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Die neuen sozialen Bewegungen als Herausforderung des politischen Unterrichts | APuZ 50/1984 | bpb.de

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APuZ 50/1984 Artikel 1 Politikvermittlung in der Demokratie Zwischen kommunikativer Sozialtechnik und Bildungsauftrag Systemeinverständnis und gesellschaftliche Leitbilder von Jugendlichen Systemaversionen bei linksorientierten Jugendlichen Die neuen sozialen Bewegungen als Herausforderung des politischen Unterrichts Wertwandel und politische Bildung

Die neuen sozialen Bewegungen als Herausforderung des politischen Unterrichts

Walter Gagel

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Problemsicht und Wertvorstellungen der neuen sozialen Bewegungen beeinflussen auch den politischen Unterricht, rufen aber unterschiedliche Reaktionen hervor. Politische Didaktik hat weder die Aufgabe der Abwehr noch diejenige der Verstärkung dieser Einflüsse; ihre Aufgabe ist deren Verarbeitung aus einer durch didaktische Reflexion ermöglichten Distanz. In dem Beitrag werden die neuen sozialen Bewegungen als „Herausforderungen“ in den wichtigsten Merkmalen beschrieben: Hinsichtlich ihrer Form, ihrer Problemwahrnehmung, ihrer Problemverarbeitung und der Deutungsmuster ergeben sich Abweichungen von den traditionellen Akteuren der Politik. Danach werden diese Merkmale daraufhin geprüft, in welcher Weise sie im Unterricht verarbeitet werden sollten. Dabei ergibt sich, daß die politische Didaktik eine Problematisierungs-und Korrektivfunktion ausübt: Sie problematisiert den antiinstitutionellen Affekt der Bewegung und ergänzt die Einseitigkeit der Problemauswahl. Ferner versucht sie, die Komplexitätsreduktion der Bewegungen aufzubrechen, indem sie „Kontroverses Denken“ als Lernziel und als didaktisches Prinzip der Unterrichtsgestaltung in den Vordergrund stellt. Schließlich versucht sie, eine dialogische Verarbeitung von Wertkonflikten zu lehren, um die Gefahr der Polarisierung und der Konfrontation von unversöhnlichen Glaubenspositionen in Lerngruppen zu verringern. Diese Vorschläge folgen aus bestimmten Prämissen der didaktischen Reflexion: Didaktik wird als Bestandteil des pädagogischen, nicht des politischen Handelns verstanden, politisches Lernen primär als kognitives Lernen aufgefaßt.

I. Zur Aufgabe der Didaktik

Besonders im politischen Unterricht wird deutlich, daß der Lehrer im Schnittpunkt verschiedener, manchmal gegenläufiger Einflußfaktoren steht: Als Beamter ist er zur Beachtung und Realisierung der staatlichen Richtlinien für den Unterricht in der Schule verpflichtet Als Pädagoge ist ihm die Aufgabe, Anwalt des Kindes und der Jugendlichen zu sein, zugewiesen. Als „gesellschaftliches Wesen" nimmt er zugleich teil an dem Streit der Meinungen über Politik und an den bewegenden Ideen, welche eine mehr oder weniger große Zahl von Menschen ergreifen.

Widerstreiten diese Einflüsse einander, kann dies zur Zerreißprobe werden. Die Friedens-thematik hat dies z. B. weithin sichtbar gemacht. Sie hat auf dem Boden der Schule eine Gegensätzlichkeit der Absichten und Anforderungen provoziert, deren Tiefe folgende Zitate spiegeln:

Ein Lehrer: „In dieser Situation kann es nicht Schwerpunkt des zweiten deutschen Pädagogen-Friedenskongresses sein, Probleme der Didaktik der Friedenserziehung zu behandeln — so wichtig diese Probleme auch sind; seine Hauptaufgabe liegt vielmehr darin, einen so bald wie möglich wirksamen Widerstand zu planen und zu organisieren helfen gegen den Wahnsinn der Hochrüstung."

Entwurf einer Empfehlung der Kultusministerkonferenz, vorgelegt von Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz unter dem Thema „Friedenssicherung und Bundeswehr im Unterricht": „Die verstärkte unterrichtliche Aufarbeitung des Themas soll dazu beitragen, daß Notwendigkeit und Auftrag der Bundeswehr als Teil unserer Friedenspolitik einsichtig gemacht werden können ... Das schließt die unterrichtliche Behandlung anderer Konzepte der Friedenssicherung nicht aus; jedoch sollen die Aufgaben der Bundeswehr so verständlich gemacht werden, daß sie von den Schülern als notwendig anerkannt werden können."

Wenn die erstgenannte Auffassung den Unterricht bestimmt, dann ist es konsequent, daß Lehrer zusammen mit Schülern innerhalb der Unterrichtszeit an Friedensdemonstrationen teilnehmen, wie es aus Anlaß der Demonstration am 22. Oktober 1983 auch geschehen ist. Damals haben sich die Konflikte gezeigt, die durch die Befolgung dieser Auffassung entstehen können: Von den einen wurde eine solche Teilnahme durch administrative Maßnahmen verhindert, von den anderen wurde Nichtteilnehmern vorgeworfen, daß sie dann für den Krieg seien Den in der Friedensbewegung engagierten Lehrern wird gelegentlich der Vorwurf der „Indoktrination“ gemacht Dieser Vorwurf — ob berechtigt oder nicht — kann signalisieren, daß bei den Kritisierten politischer Unterricht die Funktion der Verstärkung erhält: Der Lehrer gibt Impulse der gesellschaftlichen Bewegungen in den Unterricht ein und intensiviert sie dadurch. In dem zweiten Zitat hat der politische Unterricht die Funktion der Abwehr: Der wachsenden Bereitschaft von Jugendlichen, den Kriegsdienst zu verweigern, soll durch einen Unterricht begegnet werden, dessen Ziel es ist, eine Zustimmung zur Bundeswehr zu erzeugen. Selbständiges politisches Urteil jedoch würde einen inhaltlich offenen Unterricht voraussetzen, wie er etwa in dem kontroversen Entwurf einer Empfehlung der Kultusminister der sozialdemokratischen Länder beschrieben wurde: „Es darf keine Form der Bemühungen um Frieden von vorneherein als die richtige, einzig mögliche, realistische deklariert oder als die falsche bzw. utopische oder gar vom . Gegner gesteuerte'diskriminiert werden.“ Die folgenden Ausführungen werden von einem Verständnis des politischen Unterrichts geleitet, welches der letztgenannten Auffassung nahe steht Danach haben Didaktik und politischer Unterricht nicht die Aufgabe der Verstärkung oder der Abwehr der in der Gesellschaft sich entwickelnden Meinungen, Ideen und Bewegungen; ihnen obliegt vielmehr deren Verarbeitung in der Form der didaktischen Reflexion. Dies besagt folgende These:

Die Aufgabe der Didaktik des politischen Uhterrichts ist nicht das bloße Reagieren auf staatliche Weisungen oder auf Wertpostulate und Problemdefinitionen der Gesellschaft, sondern deren Verarbeitung und die Suche nach . Antworten“ aufgrund von didaktischen Prinzipien.

Soziale Bewegungen der Gegenwart, für welche die Friedensbewegung hier zunächst als Beispiel diente, werden nach dieser Auffassung als „Herausforderung“ ernst genommen. Jedoch sucht die Didaktik eine gewisse Distanz zu den Anforderungen und Aufforderungen, die an den Unterricht herangetragen werden, von welcher Seite auch immer. Diese Distanz gewinnt sie durch eine didaktische Reflexion, die sich auf Prinzipien rückbezieht Die von ihr vorgeschlagenen . Antworten" sind dann als Versuche zu begreifen, eine pädagogische Absicht zu verwirklichen: den Schülern Möglichkeiten und Fähigkeiten eigener Problemverarbeitung zu vermitteln. Wie das geschehen kann, soll in den folgenden Ausführungen erprobt werden.

II. Herausforderungen

Zunächst sollen diese „Herausforderungen“ beschrieben werden; dabei soll freilich eine übersteigerte Bedeutung dieses Begriffes vermieden werden. Er sei hier im Sinne von Anforderung oder Aufforderung verstanden, die sich aus der Umwelt an die Schule richtet oder die vom Lehrer für seinen Unterricht aufgegriffen wird.

Es handelt sich hierbei um die Veränderungen auf dem Feld der Politik, die durch das Auftreten und durch die Resonanz der „Bewegungen" bewirkt worden sind: Friedensbewegung, Ökologiebewegung, Alternativbewegung und andere. Davon sind viele von den Schülern, aber auch viele von Lehrern beeinflußt, andere stehen ihnen teilweise heftig ablehnend gegenüber. Insofern stellen sie durch Intensität und Umstrittenheit eine Herausforderung an das didaktische Denken dar.

Im folgenden werden einige Merkmale dieser Herausforderungen zusammengestellt und hinsichtlich Form, Problemwahrnehmung, Problemverarbeitung und Deutungsmuster geordnet. 1. Die Bedeutung der „Bewegungen“

These: Träger einer „Neuen Politik“ sind „soziale Bewegungen" nicht die traditionellen Akteure der politischen Bühne.

Mit „Neuer Politik" bezeichnen Hildebrandt/Dalton Änderungen von Wertorientierungen und Zielsetzungen in der Politik, die in der Bundesrepublik seit den siebziger Jahren zu beobachten sind Sie wurden zuerst von der Ökologiebewegung getragen, später auch von der Friedensbewegung. An diesen Bewegungen läßt sich eine erhebliche Strukturveränderung von Politik, genauer: der Form des politischen Prozesses beobachten.

Sie ergibt sich vor allem aus den Merkmalen von „sozialen Bewegungen" Diese weisen nur ein Minimum an organisatorischer Struktur auf, können daher sehr schwer als Gruppe oder Organisation von ihrer sozialen Umwelt abgegrenzt werden; sie bestehen häufig nur aus einem lockeren Zusammenschluß kleiner Gruppen oder Initiativen. Soziale Bewegungen haben auf die Veränderungen sozialer und politischer Verhältnisse gerichtete Ziele, die vor allem durch direkte Aktionen verwirklicht werden sollen. Dies macht Dynamik erforderlich; die soziale Bewegung existiert daher in erster Linie als „Bewegung".

Die Friedensbewegung kann auch hier als Beispiel herangezogen werden. Für sie ist kennzeichnend, daß es die Friedensbewegung eigentlich nicht gibt, daß sie vielmehr eine heterogene und lockere Assoziation von mehr oder weniger autonomen Friedensinitiativen bildet Daher stellt sie sich im Bewußtsein der Öffentlichkeit nur in den Groß-demonstrationen und in den Aktionen als Ganzes dar, nicht aber durch eine dauerhafte organisatorische Gliederung wie z. B. die politischen Parteien.

Für die Alternativ-und die Ökologiebewegung gilt ein weiteres Merkmal: die Ablehnung einer Beteiligung an repräsentativen Verfahren. Daher bestehen ihre Vertreter, soweit sie politisch aktiv werden, auf dem imperativen Mandat, auf Rückrufbarkeit der Repräsentanten, dem Rotationsprinzip und auf einer strikten Dezentralisierung der politischen Entscheidung durch Bindung an die jeweilige Basis. Dieses Merkmal verweist zunächst einmal auf den Widerstand innerhalb der Bewegungen gegen formalisierte Organisationsformen. Andererseits ist daran auch eine starke Motivation zu erkennen, in unmittelbarer Weise durch politische Partizipation auf die Politik einzuwirken. Beides zusammen stellt in einer Gesellschaft der Großorganisationen einen schwer überbrückbaren Widerspruch dar. 2. Problemwahrnehmung These: Es erfolgt eine charakteristische Problemwahrnehmung und Problemselektion; Vorrang haben — ökologische Problematik, — Friedensproblematik, — Werteproblematik, — Dritte-Welt-Problematik. Jedes dieser Probleme wird durch eine Bewegung repräsentiert, andere ordnen sich jedoch auch mehreren dieser Probleme zu, so die Frauenbewegung und die Alternativbewegung. Diese Problemselektion kennzeichnet die Inhalte und Wertemuster der „Neuen Politik". Unter . Alter Politik" verstehen Hildebrandt/Dalton die Orientierung der Politik an ökonomischer Stabilität, Aufrechterhaltung der überkommenen Sozialordnungen, innerer Ruhe und Sicherheit, an Sicherheitspolitik nach außen und der Bewahrung des Einflusses in den internationalen Beziehungen. „Neue Politik" ist demgegenüber weniger an Zielen als den thematisierten Problemen festzumachen: Umweltschutz, Atomenergie, Gleichberechtigung, Bedrohung durch atomare Waffen. Dahinter ist eine Wertverschiebung weg von den „materialistischen“ und hin zu den „nicht-materialistischen“ Werten wie Selbstverwirklichung und gesellschaftlicher Teilhabe zu erkennen.

Diese Werteverschiebung äußert sich z. B. in der radikalen Kritik an der Wachstumsgesellschaft; deren am Prinzip der Effizienz orientierten Ökonomie wird die „Schattenwirtschaft" alternativer Projekte gegenübergestellt. Die Idee der „sanften Technik" gilt als Gegenmodell gegen die Großtechnologie der modernen Industrie; „sanft" sind dabei z. B. niedriger Energiebedarf, Recycling, geringere Spezialisierung. In der Alternativbewegung werden diese Vorstellungen nicht nur zum politischen Programm erhoben; dieses Programm gilt auch als Maxime zur Veränderung des persönlichen Lebensstils. Es besteht eine enge „Verbindung von Gesellschaftskritik und persönlicher Lebensführung" ,'aus der sich ein neuer Lebensstil entwickeln soll: bewußte Konsumwahl (z. B. Dritte-Welt-Produkte), sparsamer Umgang mit Energie, asketische Lebensführung, solidarisches Sozialverhalten. 3. Problemverarbeitung These: Es erfolgt eine charakteristische Problemverarbeitung, die sich in folgenden Verhaltensweisen äußert:

— Tendenz zum Freund-Feind-Denken, — Neigung zu Kompromißfeindlichkeit, — Streben nach „radikalen“ Lösungen, — Wunsch nach „direkter“ Aktion.

Die Vorstellung von einem drohenden Atomkrieg, die schwindenden Energiereserven, das langsame Sterben der Natur — dies alles erzeugt bei vielen Menschen unserer Gesellschaft Angst. Sie zwingt zu einer Unerbittlichkeit der Forderungen: Frieden um jeden Preis, Ökologie statt Ökonomie. Das hat vielfach zur Folge, daß die Verfahren, mit politischen Problemen und dem politischen Gegner umzugehen, sich grundlegend ändern.

Wer nicht gegen die Nachrüstung eintritt, ist für den Krieg: Dies ist das Muster des Schwarz-Weiß-Denkens, durch welches der Andersdenkende zum politischen Feind gestempelt wird. Die Rechtfertigung für eine solche Haltung liegt im Absoluten: Wo die Alternative nur noch im Untergang der Menschheit gesehen wird, ist jedes Mittel recht, das vor der Katastrophe bewahrt „Was wir gegenwärtig erleben, ist ja nichts Geringeres als ein öffentlicher Streit über Leben und Tod dieser Gesellschaft" Wenn die Fülle der Möglichkeiten auf die Alternative Tod oder Leben reduziert wird, dann gibt es in der Tat kein „Zwischen" mehr.

Daher entspricht diesem Denkmuster die Kompromißfeindlichkeit, die viele der in den Bewegungen Aktiven kennzeichnet. Der Hamburger Abgeordnete der GAL, Ebermann, erklärte in einem „Spiegel" -Gespräch, daß Kompromißfähigkeit für sie kein Lernziel sei Absolute Forderungen werden gestellt, denen gegenüber kein Ausweichen möglich ist: „So ergibt die Anwendung der Oko-Ethik, daß von der jeweils eigenen Seite ... ein nötigenfalls einseitiger Übergang letztlich zu gewaltfreier Verteidigung als geschichtlich notwendig zu fordern ist.“ Angesichts der Geschichte als metaphysischer Instanz verblassen alle anderen Möglichkeiten der Friedenssicherung wie Rüstungskontrolle, bilaterale oder multilaterale Verhandlungen.

Absolute Ziele, rechtfertigen auch die Gewalt als Mittel zu ihrer Realisierung. Ein Theologe schrieb: „Die Legitimation für Androhung und Anwendung von Gewalt besteht also darin, menschenwürdige Zustände zu schaffen, Recht im Sinne von Gerechtigkeit und Frieden zu bringen."

Mit diesem Zitat ist die Gewaltfrage keineswegs geklärt. In der Ökologie-und Friedensbewegung ist sie bekanntlich sehr umstritten, und sicherlich bekennt sich die Mehrzahl ihrer Anhänger zum Prinzip der Gewaltfreiheit. Daher ist zunächst noch ein anderes Merkmal hervorzuheben: das Streben nach „direkter" Aktion. Es ist ein großes Bedürfnis nach unmittelbar wirkender politischer Beteiligung in Form von Aktionen zu beobachten. Eine Befragung von Studenten ergab: „Bei dem Stichwort . politisches Handeln'ist schnell von Aktionen die Rede.“ Gemeint ist damit: Nicht die Kleinarbeit des politischen Alltags steht im Zentrum des Bewußtseins, sondern die Bauplatzbesetzung in Gorleben oder die Großdemonstration in Bonn. Aktionen als Form der politischen Beteiligung sind aber häufig nur als bewußte Regelverletzungen zu praktizieren. Daraus ergibt sich die zwiespältige Haltung gegenüber der Gewaltfrage: Wenn die Regelverletzung die polizeiliche Gegenmaßnahme hervorruft, dann ist die Rechtfertigung für eine gewaltsame Gegenreaktion nicht mehr so weit hergeholt.

Direkte Aktion als Handlungsmuster ist der Versuch, auf Politik außerhalb der institutionalisierten Kanäle einzuwirken: um schneller und sichtbarer Erfolg zu erlangen als auf den Alltagsbahnen der Politik 4. Der fundamentale Wertkonflikt These: Das Denkmuster, aus dem heraus die „Bewegungen“ leben, ist der fundamentale Wertkonflikt „materialistisch-postmaterialistisch“. Der Übergang von der . Alten" zur „Neuen” Politik hat zum Hintergrund einen Wertwandel, wie er in den hochindustrialisierten westlichen Gesellschaften allgemein festgestellt worden ist. Nach Inglehardt werden die „materialistischen“ Werte allmählich von den „postmaterialistischen" ersetzt

Aus der Perspektive der Bewegungen ist dieser Wertewandel als Programm zu verstehen; er gilt als der „gegenkulturelle Protest" gegen die Normen der Industrie-und Konsumgesellschaft Diese Abwendung von der tradierten Lebensform ist für viele zugleich ein Weg auf der Suche nach neuen Werten; in Stichworten lassen sich derartige aufzählen: Aufwertung der Irrationalität, Suche nach „sanfter" Technologie, Befriedigung „authentischer“ Bedürfnisse in der Wirtschaftsgesellschaft oder gegen sie, das Erlebnis solidarischer Beziehungen im gemeinsamen Handeln. In der politischen Auseinandersetzung wird dieser „gegenkulturelle Protest“ zum fundamentalen Wertekonflikt, z. B. zwischen Ökologen und Ökonomen, zugespitzt. Die Bürgerinitiativen, so heißt es, erheben den Anspruch, „Partei des Lebens“ zu sein, sie kämpfen gegen die etablierten „Parteien des Todes" Für Guggenberger ist diese Vorstellung der gedankliche Hintergrund für den „geistigen Bürgerkrieg" — ein Wort, mit dem er seine Auffassung von einer fundamentalen Spaltung der Gesellschaft auf den Begriff bringt. Sie erklärt für ihn zugleich die Krise der parlamentarischen Demokratie.

III. Antworten der Didaktik des politischen Unterrichts

Die „Herausforderungen" wurden bisher im Sinne von Tendenzen dargestellt, und das meint: Der einzelne Lehrer kann (aber muß nicht unbedingt) damit rechnen, daß derartige Problemdefinitionen und Verhaltensmuster von seinen Schülern vertreten werden oder daß er sie selber wegen Dringlichkeit und Aktualität thematisiert. Hingegen sollen die „Antworten" nicht so verstanden werden, als halte die Didaktik des politischen Unterrichts für die genannten politischen Probleme und Phänomene jeweils eine treffende Lösung bereit. Didaktik setzt nicht inhaltliche Ergebnisse fest, sondern definiert eine pädagogische Aufgabe, und diese besteht angesichts, der beschriebenen Sachverhalte darin, Kompetenzen zu vermitteln, welche Lernende erwerben sollen. Die Antworten ergeben sich infolgedessen aus der Frage: Mit welchen Denkverfahren und in welcher Sozialform sollte ein Nachdenken über dringliche politische Probleme erfolgen?

Aus dieser didaktischen Fragestellung werden im folgenden die . Antworten" entwickelt und den beschriebenen „Herausforderungen“ jeweils zugeordnet. 1. Institutionenkunde These: Das Phänomen der „Bewegungen“ macht eine „neue“, kritische Institutionen-kunde erforderlich, in welcher die problematisierten Grundfragen des demokratischen Systems geklärt werden: Mehrheitsprinzip, Repräsentationsprinzip, Legitimationsverfahren, Widerstandsbegriff und -recht u. a. Ohne Zweifel sind durch die neuen sozialen Bewegungen, insbesondere durch die Ökologiebewegung, die institutionellen Selbstverständlichkeiten unseres politischen Systems problematisiert worden. Darin liegt eine didaktische Chance: Die Aufmerksamkeit für bisher langweilig erscheinende Formalia ist geschärft worden. Jedoch darf eine didaktische Notwendigkeit nicht übersehen werden: Es besteht ja die Gefahr, daß Formen, die für die friedliche Regelung von Konflikten in einer Gesellschaft unentbehrlich sind, vorschnell über Bord geworfen werden. Es sei hier der Streit über die Geltung der Mehrheitsregel als Beispiel angeführt.

B. Guggenberger beschreibt die Auffassung der Bürgerinitiativen: Angesichts von regierungsoffiziell gestützten „Selbstmordprogrammen" sei der Wille der Mehrheit nicht ohne mit der weiteres dem Gesamtheit gleichzusetzen: „Die . innere Richtigkeit', welche, rousseauistisch gesprochen, den wahrhaften Gemeinwillen auszeichne, spreche eher dafür, daß sich in der eigenverantwortlichen Willensbekundung und Wertberufung einer sozialaktiven Minderheit die rechte Einsicht finde.“

Demgegenüber stellt Hans-Hermann Hart-wich fest: Andererseits: Was ist . wahr'in der Politik, was . richtig'für alle in der Demokratie? ... Diese Frage kann man nicht beantworten, wenn man nicht gleichzeitig fragt: , Wer definiert das Wahre, wer definiert das Richtige? -“ 21)

Zunächst erscheint es einleuchtend, wenn gesagt wird, daß die Mehrheitsregel nicht mehr gelten könne, weil eine neue Qualität von politischen Entscheidungen aufgetreten sei, nämlich solche, die irreversibel seien. Aber man darf nicht übersehen, daß auch das Kriterium der Irreversibilität eine Setzung ist, die im Streit der Experten unterschiedlich bewertet wird. Sie ist kein absolutes Wahrheitskriterium; infolgedessen muß auch hier eine Regel der erträglichen Entscheidungsfindung angewendet werden, also das Mehrheitsprinzip. Als Alternative bleibt sonst nur die autoritäre Herrschaft einer kleinen Elite („sozialaktive Minderheit“).

Die hier empfohlene Institutionenkunde ist nicht als Apologie eines institutionellen Status quo zu verstehen, sondern enthält die Intention, daß Schüler institutioneile Regelungen als Voraussetzungen für politische Entscheidungen kennenlernen und über ihre Bedeutung und ihre Reformierbarkeit nachdenken. Sie greift demzufolge Themen auf, welche von den sozialen Bewegungen kritisch zur Sprache gebracht worden sind. Die Notwendigkeit der Klärungen ergibt sich jedoch daraus, daß für diese institutionellen Probleme nur in den Programmen der Grünen eindeutige Antworten stehen. Dagegen demonstriert deren politische Praxis, daß mit dem Übergang der „Bewegung" zur Partei diese Lösungen (z. B. Rotationsprinzip, Ablehnung des Kompromisses) fragwürdig werden, weil sie zur Wirkungslosigkeit und zu übermäßigen Reibungsverlusten führen. So machte der ehemalige baden-württembergische Landtagsabgeordnete der Grünen, Hasenclever, gegen das Rotationsprinzip den Einwand: Es verhindere, „daß grüne Politik personell und damit auch sachlich an Kontinuität und Zuverlässigkeit gewinnt"

Kritisch verhält sich eine solche Institutionenkunde, wenn sie die Probleme aufgreift, welche die Ökologiebewegung zu dem antiparlamentarischen Protest und zur Forderung nach Basisdemokratie veranlaßt haben. Andererseits hat diese Institutionenkunde jedoch auch die Aufgabe, diesen antiinstitutionellen Affekt zu problematisieren. Sie korrigiert die Vorstellung, die bei Anhängern der sozialen Bewegungen leicht entstehen kann oder sich festgesetzt hat: Politik könne in der modernen Gesellschaft in dem losen Rahmen von sozialen Bewegungen, in der Unmittelbarkeit vieler kleiner Basisgruppen, also in der De-Zentralität gemacht werden. 2. Themen der „Alten Politik* These: Die Problemwahmehmung und -Selektion der „Bewegungen“ kann akzeptiert werden, sollte aber ergänzt werden um die Themen der j\lten Politik“ (Verteilung — Arbeitswelt — Wirtschaftspolitik).

Didaktik korrigiert die Ausschließlichkeit, mit welcher durch die sozialen Bewegungen die von ihr repräsentierten Probleme in das Bewußtsein gehoben werden. Sie berücksichtigt dabei, daß politische Probleme das Resultat von kollektiven Definitionen und somit Ergebnis eines politischen Prozesses sind. Die Bewegungen stellen eine Art „Gegenmacht“ gegen die Definitionsmacht der einflußreichen Gruppen und Organisationen in unserem politischen System dar, denen gegenüber spektakuläre Aktionen durchaus auch eine Funktion haben. Es ist ja kein Zweifel, daß ohne die Ökologiebewegung die Umweltproblematik in den Programmen der politischen Parteien kaum Eingang gefunden hätte. Demgegenüber kann der Lehrer jedoch nicht übersehen, daß es nach wie vor auch die „herkömmlichen" Themen gibt, z. B. die Beschäftigungsproblematik angesichts der elektronischen Revolution in der Industrie.

Auch die Alternativbewegung wird ja mit traditionellen Themen konfrontiert. In den alternativen Projekten z. B. stellt sich das Problem der Arbeitsüberlastung und damit der Selbst-ausbeutung; ferner erkennen ihre Mitglieder, daß der Fortbestand solcher Produktionsformen nur dann auf Dauer gesichert ist, wenn das Kriterium der Wirtschaftlichkeit berücksichtigt wird

Wiederum handelt es sich um eine Korrekturfunktion der Didaktik, hier um die Korrektur der aus der Umwelt in den Unterricht hin-eingetragenen Problemselektion. 3. Kritische Reflexion

These: Die Problemverarbeitung muß die kritische Reflexion der eigenen Position zulassen: — „Kontroverses Denken“ als didaktisches Prinzip und als Lernziel, d. h. die Ermittlung von Komplexität und das Aufsuchen und Prüfen von Alternativen. — Probleme antinomisch definieren, d. h. angesichts von problematischen Sachverhalten die Frage nach den Gefahren und Chancen stellen. — Berücksichtigung des Kriteriums der „Möglichkeit“ bei Zielentwürfen und bei der Mittelwahl.

Das „Kontroverse Denken" ist der Suche nach .dem Absoluten entgegengesetzt. Es soll hier als Muster der Problemverarbeitung verstanden werden und gilt somit als Lernziel. Gemeint ist damit eine Denkfähigkeit, durch welche der einzelne an einem Sachverhalt die Vielfalt entdeckt Das ist zunächst der sachstrukturelle Aspekt: Die Vielfalt resultiert aus der Komplexität der Sache. Hinzu tritt der kommunikative Aspekt: Mit der Entdekkung der Komplexität erkennt man an, daß andere eine andere Sicht auf den Sachverhalt haben können, und erwirbt dadurch die Fähigkeit, auf Argumente des Dialogpartners einzugehen. Zu berücksichtigen ist auch der politische Aspekt: Politische Entscheidungen werden angesichts von Konflikten und Kontroversen, also auf dem Wege über die Auseinandersetzung zwischen konfligierenden Gruppen über alternative Ziele getroffen. Das erfordert ein Durchdenken des Für und Wider

Es ist sicherlich nicht leicht, angesichts von Grenzsituationen dieses didaktische Prinzip des „kontroversen Denkens" durchzuhalten.

Unter der Drohung einer atomaren Katastrophe erscheint der Verzicht auf jegliche Waffen als rettender Ausweg. Das scheint der Grund für die Faszination zu sein, welche z. B.

die Strategie der gewaltlosen sozialen Vertei-digung auf viele ausübt. Doch verhindert, diese Faszination allzuleicht eine Kritik, welche die Chancen und Grenzen ihrer Realisierbarkeit wirklichkeitsnah auslotet Denn zur Komplexität der Sache gehört es, daß man auch die „Lücken", welche dieses Konzept enthält, aufdeckt.

Beispielsweise ist zu prüfen, wovon die Wirksamkeit des sog. Konversionseffektes abhängt, welcher beim Gegner, der ins eigene Land eindringt, erzeugt werden soll. Ferner ist zu fragen, wie und unter welchen Kosten der Bedarf an Disziplin zu decken ist, welche dieser Strategie der eigenen Bevölkerung auferlegt. Schließlich muß gefragt werden, ob auch in Betracht gezogen worden ist, daß der Gegner die ihm ja bekannte Strategie durchkreuzen kann

Solche Relativierungen können ebenfalls lebenswichtig sein. Aber sie sind freilich dann nicht möglich, wenn man sich in einer endzeitlichen Situation zu befinden glaubt — den rettenden Strohhalm ergreift man ohne langes Nachdenken! „Kontroverses Denken" versucht hingegen, aus der Sackgasse selbstdefinierter Grenzsituationen hinauszuführen und die Vorstellung zu stärken, daß es auch angesichts von Gefahren noch Spielräume des Denkens und Handelns gibt, die genutzt werden können. 4. Verarbeitung von Wertkonflikten These: Der Wertkonflikt sollte nicht negiert werden; Aufgabe der Didaktik ist es, eine Form der dialogischen Verarbeitung zu lehren, und das bedeutet:

— statt „Entweder-Oder“ das „Sowohl-alsauch", Vermeidung des „politischen Reduktionismus“; — statt Konfrontation von Glaubenspositionen die Formalisierung des Werteproblems durch Regeln der dialogischen Wertediskussion; — Verwendung des Universalisierungsprinzips als generelle Dialogregel.

Eine durchaus mögliche Unterrichtssituation wird in folgendem Beispiel beschrieben:

Der Autor eines Unterrichtsbeispiels über „Parteien im Parteienstaat“ überlegt, daß sich bei diesem Thema die Schüler „aus mindestens zwei durchaus heterogenen Gruppen zusammensetzen, die sich wechselseitig gegeneinander abschotten". Der Autor sieht die

Gefahr, daß aus dem Unterricht allzu schnell ein Lehrgang in „grüner" Ideologie werden könne, aber auch die andere, daß es zu einer Art Unterdrückung postmaterieller Meinungen komme, wenn die Lerngruppe traditionell orientiert ist. Ihm erscheint es daher als notwendig, „Möglichkeit und Perspektiven einer rationalen Kommunikation zwischen beiden Gruppen aufrechtzuerhalten, Vorurteile abzubauen und den Grdndkonsens zwischen beiden Gruppen zu sichern"

Eine derartige Lernsituation könnte man als Widerspiegelung des „geistigen Bürgerkrieges" im Unterricht deuten. Akzeptiert man die These'vom fundamentalen Wertkonflikt, dann erscheint die Trennungslinie zwischen den beiden Gruppen als unüberbrückbarer Graben. Was bleibt dem Lehrer da noch anderes übrig, als sich auf eine der beiden Seiten zu schlagen oder aber der Ratlosigkeit zu verfallen? Ein dritter Weg besteht jedoch darin, das Diskussionsthema umzudefinieren: Es lautet dann nicht mehr: „Brauchen wir eine neue Partei?“ sondern: „Wie kann eine Diskussion über die Zukunft unserer Gesellschaft geführt werden?" Bei der beschriebenen Konfrontation ging es ja um die Frage, ob die „Ökonomen" oder die „Ökologen" recht haben. Diesen Streit kann der Lehrer nicht schlichten, wenn er es vermeiden will, autoritär oder dogmatisch zu sein. Aber er kann den Schülern bewußt machen, wie sie angesichts eines zu lösenden Problems (z. B. Energieknappheit) zu einer Entscheidung gelangen können und vor allem, welche Qualität diese Entscheidung haben kann.

Diese Qualität ist zu bemessen, ob der daran Jugendliche, auf welcher Seite er auch stehen mag, diese Entscheidung vor sich und anderen verantworten kann, weil zwar nicht das Ergebnis, aber die Entscheidungskriterien auch für andere gültig sind und weil er die Folgen mitbedacht hat, die diese Entscheidung für andere haben kann. Die Kontroverse wird demnach nicht vom Lehrer entschieden, aber ihr Verlauf wird von ihm reguliert, die Qualität der Argumentation wird gehoben

Das ist gemeint, wenn in der These gefordert wird, angesichts von Wertkonflikten eine Form der dialogischen Verarbeitung zu lehren. Setzt man trotz der unüberbrückbar er-scheinenden Gegensätze doch eine Gemeinsamkeit voraus, nämlich den Willen, eine für alle gültige Entscheidung zu treffen, dann bedeutet dies, daß sich die politischen Gegner einem gemeinsamen Geltungskriterium unterstellen. Dieses Kriterium ist das Universalisierungsprinzip, das Kriterium der Verallgemeinerungsfähigkeit Dies besagt, daß der Handelnde prüft, ob nach den von ihm gewählten Grundsätzen auch alle anderen Menschen handeln können. Dies stellt eine Dialogregel dar, durch welche der Lehrer politische Kontroversen in seiner Lerngruppe regulieren kann.

Unterhalb dieser Dialogregel setzt die Suche nach den Beurteilungskriterien an. So werden z. B. als „Kriterien für Energieversorgungssysteme" vorgeschlagen

1. Existenzerhaltung 2. Effizienz 3. Handlungsfreiheit 4. Sicherheit 5. Wandlungsfähigkeit 6. Sozialethisches Leitprinzip (partnerschaftliche Gerechtigkeit).

Dies sei hier angeführt, um die Abstraktheit der Dialogregel zu mildern, die jedoch auch bei der Anwendung der Kriterien immer zu berücksichtigen ist. Es sind Hinweise für die Einübung in die Regeln des praktischen Dialoges. Ein solcher Dialog soll auf dem Wege des Durchdenkens von verschiedenen Seiten zu Erkenntnissen verhelfen. Aber er ist auch ein Wert an sich, weil er die humane Form des Umganges mit Andersdenkenden darstellt. Als Gesprächsleiter des sogenannten Gorleben-Hearings (28. März bis 3. April 1979) hat Carl Friedrich von Weizsäcker folgende Erfahrung gemacht: „Während rings im Lande und in der Welt die Polarisierung der Meinungen über die Kernenergie noch ständig anwächst, war hier die Erfahrung, daß Vertreter beider Seiten ernsthaft miteinander reden, einander als Fachleute und als moralische Persönlichkeiten im Gespräch immer mehr achten lernen können.“ Und: . Also ist ein vernünftiges Gespräch unter Menschen möglich."

Dieses „vernünftige Gespräch“ verlangt freilich von den an ihm Beteiligten, auf Absolutheitsansprüche zu verzichten. Dazu Carl Friedrich von Weizsäcker: „Damit möchte ich das moralische Engagement, das zumal die Gegner (der Kernenergie, W. G.) auszeichnet, . entmythologisieren'." Der Ort der demokratischen Politik, so sagt Christian Graf von Krockow, ist das Vorletzte, nicht das Letzte Darin ist das Gebot der Mäßigung als Bedingung des Dialogs enthalten. Erkennt man dies an, dann ist eine apokalyptische Scheidung der Welt in die „Partei des Lebens" einerseits und die „Parteien des Todes" andererseits, wie sie oben geschildert wurde, nicht mehr zulässig. Dieser Gedanke scheint sich selbst aufzuheben, wenn man die Vernunft als die Gemeinsamkeit eines politischen Dialoges anerkennt.

IV. Fazit

These: Prämissen der didaktischen Reflexion, welche den Antworten zugrunde liegen, sind:

— Didaktik versteht sich als Teil des pädagogischen Handelns, nicht des politischen Handelns. Sie zielt daher auf die Vermittlung von Kompetenzen und nicht von Standpunkten. Oberstes Lernziel ist aus der hier vertretenen Sicht die Kompetenz zu einer vor sich und anderen verantwortbaren politischen Entscheidung 32). — Politisches Lernen ist primär kognitives Lernen, d. h. die kognitive Orientierung der Didaktik hat den Vorrang vor einer Handlungsorientierung. — Didaktik hat eine Ergänzungs-und Korrekturfunktion, -ihre Aufgabe ist die Reflexion der verschiedenartigen „didaktischen Perspektiven“ vor der Wahl einer bestimmten.

Manchen mögen die „Antworten", welche hier vorgeschlagen wurden, unbefriedigend erscheinen. Sie werden vielleicht Jürgen Zimmer beipflichten, der die „Lehrerattrappen" kritisiert: „Zuerst erklärt der Lehrer seinen Schülern, welche Argumente die Befürworter des Nato-Doppelbeschlusses auf ihrer Seite haben. Danach erläutert er seiner Klasse die Auffassungen der Rüstungsgegner. Nun ist al-les ausgewogen." Entsprechend berichtete der Schulbuchautor Ludwig Helbig, wie er ein Kapitel über Hausbesetzungen fortwährend ändern mußte: „Von Auflage zu Auflage ist das Kapitel immer ausgewogener geworden, so daß man es jetzt mühelos gegen eine andere Kontroverse — pluralistisch und ausgewogen — austauschen kann, etwa durch ein Pro und Kontra über Witwenverbrennungen.“

Sicherlich empfindet mancher Lehrer die Aufforderung zur Distanzierung von den eigenen politischen Vorstellungen durch die kritische Reflexion, wie sie hier vorgeschlagen wurde, als eine Zumutung. Die zitierten Autoren überwinden eine solche Distanzierung durch den Sprung in die Entschiedenheit Das ist aber ein Entschluß, den man zwar für sich persönlich treffen kann, schwerlich jedoch für andere.

Didaktik versteht sich nicht als Teil des politischen, sondern des pädagogischen Han-deins. Der politische Unterricht lehrt nicht Entscheidungen, sondern vermittelt Kompetenzen für das möglichst verantwortbare politische Entscheiden. Demzufolge stellt sich in der didaktischen Reflexion die Frage, was Heranwachsende lernen sollten, damit sie Entschlüsse fassen können, zu denen sie auch später noch zu stehen vermögen. Dazu gehört, daß sie gelernt haben, mit Komplexität fertig zu werden, so z. B. mit der Erfahrung, daß es verschiedene Zielvorstellungen und Standpunkte gibt. Das Denken im „Einerseits-Andererseits", im „Sowohl-als-auch" ist kein Zeichen für Unentschiedenheit, sondern für ein Denken in der Komplexität Diese kognitive Fähigkeit ist, wie psychologische Untersuchungen ergeben haben eine Voraussetzung dafür, daß Menschen in komplizierten Entscheidungssituationen nicht der Panik verfallen, sondern überlegt handeln können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Neue Deutsche Schule (GEW-Landesverband NRW), (1983) 19, S. 4. überarbeitete Fassung eines Vortrages für den 2. Bundeskongreß für politische Bildung der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung in Berlin vom 23. bis 25. Februar 1984.

  2. Zit. bei P. Ackermann/W. Glashagen (Hrsg.), Friedenssicherung als pädagogisches Problem in beiden deutschen Staaten, Stuttgart 1983, S. 199, 201.

  3. Der nordrhein-westfälische Kultusminister Jürgen Girgensohn in einem Interview in der Westfälischen Rundschau vom 15. 10. 1983.

  4. Vgl. Neue Deutsche Schule, (1984) 21, S. 15.

  5. Zit bei P. Ackermann/U. Glashagen (Anm. 2),

  6. K. Hildebrandt/R. J. Dalton, Die neue Politik. Politischer Wandel oder Schönwetterpolitik?, in: Wahlsoziologie heute. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1976, hrsg. von M. Kaase, PVS, (1977) 2/3, S. 230— 256.

  7. Zur Begriffsbestimmung vgl. R. Heberle, Hauptprobleme der politischen Soziologie, Stuttgart 1967, S. 9— 12; O. Rammstedt, Soziale Bewegung, Frankfurt 1978, S. 127— 135; K. -W. Brand/D. Büsser/D. Rucht, Aufbruch in eine neue Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik, Frankfurt 1983, S. 36f.

  8. K. -W. Brand (Anm. 7). S. 227.

  9. K. Hildebrandt/R. J. Dalton (Anm. 6), S. 236f.

  10. K-W. Brand (Anm. 7), S. 100.

  11. H. E. Bahr, zit. bei B. Guggenberger, Krise der repräsentativen Demokratie?, in: ders. (Hrsg.), Bürgerinitiativen und repräsentatives System, Opladen 1978, S. 37.

  12. Der Spiegel, Nr. 38 vom 20. 9. 1982, S. 49.

  13. P. Kern/H. -G. Wittig, Die Friedensbewegung — zu radikal oder gar nicht radikal genug?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 17/83, S. 43.

  14. A Weber, in: Deutsches Pfarrerblatt, Mai 1969, zit nach Chr. Graf von Krockow, Gewalt für den Frieden? Die politische Kultur des Konflikts, München 1983, S. 26.

  15. P. Glotz/W. Malanowski, Student heute, Reinbek 1982, S. 135.

  16. Vgl. K. Hildebrandt/R. J. Dalton (Anm. 6), S. 236.

  17. K. -W. Brand (Anm. 7), S. 250.

  18. R. Vogt, in: Frankfurter Rundschau vom 5. 5. 1978, zit. nach B. Guggenberger (Anm. 11), S. 37.

  19. Ebd., S. 38.

  20. B. Guggenberger (Anm. 11), S. 44.

  21. W. -D. Hasenclever, Die Grünen. Signal für das Ende des herkömmlichen Parteiensystems, in: Chr. Graf von Krockow (Hrsg.), Brauchen wir ein neues Parteiensystem?, Reinbek 1983, S. 154.

  22. W. Hollstein, Die Gegengesellschaft Alternative Lebensformen, Reinbek 1981, S. 196.

  23. W. Gagel, Einführung in die Didaktik des politischen Unterrichts, Opladen 1983, S. 137.

  24. D. Frei, Friedenssicherung durch Gewaltverzicht?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 15— 16/83, S. 13.

  25. H. Uppendahl, Parteien im Parteienstaat. Didaktische Überlegungen zur Planung einer Unterrichtseinheit für die Sek. II, in: Politische Bildung, (1981) 2, S. 78.

  26. Vgl. hierzu W. Gagel (Anm. 24), S. 166.

  27. F. Müller-Reißmann, zit. bei W. Sander, Konfliktfall: Kernenergie, Düsseldorf 1981, S. 27f.

  28. C. F. von Weizsäcker, Der bedrohte Friede. Politische Aufsätze 1945— 1981, München 1981, S. 417f.

  29. Ebd., S. 434.

  30. Chr. Graf von Krockow, Ethik und Demokratie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 49/79, S. 17 ff.

  31. DIE ZEIT vom 16. 12 1983, S. 33.

  32. In: betrifft: erziehung, Januar (1982), S. 17.

  33. D. Dörner, Anatomie von Denken und Handeln. Der Mensch in komplexen Situationen, in: forschung (Mitteilungen der DFG), (1981) 3, S. 28. Dazu ausführlicher W. Gagel (Anm. 24), S. 124ff.

Weitere Inhalte

Walter Gagel, Dr. phil., geb. 1926; Professor für politische Bildung an der Technischen Universität Braunschweig, Erziehungswissenschaftlicher Fachbereich. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Rolf Schörken) Zwischen Politik und Wissenschaft. Politikunterricht in der öffentlichen Diskussion, Opladen 1975; Politik — Didaktik — Unterricht. Eine Einführung in didaktische Konzeptionen des politischen Unterrichts, Stuttgart 19812; Einführung in die Didaktik des politischen Unterrichts. Studienbuch politische Didaktik I, Opladen 1983; (Hrsg, und Mitautor zus. mit Wolfgang Hilligen und Ursula Buch) Sehen, Beurteilen, Handeln. Arbeitsbuch für den politischen Unterricht in der Sek. I (Kl. 7— 10), Frankfurt 1984.