Der zukünftige Kurs der sowjetischen Wirtschaftspolitik spielte im Rahmen des 27. Parteitags der KPdSU eine zentrale Rolle. Der Kongreß hatte sich vorrangig mit ökonomischen Fragen zu beschäftigen, weil turnusgemäß die Beschlußfassung über einen neuen mittelfristigen Wirtschaftsplan, den 12. Fünfjahrplan für die Periode von 1986 bis 1990, auf der Tagesordnung stand, der Bestandteil einer längerfristigen Planung für die Zeit bis zum Jahre 2000 ist. Zum anderen war die Neufassung des Parteiprogramms von 1961 zu bestätigen, die umfangreiche wirtschaftspolitische Bestandteile hat. Vor allem aber ist der hohe Stellenwert der Wirtschaft in den Reden und Dokumenten des Parteitags auf die hartnäckigen Wachstums-und Produktivitätsprobleme der UdSSR zurückzuführen, die Innen-und Außenpolitik in starkem Maße belasten und die durch eine nachdrücklich geforderte Strategie der „Beschleunigung der sozialökonomischen Entwicklung“ überwunden werden sollen. So forderte Generalsekretär Gorbatschow, unterstützt von Ministerpräsident Ryschkow und vielen anderen Rednern, erneut eine „tiefgreifende Wende“, ja eine „radikale Reform“. Angestrebt wird aber kein Wandel des planwirtschaftlichen ökonomischen Systems. Worum es geht, ist der Versuch, mit einem vielfältigen Maßnahmenbündel gestraffter und neuprofilierter Wirtschaftspolitik auf systempolitisch konservativer Grundlage den dringend erforderlichen Durchbruch zu einer „intensiven“, d. h. produktivitätsgestützten Wirtschaftsentwicklung zu erreichen. Dieses „policy mix“ zielt Verbesserungen auf folgenden Aktionsfeldern an: zentrale Wirtschaftsführung, Arbeitspolitik, Prozeß-und Strukturpolitik, Außenwirtschaftspolitik sowie Systempolitik. Die Planung bis zum Jahr 2000 läßt erkennen, daß man die angestrebte „Beschleunigung“ in zwei Etappen, auf Grundlage einer „Terrassenkonzeption“, erreichen will. Vor allem nach 1990 soll sich die Lage eindeutig zum Besseren wenden. Die Aussichten für Gorbatschows Wirtschaftsstrategie stehen und fallen mit der Qualität zentraler Wirtschaftsführung. Reserven für ökonomische Leistungssteigerungen sind vorhanden. Da jedoch auf weitgehende Reformen (vorerst?) verzichtet wird, bleiben konzeptionelles Geschick, Führungsfähigkeit und Charisma des Generalsekretärs die entscheidenden Stützen politischen Erfolgs.
Der zukünftige Kurs der sowjetischen Wirtschaftspolitik spielte im Rahmen des 27. Parteitags der KPdSU, der vom 25. Februar bis 6. März 1986 in Moskau stattfand, eine zentrale Rolle „Hauptgebiet der Tätigkeit der Partei war und ist die Wirtschaft“, stellt die abschließende Resolution fest, und immer wieder wurde in Reden und Stellungnahmen die grundlegende Bedeutung der „Beschleunigung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung“ des Landes unterstrichen. Allerdings: Sosehr auf die vielschichtigen Wirtschaftsprobleme des Landes hingewiesen wurde, sosehr sich die Akteure auf den verschiedenen Ebenen des ökonomischen Entscheidungsprozesses den Schwarzen Peter der Kritik zuspielten — ein „grand design“ systempolitisch neuer Wirtschaftspolitik zur Bewältigung der Schwierigkeiten blieb erwartungsgemäß aus. Was indessen mit großem Nachdruck herbeigeführt werden soll, ist ein leistungssteigernder Aufbruch, sind breit angelegte Teilveränderungen auf prinzipiell konservativer Grundlage, die — sollten sie gelingen — auch ohne Systemreform eine neue Qualität von Wirtschaftspolitik bedeuten würden.
Der Kongreß hatte sich auch deshalb vorrangig mit wirtschaftspolitischen Fragen zu beschäftigen, weil — wie bei den Parteitagen der Vergangenheit — die Beschlußfassung über einen neuen mittelfristigen Wirtschaftsplan, den 12. Fünfjahrplan für die Periode von 1986 bis 1990, auf der Tagesordnung stand Dieser Fünfjahrplan ist Bestandteil einer längerfristigen Planung für die Zeit bis zum Jahre 2000. Die Sowjetunion versucht damit erneut, ihre Wirtschaftsprogrammatik kontinuierlicher anzulegen — ein Vorhaben, das in der Vergangenheit allerdings immer wieder gescheitert ist.
Neues Parteiprogramm: Zurück zur Wirklichkeit
Neben der Erörterung der Pläne stand die Verabschiedung der Neufassung des dritten Parteiprogramms der KPdSU von 1961 auf der Tagesordnung Wie generell, so wurde auch im Wirtschaftsteil versucht, die utopischen und von der Realität überholten Ziele Chruschtschows an die Wirklichkeit anzupassen. So hat die Partei Abschied genommen vom „feierlichen Versprechen“, der heutigen Generation sowjetischer Menschen ein Leben in einer kommunistischen Überflußgesellschaft zu bescheren. Demgegenüber wird betont, das Endstadium der Geschichte sei ohne die weitere Entwicklung des gegenwärtigen Sozialismus nicht zu erreichen: Das Ziel ist hinter den Weg dorthin zurückgetreten. Ein bescheideneres, wenn auch keineswegs anspruchsloses Vorhaben konservativer Modernisierung hat den Vorgriff auf die Zukunft abgelöst. Folglich verzichtet die Partei auch darauf, „die Merkmale des vollen Kommunismus detailliert vorauszusagen“. Diese sollen erst im Zuge der weiteren Entwicklung „konkreter werden“.
Die Neufassung des Parteiprogramms ist von vielen westlichen Beobachtern der UdSSR mit Enttäuschung aufgenommen worden. Doch entspricht sie weitgehend der wirtschaftspolitischen Konzeption Gorbatschows und ist, was ihre politisch-instrumentale Verwendbarkeit für die Zukunft betrifft, weit besser als ihr Ruf. Gewiß hätte das neugefaßte Programm Impuls und Methode systemimmanenter Erneuerung schärfer akzentuieren und das Modernisierungsschiff mit eindrucksvolleren begrifflichen Galionsfiguren versehen können, wie es der Generalsekretär in seinem „Politischen Bericht“ mit dem Begriff „radikale Reform“ tat. Doch das, was ein Parteiprogramm für eine erfolgreichere Wirtschaftspolitik in den kommenden Planjahrfünften überhaupt leisten kann — und dies ist ohnehin wenig —, scheint geleistet zu sein. Auf dreierlei kam es insbesondere an: Zunächst mußte die Notwendigkeit von Veränderungen in Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftssystem festgeschrieben werden. Dies ist geschehen. „Strukturelle Umgestaltung“ und „Vervollkommnung der Produktionsverhältnisse“ (d. h.der System-elemente des sozialistischen Wirtschaftssystems) werden wiederholt und nachdrücklich zur „notwendigen Voraussetzung“ der angestrebten Beschleunigung der sozialökonomischen Entwicklung erklärt. Zum zweiten war es erforderlich, diesen Prozeß für die kommenden Perioden offenzuhalten, d. h. als ununterbrochenen Prozeß in Erscheinung treten zu lassen, um fortgesetzte, aufeinanderfolgende Veränderungen und das hierzu erforderliche „Interventionspotential“ der Führung zu legitimieren. Dies betont das Programm an mehreren Stellen mit dem Begriff der „ständigen“ Vervollkommnung. Drittens schließlich mußte das Programm die Bausteine anbieten, aus denen Gorbatschow zukünftig eine möglichst wirksame wirtschaftspolitische Mischung herstellen kann. Dies ist in vollem Maße geschehen.
Das Programm bestimmt die arbeits-, Struktur-, verteilungs-und sozialpolitischen Schwerpunkte der ökonomischen Strategie Gorbatschows. In systempolitischer Hinsicht enthält es alles, was zur Modernisierung, Straffung und Auflockerung einer sozialistischen Planwirtschaft erforderlich ist — sofern nur ein schlüssiges und konsistentes Institutions-und Funktionsmodell, eine erfolgversprechende Implementierungsstrategie, eine tragfähige personelle Basis sowie eine stimmige strukturpolitische Flankierung vorhanden wären. Hier liegen die entscheidenden Gegenwartsdefizite der sowjetischen Systempolitik und damit auch jene Aufgaben, die als Voraussetzung der „Beschleunigung“ in den kommenden Jahren in Angriff zu nehmen sind.
Schließlich: Ein Parteiprogramm soll nicht zuletzt die Legitimität der Führung untermauern. Daher muß es auf Kontinuität angelegt sein. Kritik an der Vergangenheit — und diese enthält die Neufassung ja durchaus — darf nicht so ausfallen, daß Weisheit und Führungsfähigkeit der Partei generell in Zweifel gezogen werden. Das Bestreben, eine gute Politik durch eine bessere zu ersetzen, gestattet aber kaum allzu laute programmatische Fanfarentöne. Auch daher rührt der im Vergleich zu den Parteitagsreden moderate Ton des Programms.
Gravierende Wirtschaftsprobleme
Die nachhaltigen Wachstums-, Planerfüllungsund Produktivitätsprobleme spiegelten sich anschaulich bis zur Drastik in den Reden und Dokumenten des Parteitags. Die Wirtschaftspolitik der späten Ära Breschnew wurde besonders heftig kritisiert, die damals (wie heute) verantwortliche Bürokratie nicht geschont. Insbesondere seit Ende der siebziger Jahre war das Wirtschaftswachstum des Landes deutlich auf Talfahrt gegangen Die Zunahmerate des Bruttosozialprodukts halbierte sich gegenüber der Entwicklung bis 1978 und sank unter 2 Prozent ab. Alle Entstehungssektoren und Verwendungsbereiche des Sozialprodukts waren von dieser Rezession ohne geschichtliche Präzedenz betroffen. Zur chronischen Leistungsschwäche der Landwirtschaft kamen früher nicht gekannte Engpässe in Industrie, Transport und Bauwesen hinzu. Auf der Verwendungsseite stagnierte der Konsum, das Tempo der Kapitalbildung war stark rückläufig, und auch das Wachstum der Rüstungsausgaben ging zurück.
Für eine richtige Einschätzung von Wesen, Perspektiven und Grenzen der Gorbatschowschen Beschleunigungsstrategie ist von Bedeutung, daß der Wachstumsabfall auf ein Bündel verschiedener Ursachen und keineswegs nur auf System-faktoren zurückzuführen war. Exogene Einflüsse wie demographisch bedingte Verknappung des Arbeitskräfteangebots und wiederholt schlechte Witterungsbedingungen, die über eine Folge von Mißernten in der Agrarwirtschaft und Störungen auch in außerlandwirtschaftlichen Bereichen die gesamtwirtschaftliche Leistung beeinträchtigten, Auswirkungen wirtschaftsstruktureller Veränderungen wie Ostverlagerung der Wirtschaft und Veralterung des Kapitalstocks, Folgen der Ende der siebziger Jahre verschärft aufgetretenen Engpässe mit negativen Multiplikatoreffekten (neben der Landwirtschaft u. a.der Metallsektor, das Investitionswesen, der Transportsektor), Störungen von Arbeitsmotivation und Arbeitsdisziplin, schließlich der Verfall zentraler wirtschaftspolitischer Autorität: all das spielte eine gravierende Rolle. Der Wachstumsabfall unterstrich jedoch auch die Defizite des heutigen sowjetischen Planungssystems im Hinblick auf die von ihm zu leistenden Hauptaufgaben: Steuerung der Wirtschaft nach den Zielvorstellungen der Führung, störungsfreie Koordinierung der Wirtschaftsabläufe und Gewährleistung möglichst effizienter Produktionsprozesse. Damit wurden die Zweifel an der Fähigkeit des derzeitigen planwirtschaftlichen Instrumentariums, mit den Strukturproblemen des dringend erforderlichen Übergangs zu einer intensiven Phase wirtschaftlicher Entwicklung fertig zu werden, nachhaltig verstärkt.
Auf der anderen Seite bleiben die Anforderungen an die sowjetische Wirtschaft hoch. Ohne rasche Kapitalbildung und Erneuerung der veralteten Produktionsanlagen ist die angestrebte und dringend erforderliche wirtschaftliche Modernisierung nicht möglich. Ohne Verbesserung des Lebensstandards kann die politische Loyalität der Bevölkerung nicht gesichert und ihre Arbeitsmotivation nicht gesteigert werden. Ohne mehr Wirtschaftswachstum sind schließlich auch die für die Außenpolitik zentralen rüstungswirtschaftlichen Anforderungen nicht zu erfüllen. Insofern ist es verständlich, daß Generalsekretär Gorbatschow seit seinem Amtsantritt nachdrücklich die Auffassung vertritt, daß jede erfolgreiche sowjetische Politik eine nachhaltige Verbesserung der Wirtschaftslage zur unabdingbaren Voraussetzung habe. Dies wurde von ihm und anderen Vertretern der sowjetischen Führung auch auf dem Parteitag unmißverständlich zum Ausdruck gebracht.
Was lassen die Erklärungen der Spitzenpolitiker, die Stellungnahmen der Fachleute sowie die Parteitagsdokumente und -diskussionen für eine zukünftige Wirtschafts-und Sozialpolitik der UdSSR erwarten?
Neue Wirtschaftspläne
Was zunächst die Wirtschaftsplanung bis zum Jahre 2000 und den 12. Fünfjahrplan (1986 bis 1990) betrifft, so strebt die UdSSR eine Beschleunigung des wirtschaftlichen Wachstums und eine Intensivierung der Produktionsprozesse in zwei Etappen an Im Unterschied zu Chruschtschows Langzeitplänen enthält die Fünfzehnjahresplanung allerdings nicht viele konkrete Daten. Immerhin: Das Nationaleinkommen, die Industrieproduktion und das Produktionspotential sollen sich bis zur Jahrtausendwende verdoppeln, das Realeinkommen der Bevölkerung soll im Jahre 2000 um 60 bis 80 Prozent höher liegen als gegenwärtig, die gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität auf das 2, 3-bis 2, 5fache gesteigert werden. Diese Ziele sind hochgespannt, mit Sicherheit zu anspruchsvoll. Deshalb versucht man auch, sich beim 12. Fünfjahrplan vom Ehrgeiz der Langzeitplanung wenigstens teilweise freizumachen und gleichsam eine „Terrassenkonzeption“ zu realisieren: Die Planung bis 1990 ist in ihren Wachstumsansprüchen sichtlich bescheidener ausgefallen als die Pläne (oder besser: Hoffnungen) für die neunziger Jahre (vgl. Tabelle). Viele Ziele des 12. Fünfjahrplans liegen nicht wesentlich über der in den letzten fünf, insbesondere in den letzten drei Jahren erreichten Leistung. So soll die Industrieproduktion in den kommenden fünf Jahren um jährlich 3, 9 bis 4, 4 Prozent gesteigert werden gegenüber ca. 3, 7 Prozent im 11. Planjahrfünft und ca. 4 Prozent von 1983 bis 1985. Die angestrebte Wachstumsbeschleunigung zu erreichen, ist dennoch keine leichte Aufgabe. Da sich das Wachstum der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital weiter ver-langsamt, setzt die Erfüllung der Produktionsziele ein deutlich rascheres Produktivitätswachstum voraus, als in der jüngeren Vergangenheit realisiert werden konnte.
Anspruchsvoller als die allgemeinen Wachstumsvorgaben sind die Ziele für einzelne Bereiche, etwa für die Landwirtschaft. So soll sich die Agrarproduktion um jahresdurchschnittlich knapp 3 Prozent erhöhen gegenüber ca. 2 Prozent von 1981 bis 1985. Auch das Wachstum des Maschinenbaus, insbesondere seiner modernen Zweige, und die Zunahme der Investitionen sollen sich wesentlich beschleunigen. In der starken Konzentration auf das Investitionswachstum besteht überhaupt eine der Besonderheiten des neuen Fünfjahrplans im Vergleich zu seinen Vorgängern. Der neue Plan sieht eine Zunahme der Bruttoanlageinvestitionen um 3, 4 bis 3, 9 Prozent jährlich vor. Im 11. Fünfjahrplan sollte die Kapitalbildung durchschnittlich um ca. 1, 5 Prozent zunehmen. De facto wuchsen die Investitionen allerdings fast so schnell, wie sie für das kommende Jahrfünft geplant sind. Das rasche Investitionswachstum in Verbindung mit einer Anhebung des Akkumulationsanteils am Nationaleinkommen wird für erforderlich gehalten, um das Kapitalstockwachstum bei gleichzeitiger Konzentration auf Ersatzinvestitionen, auf Um-und Neuausrüstung bestehender Betriebe nicht zu sehr abfallen zu lassen
Wiederum sieht der Fünfjahrplan für die Industrie eine raschere Entwicklung der Konsumgüterproduktion (Gruppe B) im Vergleich zur Her-Stellung von Produktionsmitteln (Gruppe A) vor, die dabei deutlicher ausfallen soll als von 1981 bis 1985. Daß für 1986 ein besonders ausgeprägter Wachstumsvorrang der Gruppe B vorgesehen ist, spiegelt sowohl die gegenwärtig unbefriedigende Lage der sowjetischen Konsumenten wider als auch die Bereitschaft der Führung, diese Situation rasch zu verbessern. In diesem Zusammenhang ist auch auf die starke sozialpolitische Komponente der mittel-und langfristigen Planung hinzuweisen. Ein „Komplexprogramm für die Konsumgütererzeugung und den Dienstleistungssektor“ war im Vorgriff auf die Veröffentlichung der Planziele bis zum Jahre 2000 bereits im Oktober 1985 bekanntgegeben worden
Im Unterschied zu den drei vergangenen Planjahrfünften wird diesmal versucht, im ersten Planjahr (also 1986) sogleich das zur Erfüllung des mittelfristigen Planziels erforderliche Durchschnittswachstum zu erreichen, ja teilweise sogar deutlich zu übertreffen. Eine solche Strategie ist vielversprechend, aber nicht ohne Risiko. Gelingt sie, so sind die Voraussetzungen für ein Einhalten des vorgesehenen Planrhythmus günstiger als in der Vergangenheit. Stabilität der Pläne auf mittlere Frist ist wiederum erforderlich, um längerfristig angelegte Prämienregelungen zur Wirkung zu bringen. Die Betriebe sollen hierdurch im Interesse von mehr technischem Fortschritt und besserer Produktqualität an längerfristigen Dispositionen interessiert werden. Mißlingt die Strategie dagegen, so ist der 12. Fünfjahrplan bereits in seinem ersten Jahr obsolet geworden. Aufgrund der ungünstigen Entwicklung des Vorjahres (Basiseffekt!), des kalenderbedingten Mehrangebots an Arbeitszeit im Jahre 1986 sowie der Auswirkungen gestraffter Wirtschaftspolitik sind die Aussichten für einen relativ befriedigenden Start ins neue Planjahrfünft derzeit als nicht ungünstig einzuschätzen. Die Industrieproduktion nahm im Januar und Februar um 7, 3 Prozent zu, was ein gutes Fundament für die Erfüllung des Jahresplans bedeutet
Gorbatschows Konzept
Mit welchen Mitteln will die sowjetische Wirtschaftspolitik ihre Wachstums-und Modernisierungsziele erreichen? Gorbatschow sprach wiederum von einer „tiefgreifenden Wende“, ja von „radikaler Reform“. Dies signalisiert Bereitschaft zu entschiedenem Handeln, meint jedoch keinen prinzipiellen Wandel des sozialistisch-planwirtschaftlichen Systems der UdSSR. Was angestrebt wird, ist eine gründliche Überholung, eine Neuorientierung der Wirtschaftspolitik auf konservativer Grundlage. Die Wirtschaftsstrategie Gorbatschows, der von Regierungschef Ryschkow sachkundig unterstützt wird, sieht zwei Stufen der „Umgestaltung“ vor. Zunächst sollen durch die vielbeschworene „Aktivierung des menschlichen Faktors“ vorhandene, aber derzeit unzureichend genutzte Reserven erschlossen werden. Organisationsverbesserungen, Erhöhungen der Arbeits-, Plan-und Ausführungsdisziplin sowie die Intensivierung „materieller Anreize“ sind hierfür vorgesehen. Sodann sollen die kurzfristig erreichten Leistungseffekte durch Veränderungen in Wirtschaftspolitik und Wirtschaftssystem so verstetigt werden, daß zuletzt sogar die für die neunziger Jahre vorgesehene beträchtliche Wachstumsbeschleunigung erreicht werden kann. Dies schließt auch eine größere systempolitische Beweglichkeit ein.
Welche Struktur weist Gorbatschows wirtschaftspolitisches „policy mix“ im einzelnen auf?
Vor aller inhaltlichen Festlegung geht es um eine Stärkung der zentralen ökonomischen Führung, um eine wesentliche Verbesserung des wirtschaftspolitischen Stils. Erreicht werden sollen mehr Widerspruchsfreiheit, Stringenz und Ausführungsdisziplin, kurz, nachhaltige Funktionsverbesserungen der gesamten oberen Wirtschaftsleitung. Angesichts des „Durchwurstelns“ und des lähmenden Bürokratismus der späten Breschnew-Jahre könnte eine bessere zentrale Führung in der Tat von vielen Seiten her zur wirtschaftlichen Lageverbesserung beitragen. Zu erwarten wären zunächst Motivationsverbesserungen im Gefolge einer deutlichen wirtschaftspolitischen Handschrift, eines „Charismas der Macher“. Eine weitere wichtige Leistung zentraler Prozeßpolitik bestünde in der Herstellung von mehr Gleichgewicht durch Sicherung eines die Wirtschaft nicht generell überfordernden Anspruchsniveaus der Planung. Ein solches Reduzieren dysfunktionalen Plandrucks könnte Engpaßmultiplikatoren in ihrer Wirkung abschwächen und die koordinierenden sowie effizienzsteigernden Funktionen des Wirtschaftsmechanismus besser zur Geltung bringen. Eine wichtige Aufgabe verbesserter zentraler Wirtschaftsführung könnte auch die zügigere und konsistentere Durchsetzung der Modernisierungsprioritäten durch Eindämmung ausufernder Ansprüche der Ministerialbürokratien sein. Schließlich wäre die Schaffung eines leistungsfähigen Managements durch „Kaderwechsel“, durch Entlassung unfähiger Wirtschaftsfunktionäre und die Rekrutierung neuer wirtschaftlicher Führungskräfte eine wichtige zentrale Leitungsaufgabe.
Inhaltlich soll mit einem Maßnahmenbündel von verschiedenen Seiten gegen die vorhandenen Leistungsschwächen der sowjetischen Wirtschaft angegangen werden.
Hierzu gehören erstens Maßnahmen der Arbeitskräftepolitik.Nachdruck liegt in diesem Bereich nach wie vor auf umfassender Disziplin. Disziplinverstößen aller Art wird ebenso der Kampf angesagt wie anderen Untugenden, darunter Diebstahl, Bestechung, Trunksucht, Raffgier, Kriecherei und Lobhudelei. Inkompetente und initiativlose Funktionäre sollen ausgewechselt, das professionelle Niveau der Wirtschaftsleiter verbessert werden. Im Sinne einer engeren Übereinstimmung von Leistung und Entlohnung sind Veränderungen des Verteilungssystems vorgesehen. Gedacht ist weiter an einen Ausbau mateB rieller und „moralischer“ Anreize, wodurch Motivationsverbesserungen und Produktivitätssteigerungen bewirkt werden sollen. Gegen alle Arten illegaler Einkommen aus Schattenwirtschaft und Korruption soll vorgegangen werden. Mit einer Verschärfung des sowjetischen Wirtschaftsstrafrechts ist folglich zu rechnen. Für legale private Aktivitäten — vor allem beim Angebot von Dienstleistungen — soll dagegen ein größerer Raum geschaffen werden.
Großer Nachdruck wird zweitens auf strukturpolitischeKorrekturen gelegt, die vor allem dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt zugute kommen sollen. Auf der Basis umfassender Förderung von Grundlagen-und angewandter Forschung soll ein technischer Durchbruch erreicht werden, der bis zur Ausstattung der Produktion mit Robotern und Computern sowie zur Anwendung von Biotechnologien geht. So plausibel das Konzept erscheint, so schwierig dürfte allerdings seine Realisierung sein. Die traditionellen Institutionen und Verfahren der sozialistischen Planwirtschaft sind aus der Vergangenheit als Innovationshemmnis hinlänglich bekannt Soweit Modernisierung erreicht wurde, war sie zudem sehr kapitalaufwendig. Bei zunehmender Kapital-knappheit wird aber eine wesentliche Stütze bisheriger Modernisierungspolitik entscheidend geschwächt. Zur Umsetzung technischer Neuerungen in die Produktionspraxis, zur Schaffung der Maschinen-und Ausrüstungsbasis für die Investitionspolitik und nicht zuletzt, um den Aussonderungskoeffizienten im Interesse der Kapitalstockmodernisierung spürbar erhöhen zu können, wird dem Maschinenbau im Rahmen der vorgesehenen wirtschaftsstrukturellen Umgestaltung Priorität eingeräumt. „Neue Generationen“ von Maschinen und Ausrüstungen sollen von „evolutionären zu revolutionären“ Veränderungen der Technologie überleiten und wesentliche Erhöhungen der Arbeits-und Kapitalproduktivität sowie beträchtliche Einsparungen an Material, Energie und Vorprodukten ermöglichen. Innerhalb des Maschinenbaus wiederum sollen Werkzeugmaschinen-und Gerätebau, Rechentechnik, Elektronik und Elektrotechnik, kurz, die „Katalysatoren des wissenschaftlich-technischen Fortschritts“, besonders gefördert werden, u. a. auch durch eine bevorzugte Zuweisung von Investitionsmitteln.
Auch die Außenwirtschaft soll in den Dienst der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung und insbesondere der angestrebten Modernisierung gestellt werden Zunächst ist daran gedacht, die osteuropäischen RGW-Partnerländer zu umfangreicheren Lieferungen und qualitativ besseren Leistungen heranzuziehen. Zum „Kernstück“ umfassender Spezialisierung und Kooperation ist das „Komplexprogramm des wissenschaftlich-technischen Fortschritts der RGW-Länder bis zum Jahre 2000“ bestimmt, das sich auf fünf Schlüsselbereiche — Elektronik, Automatisierungstechnik, Kernenergie, neue Werkstoffe sowie Biotechnologie — erstreckt. Im Vordergrund der Intra-RGW-Wirtschaftsbeziehungen wird jedoch weiter der gegenseitige Handel bleiben. Seine Entwicklung steht allerdings unter dem unsicheren Vorzeichen der veränderten Erdölpreissituation, die neue Vereinbarungen über Preise und Liefermengen erforderlich macht. Die UdSSR wird versuchen, die Last der Terms-of-trade-Verschlechterung mit ihren Partnerländern zu teilen. Senkungen der Öllieferungen kämen hierfür ebenso in Frage wie Versuche, den Maschinen-und Ausrüstungsanteil an den sowjetischen Exporten zu erhöhen und den anderen RGW-Staaten Produkte höherer Qualität abzufordern.
Vorgesehen ist daneben der Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zu den westlichen Industrie-ländern. Hierzu sollen auch die institutioneilen Voraussetzungen verbessert und Handelshemmnisse abgebaut werden. Neben Getreideimporten spielt die Einfuhr von Maschinen, Ausrüstungen und Technologie eine zentrale Rolle. Freilich haben die fallenden Ölpreise, der sinkende Dollarkurs und die rückläufige Erdölförderung die sowjetische Handelsposition dramatisch verschlechtert. So dürfte eine sorgfältige und selektive Importpolitik zu erwarten sein. Ryschkow setzte mit seiner Aufforderung, „den Devisenaufwand für Importe auf das strengste zu reglementieren“, jedenfalls ein deutliches Signal. Die Sowjetunion muß sich bemühen, ihren Absatz an industriellen Vorprodukten und Fertigerzeugnissen auf westlichen Märkten in den kommenden Jahren zu erhöhen. Dies erfordert jedoch eine leistungsfähigere Exportproduktion, die ohne Außenhandelsreformen kaum zu erreichen ist. Entsprechende Maßnahmen werden offensichtlich gegenwärtig vorbereitet. In Erwägung gezogen werden Reorganisationen des Außenhandelsapparates, die Übertragung von Außenhandels-funktionen auf große sowjetische Produktionsbetriebe und die Durchführung von Joint ventures mit westlichen Firmen. All diese Maßnahmen dürften hinter den Veränderungen in den kleineren RGW-Ländern Zurückbleiben.
Systempolitische Modernisierung
Schließlich sollen als Bestandteil der „Beschleunigungsstrategie“ auch systempolitische Mittel, auch neue Reformen im Planungssystem eingesetzt werden. So spricht das Parteiprogramm in seiner revidierten Fassung von der Notwendigkeit „ständiger Vervollkommnung der Leitung der Volkswirtschaft“. Gorbatschow und Ryschkow verwendeten die schon erwähnte Formel der „radikalen Reform“. Die zukünftige sowjetische Systempolitik bleibt jedoch im Rahmen der aus der Vergangenheit bekannten Versuche, das System der Planwirtschaft durch organisatorische Verbesserungen und modernere Planungsverfahren zu rationalisieren, durch neue Plankennziffern und Prämiensysteme effizienter zu machen sowie durch Teildezentralisierungen aufzulokkern Durch Entlastung der zentralen Planung von unnötigen Details soll zugleich die verloren-gegangene Steuerbarkeit der Wirtschaft wiederhergestellt werden. Hauptreformfelder sind wie in der Vergangenheit die Organisationsstruktur von Planung, Leitung und Betrieben, die Planungsmethoden sowie das System der ökonomischen Hebel bzw.der Wirtschaftsmechanismus, der Planziele in planadäquate Betriebsaktivitäten umsetzen soll.
Mit den systempolitischen Veränderungen will man einen Grundwiderspruch gegenwärtiger Wirtschaftspolitik mildern, den der sowjetische Wirtschaftswissenschaftler Fedorenko anschaulich beschrieben hat: „Die Wurzel allen Übels liegt darin, daß im heutigen Mechanismus zwischen den Planauflagen, die die gesamtstaatlichen Interessen zum Ausdruck bringen, und dem System der ökonomischen Hebel keine Überein-stimmung besteht. Weil diese Hebel nicht mit den Planzielen abgestimmt sind, wirken sie ihnen auf Schritt und Tritt entgegen. Deshalb wird im Leitungsmechanismus das Schwergewicht auf administrative Methoden gelegt und konzentriert man möglichst viele Wirtschaftsentscheidungen im Zentrum. Das wiederum hat zur Folge, daß die Leitung schwerfällig wird und es an Verantwortlichkeit mangelt.“ Fedorenko spricht hier die grundsätzliche Schwierigkeit an, zwei unterschiedliche Typen von Lenkungsinstrumenten innerhalb einer administrativen Planwirtschaft — direkte Plananweisungen im Naturalausdruck und in Wertgrößen gefaßte, indirekte „ökonomi-sehe Hebel“ — möglichst harmonisch zu verbinden. Hier prinzipielle Reibungen zu konstatieren, ist in der Tat nicht schwer. Andererseits koexistieren beide Lenkungsformen in der Realität, wenn auch sicher vielfach mehr schlecht als recht. Die Frage ist folglich: Gibt es institutionelle Mischungen, die weniger schlecht sind als die bisherigen, lassen sich diese Mischungen konzeptionell finden und effektiv implementieren, oder schlägt die skizzierte Widerspruchsproblematik stets so durch, daß alle Bemühungen um schrittweise Verbesserungen umsonst sind?
Gorbatschow und Ryschkow gehen von der Möglichkeit schrittweiser Verbesserungen „innerhalb des Systems“ aus. Das Prinzip der angestrebten systempolitischen Veränderungen wird von ihnen in fünf Elementen zusammengefaßt.
Erstens: Die Wirksamkeit der zentralen Wirtschaftsleitung soll durch eine weitreichende und gründliche Veränderung der Organisationsstruktur von Planung und Wirtschaftsverwaltung sowie durch den Verzicht auf die Festlegung überflüssiger Details verbessert werden. Hauptaufgabe der zentralen Wirtschaftsführung soll die Durchsetzung zweckmäßiger wirtschaftspolitischer Strategien sein. Hierzu gehören die Realisierung der wichtigsten wirtschaftlichen Einzel-ziele, die Verwirklichung Wachstums-und modernisierungskonformer volkswirtschaftlicher Proportionen sowie die Sicherstellung einer „bilanzierten“, gleichgewichtigen Entwicklung.
Zweitens: Zur Verbesserung der Organisationsstruktur ist eine Reihe von Maßnahmen vorgesehen. Dabei geht es vor allem um die Reduzierung des Apparates der Wirtschaftsverwaltung durch die Beseitigung überflüssiger Verwaltungsglieder. Auf zentraler Ebene soll das Staatliche Plankomitee (Gosplan) zum wissenschaftlichen Zentrum, zum Generalstab der Wirtschaftsplanung werden. Die Industrieministerien sollen sich in Organe wissenschaftlich-technischer Zweigleitung verwandeln. Der traditionellen „kleinlichen Bevormundung“ der Betriebe wird wieder einmal der Kampf angesagt. Ergänzend zur Zweigleitung ist eine verstärkte Berücksichtigung ressort-übergreifender Belange miteinander verbundener Zweige vorgesehen. Als Beispiele gelungener administrativer Straffung gelten Maschinenbau und agroindustrieller Komplex. Für die Koordination des ersteren wurde ein den Ministerien übergeordnetes „Büro“ geschaffen. Die Leitung des letzteren erfolgt durch ein neues Staatskomitee (Gosagroprom), das an die Stelle einer Reihe bisheriger Ministerien trat. Vorgesehen ist auch eine größere Ausgewogenheit zwischen Zweig-und Regionalplanung. Auf der Betriebsebene sollen sowohl leistungsfähige Großbetriebe (etwa die Forschung, Entwicklung und Produktion umfassenden Wissenschafts-und Produktionsvereinigungen) als auch kleinere und mittlere Betriebe gefördert werden.
Drittens: Die Selbständigkeit der Betriebe soll durch eine Beschränkung der von oben vorgesehenen administrativen Kennziffern, durch erweiterte Funktionen für Vertragsbeziehungen und durch die Gewährleistung größerer finanzieller Eigenständigkeit von Vereinigungen und Betrieben unterstützt werden. Die Betriebe sollen in die Lage versetzt werden, ihre Mittel auf der Basis „vollständiger wirtschaftlicher Rechnungsführung“ weitgehend selbst zu erwirtschaften. Zusätzlich sollen mehr Kreditmittel zur Verfügung stehen. Das System der materialtechnischen Versorgung soll mehr die Züge eines staatlichen Handels mit Produktionsmitteln annehmen.
Viertens: Anstelle direkter Plananweisungen ist zur Lenkung der Wirtschaft und zugleich als Effizienzhebel in stärkerem Maße der Einsatz „ökonomischer Instrumente“ vorgesehen. Dabei soll die „Normativmethode“, bei der die Wirtschaftstätigkeit der Vereinigungen und Betriebe über Steuersätzen vergleichbare finanzielle Richtgrößen beeinflußt wird, eine besondere Rolle spielen. Über leistungsbezogene Normative sollen vor allem die verschiedenen Finanzfonds der Betriebe gebildet werden, die Einkommensentwicklung und Sozialleistungen bestimmen. Auch eine Funktionserweiterung der Preise — vor allem als Hebel für mehr technischen Fortschritt und bessere Produktqualität — ist im Konzept der „ökonomischen Instrumente“ vorgesehen.
Fünftens: Schließlich soll sich zwecks Verbesserung von Motivation und Legitimität mit der angestrebten Straffung der Planung und der vorgesehenen Erweiterung betrieblicher Handlungsspielräume auch ein Ausbau von Mitbestimmungselementen verbinden. Vor allem wird auf das trotz vieler Mängel in der bisherigen Praxis positiv bewertete Beispiel der Brigaden innerhalb der Betriebe verwiesen. Die relativ abgeschlossenen Arbeitsgruppen der Brigaden gelten nicht nur als effektive Form kollektiver Organisation und Stimulierung der Arbeit, sondern auch als Ausdruck von Selbstverwaltung und Demokratie — Begriffe, die in den Reden und Dokumenten des Parteitags eine erhebliche Rolle spielten.
Das von Gorbatschow vorgebrachte und von Ryschkow bestätigte Prinzip läßt die Handschrift gemäßigter Reformer wie der Akademiemitglieder Aganbegjan, und Fedorenko erkennen. Dahinter steht die Idee einer insbesondere zu den nichtprioritären Wirtschaftsbereichen hin stärker aufgelockerten Direktivplanung mit erweiterten Marktfunktionen und stärker parametrischer Steuerung. Das Modell wurde allerdings nicht auf einer eigenständigen theoretischen Basis entwickelt. Seine Grundzüge sind eher von den gegenwärtigen Mängeln des sowjetischen Planungssystems abgeleitet: der Überbürokratisierung und gleichzeitigen Untersteuerung der Wirtschaft, der unbefriedigenden Koordination, der unzureichenden Effizienz. Das therapeutische Vorgehen folgt dem seit mehr als zwanzig Jahren eingeschlagenen Kurs planwirtschaftlicher Reorganisation. Doch auch wenn jetzt wiederum an die nicht sehr erfolgreichen Reformversuche der Vergangenheit angeknüpft wird, ist doch die Schlußfolgerung, neue Fehlschläge seien unvermeidlich, verfrüht. Zum einen kann die konkrete Ausgestaltung des Reformarrangements mit Sicherheit verbessert werden. Zum anderen hängen Ergebnisse von Reformen nicht nur von der organisatorischen und verfahrenstechnischen Konzeption, sondern auch vom Prozeß der Reformverwirklichung und seiner Flankierung durch die allgemeine Wirtschaftspolitik entscheidend ab. Hier lag in der Vergangenheit viel im argen, und hier liegen auch nicht unbeträchtliche Verbesserungsreserven.
Die zukünftige Systempolitik der UdSSR behält die aus der Vergangenheit bekannte Mischung von direkten und indirekt-parametrischen Steuerungsinstrumenten allerdings bei. Eine solche Mischung erlaubt es, ja lädt dazu ein, den administrativen Interventionismus wieder gleitend zu erweitern, den systempolitischen Halbautomaten dezentralisierter Planwirtschaft stufenweise auf den Handbetrieb administrativer Eingriffe zurückzuschalten.
Vor allem bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten dürfte der Versuchung, gefährdete Prioritäten mittels administrativen Drucks durchzusetzen, nur schwer zu widerstehen sein.
Es kommt für den Erfolg zukünftiger Systempolitik entscheidend darauf an, ob die Qualität der gesamten zentralen Wirtschaftsleitung verbessert werden kann.
Weitergehende Dezentralisierungen sind für die Landwirtschaft angekündigt. Kolchose und Sowchose sollen selbständiger wirtschaften können, innerhalb der Betriebe sollen Gruppenaktivitäten (u. a. auf Familienbasis) gestärkt werden. Das Reformprojekt sieht vor, für die genossenschaftlichen und staatlichen Landwirtschaftsbetriebe stabile, auf die einzelnen Jahre des Planjahrfünfts aufgeschlüsselte Auflagen für den Aufkauf von Agrarprodukten festzulegen. Überplanerträge — bei Kartoffeln, Obst und Gemüse auch ein Teil der planmäßig produzierten Erzeugnisse — sollen nach betriebseigenem Ermessen verwendet werden, d. h. an den Staat bzw. auf dem Kolchosmarkt verkauft, weiterverarbeitet oder auf andere Weise verwertet werden können. Besondere Anreizmittel sind vorgesehen, um über-planmäßige Getreideverkäufe an den Staat sicherzustellen. Weiter ist beabsichtigt, die Möglichkeiten für eine regional dezentralisierte Verfügung auszubauen. Die erweiterten Dispositionsbefugnisse der Kolchose und Sowchose sollen in größerer finanzieller Eigenständigkeit — wie in der Industrie in „vollständiger wirtschaftlicher Rechnungsführung“ — ihre Entsprechung finden. Überwunden werden soll die weitverbreitete Verlustsituation der Landwirtschaftsbetriebe. Parallel zu anderen Wirtschaftszweigen sind auch im Agrarsektor als Mittel wirtschaftspolitischer Einflußnahme auf die Betriebe anstelle direkter Plananweisungen in zunehmendem Maße „ökonomische Hebel“ vorgesehen. Positive Assoziationen an die Zeit der „Neuen Ökonomischen Politik“ (NEP) der zwanziger Jahre wollte Gorbatschow offenbar mit dem Hinweis auf eine „schöpferische Verwertung der Idee Lenins von der Lebensmittelsteuer“ wecken. Innerhalb der Betriebe sollen das Werkvertrags-und das Akkordsystem auf der Ebene von Brigaden, Arbeitsgruppen und Familien Anwendung finden. Es ist vorgesehen, diesen auf der Basis eigener Wirtschaftsrechnung operierenden kleineren Gruppen innerhalb der größeren Betriebe Grund und Boden sowie andere Produktionsmittel zu vertraglich festgelegten Fristen zur selbständigen Nutzung zu überlassen.
Viele Details sind allerdings auch hier noch weitgehend offen. Formuliert sind wie bei der Industrie lediglich die Prinzipien der Umgestaltung.
Die Erarbeitung eines operationalen Konzepts steht noch aus. Dabei müssen heikle Fragen von großer wirtschaftlicher Bedeutung entschieden werden: Für welche Zwecke sollen die Betriebe über die von ihnen erwirtschafteten Erträge verfügen können? Welche Anteile der Überschüsse sind als persönliche Einkommen, welche für Investitionsaufgaben zu bestimmen? Wie soll die Beziehung zwischen den Landwirtschaftsbetrieben und den vorgelagerten Stufen geregelt werden, die Produktionsmittel erzeugen, d. h., wie weit reicht das Marktkonzept in den Produktionsmittelbereich hinein? ’Schließlich: Bis zu welchem Grad sollen die Landwirtschaftsbetriebe Wirtschaftsaktivitäten in nichtlandwirtschaftlichen Bereichen — etwa im Baugewerbe — entfalten dürfen? Inwieweit können solche Aktivitäten außerhalb der Agrarproduktion zur Gewinnsteigerung der Landwirtschaftsbetriebe genutzt werden? Es sei daran erinnert, daß Attraktivität und Leistung der ungarischen Landwirtschaft nicht zuletzt auf einer solchen innerbetrieblichen Ressourcenmobilität auf dem Lande beruhen. Kurz: Es geht darum, ob die im Prinzip durchaus erkennbaren Marktelemente ausreichenden Spielraum erhalten, um sich wirksam etablieren zu können, und ob erfolgreich verhindert werden kann, daß der Dezentralisierungsrahmen durch rigide administrative Rahmenbedingungen und Ad-hoc-Interventionen eingeengt und funktional ausgehöhlt wird.
Perspektiven
Mit der zukünftigen, vom 27. Parteitag bestätigten Strategie technokratischer Modernisierung auf konservativer Systemgrundlage ist gewiß kein wirtschaftlicher Durchbruch zu erreichen. Die UdSSR bleibt im Vergleich zum Westen in vielen Bereichen zurück. Aufeinander abgestimmt und konsequent durchgehalten, kann die von Gorbatschow angestrebte revidierte, gestraffte und neuprofilierte Wirtschaftspolitik jedoch durchaus leistungssteigernde und wachstumsstabilisierende Effekte zur Folge haben — zumindest in einem Ausmaß, das ein länger anhaltendes Unterschreiten kritischer Schwellen verhindert. Hierzu gehören im Konsumbereich die Loyalitäts-bzw. Produktivitätsschwelle, im Kapitalbereich die
Wachstums-bzw. Modernisierungsschwelle und im Rüstungsbereich die Paritätsschwelle. Um ein Wachstum oberhalb dieser Schwellen zu erreichen, wäre wohl eine Zunahme des Bruttosozialprodukts um 2, 5 bis 3 Prozent erforderlich. Ein solches Tempo scheint im Rahmen des wirtschaftspolitischen Aufbruchs nicht unerreichbar. Dafür spricht, daß die sowjetische Führung den Ernst der Lage erkannt und erste Schritte zur Verbesserung unternommen hat. Dafür spricht weiter, daß Gorbatschows Maßnahmenbündel umfassend und von wirklich neuer wirtschaftspolitischer Qualität ist, ohne zugleich so viele Gruppenwiderstände zu mobilisieren wie eine radikale, marktwirtschaftliche Reform. Schließlich ist Gorbatschow allem Anschein nach auch der durchsetzungsfähige Macher einer solchen Neuorientierung. Nicht zuletzt der Ablauf des 27. Parteitags hat seine Führungsfähigkeit bestätigt.
Umgekehrt freilich steht jede sowjetische Politik im Zeichen prinzipieller Einschränkungen. Die Hypotheken der Vergangenheit sind beträchtlich, und die Trägheit von System, Struktur und menschlichen Verhaltensweisen erschweren jeden raschen Wandel. Deshalb mehren sich auch in der UdSSR die Stimmen derer, die eine Beschränkung der Wirtschaftspolitik auf Straffungen des Stils, Neufestsetzungen von Zielen und Methoden sowie Teilreformen „innerhalb des Systems“ für nicht ausreichend halten und demgegenüber— wie die bekannte „Nowosibirsker Studie“ — einen radikalen Wandel des veralteten Leitungssystems fordern.
Eine solche tiefgreifende und umfassende, marktwirtschaftlich strukturierte Reform stößt auf absehbare Zeit jedoch auf kaum zu überwindende Barrieren. Hierzu gehört neben vielen wirtschaft-liehenund politischen Risiken sowie gesellschaftlicher Opposition auch das Herrschafts-und Wirtschaftsverständnis des Generalsekretärs, der trotz des Entschiedenheitssignals „radikale Reform“ kein Systemveränderer sein will, sondern der erfolgreiche Manager einer technokratischen, auf mehr Leitungsflexibilität angelegten, doch zugleich essentiell konservativen Modernisierung. Gelänge diese Modernisierung, so würden sich allerdings langfristig die Voraussetzungen für umfassende Reformen vermutlich verbessern. Modernere Wirtschaftsstrukturen, ein höheres Niveau der Technik, zunehmende Managerverantwortung, vertiefte außenwirtschaftliche Beziehungen, ein gehobenes Ausbildungsniveau und ein besserer Stand der Wirtschafts-und Organisationswissenschaft könnten in fernerer Zukunft Reformbedingungen schaffen, die — sowohl aufgrund der Wirtschaftsrealität als auch der Lageeinschätzung und des Systemverständnisses der sowjetischen Führung — auf kürzere und mittlere Frist nicht gegeben sind. So könnte dem 27. Parteitag aus späterer Sicht eine größere Bedeutung zukommen, als ihm manche, eher enttäuschte Kommentatoren heute zu konzedieren bereit sind.
Hans-Hermann Höhmann, Dr. rer. pol., geb. 1933; Wirtschaftsreferent am Bundesinstitut für ost-wissenschaftliche und internationale Studien in Köln; Lehrbeauftragter der Universität zu Köln. Arbeitsgebiet: Wirtschaftsentwicklung und Wirtschaftssysteme sozialistischer Länder. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg, mit A. Nove und G. Seidenstecher) The East European Economies in the 1970s, London 1982; (Hrsg, mit H. Vogel) Osteuropas Wirtschaftsprobleme und die Ost-West-Beziehungen, Baden-Baden 1984; (Hrsg, mit A. Nove und H. Vogel) Economics and Politics in the USSR: Problems of Interdependence, Boulder (Col.) 1986.
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