Leben mit der Arbeitslosigkeit Zur Situation einiger benachteiligter Gruppen auf dem Arbeitsmarkt
Harald Welzer/Ali Wacker/Hubert Heinelt
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Zusammenfassung
Seit fünf Jahren ist die Arbeitslosenzahl in der Bundesrepublik nicht mehr unter die Zwei-MillionenGrenze gesunken. Die öffentliche Wahrnehmung dieses Problems schwankt mehr denn je zwischen Ratlosigkeit und Bagatellisierung; zugleich wird Arbeitslosigkeit noch immer als weitgehend einheitlicher Sachverhalt angesehen. Die Zusammenstellung neuerer Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Arbeitslosenforschung korrigiert dieses Bild: Einen einheitlichen Befund über „die Arbeitslosigkeit“ gibt es nicht. Anhand einer eingehenden Betrachtung der Situation von arbeitslosen Frauen, Jugendlichen, Älteren und von Familien mit arbeitslosen Elternteilen zeigt sich, daß die Folgen von Arbeitslosigkeit sich nicht nur im Vergleich dieser Gruppen untereinander ganz unterschiedlich entfalten — auch innerhalb der einzelnen Betroffenengruppen können sie beträchtlich variieren. Insgesamt wird aber deutlich, daß Angehörige der sogenannten „Problemgruppen des Arbeitsmarktes“ nicht nur besonders leicht arbeitslos werden — auch in der Situation der Arbeitslosigkeit haben sie z. T. mit größeren Problemen zu kämpfen als andere Gruppen, und sie bleiben meist auch länger in dieser Situation. Dabei zeigt sich besonders an den Jugendlichen und an Kindern aus betroffenen Familien, daß Arbeitslosigkeit auch insofern kein vorübergehendes Ereignis ist, als sie tief in persönliche Entwicklungsprozesse und Familienzusammenhänge eingreift mit entsprechend negativen Folgen.
I. Arbeitslosigkeit im Blick der Öffentlichkeit und der sozialwissenschaftlichen Forschung
Seit fünf Jahren liegt die Quote der registrierten Arbeitslosen in der Bundesrepublik bei rund neun Prozent; das sind im Jahresdurchschnitt über zwei Millionen Menschen. Lange Zeit schien es, als ob dieser tiefe Beschäftigungseinbruch in der Öffentlichkeit kaum registriert würde — Arbeitslose galten allgemein als vorübergehend Nichtbeschäftigte, die mit dem nächsten Konjunkturaufschwung vom Arbeitsmarkt wieder aufgesogen würden. Diese Einschätzung scheint sich nunmehr gewandelt zu haben: Eine repräsentative Vorwahlumfrage des Emnid-Instituts aus dem letzten Jahr kam zu dem Befund, daß die Bevölkerungsmehrheit den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit für kaum aussichtsreich hält. Im Vergleich zu anderen aktuellen Problemen — Friedenssicherung, Sicherung der sozialen Gerechtigkeit, Umweltschutz. Durchsetzung der Gleichberechtigung der Frauen — scheint das Problem der Massenarbeitslosigkeit am wenigsten lösbar zu sein
Auch im Regierungslager sind mit dem Andauern der Beschäftigungskrise der ursprüngliche Optimismus und die frühere Gelassenheit mittlerweile einem Klima der Ungeduld, Verdächtigung und Gereiztheit gewichen. Lothar Späth. Ministerpräsident eines eher prosperierenden Bundeslandes, meint, mehr Druck insbesondere auf jugendliche Arbeitslose empfehlen zu sollen. Die Wirtschaftsgruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion möchte — nach britischem Vorbild — die Arbeitslosenstatistik „bereinigen“, um dem öffentlichen Eindruck vorzubeugen, es herrsche Massenarbeitslosigkeit. Damit scheint sich die historische Erfahrung zu bestätigen. daß vergebliche Versuche, der Arbeitslosigkeit Herr zu werden, leicht in das Bemühen umschlagen, dann doch wenigstens die Arbeitslosen in .den Griff zu bekommen
Angesichts dieser veränderten Situation mag es nützlich sein, einige Befunde der neueren sozialwissenschaftlichen Arbeitslosenforschung vorzustellen. Über die Folgen von Arbeitslosigkeit gibt es verschiedene Wissensquellen: Legt man die von Walter-Busch vorgeschlagene Systematik zugrunde, so läßt sich eingrenzend sagen, daß wir uns vornehmlich auf die Quellen D—F stützen (vgl. Abb. 1). Nur am Rande werden wir die vielfältigen, teils widersprüchlichen Forschungsbefunde zum Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheit berücksichtigen — ein Forschungsbereich, der in den letzten Jahren Gegenstand mehrerer Tagungen der Weltgesundheitsorganisation WHO war.
Angesichts der allmonatlich verbreiteten neuesten Arbeitsmarktdaten könnte man den Eindruck gewinnen, es gäbe die Arbeitslosigkeit als relativ stabilen und einheitlichen sozialen Tatbestand, der lediglich nach Saison. Region. Qualifikation, Alter und Geschlecht der Betroffenen zu differenzieren sei. Arbeitslos zu werden, so scheint es, bedeutet für jeden letztlich dasselbe.
Die neuere Arbeitslosenforschung hat demgegenüber zeigen können, daß sich hinter dem Etikett „arbeitslos“ eine Fülle unterschiedlicher Lebenslagen verbirgt; daß die Folgen für die Betroffenen je nach Alter, Familienstand. Beruf, sozialem Umfeld. regionaler Arbeitsmarktlage usw. variieren. Arbeitslose — damit können immerhin so unterschiedliche Personen gemeint sein wie ein 16jähriger Lehrstellensucher, eine 30jährige alleinerziehende Arzthelferin oder ein 45jähriger Architekt und Familienvater mit langjähriger stabiler Berufs-biographie.
Für die Forschung bedeutet dieser Sachverhalt kein geringes Problem: Je differenzierter und genauer die Befunde über einzelne Betroffenengruppen werden, desto uneinheitlicher und verwirrender wird der Gesamteindruck. Neben zahlreichen indiB viduellen Belastungen durch Arbeitslosigkeit — Zukunftsunsicherheit, finanzielle Not, Krankheit u. a. — können in der empirischen Forschung auch entlastende Wirkungen festgestellt werden; neben eher selbstzerstörerischen Umgangsweisen auch solche, die eine Persönlichkeit sogar stärken; neben der Bedrohung des Ehe-und Familienfriedens auch verstärkter Zusammenhalt und größere Zuneigung. Das bloße Datum „arbeitslos“ sagt daher zunächst wenig über die subjektiven Verarbeitungsformen und Folgewirkungen.
Strukturell ist trotz dieser Vielfalt an beobachtbaren Reaktionsweisen und Lebenslagen ein Kernsyndrom der Arbeitslosigkeitserfahrung auszumachen. Geht man vom Modell eines „normalen“ Lebenslaufes aus, so erscheint erzwungene Erwerbslosigkeit als ein Ereignis, das den Fortgang eines „normalen“ Lebens be-und verhindert: Die Betroffenen müssen sich mit Problemen auseinandersetzen, mit denen sie normalerweise nicht konfrontiert worden wären. Da die Möglichkeit, diese Probleme zu lösen, in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit nicht allein von ihrem Können und Bemühen abhängt, sinkt die Möglichkeit, den weiteren Lebensweg zu planen. Unklar und ungewiß sind sowohl die Dauer des derzeitigen Zustands wie die Gestalt möglicher Wege zur Beendigung der Situation. Diese Zukunftsungewißheit ist eng verknüpft mit Gefühlen der Ohnmacht, Angst und Hilflosigkeit infolge einer gesteigerten Abhängigkeit von kaum beeinflußbaren Umständen und Instanzen.
Auf empirischer Ebene, also im konkreten Fall, ist zu prüfen, ob die jeweiligen Gegebenheiten eine solche typische Grundstruktur voll wirksam werden lassen oder nicht. Nicht überraschend und vielfach belegt kommt der Einschränkung des finanziellen Handlungsspielraums eine wesentliche Funktion zu: Wer seine Wohnung nicht mehr halten kann, weil keine Ersparnisse vorhanden sind, wer mit hohen Ratenzahlungen oder Schulden in die Situation der Arbeitslosigkeit gerät, steht plötzlich vor einer Reihe existentiell wichtiger Entscheidungen, die sich mit der Dauer der Arbeitslosigkeit noch verschärfen können (vgl. Abb. 2).
Das Ausmaß der notwendigen Einschränkungen hängt wiederum von der sozialen Einbettung ab: Wer einen erwerbstätigen Lebenspartner hat, kann Einbußen u. U. besser verkraften. Neben den materiellen Einflüssen sind es besonders der Grad an sozialer Unterstützung, auf den jemand rechnen kann, ferner die Bedeutsamkeit der Erwerbs-und Berufstätigkeit im Vergleich zu anderen Lebensinteressen sowie die Fähigkeit und Möglichkeit zu eigenständiger, aktiver Zeitstrukturierung, welche die möglichen Belastungen der Arbeitslosenzeit abmildern oder verstärken können. Wie Arbeitslosigkeit erfahren und bewältigt wird, hängt somit immer vom biographischen, sozialen, situativen und materiellen Kontext der jeweils Betroffenen ab.
Aber nicht nur die mit Arbeitslosigkeit verbundenen Lebenslagen sind je nach den genannten Einflußfaktoren unterschiedlich strukturiert; auch das Risiko, überhaupt arbeitslos zu werden, und die Chancen, wieder einen neuen Arbeitsplatz zu finden. sind gesellschaftlich ungleich verteilt: Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung (IAB) haben sich im Zeitraum von 1974 bis 1985 rd. 15 Millionen Personen wenigstens einmal arbeitslos gemeldet Diese 15 Millionen verteilen sich aber nur auf ein knappes Drittel aller in diesem Zeitraum Erwerbstätigen; zwei Drittel der Erwerbstätigen sind also von Arbeitslosigkeit nie selbst betroffen gewesen
Um so erschreckender ist. daß seit einigen Jahren in den meisten europäischen Ländern ein Anstieg der Zahl der Langfristarbeitslosen zu beobachten ist: In der Bundesrepublik waren im September 1986 „rd. 330 000 Arbeitslose zwischen einem und zwei Jahren arbeitslos, fünfmal mehr wie 1980; 1986 gab es 320 000 Arbeitslose, die bereits zwei Jahre oder länger vergeblich Arbeit suchten, rd. achtmal so viel wie 1980“ Rund ein Drittel aller registrierten Arbeitslosen gehörten im Herbst 1987 zur Schar der Langfrist-bzw. Dauererwerbslosen.
Auch wenn der Zusammenhang zwischen Dauer und Folgen der Arbeitslosigkeit im Einzelfall nicht so eng sein mag. gilt doch im Durchschnitt, daß sich die wirtschaftlichen, sozialen und psychischen Belastungen mit der Dauer verschärfen. Die destruktiven Auswirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit treffen vermehrt folgende Gruppen: — Arbeitslose mit ausgeprägten finanziellen Problemen (Alleinerziehende. Familien mit einem arbeitslosen Vater als Alleinernährer); — sozial isolierte Arbeitslose, die keinen Rückhalt in einem sozialen Netz besitzen und von informellen arbeitsmarktbezogenen Informationen abgeschnitten sind;— Arbeitslose, die aufgrund zusätzlicher „Mängel“ (fortgeschrittenes Alter, geringe Qualifikation, schlechter Gesundheitszustand oder alles zusammen) nur geringe Arbeitsmarktchancen besitzen. Da die allgemeinen Folgen von Arbeitslosigkeit inzwischen gut dokumentiert sind haben wir uns entschieden, uns auf die Situation einiger sogenannter „Problemgruppen“ des Arbeitsmarkts zu konzentrieren — auf Frauen, Jugendliche und ältere Arbeitslose. Zusätzlich soll die Situation von Familien beschrieben werden, in denen mindestens ein Elternteil arbeitslos ist.
II. Frauen
Abbildung 14
Abb. 2: Typische Entscheidungskonflikte im Verlauf andauernder Arbeitslosigkeit
Modifiziert nach: Bundesanstalt für Arbeit. Überlegungen II zu einer vorausschauenden Arbeitsmarktpolitik. Nürnberg 1978. S. 209.
Abb. 2: Typische Entscheidungskonflikte im Verlauf andauernder Arbeitslosigkeit
Modifiziert nach: Bundesanstalt für Arbeit. Überlegungen II zu einer vorausschauenden Arbeitsmarktpolitik. Nürnberg 1978. S. 209.
Frauen waren in der seit Mitte der siebziger Jahre andauernden Beschäftigungskrise stets überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen. 1979 lag ihr Anteil an den Erwerbspersonen bei knapp 38 Prozent; am Arbeitslosenbestand waren sie jedoch mit 57 Prozent beteiligt. In den folgenden Jahren glichen sich die Quoten von Männern und Frauen zwar weiter an, aber noch im April 1988 lag die Arbeitslosenquote der Frauen mit 10, 2 Prozent deutlich über der der Männer (8 Prozent). In dieser Darstellung ist der überproportionale Anteil der Frauen an der „Stillen Reserve“ ebensowenig berücksichtigt wie der Um Prozent). In dieser Darstellung ist der überproportionale Anteil der Frauen a 2 Prozent deutlich über der der Männer (8 Prozent). In dieser Darstellung ist der überproportionale Anteil der Frauen an der „Stillen Reserve“ ebensowenig berücksichtigt wie der Umstand, daß diese geschlechtstypische Diskrepanz nach den vorliegenden Erfahrungen in saisonalen und konjunkturellen Aufschwungphasen noch wächst. So profitieren Frauen nach Beobachtungen des IAB erst mit Zeitverzögerung und in geringerem Umfang als Männer von einem wirtschaftlichen Aufschwung 7).
Diese wenigen Hinweise könnten erwarten lassen, daß sich die Situation arbeitsloser Frauen der Forschung als besonders klärungsbedürftig darstellt — es ist aber das Gegenteil der Fall. Eine für das zweite Bremer Symposium zur Arbeitslosenforschung (Herbst 1987) vorgesehene Arbeitsgruppe zur Frauenarbeitslosigkeit z. B. kam mangels ausreichender Beteiligung nicht zustande. Diese relative Nichtbeachtung scheint ihren Grund im oft konventionellen Zuschnitt der Forschung selbst zu haben: So ist in der Arbeitslosenforschung (wie auch in der Sozialpolitik) der Verweis auf die „Alternativrolle“ Hausfrauentätigkeit und Mutterschaft immer schnell zur Hand gewesen, wenn es um die Situation arbeitsloser Frauen ging. Die Haus-und Erziehungsarbeit solle — als Erwerbsarbeitsersatz — Auslastung, Zeitstrukturierung. Definitionsmöglichkeit und Sinnerfüllung bieten und entsprechend die Folgen des Arbeitsplatzverlustes mildern, nach dem Motto: „Der arbeitslose Mann steht vor dem Nichts, die arbeitslose Frau vor dem Herd.“
In ähnlicher Weise hat auch die konventionelle Arbeitspsychologie Frauenarbeit vornehmlich als Zuverdiener-Tätigkeit gesehen — eine Auffassung, die den Frauen gleichfalls bessere Bewältigungsmöglichkeiten für den Fall der Arbeitslosigkeit unterstellt. Sogar die große alte Dame der Arbeitslosenforschung — Marie Jahoda — meinte vor wenigen Jahren: „Und selbst wenn die Frauen lieber arbeiten gehen, dann trifft sie die Erwerbslosigkeit weniger hart als die Männer, weil — psychologisch gesprochen — ihnen mit der Rückkehr in die traditionelle Hausfrauenrolle eine Alternative offen-steht. die eine gewisse Zeitstruktur-, ein gewisses Gefühl der Zweckbestimmung, des Status und des Beschäftigtseins mit sich bringt.“ 8) Dabei hatte sie schon in der klassischen Marienthalstudie zu Beginn der dreißiger Jahre gezeigt, daß sich selbst für Frauen mit ungesunden und belastenden Arbeitsplätzen die Bedeutung der Arbeit nicht in der Entlohnung erschöpft 9).
Gerade in der Frauenforschung werden seit einigen Jahren massive Einwände gegen diese Sichtweise erhoben — und zwar in mehrfacher Hinsicht: — Studien über die Arbeitserfahrungen von Industriearbeiterinnen konnten nachweisen, daß Familie und Beruf jeweils als zwiespältige und konfliktreiche, aber wichtige und nicht ersetzbare Erfahrungsfelder wahrgenommen werden, die — jedes für sich — den Frauen Bestätigungs-und Entfaltungsmöglichkeiten bieten 10). Der Verlust des Arbeitsplatzes bedeutet dementsprechend den Verlust eines persönlich wesentlichen Erfahrungs-und Entwicklungsfeldes. — Die durch die Bildungsexpansion der siebziger Jahre und durch soziokulturelle Veränderungen der Frauenrolle hervorgerufene Entwicklung läßt es immer fragwürdiger erscheinen, daß (zumal allein-stehende) Frauen ohne weiteres auf Alternativen zur Berufsrolle zurückgreifen könnten. So ist z. B. für arbeitslose Akademikerinnen aufgezeigt worden. daß Frauen sich in der Situation der Arbeitslosigkeit an der Erfüllung von Kinderwünschen gehindert und keineswegs bestärkt sehen — Schließlich läßt sich fragen, ob es — wenn geringere psychosoziale Belastungen bei arbeitslosen Frauen festgestellt werden können — nicht daran liegt, daß Frauen in der Regel die belastenderen Arbeitsplätze haben und besonders im Falle einer vorherigen Doppelbelastung durch Haushalts-und Berufsarbeit durch Arbeitslosigkeit mehr entlastet werden können als Männer.
Besonders zum letzten Aspekt lassen sich noch einige Befunde anfügen: Der Anteil von Frauen in Angestelltenberufen liegt bei etwa 70 Prozent; die meisten Arbeitsplätze sind ökonomisch und inhaltlich wenig attraktiv. Gleichwohl konnte in einer Studie über arbeitslose Angestellte festgestellt werden. daß „arbeitslose Frauen der unterbrochene Kontakt zu Berufskollegen wesentlich mehr belastet als Männer“ Auch in der Forschung zur Jugendarbeitslosigkeit wird vermerkt, daß arbeitslose Mädchen bzw. junge Frauen eine stärkere Beeinträchtigung der Sozialkontakte wahrnehmen als junge Männer; die verheirateten Frauen dieser Gruppe leiden besonders unter der sozialen Isolation Bestätigt werden solche Befunde auch dadurch. daß in einer anderen Studie zwei Drittel der befragten Frauen gleichermaßen finanzielle wie soziale Gründe für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit angaben und immerhin 16 Prozent ausdrücklich „nichts Angenehmes oder Erfreuliches während der Arbeitslosigkeit“ verzeichnen konnten Prozent ausdrücklich „nichts Angenehmes oder Erfreuliches während der Arbeitslosigkeit“ verzeichnen konnten.
Die von vielen Frauen zunächst wahrgenommenen Entlastungen („Erholen vom Streß“, freiere Zeit-einteilung usw.) werden mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit als immer weniger angenehm empfunden. Das hängt auch damit zusammen, daß die „Alternative“ Hausarbeit durchaus zwiespältig ist: In der Arbeitslosigkeit wird zum einen mehr Zeit für die Hausarbeit aufgewendet als vorher; zugleich übernehmen 65 Prozent der Frauen jetzt die Hausarbeit häufiger allein 15). Angesichts solcher Ergebnisse wird fraglich, ob der zeitlich elastische Arbeitseinsatz im Haushalt auf Dauer überhaupt strukturierende und damit entlastende Funktionen haben kann.
Ob das Zusammenleben mit einem Partner Einfluß auf das Ausmaß der Belastungen hat. bleibt nach den vorliegenden Studien ebenso uneindeutig wie der Einfluß durch Kinder. Insgesamt läßt sich dennoch erkennen, daß Bezugsgrößen wie Familienstand, Zahl der Kinder und besonders die materielle Situation bedeutungsvoller für die entstehenden Belastungen sind als das Geschlecht allein. So konnten in einer Untersuchung, die sich ausdrücklich mit geschlechtsspezifischen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit beschäftigte, weder nach dem Faktor „Berufsorientierung“ noch nach der „Verfügbarkeit einer Alternativrolle“ Unterschiede in den Belastungen bei Männern und Frauen festgestellt werden — wohl aber zwischen verheirateten und unverheirateten Personen 16).
Hinsichtlich der materiellen Situation von arbeitslosen Frauen läßt sich allgemein feststellen, daß sie gegenüber Männern im Durchschnitt sowohl weniger Arbeitslosengeld als auch -hilfe erhalten (773 DM gegenüber 1 208 DM bzw. 661 DM ge-. genüber 865 DM/Monat) Verheiratete Frauen, die meist zugunsten ihres Mannes eine ungünstigere Steuerklasse gewählt hatten, erhalten in der Regel auch niedrigere Leistungen; generell drückt sich in den Durchschnittsbeträgen die niedrigere Entlohnung von Frauenarbeit aus (wie auch das hohe Risiko, arbeitslos zu werden). Bei der Arbeitslosen-hilfe kommt hinzu, daß verheiratete arbeitslose Frauen weitaus häufiger einen erwerbstätigen Ehepartner haben als männliche Arbeitslose. Im Falle des Arbeitslosenhilfebezugs erfolgt deshalb bei Frauen eher als bei Männern eine Senkung bzw. Einstellung der Leistungen wegen „fehlender Bedürftigkeit“. So sind Frauen bei den Arbeitslosenhilfeempfängern weit unterrepräsentiert, in der Statistik der Arbeitslosen ohne Lohnersatzleistungen dagegen überrepräsentiert Insgesamt läßt sich sagen, daß die materielle Situation arbeitsloser Frauen im Durchschnitt eindeutig schlechter ist als die von Männern — was besonders gravierend ist, da sich die materielle Lage als wesentliche Bestimmungsgröße der entstehenden psychosozialen Belastungen erwiesen hat. Diese Aussage bedarf freilich einer Einschränkung: Sofern — und dies gilt am ehesten für verheiratete Frauen — das Haushaltseinkommen hinreichend hoch ist. dürfte die Situation für sie erträglich sein. Anders stellt sie sich aber für alleinstehende Frauen dar: Für diese Gruppe sind die finanziellen Konsequenzen härter und die sozialen Folgen (Verlust des Kontaktes zu Kollegen und Kolleginnen) bedrohlicher. Beide Aspekte machen die Bewältigung lang anhaltender Arbeitslosigkeit schwierig.
Zusammenfassend läßt sich der Schluß ziehen, daß Frauen hinsichtlich ihres erhöhten Risikos, arbeitslos zu werden, des damit verbundenen geringeren Anspruchs auf Ersatzleistungen (Verdienst, Steuerklasse, Nichterfüllung von Anwartschaftszeiten) und wegen der massiven Benachteiligungen bei der Stellensuche zu den am deutlichsten benachteiligten Gruppen auf dem Arbeitsmarkt gehören. Zugleich bilden sie die größte „Problemgruppe“ — was übrigens die Unangemessenheit dieses Begriffs verdeutlicht. Alleinstehende und noch mehr allein-erziehende Frauen sind besonders hoch belastet — was allerdings im Umkehrschluß nicht heißt, verheiratete Frauen hätten keine finanziellen Probleme. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, ob der Partner erwerbstätig oder auch arbeitslos ist. Gerade in diesem Punkt sind die Forschungsergebnisse überraschend: In einer Repräsentativbefragung wird festgestellt, daß bei Langfristarbeitslosen 13 Prozent einen ebenfalls arbeitslosen Ehepartner haben — „doppelt so viele wie bei rein zufälliger Verteilung zu erwarten gewesen wäre“ In Großbritannien wurde ebenso wie in der Bundesrepublik beobachtet, daß Frauen von Arbeitslosen weit seltener erwerbstätig waren als Frauen von erwerbstätigen Männern;, zudem ergaben sich Hinweise, daß viele Frauen erst dann wieder zu arbeiten begannen, wenn auch ihr Mann eine neue Stelle gefunden hatte -
Diese Beobachtung wirft ein weiteres Licht auf den Umstand, daß ein Teil der Frauen in der Arbeitslosigkeit im Vergleich zu Männern wohl nicht weniger, aber z. T. anderen und härteren Belastungen ausgesetzt ist.
III. Jugendliche
In der Öffentlichkeit wird Jugendarbeitslosigkeit traditionell mit Lehrstellenmangel in Zusammenhang gebracht — entsprechend denkt man an die Gruppe der etwa 15 — 20jährigen, die jugendlichen Lehrstellensucher eben. Dieser Blick zielt aber an der Realität der Jugendarbeitslosigkeit der letzten Jahre vorbei, und zwar aufgrund mehrerer Entwicklungen: — Seit Jahrzehnten gibt es einen Trend zum längeren Verbleib von Jugendlichen im Bildungswesen. Rund die Hälfte aller Bewerber um einen Ausbildungsplatz ist bereits 18 Jahre und älter; der Anteil der Erwerbstätigen an den unter 20jährigen ist von 1980 bis 1986 von 45 Prozent auf 39 Prozent, bei den 20-bis 24jährigen von Prozent -74 auf 71 Pro zent gefallen. Prognosen zufolge wird der Anteil jener Jugendlicher, die nur ihre Pflichtschulzeit absolvieren, bis 1990 auf etwa ein Drittel eines Jahrgangs absinken. — Obwohl seit 1975 die Arbeitslosenquote der 20-bis 24jährigen immer höher lag als die der unter 20jährigen wurden speziell für die letzteren in den siebziger Jahren vielfältige Maßnahmen eingerichtet, die die Jugendlichen „von der Straße bringen“ sollten („Warteschleifenfunktion“). Auf diese Weise ist es gelungen, die altersspezifische Arbeitslosenquote für die unter 25jährigen von 10, 7 Prozent im Jahre 1983 auf rd. acht Prozent in 1987 zu drücken. Damit hat die Bundesrepublik die geringste Jugendarbeitslosenquote in der EG. Zugleich ist aber, wie neuere Untersuchungen des IAB belegen, das Risiko, beim Übergang von der Ausbildung in die Beschäftigung (also an der sogenannten „Zweiten Schwelle “) arbeitslos zu werden, in den letzten Jahren noch gestiegen. — Im September 1987 waren ca. 479 000 Jugendliche unter 25 Jahren in der Bundesrepublik als arbeitslos registriert — davon entfielen aber lediglich 132 000 auf unter 20jährige. Die Arbeitslosenquote der 20-bis 24jährigen liegt seit Jahren höher als die allgemeine — etwa 17 Prozent der Arbeitslosen zählen zu dieser Altersgruppe Der Anteil der Langfristarbeitslosen unter den 20-bis 24jährigen hat sich zwischen 1975 und 1985 fast verdreifacht (1975: 5, 1 Prozent; 1985: 15, 2 Prozent). In absoluten Zahlen zeigt sich in diesem Zeitraum gar eine Versiebenfachung (1975: 8 753; 1985: 59 152).
Wird also deutlich, daß die Wahrnehmung dessen, was „Jugendarbeitslosigkeit“ ist. einer deutlichen Erweiterung bedarf, so zeigt sich darüber hinaus, daß es sich dabei um ein — wie Beywl sagt — „verschlepptes Leiden“ handelt: Das Durchschnittsalter der „jugendlichen“ Arbeitslosen wächst; die Berufseintrittsprobleme verlagern sich zunehmend an die „Zweite Schwelle“ Auch im Bereich der Jugendarbeitslosigkeit gibt es die bekannten Filter-prozesse: Weibliche und ausländische Jugendliche sind überdurchschnittlich betroffen; die Mehrzahl der jüngeren Arbeitslosen kommt aus Arbeiter-haushalten und kinderreichen Familien. Der Anteil der betroffenen Jugendlichen aus Angestellten-, Beamten-und Facharbeiterfamilien hat allerdings zugenommen
Jüngere Arbeitslose haben oft nicht lange genug gearbeitet, um einen längeren Anspruch auf Arbeitslosengeld erworben zu haben und kommen zudem meist aus niedrigen Verdienstgruppen. Deshalb sind Jugendliche i. d. R. finanziell deutlich schlechter abgesichert als Erwachsene und überdurchschnittlich auf Unterstützung durch die Eltern und auf Sozialhilfe angewiesen: Die Zahl der jugendlichen Sozialhilfeempfänger hat sich zwischen 1975 und 1984 fast vervierfacht. Entsprechend zeigt sich, daß Jugendliche zu allererst unter finanziellen Problemen leiden, „wobei Schuldzuweisungen und Vorwürfe der Eltern, vor allem aber die finanzielle Abhängigkeit vom Elternhaus eine wesentliche Rolle spielen“
Festzuhalten ist insgesamt, daß auch bei jüngeren Arbeitslosen ganz unterschiedliche Lebenssituationen anzutreffen sind: So waren in der letzten Repräsentativbefragung des IAB mehr als ein Fünftel der Befragten verheiratet; knapp 20 Prozent hatten mindestens ein Kind; etwa die Hälfte lebte noch bei den Eltern; ein Drittel zusammen mit einem Partner; elf Prozent allein und fünf Prozent in Heimen und Wohngemeinschaften Belastungen werden je nach dem Geschlecht unterschiedlich erlebt: Männliche Jugendliche erfahren sie — mit Ausnahme der sozialen Isolation — der Tendenz nach stärker als Mädchen und junge Frauen
Allgemein kann man für die Gruppe der jüngeren Arbeitslosen von einer Verunsicherung der Lebens-, Berufs-und Zeitperspektive ausgehen. Zwar zeigen sie sich von Zukunftsungewißheit, Gefühlen der Nutzlosigkeit und durch die Beschneidung der möglichen Aktivitäten und sozialen Kontakte etwa gleich hoch belastet wie Erwachsene — es gibt aber einen grundsätzlichen Unterschied: Instabilitäten in der Berufslaufbahn haben für diejenigen, die gerade am Anfang ihres Berufslebens stehen, andere und folgenreichere Wirkungen, als für jene, die nach zehn oder zwanzig Jahren aus einer stabilen Lebensphase in die Arbeitslosigkeit entlassen werden. Dabei gilt für die meisten jüngeren Arbeitslosen, daß ihre Arbeitslosigkeitsphasen im Vergleich zu den Erwachsenen zwar im Durchschnitt kürzer ausfallen, sie aber trotz ihrer erst kurzen Berufslaufbahn oft schon mehrfach arbeitslos gewesen sind. So waren fast 40 Prozent der von Schober befragten jüngeren Arbeitslosen zuvor schon einmal oder mehrmals arbeitslos gemeldet — wobei das Risiko wiederholter und länger andauernder Arbeitslosigkeit wieder überdurchschnittlich die Jugendlichen ohne Hauptschulabschluß und aus Arbeiterfamilien traf
Einen beträchtlichen Teil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Bundesrepublik trifft damit das. was ein amerikanischer Forscher die „floundering period“ genannt hat: „Als Verbum bedeutet , to flounder" zappeln, wie ein Fisch an der Leine, der sich rasch und ziellos bewegt.“ Diese Bewegung entspricht der. die Jugendliche auf dem Arbeitsmarkt zwischen Arbeit und Arbeitslosigkeit, kurzfristiger und informeller Beschäftigung. Nichtstun und Umschulung vollziehen müssen — langfristige Perspektiven, weitgesteckte Ziele und tragfähige Berufserfahrungen lassen sich so nicht erwerben
Bedeutsam ist. daß eine solche dauerhaft instabile Situation die bestehenden materiellen und sozialen Abhängigkeiten vom Elternhaus verlängert, obwohl die Jugendlichen sich entwicklungspsychologisch gerade in einer Phase der Ablösung befinden. Das Jugendalter gilt als kritische Phase der Persönlichkeitsentwicklung. in der — mit der allmählichen Ablösung von der Herkunftsfamilie — die Voraussetzungen für den Aufbau einer eigenständigen und stabilen Identität gelegt werden. Beruflicher Qualifizierung und Integration kommen in diesem Prozeß zentrale Funktionen zu; Selbstachtung, soziale Identität und Anerkennung hängen in modernenIndustriegesellschaften wesentlich von der beruflichen Tätigkeit und dem beruflichen Status ab — zugleich bilden sie erst die Basis für berufliches Engagement und Leistungsvermögen. Jugendarbeitslosigkeit blockiert diesen Prozeß der gesellschaftlichen Integration; in Grauzonen und beruflichen Wechselbädern finden die Jugendlichen keinen sozialen Ort, von dem aus sie perspektivisch sinnvoll handeln und sich dauerhaft orientieren können. Dabei wird man kaum entscheiden können. ob die langfristigen und tiefgreifenden gesellschaftlichen Auswirkungen durch die Ausgrenzung einer ganzen Bevölkerungsgruppe schwerer wiegen oder die individuell gefährdeten Entwicklungsprozesse: „Soziale Entwicklungsdefizite in Verbindung mit Ziellosigkeit und dem Verlust von Berufs-und Zukunftsperspektiven machen die davon Betroffenen zwangsläufig zu Problemgruppen von heute und zu Randgruppen von morgen.“
Der naheliegende Schluß, daß Jugendarbeitslosigkeit zu erhöhter Kriminalität führt, ist allerdings auf empirischer Basis allgemein nicht so schnell zu ziehen. Die vorliegenden Untersuchungen des Zusammenhangs zwischen Arbeitslosigkeit und Kriminalitätsgefährdung haben für die Bundesrepublik bisher keine eindeutigen Befunde erbracht Demgegenüber kommen verschiedene Studien zu dem Schluß, daß die Krise des Beschäftigungssystems mit einem Anstieg von Selbstmorden und Selbstmordversuchen insbesondere bei Jugendlichen verbunden ist Uneindeutig sind die Befunde zur Alkohol-und Drogengefährdung: Während allgemein von verstärkenden Wirkungen der Arbeitslosigkeit auf bereits bestehende Alkoholismusformen ausgegangen werden kann sind direkte Zusammenhänge zwischen Arbeitslosigkeit und Alkohol-und Drogenkonsum zumindest im Rahmen von Repräsentativstudien nicht zu belegen
Die Reaktionsformen der betroffenen jüngeren Arbeitslosen liegen also offenbar weniger in Ausbruchsversuchen aus einer zukunftslosen und grauen Realität als vielmehr in dem Versuch, trotz ihrer prekären Arbeitsmarktsituation doch noch eine Chance zu bekommen. Dieser Versuch ist aber mit einem fatalistischen Realismus gepaart: Die Erwartung, einmal arbeitslos zu werden, ist bei vielen Schülern und Auszubildenden gleichsam schon in die Biographie eingebaut. Dies stellt zum einen eine Art bewußter „Immunisierungsstrategie“ dar (Schober), die gegen den tatsächlichen Eintritt der Arbeitslosigkeit weniger verwundbar machen soll, führt aber auch dazu, daß bereits in der Ausbildung in der Schule und auch im Betrieb „Prozesse der psychischen Destabilisierung. Depressivität und Resignation einsetzen“, so daß sich die Folgen von Arbeitslosigkeit regelrecht vorverlagern. „Desgleichen wird auch die Wiederaufnahme einer Ausbildung oder Beschäftigung nicht gleich als Lösung des Problems gesehen, sondern auch hier bleibt Skepsis und eine eher resignative Haltung gegenüber der weiteren beruflichen Zukunft als Immunisierung gegen künftige Fehlschläge bestehen.“
Zusammenfassend läßt sich zum Problem der Jugendarbeitslosigkeit sagen, — daß die älteren Jugendlichen so etwas wie eine vergessene Gruppe des Arbeitsmarkts darstellen: Während der allmähliche Abbau des Lehrstellen-mangels in der Öffentlichkeit begrüßt wird, tragen manche jüngere Arbeitslose ihre mit steigendem Alter schwieriger werdende Situation inzwischen bis ins dritte Lebensjahrzehnt; — daß alle Bereitschaft der Jugendlichen, auf nicht gewünschte Ausbildungsfelder umzusteigen, nichts daran ändert, daß ihnen an der zweiten Schwelle wiederum Arbeitslosigkeit droht; — daß die soziale Absicherung für jüngere Arbeitslose im Zusammenhang mit der weiteren Etablierung kurzfristiger Beschäftigungsverhältnisse zunehmend problematischer wird und — daß die langfristigen Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung und für die berufliche Identität einer großen Bevölkerungsgruppe und deren gesamtgesellschaftliche Wirkungen heute noch kaum abschätzbar sind, auch wenn der von den Jugendlichen selbst gezeigte „resignative Realismus“ die Brisanz dieses Problems noch verdecken mag.
IV. Ältere
Der Anteil der über 55jährigen an der Gesamtzahl der Arbeitslosen lag im September 1987 bei 13 Prozent. Im Vergleich zu den Rezessionsjahren 1966/67 und der Zeit danach, als der Anteil der Älteren zwischen 30 und 50 Prozent schwankte, bedeutet dies eine deutliche Verringerung der relativen Betroffenheit dieser Gruppe Hierin schlägt sich neben der Schaffung und Nutzung von Möglichkeiten des vorzeitigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben (das durchschnittliche Verrentungsalter liegt heute zwischen dem 57. und 58. Lebensjahr) auch der verstärkte Eintritt jüngerer Altersgruppen in die Arbeitslosigkeit nieder.
Angesichts des Umstands, daß ältere Arbeitslose finanziell relativ gut abgesichert sind (wobei dies für Frauen nur eingeschränkt gilt) und daß ihnen mit dem Status des Rentners eine mehr oder minder akzeptable gesellschaftliche Rolle offeriert wird, könnte vermutet werden, daß die psychosozialen Belastungen bei ihnen weniger schwer wiegen. Zugleich muß aber gesehen werden, daß Ältere im Durchschnitt länger arbeitslos bleiben und einen schlechteren Gesundheitszustand aufweisen als Jüngere, so daß Arbeitslosigkeit für sie oft den Beginn des Ausstiegs aus dem Erwerbsleben bedeutet
Mehr als die Hälfte der über 45jährigen Arbeitslosen haben gesundheitliche Probleme, und gerade die Kumulation der („Negativ-“) Merkmale , Alter 4 und . gesundheitliche Einschränkung 4 sorgt dafür, daß sich die Chancen, einen neuen Arbeitsplatz zu finden, mit zunehmendem Alter drastisch verringern. „und zwar schon ab einem Alter von 35 Jahren. mit stärkeren Sprüngen (nach unten) bei 50. 55 und 60 Jahren“ Damit reicht die Phase des (arbeitsmarktbezogenen) Alters weit in das mittlere Erwachsenenalter hinein, ohne daß freilich für diese Gruppen vorzeitige Verrentungsmöglichkeiten o. ä. schon greifen könnten. Hier liegt dann weder die Chance auf eine Alternativrolle vor. noch kann — besonders bei den Langfristarbeitslosen — von ausreichender finanzieller Absicherung die Rede sein. So stellen Altersforscher auch fest, daß Angehörige dieser Gruppen ihre Situation nur schlecht verkraften. Die „Zwitter-Rolle zwischen der Arbeit und dem echten . Ruhestand 4 führt zu einem deutlichen Statusverlust, der von Diskrimi-nierungen zusätzlich belastet sein kann . . . Dies macht sich insbesondere an der Forderung des Arbeitsamtes nach Offenlegung der Einkommensverhältnisse der Kinder fest, sofern Arbeitslosenhilfe bezogen wird. Zu den massivsten Problemen zählt ein unzureichendes, stark reduziertes Einkommen. Gefühle der Scham und des Versagens mobilisieren Strategien der Vertuschung, des Wahrens des Scheins nach außen — wobei sich das Konfliktpotential in der sich abkapselnden Familie tendenziell erhöht.“
Diesen „jüngeren Alten“ entstehen drei zentrale Probleme: Erstens sind sie, wenn sie ihren Lebensstandard halten wollen, aus finanziellen Gründen dringend darauf angewiesen, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Die intensive und oft vergebliche Arbeitssuche verstärkt zweitens das Gefühl, plötzlich und unerwartet zum „alten Eisen“ zu gehören, und drittens erscheint die persönliche Lebensperspektive drastisch verkürzt: Die Zukunft ist nicht mehr unbeschränkt offen; früher getroffene Entscheidungen lassen sich kaum noch korrigieren — all das, was man eigentlich noch hätte machen wollen, erscheint plötzlich verstellt, als verpaßte Chance. Damit ergibt sich eine Problemkonstellation. die zusammen mit den objektiv geringen Arbeitsmarktchancen eine positive Bewältigung der Arbeitslosigkeit eher unwahrscheinlich macht. Die beiden Repräsentativbefragungen des IAB verzeichnen denn auch für die Gruppe der 45-bis unter 55jährigen vergleichsweise hohe psychosoziale Belastungen
Dabei wird das auch in anderen Gruppen anzutreffende Belastungsmuster durch Probleme des Älterwerdens, durch Versagergefühle und durch Resignation noch verstärkt. So konnte in einer Untersuchung. in der im Abstand von eineinhalb Jahren über 45jährige. bei der Erstbefragung erwerbslose Arbeiter befragt wurden, zum zweiten Zeitpunkt bei den arbeitslos Gebliebenen eine deutlich erhöhte Depressivität verzeichnet werden. Die Verschlechterung der Stimmungslage wurde durch die finanziellen Nöte merklich beeinflußt
Psychologisch wirkt sich die Diskrepanz zwischen dem eigenen Selbstbild, das in einem langen Berufsleben durch Fertigkeiten. Erfahrung. Lei- stungsfähigkeit und Kollegialität aufgebaut wurde, und der abrupten Zurückweisung der Anwendung dieser Fähigkeiten besonders belastend aus. Dabei ist zu betonen, daß diese Problemkonstellation vorwiegend für die männlichen älteren Arbeitslosen gilt — über die älteren weiblichen Arbeitslosen ist einstweilen noch wenig bekannt. Die vorliegenden Daten lassen jedoch erkennen, daß bei älteren Frauen das Risiko, arbeitslos zu werden und auch zu bleiben, gegenüber den Männern nochmals erhöht ist; mehr als die Hälfte der über 50jährigen Frauen beendet allerdings ihr Arbeitsverhältnis durch eigene Kündigung Gerade bei dieser Gruppe wird deutlich, daß ihre Situation mit den üblichen Instrumenten der Arbeitsmarktforschung kaum zu erfassen ist — offizielle Zahlen zeichnen hier ein weitgehend falsches Bild: „Zu berücksichtigen ist nämlich u. a., daß ein Großteil Frauen aufgrund der z. Z. nahezu aussichtslosen Einstellungschancen gar nicht erst den Weg zu den Arbeitsäm-tern nimmt, daß ein erheblicher Teil zumeist verheirateter Frauen aufgrund fehlender Ansprüche auf Leistungen des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) von sich aus auf eine Registrierung bei den Arbeitsämtern verzichtet, und daß eine weitere größere Gruppe nach längerer erfolgloser Suche nach einem Arbeitsplatz mit 60 Jahren oder über Erwerbsunfähigkeits-Verrentung u. U. noch früher in die Rente abgeht", wie es amtsoffiziell heißt.“
Wie ältere Frauen ihre Arbeitslosigkeit erleben, hängt in erster Linie von ihrem Familienstand, ihrer gesundheitlichen Verfassung und ihrer finanziellen Situation ab. Soweit sie hoch belastende und schlecht bezahlte Arbeitsplätze innehatten, dürfte — wie auch der hohe Anteil an Eigenkündigungen nahelegt — der Verlust der Arbeit als solcher gegenüber gesundheitlichen oder materiellen Problemen nachrangig sein.
V. Familien
Im Unterschied zur Arbeitslosenforschung der dreißiger Jahre haben in der neueren Forschung die Folgen der Arbeitslosigkeit für die mitbetroffenen Familienmitglieder noch wenig Aufmerksamkeit gefunden. Die meisten der gegenwärtig vorliegenden. Studien basieren auf kleinen Stichproben und stützen sich auf qualitative Interviews. So weist denn auch ein im Auftrag des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit erstelltes Gutachten aus dem Jahre 1984 auf erhebliche Forschungslücken in diesem Bereich hin: Der Arbeitslose — so die Autoren — wird „zumeist als ein von seinem sozialen Kontext losgelöstes Individuum betrachtet, an dem allein Merkmale interessieren, die — wie Alter, Geschlecht. Beruf, Qualifikation, gesundheitliche Einschränkungen. Dauer der Arbeitslosigkeit usw. — für die jeweiligen Vermittlungschancen relevant sind. Die Familiensituation bleibt dabei weitgehend außer Betracht.“
Ein solcher Befund ist besonders bedrückend, weil die Weltgesundheitsorganisation bei ca. 31 Millionen registrierten Arbeitslosen in den OECD-Ländern die tatsächliche Betroffenenzahl einschließlich der Familienmitglieder auf rund 150 Millionen Menschen beziffert. In der Bundesrepublik waren im Herbst 1987 etwas über eine Million der registrierten Arbeitslosen verheiratet. Zwei Drittel aller deutschen Arbeitslosen (25 Jahre und älter) leben mit einem (Ehe-) Partner zusammen; „ 37 Prozent haben Kinder unter 14 Jahren, 45 Prozent Kinder unter 18 Jahren bzw. 51 Prozent Kinder ohne Altersgrenze im Haushalt“
Hinter diesen Zahlen verbergen sich höchst unterschiedliche Lebenslagen, so daß sich Aussagen über die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit auf die Familien verbieten. Je nach der beruflichen Gesamtsituation (beide Partner arbeitslos, ein Partner erwerbstätig. Höhe der Qualifikation usw.), dem Familienstand (vollständige Familie, Alleinerziehende), dem Alter und der Zahl der Kinder, der Dauer der Arbeitslosigkeit usf. ergeben sich ganz unterschiedliche Ausgangsbedingungen für den Versuch, mit der Situation der Arbeitslosigkeit umzugehen und die mit den veränderten Lebensumständen verbundenen Belastungen zu bewältigen.
Geht man von der durch Studien belegten Beobachtung aus, daß Verheiratete im Vergleich zu Allein-stehenden in der Regel eine stabilere psychische Verfassung und bessere psychische Befindlichkeit aufweisen, dann läßt sich begründet annehmen, daß in einigermaßen intakten Familien die mit Arbeitslosigkeit verbundenen Belastungen zeitweilig „abgepuffert“ werden können und die Familie wie ein „soziales Immunsystem“ wirkt. Dieser Effekt ist allerdings geschlechtsspezifisch gebrochen: Während arbeitslose verheiratete Frauen im Vergleich zu anderen Gruppen in Repräsentativstudien die geringsten Belastungswerte aufweisen, geben arbeitslose verheiratete Männer vergleichsweise hohe Belastungen an. Entlastungen durch die Partnerschaft (Verständnis. Ermutigung u. ä.) können also z. B. durch erhöhte Schuldgefühle gegenüber Partner und Kindern, durch Ehekrisen und Störungen des gewohnten Familienrhythmus konterkariert werden.
Dabei wird die Erfahrung der Arbeitslosigkeit durch das Vorhandensein und das Alter von Kindern mitgeprägt. Arbeitslose Mütter mit Kindern unter 14 Jahren gaben in einer Studie mehrheitlich an. sich nicht „überflüssig“ vorzukommen, während die arbeitslosen Väter zu 76 Prozent stark wegen einer neuen Stelle beunruhigt waren So mindert das Vorhandensein von Kindern Gefühle der Unzufriedenheit und Nutzlosigkeit, kann aber zugleich auch Belastungen infolge der höheren Verantwortung und Zukunftsunsicherheit erzeugen Als wesentliche Steuergröße scheint sich hier wiederum die materielle Situation auszuwirken. „Sehr große finanzielle Belastungen“ wurden nach Erhebungen des IAB in folgendem Umfang angegeben: 61 Prozent der alleinstehenden Frauen mit Kindern unter 14 Jahren.
58 Prozent der verheirateten Männer mit Kindern. Prozent der verheirateten Männer ohne Kinder.
23 Prozent der verheirateten Frauen mit Kindern. 17 Prozent der verheirateten Frauen ohne Kinder 52).
Die größten finanziellen Belastungen mit entsprechenden Rückwirkungen auf die psychosoziale Befindlichkeit ergeben sich bei langfristiger Erwerbslosigkeit somit Prozent der verheirateten Männer mit Kindern. 52 Prozent der verheirateten Männer ohne Kinder.
23 Prozent der verheirateten Frauen mit Kindern. 17 Prozent der verheirateten Frauen ohne Kinder 52).
Die größten finanziellen Belastungen mit entsprechenden Rückwirkungen auf die psychosoziale Befindlichkeit ergeben sich bei langfristiger Erwerbslosigkeit somit für alleinerziehende Mütter und für Familienväter. Daß die Absicherung arbeitsloser Familien weitgehend unzureichend ist. ergibt sich auch daraus, daß die Zahl der Haushalte, die Sozialhilfe mit dem Hauptgrund „Verlust des Arbeitsplatzes“ beziehen, sich zwischen 1980 und 1984 fast vervierfacht hat 53). Eine Befragung in Baden-Württemberg ergab, daß unter den Arbeitslosen, die in Beratungsstellen der Wohlfahrtsverbände Hilfe suchten. 65 Prozent so hohe Schulden haften. daß diese nur durch einen Umschuldungsplan aufgefangen werden konnten 54).
Psychologische Studien haben sich vor allem mit Familien befaßt, in denen der Vater arbeitslos ist.
Nahezu alle Forscher berichten über eine Abschottung der betroffenen Familien nach außen — teils, weil die Väter sich in die Familie zurückziehen, teils aus gemeinsamer Angst vor Diskriminierung. Häufig kommt es zu deutlichen Verschiebungen in der familiären Arbeitsteilung — die Frau übernimmt Aufgaben, die bisher dem Vater als Hauptverdiener und Familienernährer zukamen, z. B. die Regelung finanzieller Angelegenheiten und die Entscheidung familiärer Fragen 55). In der Mehrzahl der Fälle erweisen sich zugleich die gewohnten Strukturen — etwa bei der Verteilung der Hausarbeit — als so starr, daß Veränderungsversuche und Veränderungen zu massiven Konflikten zwischen den Partnern führen 56). Wenn bei den Männern die Bereitschaft entsteht, sich mehr um Haushalt und Kinder zu kümmern, handelt es sich meist nur um eine zeitweilige Konzession — perspektivisch bleibt die Ausrichtung auf außerhäusliche Arbeit bestehen. Der Frau fällt die Aufgabe zu, ihren Mann emotional aufzufangen und zu stabilisieren. Die Bedrohung der väterlichen Autorität, wie sie in der Forschungsliteratur der dreißiger Jahre reichhaltig dokumentiert ist, dürfte auch heute noch für Komplikationen im Familienalltag sorgen 57).
Hauptanlässe für Familienstreitigkeiten ergeben sich insbesondere aus dem eingeschränkten finanziellen Spielraum, der täglich aufs neue Verhandlungen über unbedingt notwendige oder vermeidbare Ausgaben erfordert. Auch die Ausdehnung der gemeinsam verbrachten Zeit, die die gewohnten Aufgaben-und Rollenverteilungen untergräbt, führt zu Konflikten. Schon die Wohnungen sind meist auf die Abwesenheit des Hauptverdieners hin konzipiert: hält dieser sich jetzt fast ausschließlich daheim auf. ist er oft einfach „im Wege“, stört die lange eingespielten Hausarbeitsprozesse und findet für sich selbst auch keinen Rückzugsort. Die Partner verbringen zuviel Zeit miteinander und verlieren mit den außerhäuslichen Erfahrungsbereichen auch die Gesprächsthemen: mehr und mehr entwikkelt sich „innere Distanz bei äußerer Nähe“ 58).
Ob und wie die Familien mit der Arbeitslosigkeit und den genannten Problemlagen fertig werden, hängt nach allen vorliegenden Untersuchungen ent- scheidend davon ab. wie gut die Beziehungen in der Familie vor der Arbeitslosigkeit waren. In diesem Sinne scheint Arbeitslosigkeit keine völlig neue Situation zu schaffen, sondern schon vorhandene Beziehungsmuster zu verstärken und zu polarisieren. So kann sich für eine Minderheit unter den betroffenen Familien das Zusammenleben auch verbessern — in jungen Familien mit Kleinkindern etwa kann die größere Mithilfemöglichkeit des Mannes als Entlastung, die Nähe zu den aufwachsenden Kindern positiv erlebt werden, vorher schon flexibel aufeinander eingestellte Paare können in der Arbeitslosigkeit emotional noch näher zusammenrücken.
Solche Effekte sind aber relativ selten und oft wenig stabil. Mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit werden die Verteilungskämpfe um das Haushaltsbudget härter; die Angst vor weiterem sozialen Abstieg und die zunehmende Abhängigkeit von den Sozialbehörden belasten das Familienklima, führen zu Schuldzuweisungen an den arbeitslosen Partner und in manchen Fällen zum Auseinanderbrechen der Familien — wobei nicht selten nur die hohen Kosten eine Scheidung verhindern.
Insgesamt folgenden Faktoren begünstigen die einen weniger krisenhaften Verlauf des Umgangs mit der väterlichen Arbeitslosigkeit: — finanzielle Rücklagen, die den Einkommensverlust zunächst abfedern;
— das Bestehen von Familiensolidarität und -zusammenhalt vor Eintritt der Arbeitslosigkeit;
— flexible Rollendefinitionen von Mann und Frau;
— emotionale und auch materielle Unterstützung durch Freunde, Verwandte und/oder Nachbarn; — eine nicht ausschließliche Berufsorientierung des Vaters; — ein gemeinsames Vertrauen, daß man die Situation bewältigen wird; — ausbleibende Schuldzuweisungen; — die Befähigung zur eigenständigen Zeitstrukturierung und -Verwendung.
Da diese Faktoren in der Regel nicht gebündelt vorliegen und sich im Verlauf der Arbeitslosigkeit verändern und sogar umkehren können, dürften insgesamt günstige Verläufe eher selten anzutreffen sein. Nach aller Erfahrung ist auch davon auszugehen, daß Arbeitslosigkeit sich besonders für die Kinder belastend auswirkt. Nach vorliegenden Berechnungen hatten im Herbst 1984 ca. elf Prozent aller Kinder in der Bundesrepublik einen arbeitslosen Vater oder eine arbeitslose Mutter. Insgesamt lebten rund 1, 3 Millionen Kinder in Arbeitslosen-haushalten;knapp 381 000 waren unter sechs Jahre alt. Als Trend zeichnete sich schon damals ab, daß Langzeitarbeitslose für überdurchschnittlich große Familien sorgen und sich zugleich mit den geringsten Versorgungsleistungen zufrieden geben müssen
Solange die Familien einigermaßen intakt sind, wird versucht, insbesondere die jüngeren Kinder nichts von der veränderten Lebenssituation spüren zu lassen — die Eltern sparen an Ausgaben für sich selbst, um wenigstens die Kinder nicht einem zu großen sozialen Druck (Kleidung. Beteiligung an Klassenfahrten etc.) auszusetzen. In einer Repräsentativbefragung des IAB gaben 42 Prozent der längerfristig Arbeitslosen mit Kindern unter 14 Jahren an. daß die Kinder unter der Arbeitslosigkeit zu leiden hätten — wobei zu bedenken ist, daß die Eltern in ihrer ohnehin schwierigen Situation vermutlich dazu neigen, die Probleme zu verharmlosen.
Wo sich die Konflikte zwischen den Partnern zuspitzen. sind die Kinder in der Gefahr, entweder zu Komplizen oder zu Opfern im täglichen Machtkampf der Eltern zu werden. Kinder werden somit fast zwangsläufig in ihrer seelischen und sozialen Entwicklung beeinträchtigt. Die Kinder sind — wie es in einer Studie über Problemfamilien heißt — „das schwächste Glied in der Kette der Betroffenen“: „Das materielle Elend, . . . die Hilflosigkeit und Ohnmacht der Eltern, die Lage der Familie wirkungsvoll zu verbessern, der häufige Griff zum Alkohol. Krankheit der Eltern, eine hohe Reizbarkeit der Ehepartner und andere psycho-physische Probleme zeigen mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit ihre zerstörerische Wirkung. Die Eltern haben weniger Zeit und Sensibilität für die Belange ihrer Kinder. Oder sie unterwerfen ihre Kinder einer permanenten Kontrolle und Bevormundung.“
Mitarbeiter von Wohlfahrtsverbänden, die in dieser Studie befragt wurden, nannten an Symptomen, die ihnen an den Kindern vor allem auffielen: Entmutigung und Resignation. Angst vor der Zukunft, soziale Isolation, psychosomatische Allgemeinstörungen wie z. B. geringe Belastbarkeit, Nervosität. Schlafstörungen und Ängste. Verschlechterung der Schulleistungen und Verhaltensstörungen. Auch wenn diese Beobachtungen keineswegs repräsentativ sind, so ist nicht zu übersehen, daß Kinder unter der Arbeitslosigkeit in ihrer Familie und besonders unter Dauerarbeitslosigkeit vielfältig leiden und in ihrer Entwicklung gefährdet sind. Für einen Teil der Eltern, die die Unsicherheit ihrer eigenen beruflichen Existenz erfahren, kommt der oftmals verhängnisvolle Wunsch hinzu, den Kindern um jeden Preis ein „ArbeitslosenSchicksal“ ersparen zu wollen. In den Worten einer betroffenen Mutter: „Man überfordert die Kinder ja auch leicht, weil man sagt: Du mußt mehr bringen, möglichst immer mehr bringen als die anderen . . . Weil man ja weiß, je mehr Bildung du hast, je mehr Chancen hast du, wenigstens erst einmal weiterzukommen . . . Und deshalb stellt man auch so früh schon Anforderungen. In dem Sinne jedenfalls. Während man sie im Grunde genommen durch die Arbeitslosigkeit unselbständig macht. Man möchte ihnen alles Mögliche abnehmen. Man räumt das Zimmer auf, man wischt Staub — normalerweise können sie alles sowas allein machen. Aber man hat ja sowieso Zeit genug, also machst du es, damit du überhaupt was zu tun hast.“
VI. Die individuelle und gesellschaftliche Dynamik der Arbeitslosigkeit
Die wirklichen Folgen der Arbeitslosigkeit sind heute öffentlich kaum sichtbar: keine Schlangen vor den Arbeitsämtern, keine „Sandwichmänner“ auf Arbeitssuche. Armenküchen nur in einigen Städten — und die Zahlen der Bundesanstalt allein vermögen bei Nicht-Betroffenen auch nicht viel mehr als ein Achselzucken zu erwecken.
Wir haben — soweit die Forschungslage in der Bundesrepublik es zuläßt — einige Auswirkungen der Arbeitslosigkeit auf besonders betroffene Gruppen beschrieben. Dabei ist es wichtig, festzuhalten. daß es diese Gruppen nicht nur besonders schwer haben, wenn sie arbeitslos sind, sondern daß sie als „Problemgruppen des Arbeitsmarktes“ auch viel wahrscheinlicher als andere arbeitslos werden und bleiben. Auch hinsichtlich der Möglichkeiten. Gegenwehr zu leisten, auf sich aufmerksam zu machen. sind sie benachteiligt: Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist bei ihnen allen aus verschiedenen Gründen gering; ihr „Desorganisationspotential“. also ihre Möglichkeit, mit kollektiven Aktionen und Verweigerungen Aufmerksamkeit auf ihre Lage zu ziehen, ist verschwindend klein; die Möglichkeit, gemeinsame Interessen zu formulieren. ist angesichts der ganz unterschiedlichen Interessenlage von Frauen. Jugendlichen, Älteren. Ausländern und Behinderten verstellt.
So bleibt Arbeitslosigkeit für die Öffentlichkeit weiterhin vor allem nur ein statistisches Problem, das eher Ratlosigkeit als Betroffenheit erzeugt — Arbeitslosigkeit als ein eher zufälliges Schicksal, dem man nach dem St. Florians-Prinzip möglichst entgeht. Der Versuch, wenigstens einige Erscheinungsweisen und Folgen von Arbeitslosigkeit sichtbar zu machen, zeigt indes, daß arbeitslos zu werden nicht einfach ein Ereignis ist, das einen trifft wie ein Unfall, dessen Schaden beseitigt ist, wenn man wieder Arbeit findet, sondern daß es ein Prozeß ist.
der schon vor der Arbeitslosigkeit beginnt und sich in der Situation erst entfaltet; und der sogar, wie die „Immunisierungsstrategien“ bei Jugendlichen zeigen, schon vor oder neben der wirklich eingetretenen Arbeitslosigkeit wirksam werden kann. Besonders die Lage der jugendlichen Arbeitslosen und die der Kinder aus arbeitslosen Familien verdeutlicht, daß Arbeitslosigkeit eine lang wirkende negative Dynamik bewirkt, die von den Betroffenen allein nicht aufzufangen ist. Es zeigt sich ferner, daß die Entwicklung einer „Normalbiographie“, klar gegliedert in Vorbereitungs-, Aktivitäts-und Ruhe-phase. für einen erheblichen Teil der Bevölkerung kaum mehr gegeben ist. „Normale“ und gesellschaftlich auch normierte Entwicklungsverläufe verschwimmen — jungen Erwachsenen werden Möglichkeiten vorenthalten. die eigene Zukunft zu planen, sich vom Elternhaus zu lösen, eine eigene Familie zu gründen; erwachsene Arbeitslose werden trotz Qualifikation und Leistungsbereitschaft aus dem Arbeitsprozeß ausgegliedert, zum Nichtstun gezwungen, ihrer Familie (und die Familie ihnen) ausgeliefert.
Ali Wacker, Dr. phil., geb. 1942; Professor für Sozialpsychologie an der Universität Hannover. Veröffentlichungen u. a.: Arbeitslosigkeit — soziale und psychische Folgen, Frankfurt 19833; (Hrsg. zus. mit Thomas Kieselbach) Individuelle und gesellschaftliche Kosten der Massenarbeitslosigkeit, Weinheim 1987 . Hubert Heinelt, Dr. phil., geb. 1952; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft an der Universität Hannover. Veröffentlichung: Großstadt und Arbeitslosigkeit — das Beispiel Hannover, Opladen 1987. Harald Welzer. geb. 1958. M. A.; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Psychologischen Institut der Universität Hannover. Veröffentlichungen u. a.: Arbeitslosigkeit und Berufsanfang als Transition, in: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, (1988) 3; (zus. mit Ali Wacker) Ausgrenzung und Interesse — Zur politischen Psychologie der Massenarbeitslosigkeit. in: Helmut König (Hrsg.), Politische Psychologie heute, Opladen 1988.
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