jugend zunächst eine Reaktion der Abwehr und des Ausweichens vor diesem Lebensgebiet entsteht, die als ein aus der jugendlichen Handlungssituation natürlich entstehendes Grund-anliegen in Rechnung gestellt werden muß." Dieses Zitat aus Helmut Schelskys 1957 er-schienenem Buc h „Die skeptiac he Ceneration“ weist vor allem auf elnea hin Ka lut nicht selbstverständlich, wenn man über politische Einstellungen Jugendlicher achreibt, das es überhaupt solche politischen Einstellungen gibt Dies berücksichtigend, muß man daher auc h den Nachweis antreten, daß man nicht durch Befragung erst Meinungen erzeugt.
IV. Pie sich wandelnde Altersabhängigkeit politischer Orientierungen
Abbildung 4
Tabelle 3: Es wird bei uns zuviel geredet und diskutiert, damit kommt man nicht weiter
Tabelle 3: Es wird bei uns zuviel geredet und diskutiert, damit kommt man nicht weiter
Das Verhältnis von Lebensalter und politisehen Orientierungen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten erheblich verändert. Heute ist der hier zuerst auffallende Sachverhalt die Existenz einer eigenen Jugendpartei. Die GRONEN werden überwiegend von jungen Wählern in die Parlamente gewählt. Obwohl ihnen oft vorhergesagt wurde, sie seien nur eine Eintagsfliege im politischen Geschehen. hat diese Partei in Landtags-und seit 1983 Bundestagswahlen beträchtliche Wahl-erfolge erzielt und ist auf allen unmittelbaren Volkswahlen zugänglichen politischen Ebenen vertreten: vom Bund über die Länder bis hin zu vielen Kommunen.
»Alter“ aber hat " für politisches Verhalten in Deutschland nicht erst eine Rolle gespielt, als die GRÜNEN die politische Bühne betraten. Erstmals spielte Alter für das Wahlverhalten 1969 eine Rolle, und diese Tendenz setzte sich verstärkt fort bis in die zweite Hälfte der siebziger Jahre. Bei Wahlen drückte sich dies so aus, daß Jungwähler verstärkt SPD wählten, und es der CDU amWählern unter den Jüngeren fehlte. Bei den politischen Streitfragen, nach denen Umfragen sich erkundigten, waren junge Befragte seit etwa Anfang der siebziger Jahre »progressiver" als ältere. 1978 beginnt zunächst bei Landtagswahlen die Tendenz, daß junge Wähler die GRÜNEN wählen
Vor 1969 läßt sich aus allen in dieser Hinsicht analysierten Umfragedaten dagegen irgendein Alterseinfluß auf politische Einstellungen nicht erkennen. Erst nach dem Aufkommen der Studentenbewegung wurde Alter zu einer Art politischer Trennungslinie; diese Entwicklung ist bereits gut dokumentiert Daß Alter wichtig geworden ist für politische Einstellungen, ist der erste gewichtige Hinweis auf die Entwicklungstendenzen: 1960 wäre es nicht sinnvoll gewesen, separat nach dem Systemeinverständnis Jugendlicher zu fragen.
Der Zeitvergleich einzelner Fragen eröffnet aber nicht nur durch den Vergleich der Antwortverteilungen neue Perspektiven, er macht auch gerade durch die Formulierungen der damaligen Fragen deutlich, was zumindest in den Führungsgruppen der Gesellschaft damals als wesentliches Problem gesehen wurde. Dies gilt besonders für die Fragen, deren Formulierung uns heute fremd klingt Wenn sich dieses damalige Problemverständnis auf einen Begriff bringen läßt, so sind es die Ferne der Jugendlichen zur Politik und die Unkenntnis der Spielregeln der Demokratie, welche damals als potentielle Bedrohung der Demokratie gesehen wurden.
V. Mehr Zustimmung zu den Normen der Demokratie
Abbildung 5
Tabelle 4: Haltung zu den Hausbesetzern
Tabelle 4: Haltung zu den Hausbesetzern
Aus dem alten Fragebogen und seinen Formulierungen ist ersichtlich, daß damals Politik vielfach noch als ein tabuierter Bereich, als ein „schmutziges Geschäft* angesehen wurde. Daß Politik in Deutschland ah als ein vermeintlich „schmutzges Geschah* galt, ist bekannt Dieses antipoltische Vorumteil trifft die damalige Erhebung mit dem Satz Politik verdirbt den Charakter, ein anständiger Mensch hält sich draußen". Heute hat die Zustimmung zu dieser Aussage abgenommen Lehnten 1962 diesen Satz 68 % mehr oder weniger stark ab, so sind es 1983 inzwischen 78% der 16-bis 18jährigen (siehe Tab. 2) Mit dem Satz . Es wird bei uns zuviel geredet und diskutiert, damit kommt man nicht weiter* wurde das gegen die demokratischen Spielregeln von Diskussion und Kompromiß gerichtete Argument, das auf eine Verhöhnung des Parlaments als „Schwatzbude 11 hinauslief, eingefangen. Wurde diesem Satz 1962 noch eher zugestimmt (Mittelwert 0, 54), so überwiegt 1983 die Ablehnung (-0, 37) — obwohl die Diskussionen in der Zwischenzeit kräftig zugenommen haben.
In der Familie scheint Politik heute weniger tabu zu sein als 1962; während damals noch 22, 9% der 16-bis 18jährigen zuhause „nie" über Politik sprachen, geben dies 1983 nur noch 13, 2 % an: Der traditionelle Geschlechts-unterschied ist hier fast verschwunden.
Ein schlagender, wenn auch indirekter Hinweis, daß der Tabucharakter der Politik abgenommen hat, ist das Ausmaß der Kenntnis bzW. Unkenntnis der Parteipräferenz des Vaters. Während 1962 die Hälfte die Frage nach der Parteipräferenz des Vaters beantworten konnte, sind es 1983 fast zwei Drittel (ein wenig mag jedoch mitspielen, daß die Studie 1983 kurz vor einer Bundestagswahl stattfand. 1962 hingegen ein Jahr nach einer Bundestagswahl). Die Bereitschaft, einer Partei beizutreten, zeigt hingegen insgesamt wenig Veränderung; nur die relativen Positionen, der Geschlechter haben sich hier etwas verändert Auch 1983 ist Parteimitgliedschaft etwas für die meisten Jugendlichen nicht recht vorstellbares; die Analyse nach Parteipräferenz erbringt keine Hinweise auf eine spezifische „neue“ oder „alternative“ Ablehnung.
Auf die Frage nach dem eigenen politischen Interesse ergibt sich heute beim ersten Anschein eine leichte Zunahme; bei genauerer Betrachtung handelt es sich hier aber vor allem um eine Wirkung der Bildungsexpansion: 1983 gibt es mehr Schüler, und Schüler bekunden heute wie früher ein größeres Interesse an Politik als Lehrlinge. Innerhalb der Statusgruppen hat sich weniger verändert: allein die „gar nicht interessiert" -Kategorie hat überall etwas abgenommen.
Zusammenfassend kann von einem gewissen Rückgang der Tabuschranken gegenüber dem politischen Bereich, aber nicht von einer massiven Politisierung gesprochen werden.
VI. Richtungen politischer Orientierung
Abbildung 6
Tabelle 5: Assoziation zwischen Meinungen in mündlicher Befragung 1983 und in schriftlicher Befragung Herbst 1983 (Gamma)
Tabelle 5: Assoziation zwischen Meinungen in mündlicher Befragung 1983 und in schriftlicher Befragung Herbst 1983 (Gamma)
1962 lassen sich keinerlei Vorboten oder Anzeichen einer bevorstehenden Jugendrebel-Bob erkennen Nimmt man die Parteiprfe-reu als Maßstab, so sind die Jugendlichen damals eher konservativer als ihre Väter. Nun lassen sich auch Parteipräferenzvertei-lungen über zwei Jahrzehnte nicht einfach vergleichen: Einige der damaligen Parteien gibt es heute nicht mehr, und manche heutige Partei gab es damals noch nicht Daß es heute im Vergleich zu damals anscheinend eine eigene Jugendpartei gibt, ist gewiß für sich schon ein Hinweis auf qualitative Veränderungen, aber hierdurch werden quantitative Vergleiche, die nicht weniger wichtig sind, erschwert. Sind DIE GRÜNEN als stellvertretend für die Jugendlichen insgesamt anzusehen? Ist ihr Anteil unter den Jugendlichen ein Hinweis auf den Prozentsatz derer, die mit dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland nicht einverstanden sind?
Nach den Daten dieser Untersuchung bevorzugen von den Jugendlichen mit Parteipräferenz-Äußerung 12% DIE GRÜNEN, 36, 5% CDU oder CSU — der Anteil der Unionsparteien ist also dreimal so hoch wie der Anteil der GRÜNEN — und 33, 2% SPD.
Diese Daten beziehen sich auf 15-bis 19jährige; die meisten sind also zum Zeitpunkt der Untersuchung nicht wahlberechtigt gewesen. Dennoch ist es sinnvoll, zum Vergleich die Daten der repräsentativen Wahlstatistik heranzuziehen; hierbei werden unter anderem die Stimmen der 18-bis 25jährigen Wähler in einer repräsentativen Stichprobe von Stimmbezirken getrennt ausgezählt. Danach wählten von den 18-bis 25jährigen bei der letzten Bundestagwahl mit ihrer Zweitstimme 41, 2% CDU/CSU, 13, 9% DIE GRÜNEN.
Selten wirken schon Größenordnungen so überraschend. Die Vermutung, die Jungwähler wählten in großen Zahlen grün und eben nicht die Union, ist weitverbreitet Ein Ursprung dieser irrtümlichen Vermutung ist die bekannte Shell-Studie „JUGEND '81", nach der die GRÜNEN unter den Jugendlichen größere Anteile erreichen als die CDU/CSU (20% gegenüber 18%) In der Realität gibt es keinen Anhaltspunkt, daß die Größenordnungen der Parteiorientierungen in der Shell-Studie zumindest zum Erhebungszeitpunkt zutrafen. Wer behaupten würde, im Feldzeitraum dieser Studie seien die Größenordnungen so gewesen, würde damit sagen, die GRÜNEN hätten zwischen 1981 und 1983 eine absteigende Tendenz gehabt — plausibel wäre das nicht; auch die separate Auswertung der repräsentativen Wahlstatistiken der Landtagswahlen gibt keinen Hinweis darauf, daß dieses „Ergebnis" je der Realität entsprochen hat; die Analyse der Daten jener Erhebung erbringt auch keinen Hinweis darauf, daß zwischen den wahlberechtigten und nicht-wahlberechtigten Jugendlichen ein Unterschied besteht, welcher ausreichen könnte, um die Diskrepanz zwischen der Shell-Studie und dem faktischen Wahlverhalten der Jungwähler plausibel zu machen.
Dies ist nicht der Ort, um die Ursachen der Abweichung der Shell-Studie von der politischen Realität zu untersuchen. Die von ihren Autoren berichteten Größenordnungen der Leserschaften verschiedener Zeitschriften und Zeitungen (die TAZ hat mehr [9 %] Leser als BILD [7 %]) und an Parametern überprüfbaren Verhaltensweisen (34 Wehrdienstverweigerer gegenüber 16 Wehrdienstleistenden) in der Vorstudie könnten Hinweise auf den Charakter der Verzerrungen in der Hauptstudie sein (die Interviewer hatten die Möglichkeit, Befragte nach Gutdünken innerhalb von Quoten auszuwählen). Wir begnügen uns hier damit, diese Verzerrung festzustellen und die Shell-Studie '81 für die Charakterisierung der politischen Orientierung der Jugendlichen der Gegenwart nicht weiter zu berücksichtigen. In einer Hinsicht aber ist natürlich ein Vergleich möglich: Wir können die Anteile der zu beiden Zeitpunkten bestehenden Parteien miteinander vergleichen. So ist 1962 die CDU/CSU die bei den Jugendlichen bei weitem führende Partei, während sie 1983 vergleichsweise nachgelassen hat (auch 1983 ist die Union bei den Jugendlichen ja stärkste Partei).
Nicht weniger interessant als der Vergleich der Anteile der einzelnen Parteien ist der Vergleich im Hinblick auf eine andere Frage: Haben die Jugendlichen überhaupt Parteipräferenzen, und wenn ja, in welchem Umfang? Bei dem verbreiteten Interesse an globalen Fragestellungen, beispielsweise danach, wie einverstanden die Jugendlichen mit dem politischen System sind, könnte es naheliegend erscheinen, die Anteile der in das politische System integrierten Parteien zu addieren und diese Summe als Ausmaß des Einverständnisses mit dem System zu konstruieren. Dergleichen wird verschiedentlich unternommen, wenn es auch bei einer näheren Betrachtung der Daten als unsinnig erscheint Ein großes Problem bei diesem Vorgehen ist die Vermischung von politischer Ablehnung des politischen Systems mit unpolitischem Desinteresse an diesem; beides ist jedoch tunlichst zu scheiden. Auch ist nicht offenkundig, wie bei einem solchen Vorgehen die Wahl der GRÜNEN zu bewerten ist. Ist dies als Systemablehnung mit Verweigerern und „Weiß-Nicht" -Angaben zusammenzuzählen? Die Antwort scheint beliebig, was dieses Verfahren als wenig sinnvoll erscheinen läßt.
Vor einem Mißverständnis muß allerdings mit Nachdruck gewarnt werden. Daß der Anteil der GRÜNEN als Partei unter Jugendlichen vergleichsweise erheblich niedriger ist, bedeutet keineswegs, daß die Ansichten, die im Parlament von den GRÜNEN artikuliert werden, unter Jugendlichen eine vergleichbar niedrige Unterstützung haben. Im Gegenteil: Viele Positionen, die der Politik der bis 1983 im Bundestag allein vertretenen Parteien entschieden widersprechen, werden stets von klaren, manchmal sogar überwältigenden Mehrheiten der Jugendlichen unterstützt.
Während der Anteil der GRÜNEN in unserer Untersuchung je nach Behandlung der fehlenden Werte etwas über 10 % liegt, ist der Anteil „grüner Meinungen“ sehr viel größer. Eine Mehrheit der von uns befragten Jugendlichen spricht sich in der mündlichen Befragung wie in der schriftlichen Nachbefragung gegen den Ausbau der Kernenergie aus (für den Bau neuer Kernkraftwerke 34 %, gegen Neubauten 53%, für Stillegung 10%). In der schriftlichen Nachbefragung wurde nach der Stationierung von Mittelstreckenraketen bei einem zwischenzeitlich ja erfolgten Scheitern der Genfer Verhandlungen gefragt. Eine große Mehrheit der Jugendlichen äußerte sich gegen die Stationierung (57% gegen, 24% für Stationierung). Auch hinsichtlich einer ganzen Reihe anderer Fragen ergeben sich Mehrheiten für „grüne Meinungen" oder doch erheblich größere Minderheiten, als dies aus der Parteipräferenz für die GRÜNEN hervorgeht.
Zwischen einer Bevorzugung der GRÜNEN als Partei und entsprechenden Meinungsäußerungen ist also zu trennen, wie die Daten unterstreichen. Umgekehrt ist das Ausmaß der Zustimmung zur Union größer als die Unterstützung ihrer Politik in zentralen Bereichen wie Sicherheits-und Energiepolitik. Zwischen Parteipräferenz und Meinungsäußerung besteht natürlich ein Zusammenhang, aber es ist durchaus keine Indentität zwischen Programmatik der bevorzugten Partei und eigener Meinung gegeben.
Unmittelbar handlungsrelevant ist die natürlich nur an männliche Jugendliche gestellte Frage nach den Absichten hinsichtlich des Wehrdienstes. Der Anteil, der den Wehrdienst verweigern will (17%), stellt eine nicht zu übersehende, jedoch klare Minderheit unter den männlichen Jugendlichen dar; die Zahl derer, die ihren Wehrdienst ableisten (59%) oder sich freiwillig zur Bundeswehr melden wollen (17%), ist wesentlich größer. Die Einzelfragen ließen sich fortsetzen; aber eine Aufreihung von weiteren Themen ist nicht sinnvoll.
Wahrscheinlich ist es irreführend, die eine oder die andere Frage herauszugreifen, um damit die politischen Orientierungen der Jugendlichen zu charakterisieren. Auch schien es uns falsch, in der Befürwortung des Wehrdienstes und der Ablehnung der Nachrüstung etwa einen großen Widerspruch zu sehen. Anscheinend stellen die beiden Positionen für viele Jugendliche eben keinen Widerspruch dar; das ist der eigentlich zu berücksichtigende Sachverhalt.
Bevor wir zu weitreichende Schlüsse aus den scheinbaren Widersprüchen in den Antworten der Jugendlichen ziehen, sollten wir eine Gegenprobe unternehmen, die dem Argument Rechnung trägt, daß die GRÜNEN wegen ihrer parlamentarischen Orientierung eben doch Parteicharakter hätten, weswegen sie nicht hinreichend repräsentativ seien für diejenigen, die das ganze System ablehnten. Eine Berücksichtigung dieses Einwands ist möglich, obwohl sich radikale Systemkritik oder radikale Systemablehnung selten in einer solchen Form darstellt, daß in Umfragen nach eindeutigen Symbolen oder Vertretern gefragt werden kann. Für Umfragen ist nämlich ein hohes Maß allgemeiner Bekanntheit der Positionen, zu denen Meinungen erhoben werden sollen, Voraussetzung. Diese Voraussetzung erfüllt (oder erfüllte) eine Bewegung: die der Hausbesetzer, die im Frühjahr 1981 in Deutschland allgemeine Publizität hatte und zeitweise im Zentrum politischer Diskussionen stand. Erfreulicherweise gibt es drei Umfragen unter Jugendlichen, die unter anderem nach Hausbesetzern fragten: die Shell-Studie JUGEND '81, die Sinus-Untersuchung für das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit sowie diese Untersuchung. Alle drei Studien beantworten die Frage nach dem Ausmaß der sich in Hausbesetzungen ausdrückenden radikalen Systemkritik in einer sehr überraschenden Weise.
Auf den ersten Blick beeindruckt eher die Uneinheitlichkeit der Befunde: Während die Shell-Studie JUGEND ‘ 81 bei 47% der Befragten Sympathie zu den Hausbesetzern ermittelte, findet Sinus nur 14% Sympathisanten in der gleichen Altersgruppe. Dieser Unterschied der beiden Studien erweist sich jedoch als inhaltlich interessant: Der Vergleich beider Fragebogen zeigt nämlich einen kleinen Unterschied. Während die Shell-Studie nach „Hausbesetzern/Instandbesetzern" fragte, lautete die entsprechende Vorgabe bei Sinus „Hausbesetzer" (also ohne den Zusatz „Instandbesetzer"). Der in Tabelle 4 zusammengestellte Vergleich der drei Studien (nur 15-bis 19jährige) zeigt, daß es dieser Unterschied der Vorgabe ist, der einen erheblichen Teil der Abweichung erklärt (unsere Erhebung nahm die genaue Shell-Formulierung wieder auf).
Wenn aber die Prozentsätze der Antwortverteilungen von den Einzelheiten der Formulierung im Fragebogen so stark abhängig sind, weist dies überdeutlich darauf hin, daß die Meinungen der Jugendlichen zu diesem Thema nicht festgefügt sind. Tatsächlich vorhandene, nicht erst im Prozeß des Interviews entstehende Meinungen wären von der Präsentation der Alternativen nicht so abhängig. Hier aber läßt die „attraktive“ Präsentation „Instandbesetzer“ fast die Hälfte zustimmen, während die weniger anziehende Vorgabe „Hausbesetzer“ die Zustimmung sehr drastisch reduziert (dieser Befund ist durchaus damit vereinbar, daß es eine zugrundeliegende, latente Dimension geben mag, welche diese Meinungsäußerungen, so sehr diese ihre konkrete Form erst im Laufe des Interviews finden, „erklären" kann).
Gerade die Formulierungsabhängigkeit dieses Ergebnisses unterstreicht die Aussagen zu der scheinbaren Widersprüchlichkeit der Ansichten der Jugendlichen: Ihre politischen Positionen lassen sich in den heute dominierenden Kategorien nur schlecht oder gar nicht ordnen.
VII. Einstellungsstrukturen
Abbildung 7
Tabelle 6
Tabelle 6
Dimensionale Analysen von Daten können es erlauben, die latenten Dimensionen zu bestimmen, die Einstellungen und Meinungsäußerungen der Befragten zugrunde liegen. Gerade für die Betrachtung neuerer Jugendbewegungen kann dies sehr nützlich sein, denn unsere Wahrnehmungen werden durch die Gesetzmäßigkeiten der Medien sozusagen serialisiert: als es die Hausbesetzer gab, schienen die Kernkraftgegner verschwunden, und die Sichtbarkeit der Friedensbewegung ließ die Hausbesetzer aus dem Blickfeld verschwinden. Aber handelt es sich, um nur diese drei Gruppen zu nehmen, um voneinander getrennte, personell ganz verschiedene Bewegungen?
Auch Faktorenanalysen können selbstverständlich nicht in magischer Weise Daten erzeugen, die nicht aus den Antworten der Befragten auf in dem Fragebogen enthaltene Fragen hervorgegangen sind. Aber sie können die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Antworten sinnvoll ordnen. (Die Begrenzung der Streitfragen und sonstiger Stimuli im Fragebogen begrenzt also auch die möglichen Ergebnisse von Faktorenanalysen.)
Die Analysen erweisen, daß den Einstellungen zu Hausbesetzern, Kernkraftgegnern, Alternativen, zum Wehrdienst etc. ein Faktor zugrunde liegt. Dieser Faktor scheint mit dem Parteienspektrum zu korrelieren: Die Enden des durch diese Fragen definierten Parteien-kontinuums werden durch die CSU am rechten und die GRÜNEN am linken Ende bestimmt Wenn von wechselnden Bewegungen die Rede war, so ist dies nur in dem Sinne richtig, daß sich die sichtbar werdenden Themen abwechselten. Ob es nützlich ist, die Links-Rechts-Dimension zur Bennenung zu verwenden, sei angesichts der neuen Themen dahingestellt; wichtig ist hier der Hinweis, daß es sich um eine einzige Grundströnaung oder Grundstimmung handelt. Hierdurch werden Handlungen und Einstellungen gebündelt. Fraglos hat dies Bewegungscharakter; daraus folgt, daß scharfe Grenzziehungen zwischen verschiedenen Stufen von Unterstützung bzw. Ablehnung der Alternativbewegung, die sich auf die Realität beziehen sollen, weder sinnvoll noch möglich sind. In diesem Hinweis kann gerade ein Nutzen der dimensionalen Analyse liegen; sie verweist nicht nur auf das, was nicht geht, sondern macht, indem sie die Bündelung der verschiedenen Themen erkennen läßt, darauf aufmerksam, daß es getrennter Erklärungsmodelle für die verschiedenen Themen nicht bedarf und an Antwortverteilungen orientierte Vergleiche (ist die Friedensbewegung populärer als die Hausbesetzer?) überflüssig sind.
VIII. Die Stabilität von Einstellungen
Die Stabilität der Meinungen Jugendlicher ist in der Vergangenheit verschiedentlich angezweifelt worden; Grundlage hierfür waren nicht selten Daten aus Umfragen. Heute steht uns zu diesem Thema eine einzigartige Datenquelle zur Verfügung: Neben den persönlichen mündlichen Interviews im Frühjahr 1983 verfügen wir über die schriftliche Nach-befragung derselben Personen im Herbst 1983, wobei bei letzteren ein Einfluß durch Interviews ausgeschlossen werden kann. Denn es ist offensichtlich, daß die unterschiedliche Erhebungsform zu etwas anderen Ergebnissen führen kann. Vielfach sind die fehlenden Werte in der schriftlichen Nachbe-Iragung größer als in der mündlichen Befragung — ein nachdrücklicher Hinweis darauf, daß es den Interviewern vielfach gelingt, Befragte zur Äußerung von Meinungen zu bewegen. Ohne diesen Einfluß des Interviewers äußern die Befragten weniger häufig „Meinungen". Dies ist zu berücksichtigen, wenn man die Stabilität der Meinungen betrachtet, denn der Einfluß von Interviewern wirkt sich gewöhnlich dahingehend aus, daß weniger Befragte „dieselbe“ Antwort geben. Beim ersten Über-blick scheint es so zu sein, daß der Wechsel bei den meisten Themen ein Wechsel zwischen einer bestimmten Meinungsäußerung und „keine Meinung" ist. Dies erfolgt in beiden Richtungen, wobei der eine Strom naturgemäß größer ist. Sieht man hiervon ab, so stellt man ein sehr hohes Maß an Stabilität der Meinungen der Jugendlichen zwischen den zwei Zeitpunkten fest. Dies wird in Tabelle 5 deutlich, die die Gamma-Werte für die politischen Fragen wiedergibt, die zu beiden Zeitpunkten erhoben wurden.
IX. Die Stimmigkeit von Einstellungen
Ein wichtiger neuer Aspekt ist der Zusammenhang der politischen Einstellungen untereinander — ihre Bündelung also (dies ist natürlich eine Fragestellung, die auf die klassischen Arbeiten von Converse zurückgeht) Hier zeigt sich, daß die Zusammenhänge um so stärker sind, je höher die Bildung ist. Betrachten wir den Zusammenhang zwischen Parteiorientierung und politischen Inhalten, so zeigt sich, daß diese Zusammenhänge im erwarteten Sinn jeweils unter denen mit der relativ höchsten Bildung am stärksten sind; sie sind unter den Befragten mit geringerer Schulbildung wesentlich schwächer. Wir hatten diesen Zusammenhang an anderer Stelle am Beispiel der Einstellung zu Gastarbeitern und Türken gezeigt er gilt aber auch für alle anderen von uns untersuchten politischen Fragen. Ob der Grad der Bündelung politischer Orientierungen innerhalb der ver-schiedenen Bildungsstufen sich verändert hat, ist sehr schwer zu untersuchen. Die früher geringen Fallzahlen in den Gruppen mit höherer Bildung sind das Haupthindernis. Dennoch ist in der Tendenz auch 1962 feststellbar, daß die Bündelung politischer Einstellungen mit zunehmender Bildung zunimmt.
Im Sinne von Converse ist diese Feststellung natürlich keineswegs überraschend. Sie verweist aber auf einen Aspekt der politischen Entwicklung in der Bundesrepublik, der bisher so nicht wahrgenommen wurde: Zwar wurde bereits darauf hingewiesen, daß mit der Bildungsexpansion die Träger linker politischer Überzeugungen strukturell zugenommen haben, möglicherweise ist aber wichtiger, daß als Folge der Bildungsexpansion der Anteil derjenigen zugenommen hat, deren ideologisches Bündel fest geschnürt ist.
X. Politische Sozialisation
Bei Fragestellungen nach der politischen Sozialisation erscheint ein Zeitvergleich besonders interessant, wenn auch bisher entsprechende Arbeiten selten sind. Dabei folgen wir hier dem Brauch, eine einzige, eher magere Variable als Gradmesser politischer Sozialisation anzusehen: die Parteipräferenz von Vater und Kind. Diese können wir in üblicher Weise tabellieren. Das Neue und Interessante hierbei ist, daß wir zwei Zeitpunkte miteinander vergleichen, die beträchtlich voneinander entfernt sind, und die Daten tatsächlich vergleichbar sind (soweit dies überhaupt möglich ist). Tabelle 6 zeigt die Parteipräferenzen der Jugendlichen, geordnet nach der Parteipräferenz des Vaters, zu beiden Zeitpunkten. Beide Teil-Tabellen wirken nun recht ähnlich: Die Unterschiede in den Anteilen in der Diagonale (also übereinstimmende Parteipräferenz von Vater und Kind) scheinen weitgehend erklärt durch die unterschiedlichen Randverteilungen. Wenn die CDU unter den Jugendlichen größere Anteile hat, wie z. B. 1962, ist dementsprechend die Haltequote der CDU-Väter größer — dies hat aber nichts mit der Überzeugung oder Anhänglichkeit von CDU-Vätern zu tun, sondern eben nur damit, daß die CDU generell zu diesem Zeitpunkt so populär ist. Fortgeschrittene statistische Analyseverfahren, welche die analytisch klare Unterscheidung zwischen Parteipopularität in einer Generation und der Beziehung zwischen den Parteipräferenzen von Vater und Kind ermöglichen, bestätigen diesen ersten Eindruck.
Der Befund ist demnach eindeutig: Die Existenz der Partei DIE GRÜNEN ist nicht darauf zurückzuführen, weil die familialen Mechanismen politischer Sozialisation versagten. Mit Veränderungen der Mechanismen politischer Sozialisation in der Familie kann gerade nicht erklärt werden, wie es zur Unterstützung der Partei DIE GRÜNEN durch viele junge Leute kommtl Die Aussage, „in dieser Kluft zwischen den Generationen liegt der Grund, warum sich in Deutschland ... eine eigene Jugendpartei" entwickelt hat wird durch diese Daten nicht gestützt. Ein Generationskonflikt innerhalb von Familien erklärt den aus vielen neueren deutschen Daten erkennbaren politischen Unterschied zwischen den Generationen oder Altersgruppen gerade nicht.
Die Daten legen das genaue Gegenteil dieser Aussage als Interpretation nahe: Für das Generationsbewußtsein der heutigen Jugend sind zentrale Positionen der GRÜNEN keineswegs atypisch — Ablehnung der Kernkraftentwicklung, der Nachrüstung usw. sind nur die Themen, die Signalbedeutung haben. Wenn nur die Inhalte politischer Meinungen für die Parteipräferenz entscheidend wären, dann wäre der Anteil der GRÜNEN unter den Jugendlichen viel höher.
Die politische Sozialisation im Elternhaus versagt nicht nur nicht, sondern sie reduziert sogar den Anteil der GRÜNEN an den Jugendlichen erheblich unter das Maß, das zu erwarten wäre, wenn die Jugendlichen die Parteien nur aufgrund ihrer Orientierung an politischen Streitfragen wählen würden.
XI. Der Überfluß von Leitbildern
Die Voraussetzungen, welche die junge Generation für eine Beteiligung an demokratischer Politik mitbringt, sind heute fraglos erheblich besser als die der Jugendlichen zwei Jahrzehnte zuvor. Dazu zählen z. B. eine weiter verbreitete Ablehnung des Nationalsozialis-mus, mehr Akzeptanz der Normen demokratischen Verhaltens, mehr Bereitschaft zur politischen Teilnahme usw.
Man mag darin einen eindrucksvollen Beweis der Wirksamkeit politischer Bildung im wei25 testen Sinne sehen. Allerdings gehen die Inhalte der politischen Orientierungen und Verhaltensweisen oft nicht mit der staatlichen Politik konform. Die Ansichten der Jugendlichen unterscheiden sich natürlich erheblich voneinander, und jede Beschreibung der heutigen Jugend muß deren Heterogenität berücksichtigen. In politischer Hinsicht gibt es keine einheitliche und zutreffende einfache Charakterisierung der heutigen jungen Generation in Deutschland; diese folgt nicht einem definierten gesellschaftlichen Leitbild. Das bedeutet jedoch nicht, daß es an Leitbildern fehlte. Im Gegenteil ließe sich argumentieren, daß wir gerade heute einen schier inflationären Überfluß an „Leitbildern“ haben. Den heutigen Jugendlichen sind mehr Optionen bekannt, natürlich auch dank der Medien, als irgendeiner Jugendgeneration vor ihnen; doch nur wenige machen von diesen Optionen Gebrauch. Wenn etwas — auch als Korrektiv der Wahrnehmungen — heute Betonung verdient, so ist dies ein neuer Traditionalismus. Die alten Trennungslinien der Gesellschaft — Schicht, Konfession, Region, Stadt/Land — sind, wie eine Vielzahl von Analysen belegt, ebenso lebendig wie gegebene Milieus. Die Daten zur politischen Sozialisation müssen in diesem Zusammenhang gesehen werden.
Bei aller Heterogenität gibt es Fragen, in denen sich die Jugendlichen weitgehend einig sind; Fragen des Umweltschutzes sind ein
Beispiel. Themen, die als „Überlebensfragen" bezeichnet werden können, sind geeignet, die junge Generation weitgehend zu vereinen. Die scheinbare Widersprüchlichkeit oder UnStimmigkeit von den genannten politischen Positionen von Jugendlichen dürfen jedoch nicht zu dem Trugschluß verleiten, die Jugendlichen hätten gar keine feststehenden Meinungen. Die hohe Übereinstimmung der Meinungen, die im Abstand eines halben Jahres geäußert wurden, verbietet die Vermutung, die Widersprüche ergäben sich eben aus Zufallsantworten. Vielmehr spricht alles dafür, daß sich hier ein neues Generationsbewußtsein zeigt
Wie dieses Generationsbewußtsein das Systemeinverständnis dieser Generation weiterhin beeinflussen wird, ist eine spekulative Frage. Man sollte nicht versuchen, derartige schwierige Fragen mit übervereinfachten demoskopischen Prozentzahlen, definitiv klingend zu beantworten, denn aus Antworten, die die Befragten jetzt geben, kann sich Unvorhersehbares nicht erschließen. Vielmehr muß man berücksichtigen, daß für das Systemeinverständnis der Jugendlichen nicht nur deren eigene Antworten eine Rolle spielen, sondern vor allem auch die Darstellung des politischen Systems selbst und seiner Lösungsmöglichkeiten von Problemen, die viele Jugendliche als Überlebensfragen ansehen, von überragender Bedeutung sein werden.
Klaus R. Allerbeck, Dr. phil., geb. 1944; seit 1980 Professor für Soziologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M. Veröffentlichungen u. a.: Politische Ungleichheit — Ein Acht-Nationen-Vergleich, Opladen 1980; (als Koautor) Political Action, Beverly Hills 1979; Demokratisierung und sozialer Wandel in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1976; (zus. mit L Rosenmayr) Einführung in die Jugendsoziologie, Heidelberg 1976; Soziologie radikaler Studentenbewegungen, München 1973; Datenverarbeitung in der empirischen Sozialforschung, Stuttgart 1972.
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