15 Jahre Massenarbeitslosigkeit —. Aspekte einer Halbzeitbilanz
Jürgen Kühl
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Zusammenfassung
Nach 15 Jahren Massenarbeitslosigkeit wird angesichts einer noch einmal so lange dauernden Unterbeschäftigung eine Halbzeitbilanz gezogen. Selbst wenn jeweils rd. 70 Prozent der Zu-und Abgänge zur bzw. aus der Arbeitslosigkeit aus der Beschäftigung kommen und dorthin zurückführen, sinkt das Niveau der Arbeitslosigkeit nicht, solange die Beschäftigung weniger steigt als das Erwerbspersonenpotential. Die Bundesanstalt für Arbeit ist maßgeblich in die Arbeitsmarktbewegungen eingeschaltet, jedoch allein nicht zuständig und instrumentell wie finanziell nicht in der Lage, das Beschäftigungsdefizit von zwei bis drei Millionen Arbeitsplätzen und seine ungleiche regionale Verteilung zu überwinden. Die gesamtfiskalischen Kosten der Arbeitslosigkeit von derzeit 59 Milliarden DM pro Jahr werden nicht dazu verwendet, Investitionen und Beschäftigung in privaten und öffentlichen Aufgaben zu erhöhen. Die Arbeitsmarktmechanik, die soziale Sicherung und die zunehmend auf steigende Langzeitarbeitslosigkeit konzentrierte Arbeitsmarktpolitik bewirken mit anderen Stabilisierungsfaktoren, daß das massenhaft individuelle Schicksal der Arbeitslosigkeit selbst bei noch steigendem Niveau weder den sozialen Frieden, noch den Produktionsstandort Bundesrepublik, noch die politische Ordnung so bedrohen, daß unverzüglich die wirksamen und finanzierbaren Maßnahmebündel eingesetzt werden, um rasch wieder Vollbeschäftigung zu haben.
Die aktualisierte Arbeitsmarktbilanz des Instituts für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung (IAB) der Bundesanstalt für Arbeit (BA) belegt bis zum Jahr 2000 selbst bei recht optimistischen Annahmen für das Potential und den Bedarf an Arbeitskräften (mittlere Varianten) die Fortdauer fehlender Vollbeschäftigung (s. Abbildung)
Nachdem ein hoher Beschäftigungsstand trotz gegenteiligen Gesetzesauftrages im Stabilitäts-und Wachstumsgesetz und im Arbeitsförderungsgesetz (AFG) nach 1973 verloren ging, verlangen 15 Jahre ununterbrochener Massenarbeitslosigkeit eine Halbzeitbilanz. Sie wird nachstehend mit einigen Kernfragen gezogen. 1. Warum sinkt das Niveau der Arbeitslosigkeit trotz hoher Arbeitsmarktdynamik nicht?
Abbildung 2
Tabelle 1: Zur Entwicklung der Arbeitslosigkeit
Quelle: Amtliche Nachrichten der BA, Nr. 5, 1988. S. 726.
Tabelle 1: Zur Entwicklung der Arbeitslosigkeit
Quelle: Amtliche Nachrichten der BA, Nr. 5, 1988. S. 726.
Seit 1983 verharrt der Arbeitslosenbestand nun schon im sechsten Jahr ununterbrochen zwischen 2 und 2, 3 Mio. im Jahresdurchschnitt 2). Jüngste Prognosen sehen für 1989 leicht steigende Arbeitslosenzahlen. Mittelfristige Projektionen bis zum Jahr 2000 stellen die Gefahr anhaltend hoher Arbeitslosigkeit heraus. Dieses unerträglich hohe, tendenziell eher noch steigende Niveau stets vor Augen, hat die moderne Arbeitsmarktforschung auf die jährlichen Zugänge zur und Abgänge aus der Arbeitslosigkeit abgestellt, die jeweils 3, 6 bis 3, 7 Mio. im Verlauf eines jeden Jahres ausmachen. Tabelle 1 verdeutlicht diesen millionenfachen . Umschlag 1 bei einem nahezu konstanten Arbeitslosen-bestand und einer ebenfalls fast unveränderten Arbeitslosenquote von 9%.
Abbildung 3
Tabelle 2: Einmündung von Arbeitslosen in Arbeit
Quelle: Amtliche Nachrichten der BA. Nr. 5, 1988. S. 779 und S. 755.
Tabelle 2: Einmündung von Arbeitslosen in Arbeit
Quelle: Amtliche Nachrichten der BA. Nr. 5, 1988. S. 779 und S. 755.
Die Tabelle zeigt, daß das gesamtwirtschaftliche Beschäftigungsdefizit bei immer noch steigendem Arbeitskräftepotential nicht starr auf einen Block von Arbeitslosen entfällt, sondern jährlich millionenfach neu verteilt wird. Das Risiko, arbeitslos zu werden, betrifft freilich die Beschäftigtengruppen, Branchen, Betriebsgrößen und Regionen in sehr ungleicher Weise.
Abbildung 4
Tabelle 3: Zur Entwicklung des Einschaltungsgrads, des Ausschöpfungsgrads und des Marktanteils der Arbeitsämter
Quelle: Amtliche Nachrichten der BA Nr. 5. 1988, S. 778.
Tabelle 3: Zur Entwicklung des Einschaltungsgrads, des Ausschöpfungsgrads und des Marktanteils der Arbeitsämter
Quelle: Amtliche Nachrichten der BA Nr. 5. 1988, S. 778.
Im Laufe des Jahres 1987 haben in 3 726 460 Fällen Menschen beim Arbeitsamt dargetan, daß sie arbeitslos sind und der Arbeitsvermittlung für zumutbare Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Seit Verlust der Vollbeschäftigung nach 1973 haben bis heute etwa 16 Mio. Menschen diese Erfahrung gemacht, viele sogar mehrmals, nicht wenige wiederholt innerhalb eines Jahres.
Abbildung 5
Tabelle 4: Erwerbspersonen, die durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen nach dem AFG gefördert wurden
Quelle: Amtliche Nachrichten der BA, Nr. 5, 1988, S. 727.
Tabelle 4: Erwerbspersonen, die durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen nach dem AFG gefördert wurden
Quelle: Amtliche Nachrichten der BA, Nr. 5, 1988, S. 727.
Woher kommen diese 3, 7 Mio. Zugänge zur Arbeitslosigkeit? — Gut 2, 6 Mio., also 70% von ihnen, waren vorher erwerbstätig; — 147 300 waren vorher in einer betrieblichen Ausbildung, also 4%; — 232 500 befanden sich zuvor in einer schulischen Ausbildung, also 6, 2%; — 369 300 Arbeitslose (Bestand Ende September 1987, also nicht voll vergleichbar) hatten zuvor eine Beschäftigung länger als ein halbes Jahr unterbrochen, 300 000 von ihnen wollen ins Erwerbsleben zurück; — die zahlreichen Aussiedler und Übersiedler werden als Arbeitslose der Gruppe der zuvor nicht Erwerbstätigen zugeordnet, egal, ob sie früher gearbeitet haben oder nicht; — 136 300 Arbeitslose haben noch nicht gearbeitet, aber die Schule vor mehr als sechs Monaten verlassen, suchen also als Berufsanfänger Arbeit; — auch in der verbleibenden Gruppe dürften sich vergleichsweise wenige befinden, die noch nie gearbeitet haben.
Abbildung 6
Arbeitslosengeld - Arbeitslosenhilfe Männer - Frauen
Arbeitslosengeld - Arbeitslosenhilfe Männer - Frauen
Die große Masse der jährlichen Neuzugänge zur Arbeitslosigkeit kommt also aus einem Arbeitsverhältnis, hat sich in betrieblicher oder schulischer Ausbildung darauf vorbereitet oder hatte das Berufsleben längere Zeit lediglich unterbrochen. 2. Wer hat das frühere Beschäftigungsverhältnis beendet?
Abbildung 7
Tabelle 5: Entlastung des Arbeitsmarkts durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit 1984 bis 1988
Quelle: Bundesanstalt für Arbeit, eigene Berechnungen; Entnommen aus: MittAB, (1987) 3, S. 273.
Tabelle 5: Entlastung des Arbeitsmarkts durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit 1984 bis 1988
Quelle: Bundesanstalt für Arbeit, eigene Berechnungen; Entnommen aus: MittAB, (1987) 3, S. 273.
Von allen Arbeitnehmern, die im Erhebungszeitraum Mai/Juni 1987 arbeitslos wurden, standen vorher 88 % in einem Arbeitsverhältnis, 9 % waren betrieblich ausgebildet worden und 3% hatten an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) teilgenommen. 60% der Arbeitsverhältnisse (ohne ABM) sind durch Arbeitgeberkündigungen beendet worden (1984 63. 7%, 1985 64, 2%, 1986 61, 5%), also eine leichte Besserungstendenz aufgrund der etwas günstigeren Beschäftigungslage. Mit knapp 20 % blieb der Anteil der Arbeitnehmerkündigungen in den letzten Jahren recht stabil. Der Anteil der Arbeitslosmeldungen, denen befristete Arbeitsverhältnisse (ohne die ebenfalls befristeten ABM) vorausgingen, ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen: von 12, 8% 1984 auf zuletzt 16, 1% 1987.
Abbildung 8
Tabelle 6: Erwerbslose mit Sozialhilfebezug
Quelle: Mikrozensus-Ergebnisse 1976— 1986
Tabelle 6: Erwerbslose mit Sozialhilfebezug
Quelle: Mikrozensus-Ergebnisse 1976— 1986
Von Arbeitgeberkündigungen waren Arbeitnehmer über 35 Jahre überdurchschnittlich betroffen; mit 67 % war der Anteil bei der Gruppe zwischen 45 und 49 Jahren, den „angehenden älteren Arbeitnehmern“, am höchsten. Dagegen waren die meisten Arbeitslosen, die ihr Arbeitsverhältnis selber beendet hatten, zwischen 20 und 35 Jahre alt. Etwa die Hälfte der Arbeitslosmeldungen erfolgt aus Beschäftigungsverhältnissen von bis zu einem Jahr. 1987 hatte bei 32 % der Arbeitslosmeldungen die vorausgegangene Beschäftigung bis zu sechs Monaten gedauert und bei 18 % zwischen sechs und zwölf Monaten. Hier bedarf es zusätzlicher Erkenntnisse über kurzlebige und instabile Beschäftigung als Zugangsrisiko zur Arbeitslosigkeit.
Abbildung 9
Tabelle 7: Kosten der Arbeitslosigkeit 1987
Quelle: Berechnungen des IAB. Für Empfänger von Arbeitslosengeld
Tabelle 7: Kosten der Arbeitslosigkeit 1987
Quelle: Berechnungen des IAB. Für Empfänger von Arbeitslosengeld
Gibt es viele Zugänge von Arbeitslosen nach Beendigung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen?
Abbildung 10
Tabelle 8: Institutioneile Verteilung der Kosten der Arbeitslosigkeit 1987
Quelle: Berechnungen des IAB.
Tabelle 8: Institutioneile Verteilung der Kosten der Arbeitslosigkeit 1987
Quelle: Berechnungen des IAB.
Im Mai/Juni 1987 meldeten sich 8 255 Personen arbeitslos, die in den letzten sechs Monaten an einer AFG-Maßnahme teilgenommen oder Vermittlungshilfen erhalten hatten. Bedenkt man die sehr zahlreichen Beendigungen von Maßnahmen, z. B. 529 200 Teilnehmer, die 1987 eine Qualifizierungsmaßnahme beendeten, so werden hier eher Übergangsprobleme deutlich als eine längere Anschlußarbeitslosigkeit.
Abbildung 11
Tabelle 9: Durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit
Quelle: Amtliche Nachrichten der BA.
Tabelle 9: Durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit
Quelle: Amtliche Nachrichten der BA.
Aus welchen Branchen kamen die Zugänge zur Arbeitslosigkeit?
Abbildung 12
Tabelle 10: Zur Entwicklung der Langzeitarbeitslosigkeit
Quelle: Strukturanalyse 1987, S. 775.
Tabelle 10: Zur Entwicklung der Langzeitarbeitslosigkeit
Quelle: Strukturanalyse 1987, S. 775.
Mangels detaillierter Daten sei nur auf 472 000 Zugänge von Arbeitslosen aus der beschäftigungsmäßig schrumpfenden Bauwirtschaft und die 781 600 Zugänge aus dem sich uneinheitlich entwickelnden verarbeitenden Gewerbe hingewiesen. Selbst wenn die Zahlen nicht voll vergleichbar sind, so zeigen sie doch, daß etwa zwei Drittel der Zugänge von Arbeitslosen aus dem Dienstleistungssektor stammen, der allerdings insgesamt von 1980 bis 1987 — mit Ausnahme des Groß-und Einzelhandels, der privaten Haushalte und der Auslandsvertretungen — beschäftigungsmäßig expandierte und erheblich zum Arbeitsmarktumschlag beitrug.
Insgesamt endeten 1987 knapp 6 Mio. Beschäftigungsverhältnisse, deren Arbeitnehmer freilich nicht alle in die Arbeitslosigkeit gingen, sondern Rente, Ausbildung, Ausland, Erwerbsunterbrechung, Haushalt oder andere Alternativen zur Erwerbsarbeit suchten. Darüber gibt die Arbeitskräftegesamtrechnung Auskunft. Viele Beschäftigungsverhältnisse mündeten freilich auch ohne Zwischenarbeitslosigkeit in neue Arbeitsverträge ein. Im Jahr 1987 gab es 3 636 411 Abgänge aus der Arbeitslosigkeit, etwas weniger als Zugänge. 3. Wohin erfolgten die Abgänge aus der Arbeitslosigkeit?
Im letzten Jahr (1987) wurden etwa 5. 2 Mio. sozial-versicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse neu abgeschlossen (vgl. Tabelle 2), knapp 100 000 weniger als 1986. Hinzu kommen zum einen rd. 650 000 betriebliche Ausbildungsverhältnisse, zum anderen eine nicht bekannte Zahl neuer öffentlich-rechtlicher oder auch sozialversicherungsfreier Beschäftigungen sowie Selbständiger. Auch dort überall können Arbeitslose verblieben sein: in einer betrieblichen Berufsausbildung, im Beamtenstatus, in der geringfügigen oder in einer selbständigen Tätigkeit. Nach der BA-Erhebung vom Mai/Juni 1987 beendeten 68 % der Arbeitslosen durch Aufnahme einer Arbeit ihre Beschäftigungslosigkeit. Das war deutlich niedriger als 1986 mit 73 % und 1985 mit 74%. Auf das Jahr gerechnet, dürfte der Wiederbeschäftigungsanteil zwischen 65 % und 70 % betragen haben. so daß 1987 mehr als 2, 3 Mio. Abgänge aus der Arbeitslosigkeit in die Beschäftigung erfolgten. 1986 waren es noch über 2, 5 Mio. gewesen.
Rückläufige Einstellungen und gelegentliche Einstellungsstopps vermindern den Abbau der Arbeitslosigkeit. Der Wiedereingliederungsanteil liegt bei Männern in 1987 mit 72, 4 % wesentlich höher als bei Frauen mit 61%, denen mehr Optionen des Abgangs, in Wahrheit aber wohl auch — in bestimmten Kombinationen von zu geringer Qualifikation, regionalen und sektoralen Problemen — geringere Wiedereingliederungschancen offenstehen. Mit 46% vermitteln die Arbeitsämter knapp die Hälfte aller in Arbeit abgegangenen Arbeitslosen, dies mit steigender Tendenz.
Angesichts der großen Eigenanstrengungen der Arbeitslosen bei Bewerbungen, von zu wenigen den Arbeitsämtern gemeldeten offenen Stellen, häufiger informeller Kontakte und betrieblicher Vor-merklisten bei Einstellungen sind sowohl generelle Zweifel an der Effizienz der Vermittlungsdienste als auch Re-Privatisierungsbestrebungen, die über bestehende Ausnahmegenehmigungen hinausgehen. fehl am Platze. 4. Warum sinkt die Arbeitslosigkeit trotz steigender Beschäftigung nicht?
Seit dem Tiefststand 1983 hat die gesamtwirtschaftliche Beschäftigung bis heute rechnerisch um rd. 700 000 Erwerbstätige zugenommen. Gleichzeitig ging freilich das Arbeitsvolumen, die Summe aller geleisteten Arbeitsstunden, um 1% auf 43, 4 Mrd. Stunden in 1987 zurück. Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens handelt es sich bei dem Beschäftigungsanstieg zu zwei Dritteln um Vollzeit-, zu einem Drittel um Teilzeitarbeit. Zweitens wirkten Wochenarbeitszeitverkürzungen und Urlaubsverlängerungen reduzierend, so daß sich zusätzliche Einstellungen und gesicherte Arbeitsplätze ergaben. Drittens scheiden Arbeitnehmer durch den Vorruhestand, die flexible Altersgrenze, die 59er Regelung und andere Frühverrentungsmaßnahmen vorzeitig aus dem Arbeitsleben aus. Viertens sind die Mehrarbeitsstunden von im Durchschnitt 64, 1 Stunden im Jahr 1983 auf 61, 5 Stunden zurückgegangen, so daß das Mehrarbeitsvolumen von insgesamt 1, 5 auf 1, 4 Mrd. Stunden zurückging. Fünftens wirkte der Erziehungsurlaub immer dann reduzierend, wenn keine Ersatzkraft eingestellt wurde. Sechstens expandieren vom Normalarbeitsverhältnis abweichende Beschäfti des Arbeitskreise Stunden zurückgegangen, so daß das Mehrarbeitsvolumen von insgesamt 1, 5 auf 1, 4 Mrd. Stunden zurückging. Fünftens wirkte der Erziehungsurlaub immer dann reduzierend, wenn keine Ersatzkraft eingestellt wurde. Sechstens expandieren vom Normalarbeitsverhältnis abweichende Beschäftigungsverhältnisse wie z. B. befristete, nicht ganzjährige oder unstetige Beschäftigung, -wohl auch Arbeit auf Abruf.
Ferner enthält der statistische Beschäftigungszuwachs eine Reihe von Sonderfaktoren. Von 1984 bis 1987 machten diese knapp 38 % aus: Doppel-zählungen von Erziehungsurlaubern und ihrer Ersatzkräfte, Anstieg der als Arbeitnehmer gezählten Auszubildenden und mehr in ABM vermittelte Arbeitslose 3). Hinzu kommen die Beschäftigungseffekte, die durch die Regionalförderung, die Sonder-programme des Bundes und der Länder, die Existenzgründungsförderung, die EG-Struktur-und Sozialfonds sowie durch die unverändert hohen Wirtschaftssubventionen bewirkt werden.
Der Bestand an Arbeitslosen sank deshalb nicht, weil sich der Beschäftigungsanstieg — sei er autonom, sei er induziert, sei er lediglich rechnerisch gewesen — nur etwa im Gleichschritt mit dem steigenden Erwerbspersonenpotential bewegte. Zwar wird der demographisch bedingte Zuwachs allmählich kleiner, doch nehmen immer mehr Frauen am Erwerbsleben teil. Netto-Zuwanderungen von ausländischen Arbeitnehmern und anerkannten Asyl-suchenden sowie von deutschen Aus-und Übersiedlem erhöhen das Potential weiter. So stieg das gesamte Erwerbspersonenpotential 1t. IAB-Berechnung von 1983 bis 1988 um 683 000 Deutsche und 81 000 Ausländer. 5. Warum ergeben sich trotz hoher Arbeitslosigkeit und trotz ihres hohen Umschlags bei jedem Zahltag offene Stellen?
Der jahresdurchschnittliche Bestand offener Stellen betrug selbst im Tiefstpunkt der Arbeitsmarkt-entwicklung der achtziger Jahre 1983 rd. 75 800; er stieg bis 1987 auf 170 700 und erreichte im Mai 1988 saisonbereinigt rd. 180 000. Um einen Teil ihrer 5 bis 6 Mio. jährlichen Einstellungsfälle abzuwickeln, melden Betriebe und Verwaltungen den Arbeitsämtern gegenwärtig im Jahr über 1. 8 Mio. offene Stellen. Aus ihnen ist nicht ersichtlich, ob dahinter Zusatz-, Ersatz-, Austausch-oder überhaupt echter Bedarf steht. Entscheidend ist der Wunsch der Arbeitgeber nach Vermittlungsvorschlägen. Diese herauszusuchen, vorzusortieren, mit geeigneten Arbeitsuchenden zu besprechen, die sich dann beim Auftraggeber bewerben, beansprucht bis zum Abgang der offenen Steile durch Einstellung oder sonstige Erledigung mit oder ohne Hilfe des Arbeitsamtes einige Zeit. Die sogenannte Laufzeit beträgt gegenwärtig knapp fünf Wochen, d. h. jede gemeldete offene Stelle blieb durchschnittlich etwas länger als einen Monat in „Bearbeitung“, also bei der monatlichen Auszählung im Bestand offener Stellen. Zu Vollbeschäftigungszeiten war die Laufzeit mehr als doppelt so lang.
Regional haben die strukturschwachen Regionen die geringsten Laufzeiten, z. B. Nordrhein-Westfalen 1987 4, 1 Wochen, hingegen Baden-Württemberg 6, 6 Wochen. Mit steigenden Qualifikationsanforderungen steigen auch die Laufzeiten. Kleine berufliche Teilarbeitsmärkte erfordern überregionales Suchen. Je höher die gebotenen Einkommen sind, desto mehr Zeit benötigen die Arbeitgeber für ihre Einstellungen. Einstellungspraktiken und -termine beeinflussen die Laufzeit ebenfalls. 6. Wie stark ist die Bundesanstalt für Arbeit am Arbeitsmarktgeschehen beteiligt?
Tabelle 3 zeigt, daß 1987 den 5, 2 Mio. begonnenen Arbeitsverhältnissen mit Sozialversicherungsschutz 1, 8 Mio. Abgänge offener Stellen gegenüberstanden, der Einschaltungsgrad also rd. 35% betrug. Von diesen Abgängen wurden 70, 5 % durch 1, 3 Mio. Arbeitsvermittlungen in Beschäftigung über 7 Tage Dauer ausgeschöpft. Insofern erreichten die Arbeitsämter mit ihren Vermittlungen knapp 25 % aller Einstellungen — ein Marktanteil, der trotz des Alleinvermittlungsrechts der BA genug Raum läßt, drei von vier Einstellungen ohne ihre Hilfe zustande zu bringen. Wer hier Privatisierungen fordert, will womöglich mit den überwiegend freien Marktvorgängen Geschäfte machen, und dies noch zu Lasten der sozial Schwachen. 7. Was tut die Arbeitsmarktpolitik gegen anhaltende Massenarbeitslosigkeit?
Arbeitsmarktpolitik nach dem AFG sieht sich weder zuständig noch finanziell wie instrumentell in der Lage, ein gesamtwirtschaftliches Defizit vonzwei bis drei Millionen Arbeitsplätzen zu beseitigen 6) -Sie will jedoch über die berufliche Erstausbildung vor allem für junge Frauen, Behinderte und Ausländer sowie über verhinderten Ausbildungsabbruch späterer Arbeitslosigkeit vorbeugen. Auch die Förderung der beruflichen Erwachsenenbildung will das Risiko vermindern, arbeitslos zu werden oder zu bleiben. Fortbildung und Umschulung, auch auf Vorrat, dienen dem Strukturwandel und dazu, Diskrepanzen zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt zu überwinden. Arbeitsbeschaffung, die Förderung selbständiger Existenzen und Vermittlungshilfen wollen Arbeitslosigkeit abbauen und zusammen mit anderen Maßnahmen langjährige Beschäftigungslosigkeit verhindern. Mit der Kurzarbeit, der Förderung ganzjähriger Beschäftigung in der Bauwirtschaft und dem Vorruhestandszuschuß stehen bewährte arbeitszeit-politische Hilfen zur Verfügung.
Tabelle 4 zeigt in Bestand und Zugängen die Entwicklung der Teilnehmerzahlen an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen von 1983 bis 1987. Sie sind hauptsächlich (die Förderung der beruflichen Bildung erfaßte zu 23 zuvor Arbeitslose) oder vollstän-* dig (ABM, Eingliederungsbeihilfe, Überbrükkungsgeld) auf Arbeitslose konzentriert.
Fast 600 000 Eintritte in Bildungsmaßnahmen, fast 150 000 ABM, gut 40 000 Eingliederungsbeihilfen und über 10 000 Fälle zur Förderung selbständiger Existenz (Fortzahlung von bisherigem Arbeitslosengeld oder -hilfe, Zuschüsse zur Kranken-und Rentenversicherung) zeigen — alle mit steigender Tendenz — die beachtlichen Anstrengungen der AFG-Politik. Ferner wurden bis Ende 1987 rd. 67 600 Anträge auf Zuschüsse zum Vorruhestandsgeld bewilligt. Mit 77, 4 % ist der Anteil der Arbeitslosen an den Wiederbesetzungen hoch, die restlichen entfielen auf Jugendliche und Auszubildende in Kleinbetrieben.
Tabelle 5 zeigt, daß die vier wichtigsten BA-Maßnahmen auf Jahresbasis 1987 und 1988 den Arbeitsmarkt um je rd. 440 000 andernfalls Arbeitslose entlasteten. Ohne sie wäre die registrierte Arbeitslosigkeit entsprechend höher gewesen. 8. Wovon leben die Arbeitslosen?
Ende Oktober 1987 erhielten die 751 700 Empfänger von Arbeitslosengeld durchschnittlich 984 DM im Monat, die 500 400 Bezieher von Arbeitslosen-hilfe im Schnitt 806 DM. Darauf bezogen, führt die BA für beide Gruppen Beiträge zur Kranken-und Rentenversicherung ab. Gezahlt wurden folgende Durchschnittsbeträge in DM:
Zu Beginn ihrer Arbeitslosigkeit erhalten gut drei Viertel Lohnersatz in der genannten Höhe 1982 waren es bei der größeren Gruppe der Arbeitslosengeldempfänger 72 %, 1986 nur noch 64 %. Darin zeigen sich Auswirkungen von Gesetzesänderungen, die bis 1985 im Ergebnis eine Verschlechterung der finanziellen Absicherung bei Arbeitslosigkeit brachten. Später wurden Leistungseinschränkungen teilweise zurückgenommen und Zahlungen im „Leistungsverlängerungsgesetz“ für Ältere auf bis zu 32 Monate ausgedehnt. Bis 1984 war auch der Anteil der Arbeitslosen, die vor Ende der Beschäftigungslosigkeit ihren Lohnersatzanspruch ausschöpften, stark gestiegen. Der von der Hauptleistung „Arbeitslosengeld“ finanzierte Teil der Arbeitslosigkeit fiel von 55% (1981) auf 36% (1986) und stieg mit bis zuletzt anhaltender Tendenz 1987 auf 37 % im Jahresdurchschnitt.
Nach dem AFG erhalten Arbeitslose, die ein Kind oder mehr zu versorgen haben. 68 % des um übliche Abzüge verminderten Entgelts als Arbeitslosengeld, sonst 63%, wobei gut zwei Drittel diesen geringeren Satz erhalten. Bezogen auf den Netto-Monatsverdienst 1987 von 2 150 DM monatlich betrug das durchschnittliche Arbeitslosengeld damals nur 46 %, also viel weniger als die gesetzlichen Prozentsätze. Berücksichtigt man übliche Zusatzzahlungen, steigt der Satz von Beziehern von Arbeitslosengeld auf 54% des erzielbaren Nettoeinkommens Arbeitslosenhilfe deckte 1987 rd. 26% der Arbeitslosigkeit finanziell ab; der Lohnersatz macht hier lediglich 45 % des erzielbaren Nettoeinkommens aus.
Tabelle 6 zeigt nach Mikrozensusergebnissen von 1986 rd. 240 000 Erwerbslose mit Sozialhilfebezug, und dies mit steigender Tendenz.
Eine Sonderuntersuchung der kommunalen Spitzenverbände und der BA ergab für September 1985 sogar 280 000 Personen bzw. 13 % der Arbeitslosen (-haushalte) als Sozialhilfeempfänger, die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt benötigten, da ihr sonstiges Einkommen unter der als offizielle Armutsgrenze geltenden Sozialhilfeschwelle lag. Unterschiedliche Abgrenzungen und Erhebungsweisen, Dunkelziffern und „verschämte Armut“ ergeben Vergleichsprobleme. Doch empfinden sowohl die Betroffenen die finanziellen Belastungen als auch die Gemeinden, bei denen die Kosten der Arbeitslosigkeit auf dem institutionell vorgezeichneten Weg: Arbeitslosengeld der BA, Arbeitslosenhilfe des Bundes und schließlich Sozialhilfe der Gemeinden eine Endstation haben. 1985 wurden mit 2, 2 Mrd. DM etwa 10 % der gesamten Sozialhilfeausgaben an Haushalte mit Arbeitslosen gezahlt. 9. Was kostet die Arbeitslosigkeit insgesamt?
Der Lebensunterhalt für Arbeits-und Erwerbslose stellt nur einen Teil der Kosten von Arbeitslosigkeit dar, denn wegen der erzwungenen Untätigkeit entgeht der Wirtschaft die Produktion von Gütern und Diensten und aus den dabei anfallenden Entgelten werden weder Steuern noch Sozialversicherungsbeiträge gezahlt. Bei Arbeitslosigkeit entstehen zusätzliche Staatsausgaben (Mehrausgaben) und dem Staat wie den Sozialversicherungen entgehen Einnahmen (Mindereinnahmen). Gesamtfiskalisches Denken muß also die Einnahmen und Ausgaben der drei Gebietskörperschaften und der drei Sozial-versicherungsträger bilanzieren, um die Kosten der Arbeitslosigkeit zu ermitteln, und sie mit dem Aufwand für Beschäftigungsprogramme vergleichen. Im Ergebnis zeigt sich: Das Denken im Budgetverbund und eine dynamische Betrachtungsweise über wenige Jahre belegen, daß Ausgaben für beschäftigungspolitische Maßnahmen größtenteils wieder , hereingespielt 4 werden "
Tabelle 7 berechnet die Bestandteile von Mehrausgaben und Mindereinnahmen für die drei Empfängergruppen von Arbeitslosengeld (37, 4%), Arbeitslosenhilfe (25, 9%) und Arbeitslose ohne Leistungsbezug (36, 7% des Arbeitslosenbestandes). So kosten Arbeitslosengeldempfänger gut 33 000 DM pro Jahr. Bezieher von Arbeitslosen-hilfe 29 400 DM und Arbeitslose ohne Leistungsbezug immer noch 18 000 DM. Im Durchschnitt entstehen gesamtfiskalische Kosten von 26 600 DM pro Person und Jahr. Bei 2, 229 Mio. Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt 1987 errechnen sich Kosten von 59 Mrd. DM im Jahr. Hätten sie alle gearbeitet, wären keine Produktionsverluste in Höhe von 8% bis 10% des Sozialprodukts angefallen.
Tabelle 8 zeigt, daß der Bund und die BA etwa zu gleichen Teilen zusammen 60 % der Kosten tragen. Ein Sechstel trägt die Rentenversicherung, 7. 3% entfallen auf die Gemeinden, 5, 6% auf die Krankenversicherung. Die Mindereinnahmen von Renten-und Krankenversicherung sind saldiert, d. h. von ihren potentiellen Einnahmen bei Vollbeschäf-tigung der Arbeitslosen sind die Zahlungen der BA an sie infolge der Arbeitslosigkeit abgezogen.
In diese Kostenrechnung könnten einige entlastende Faktoren (wie etwa die auch bei Vollbeschäftigung verbleibende Rest-Arbeitslosigkeit) und zusätzliche belastende Momente (wie Qualifikationsverlust, psycho-soziale und gesundheitliche Dauerschäden und Spätfolgen) eingerechnet werden. In jedem Fall dürfte nicht nur die institutioneile Trennung der sechs Kostenträger dafür verantwortlich sein, daß die Arbeitslosen nicht mit einem großen Teil dieser Mittel für dringliche infrastrukturelle und humane Aufgaben beschäftigt werden. 10. Bei welchen Gruppen bleibt die Arbeitslosigkeit hängen?
Wenn sich auch bei weiterhin hoher Arbeitsmarkt-dynamik die durchschnittliche abgeschlossene Dauer der Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren bei knapp sieben Monaten stabilisiert hat, so zeigt Tabelle 9 doch, daß die Anteile der Abgänge nach einer Arbeitslosigkeit bis zu drei Monaten steigen, während die Abgangsanteile bei einer Dauer der Arbeitslosigkeit von über einem Jahr abnehmen. Diese stärkere Streuung drückt eine Polarisierung zwischen Kurzfrist-und Langzeitarbeitslosigkeit aus, so daß von einer Strukturalisierung gesprochen wird. Tabelle 10 zeigt, daß fast ein Drittel des Arbeitslosenbestandes bis zum Zähltag (bisherige Dauer) länger als ein Jahr ohne Arbeit war, insgesamt 670 170. Sie verteilen sich zu gleichen Teilen auf ein-bis zweijährige und zwei-bis mehrjährige Arbeitslosigkeit. 117 400 waren sogar vier Jahre und länger ohne Arbeit. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist weiterhin steigend und Ergebnis von Auswahl-und Aussiebungsprozessen über Jahre hinweg, in denen Arbeitslose . auf der Strecke bleiben 1. Mangels geeigneter Daten über Arbeitsplätze, Bewerbungen, Vorstellungsgespräche, Ablehnungsgründe und mißglückte Probeverhältnisse sowie ferner über Qualifikationsan-forderungen, Arbeits-und Entgeltbedingungen und schließlich über Konzessionsspielräume beider Seiten hat es sich eingebürgert, folgende Merkmale von Langzeitarbeitslosen herauszustellen und sie als vermittlungshemmend zu bezeichnen. Sie überschneiden sich häufig:— Arbeitslose mit gesundheitlichen Einschränkungen, darunter Schwerbehinderte und ihnen Gleichgestellte; — Arbeitslose höheren Alters, insbesondere über 55 Jahre; — Arbeitslose ohne abgeschlossene Berufsausbildung; — arbeitslose Frauen und Jugendliche, deren wiederholte Mehrfacharbeitslosigkeit als Sonderfall von Langzeitarbeitslosigkeit zu betrachten ist.
Bei ihnen konzentriert sich die Arbeitslosigkeit; wegen der überdurchschnittlich langen Dauer tragen sie überproportional viel der Arbeitslosigkeitslast. was sie wiederum zu Zielgruppen der Arbeitsmarktpolitik macht
Zeitreihen von Struktur-und Bewegungsmerkmalen der Arbeitslosen sind allein nicht hinreichend, die Strukturalisierung der Arbeitslosigkeit bei deren hohem Niveau zu beschreiben. Sie ist auch ein Ergebnis von Ausgliederungsprozessen bei älteren, ausländischen und weiblichen Arbeitnehmern sowie von Wiedereingliederungsmaßnahmen für Jugendliche und andere Zielgruppen der Arbeitsmarktpolitik. Dennoch bringt das Beschäftigungssystem stets eine Wiederauffüllung der Langzeitarbeitslosigkeit hervor — sei es durch Entlassungen, Betriebsschließungen, Sozialpläne und Aufhebungsverträge, sei es durch Chancenungleichheit bei der Wiedereinstellung.
Langzeitarbeitslosigkeit hat verheerende Folgen für die Lebenslage, die Familien und sozialen Beziehungen, den Lebensstandard und die soziale Sicherung, die Stellung in der Gesellschaft sowie für die politische und gewerkschaftliche Teilhabe. Die Befunde dazu sind eindeutig Neben der Forderung nach beschäftigungs-und arbeitszeitpolitischen Globalhilfen enthalten nahezu alle Abhilfe-konzepte der gesellschaftlichen Gruppen besondere Hilfen für die Langzeitarbeitslosen Kritik wurde an Betrieben laut, weil sie sich bei der Qualifizierung von Langzeitarbeitslosen zurückhalten, obwohl betriebliche Einzelqualifizierungen beson-ders chancenmehrend sind. Auf den Dortmunder Modellversuch, in leerstehenden Lehrwerkstätten ungelernten erwachsenen Arbeitslosen einen betrieblichen Ausbildungsabschluß zu vermitteln, sei ebenso verwiesen wie auf die Forderung des CDU-Sozialpolitikers Kolb, 250 000 formal nicht qualifizierten Arbeitslosen auf diese Weise zu einem Ausbildungsabschluß zu verhelfen. Während sie weiter Arbeitslosengeld beziehen, teilen sich BA und Betriebe für zwei Jahre den „Lehrlingslohn“ 11. Warum wird die Arbeitslosenstatistik immer wieder einmal bestritten?
Immer, wenn nachhaltige Erfolge beim Abbau der Arbeitslosigkeit ausbleiben, werden generelle Zweifel an der Realitätsnähe und der Aussagefähigkeit der amtlichen Arbeitslosenstatistik laut. Viele Arbeitslose hätten „ihren Job nicht aus konjunkturellen oder strukturellen Gründen verloren“, sondern seien „institutionell arbeitslos“, da sie an Sozialleistungen interessiert seien, die nicht im AFG geregelt sind Dazu werden Vorruhestandsfälle, Sozialhilfe-Arbeitslose, Erwerb von Rentenansprüchen durch Anrechnung von Ausfallzeiten, Kindergeld-Arbeitslose und Begünstigte von Sozialplanregelungen gezählt. Zu „unechten“ Arbeitslosen werden gesellschaftlich randständige „freiwillige Arbeitslose“ gezählt, dann Zweitverdiener und nur zum Schein gemeldete Frauen, die früher einmal berufstätig waren „Ziel sollte sein, nur noch solche Arbeitslose in der Statistik zu erfassen, die dem Arbeitsmarkt wirklich zur Verfügung stehen und eine Arbeitsstelle nachfragen, die für sie die einzige oder eine wesentliche Einkommensquelle darstellt. Für andere Arbeitsuchende könnte ggf. eine gesonderte Statistik eingerichtet werden.“ Diese Beispiele mögen genügen.
Zum Thema „echte oder unechte Arbeitslosigkeit“ liegt ein aktualisiertes Argumentationspapier vor Es weist die Vorwürfe im einzelnen zurück. Die gesetzliche Definition von Arbeitslosigkeit genügt und die häufige und sehr ausführliche Arbeitslosen-Berichterstattung läßt nahezu jede verfassungsrechtlich und sozialpolitisch vertretbare Differenzierung zu. Leistungsmißbrauch und -mitnahme werden rasch erkannt und hart bestraft. Sofern Arbeitswille und Arbeitsfähigkeit, Mobilitäts-und Konzessionsbereitschaft überhaupt „testbar“ sind, so doch nur dadurch, daß allen Arbeitslosen zumutbare Arbeitsplätze geboten werden. 12. Ist anhaltende Massenarbeitslosigkeit so bedrohlich, daß politisch das Interesse an Vollbeschäftigung überwiegt?
Hätte man 1973 vorausgesagt, bis heute werde jede dritte Erwerbsperson mindestens einmal arbeitslos, dann wären sich von den Verfechtern der sozialen Marktwirtschaft über die Krisentheoretiker bis hin zu den Systemgegnern alle weitgehend darüber einig gewesen, daß diese Massenerfahrung längerer Arbeitslosigkeit über nunmehr 15 Jahre erhebliche destabilisierende Wirkungen für unser politisches, soziales und wirtschaftliches System haben würde. Sowohl der Konzentration und Kumulation der Arbeitslosigkeit auf stets gleichbleibende Gruppen als auch dem Aufbau einer zusätzlichen . stillen Reserve'in Millionenhöhe wären vermutlich politische Radikalisierung und organisierte Gegenmacht der Arbeitslosen zugeschrieben worden. Die Frage nach der systemgefährdenden Obergrenze von Erwerbslosigkeit hätte als berechtigt und wichtig gegolten.
Warum aber ging — rückblickend — von diesen 16 Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürgern ein so geringer und uneinheitlicher politischer Protest, so wenig System-und Sozialstaatskritik und so wenig organisiertes Drängen nach konsequenter Vollbeschäftigungspolitik aus? Warum ergaben sich keine bedrohlichen Legitimationsprobleme für das politische und wirtschaftliche System, warum gab es weder Erschütterungen, geschweige denn Gefahr für den sozialen Frieden? Warum entstand aus den zahlreichen Arbeitsloseninitiativen kein schlagkräftiger Interessenverband, keine Arbeitslosenbewegung, keine -lobby? Warum erlangten die Arbeitslosen nicht mehr gewerkschaftliche Vertretungsmacht? Warum warfen sie ihre Wählerstimmen nicht anders in die Waagschale, als sie es taten? Warum entstand kein Verbundsystem der Institutionen. die sich menschlich, beratend, finanziell, medizinisch, solidarisch usw. um die Arbeitslosen sorgen?
Die Arbeitsmarktmechanik, soziale Sicherung und Arbeitsmarktpolitik bewirken gemeinsam, daß das massenhaft individuelle Schicksal von Arbeitslosigkeit bei anhaltend hohem, tendenziell noch steigendem Niveau die politische Ordnung, den sozialen Frieden und den Produktionsstandort Bundesrepublik nicht so bedroht, wie man eigentlich annehmen müßte. Im einzelnen wirken folgende Stabilisatoren:
— Hohe finanzielle Anfangssicherung und recht lange Gesamtsicherung im Verlauf der Arbeitslosigkeit stiften mehr Stabilität als die destabilisierenden Gefährdungen von Millionen jährlicher Neuzugänge, Ausgrenzungen aus dem Leistungsbezug, „Abstiege“ vom Arbeitslosengeld über die Arbeitslosenhilfe zur Sozialhilfe.
— Hohe Beschäftigungsstabilität, die starke Konzentration instabiler Beschäftigung auf wenige Gruppen und die gut 2, 5 Millionen jährlich gelingender Abgänge aus der Arbeitslosigkeit in Arbeit heben die destabilisierenden Wirkungen offenbar weitgehend auf.
— Arbeitsmarktpolitische, bildungsorientierte und sozialpolitische Maßnahmen greifen zunehmend dann ein, wenn die beiden vorgenannten Regelstabilisatoren — hohe finanzielle Sicherung und Beschäftigungsstabilität — nicht oder nicht mehr greifen. Die Arbeitsmarktpolitik beendet Arbeitslosigkeit vorrangig für Langzeitarbeitslose. Bildungsmaßnahmen zielen auf Jugendliche, denen ein besonderes Protest-und Destabilisierungspotential zugeschrieben wird. Sozialpolitik hilft erwerbslosen Sozialhilfeempfängern, indem sie die Sozialhilfe gerade so lange für ein Normalarbeitsverhältnis aufstockt, bis Ansprüche nach dem AFG entstanden sind (und die Gemeindekassen entlastet).
— Arbeitsmarktpolitik außerhalb des AFG sucht durch Ausgliederungshilfen (für Erziehungsurlaub, Vorruhestand, Ausländer, Teil-statt Vollzeitarbeit) den Angebotsdruck auf dem Arbeitsmarkt zu mildem. Dadurch übernehmen Betroffene angeblich akzeptable, konsensfähige Alternativrollen, so daß die (Wieder-) Beschäftigung von Kerngruppen stabilisiert wird.
— Autonome Beschäftigungssteigerungen und Beschäftigungsprogramme, konzentriert auf Krisen-branchen und -regionen, entschärfen regionale Arbeitsmarktprobleme und verhindern den Zusammenbruch von Teilarbeitsmärkten.
— An unterschiedliche Lebenslagen oder Lebens-abschnitte geknüpfte Konzepte sogenannter Alter. nativrollen zur Arbeitslosigkeit, die von der Aussteigermentalität über sinnvolle Unterbrechungen der Beschäftigung für Kindererziehung, Bildung.
Pflege, Langzeiturlaub, politische Teilhabe bis zum 1 endgültigen Verlassen des Arbeitsmarktes durch Ältere oder Ausländer reichen, mögen zeitweilig den unerfüllbaren Wunsch nach Erwerbsarbeit kompensieren und so keine Abwehrreaktion hervorrufen. Doch bedeutet dies erneut Differenzierung und Individualisierung des Problems. — Schließlich stabilisiert auch die — häufig der Realität entgegengesetzte — Arbeitsmarktrhetorik, die immer wieder neue Vorschläge, Konzepte und Kompaktlösungen ohne Konsequenzen hervorbringt: einen Beschäftigungsgesamtplan, den Solidarpakt der Evangelischen und Katholischen Kirche, einen Beschäftigungspakt, einen gemeinsamen Handlungskorridor zum Abbau der Arbeitslosigkeit, ein durchstrukturiertes System arbeitsplatz-schaffender Maßnahmen, das soziale Bündnis Arbeit für alle — diese Vorschläge mögen als Beispiele genügen.
Somit ist Arbeitslosigkeit für eine große Minderheit zu einer kaum gefährlichen gesellschaftlichen Normalerfahrung geworden. Sie bleibt hoch, aber nach gegenwärtigem Kenntnisstand deutlich unterhalb systemgefährdender Grenzen. Die politisch und ökonomisch für den Beschäftigungsgrad Verantwortlichen glauben, auch in der zweiten Halbzeit der Massenarbeitslosigkeit deutlich unterhalb einer irgendwo vermuteten Grenze destabilisierender Arbeitslosigkeit bleiben zu können (Tragbarkeitsschwelle). Eine Systemkrise ergäbe sich nach W. Zapf erst, wenn durch die Arbeitslosigkeit Basisinstitutionen und Grundsicherungen wie Parteiendemokratie, soziale Marktwirtschaft, Wohlfahrtsstaat, soziale Sicherung. Massenkonsum, Arbeitgeberorganisationen und Gewerkschaften einschließlich der Selbstverwaltung nachhaltig zerstört oder in Frage gestellt würden.
Die Massenerwerbslosigkeit besteht seit nunmehr 15 Jahren. Kumulation und Konzentration der Arbeitslosigkeit wie der relativen Armut weisen verfassungswidrige Unterschiede sozialer und regionaler Lebenslagen vieler Menschen aus. Es ist zumindest umstritten, ob die eingesetzten Instrumente und Maßnahmen hinreichend rasch Vollbeschäftigung zurückbringen und ob Arbeitslosigkeit nicht doch der Erreichung anderer, konkurrierender Ziele wegen anhält. Es gibt sogar Stimmen, die die Vollbeschäftigung nicht mehr als ein primäres wirtschafts-und sozialpolitisches Ziel sehen. So stellt sich die alte Frage, ob eine politisch machbare Vollbeschäftigung noch im allgemeinen Interesse liegt oder ob sie vielmehr mit anderen Interessen kollidiert und dort unterliegt.
Jürgen Kühl, Diplom-Volkswirt, geb. 1941; Wissenschaftlicher Direktor im Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit F. Buttler/B. Rahmann) Staat und Beschäftigung. Angebots-und Nachfragepolitik in Theorie und Praxis, Beiträge zur Arbeitsmarkt-und Berufsforschung 88, Nürnberg 1985; Beschäftigungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland von 1973 bis 1987, Arbeitspapier 5-1987 des Arbeitskreises sozialwissenschaftliche Arbeitsmarktforschung (SAMF). Paderborn 1987; (Hrsg. zus. mit P. Auer, G. Bruche) Chronik zur Arbeitsmarktpolitik. National 1978— 1986, International 1980— 1986, Beiträge zur Arbeitsmarkt-und Berufsforschung 99, Nürnberg 1987.
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