Die Europawahl 1989 — eine klassische Nebenwahl? Ergebnisse und Analysen der dritten Direktwahl des Europäischen Parlaments
Hans-Jürgen Hoffmann/Ursula Feist
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Zusammenfassung
So kurz die Wahlgeschichte zu den europäischen Direktwahlen ist. so verfestigt sind bereits einige Deutungsmuster für das Wahlgeschehen auf supranationaler Ebene. Dazu gehört die These von der lowinterest-Wahl; die Definition als Nebenwahl mit dem typischen Oppositionseffekt; die Beschreibung als Experimentierfeld für neue politische Orientierungen und Verhaltensweisen, die Newcomern im Parteien-spektrum eine Chance zum Durchbruch eröffnen. Die genaue Analyse der Wahlresultate 1989 im europäischen Kontext bestätigt nicht alle Thesen. Verständlicherweise.denn es gibt europaweit keine einheitliche politische Kultur, ja nicht einmal innerhalb der einzelnen Mitgliedsländer. Entsprechend bunt war das Kaleidoskop der Bewegungen. Was sich 1989 allerdings erwiesen hat: Die Wahlen standen überall unter nationalem Vorzeichen, es gab kein europäisch motiviertes Votum. Das Interesse an Europa war dort unterdurchschnittlich, wo nicht zeitgleich durchgeführte nationale Wahlen die Wähler zusätzlich motivierten. Als Nebenwahl mit besonderem Oppositionseffekt gestaltete sich der europäische Wahlgang nur in einigen Mitgliedsstaaten. Die Neigung zu politischen Experimenten mit kleineren radikalen Parteien blieb ebenfalls auf wenige EG-Länder beschränkt. Bei genauer Betrachtung gab es — sieht man von dem fast durchgängigen Vormarsch der Ökologen ab — daher europaweit keinen eindeutigen Trend, weder zu den großen traditionellen Parteienblöcken der Konservativen oder Sozialisten, noch zu den Kleinen am rechten Rand. Wohl aber ausgeprägte Tendenzen dieser Art in einzelnen Mitgliedsstaaten.
$I. Die politische Ausgangslage in den zwölf Mitgliedsstaaten
Ebenso wie die beiden vorausgegangenen Wahlgänge stand auch die dritte Direktwahl zum Europaparlament (EP) vom 15. /18. Juni 1989 in erster Linie unter nationalen Vorzeichen. In allen zwölf Mitgliedsländern sahen die Parteien im europaweiten Wahlentscheid eine Gelegenheit, die politische Auseinandersetzung mit dem Gegner auf heimischem Feld auszutragen und von den Wählern ein Vtum vor allem über nationale Konfliktlagen zu erhalten. Dies galt insbesondere in den Ländern, in denen am gleichen Tag eine Entscheidung über das nationale Parlament anstand oder über die Möglichkeit vorgezogener Neuwahlen diskutiert wurde. In den drei Mitgliedsländern Luxemburg, Griechenland und Irland konzentrierte sich der Wahlkampfsogar ausschließlich auf die jeweiligen Nationalwahlen. Dabei ist in Luxemburg die gleichzeitige Durchführung von Nationalwahl und Europawahl bereits seit der ersten Direktwahl 1979 gewissermaßen Tradition. In Griechenland und Irland hingegen waren die Nationalwahltermine vorgezogen und mit dem Europawahltermin kombiniert worden; dabei spielte die Überlegung eine Rolle, vor dem Hintergrund innenpolitischer Streitthemen wirtschaftliche Vorteile aus der Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft als Verdienst der verantwortlichen Regierungsparteien herauszustellen und von den Wählern honorieren zu lassen.
Abbildung 6
Tabelle 5: Stimmenanteile von Christdemokraten/Konservativen in den beiden Europawahlen
Tabelle 5: Stimmenanteile von Christdemokraten/Konservativen in den beiden Europawahlen
In Griechenland rückten private und politische Affären des Ministerpräsidenten Papandreou in den Vordergrund, insbesondere die Frage, inwieweit er und seine Panhellenisch-Sozialistische Union (PASOK) in den Finanzskandal um den Bankier Jorgos Koskotas verwickelt waren und damit Vertrauen und Kompetenz eingebüßt hatten. Die konservative Oppositionspartei „Neue Demokratie“ unter Kostas Mitsotakis hoffte, aufgrund des gesunkenen Images von Papandreou nach acht Jahren einen Machtwechsel herbeizuführen. Der Wahlkampf wurde sehr emotional geführt und geriet zur politischen Schlammschlacht.
Abbildung 7
Tabelle 6: Stimmenanteile der Sozialisten in nationaler und in europäischer Wahl
Tabelle 6: Stimmenanteile der Sozialisten in nationaler und in europäischer Wahl
In Irland hatte sich die konservative Regierungspartei Fianna Fail unter Charles Haughey nach günstigen Meinungsumfragen für vorzeitige Neuwahlen entschieden, um sich als bisherige Minderheitsregierung eine parlamentarische Mehrheit zu verschaffen. Der Wahlkampfdrehte sich in erster Linie um die Sanierung der Staatsfinanzen, die mit einem rigorosen Sparkurs im Sozial-und Gesundheitswesen des Landes erkauft worden war. Vor allem von den linken Oppositionsparteien regte sich in den letzten Wochen vor der Wahl verstärkte Kritik an den sozialen Folgen der Sparpolitik: vermehrte Arbeitslosigkeit und wachsende Emigration insbesondere von jungen Leuten. Dieser Unmut ließ es fraglich erscheinen, ob die Erfolgsrechnung von Regierungschef Haughey aufgehen würde.
Abbildung 8
Tabelle 7: Stimmenanteile von Christdemokraten/Konservativen in nationaler und in europäischer Wahl
Tabelle 7: Stimmenanteile von Christdemokraten/Konservativen in nationaler und in europäischer Wahl
In Großbritannien hatte Margaret Thatcher ihren rigorosen konservativen Reform-und Europakurs gegen eine wachsende innere Opposition zu verteidigen. Die oppositionelle Labour Party hatte die Europawahl zu einer Art Referendum über zehn Jahre Thatcherismus erklärt. Die Frage war. ob es angesichts der Kritik an der Regierung unter den britischen Bedingungen des Mehrheitswahlrechts Chancen für eine dritte Partei geben könne und wo diese zu suchen wäre, in der liberalen Mitte oder im grünen Spektrum.
Abbildung 9
Tabelle 8: Stimmenanteile der GRÜNEN/„Regenbogen“ -Parteien in den beiden Europawahlen
Tabelle 8: Stimmenanteile der GRÜNEN/„Regenbogen“ -Parteien in den beiden Europawahlen
In Frankreich kämpften die regierenden Sozialisten um den Nachweis ihrer Mehrheitsfähigkeit gegenüber einer neu zusammengesetzten Gemeinschaftsliste von Giscardisten und Gaullisten, angeführt vom ehemaligen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing. Offen war, wie sich die Konkurrenz innerhalb der bürgerlichen Opposition auswirken würde, die durch die eigene Liste der aus der gemeinsamen Oppositionsliste von 1984 ausgescherten früheren EP-Präsidentin Simone Veil mit den linksliberalen „Zentristen“ entstanden war. Von Interesse war auch die Frage, ob sich die Tendenzen der letzten Wahlen fortsetzen würde, einerseits nach rechts zu Le Pens Front National, andererseits im linken Spektrum weg von den Kommunisten hin zu den Ökologen.
Abbildung 10
Tabelle 9: Stimmenanteile der Europäischen Rechten in den beiden Europawahlen
Tabelle 9: Stimmenanteile der Europäischen Rechten in den beiden Europawahlen
In Italien erwartete man von der Europawahl Hinweise darauf, ob das politische Kräfteverhältnis im Land neu austariert werden würde. Wer von der breiten Koalition aus Christdemokraten, Sozialisten. Sozialdemokraten, Republikanern und Liberalen würde angesichts der seit Mai 1989 schwelenden Regierungskrise aus der gegenwärtigen Führungskrise geschwächt oder gestärkt hervorgehen? Könnte es zu Neuwahlen kommen, oder würde die Krise nach früheren Vorbildern durch Regierungsumbildung beigelegt?
Abbildung 11
Tabelle 10: Stimmenanteile der GRÜNEN/"Regenbogen"-Parteien in nationaler und in europäischer Wahl
Tabelle 10: Stimmenanteile der GRÜNEN/"Regenbogen"-Parteien in nationaler und in europäischer Wahl
In den Niederlanden erklärten die Parteien den Wahlgang am 15. Juni mit Blick auf die im Spätsommer stattfindende, vorgezogene Parlamentswahl zu einem Probelauf. Wen würden die Wähler bei diesem Kräftemessen eher stützen, die bislang regierenden Christdemokraten mit ihrem Sparkurs oder ihren abgesprungenen Koalitionspartner, den rechtsliberalen WD? Oder würde man beide bestrafen und stattdessen den oppositionellen Sozialdemokraten den Weg zur Rückkehr an die Macht ebnen?
Abbildung 12
Tabelle 11: Stimmenanteile der Europäischen Rechten in nationaler und in europäischer Wahl
Tabelle 11: Stimmenanteile der Europäischen Rechten in nationaler und in europäischer Wahl
In Belgien erwartete man Aufschluß über die Festigkeit der ein Jahr zuvor, aufgrund des kulturellen Sprachenstreits nur mühsam zustandegekommenen Koalitionsregierung aus Christdemokraten. Sozialisten und der flämischen Volksunion (Volksunie). Die Aufmerksamkeit richtete sich dabei stärker auf die erste Wahl zum Brüsseler Regionalparlament als auf Europa. Sie war zeitgleich mit der Europa-wahl angesetzt worden, nachdem die zweite Stufe der Staatsreform vollzogen und die Hauptstadt nunmehr als gleichberechtigte Region mit eigenem Parlament und eigener Regierung neben Flandern und Wallonien getreten war.
Abbildung 13
Tabelle 12: Wahlbeteiligung bei den Europawahlen 1989, 1984, 1979
Tabelle 12: Wahlbeteiligung bei den Europawahlen 1989, 1984, 1979
Auch in Dänemark stellten sich die Parteien bei der Europawahl einem nationalen Test. Würde die konservative Regierungspartei von Ministerpräsident Schlüter in der Diskussion um die geplante Reform des Steuersystems erneut die Sozialdemokraten auf den zweiten Platz verweisen? Welche Rolle könnte bei dieser Platzzuteilung die schon traditionsreiche antieuropäische Volksbewegung spielen, die sich dieses Mal gemäßigter gegeben und auf Forderung nach Austritt aus der EG verzichtet hatte?
In Spanien hatten die Parteien den Europawahlgang ganz und gar mit Blick auf mögliche Neuwahlen im Herbst 1989 zur Testwahl für oder gegen den sozialistischen Regierungschef Gonzalez erklärt. Er selbst hatte sein eigenes politisches Schicksal. nicht nur das seiner Partei, vom Wahlausgang abhängig gemacht. Die Frage war, inwieweit sich Gonzalez gegen einen neu gefundenen Zusammenschluß der bürgerlich-rechten Opposition würde durchsetzen können. Diese erhoffte sich zusätzlich Auftrieb von dem Konflikt der Sozialistischen Partei (PSOE) mit der sozialistischen Gewerkschaft (UGT). die zum erstenmal ihren Mitgliedern keine Wahlempfehlung für die Sozialistische Partei gegeben hatte.
In Portugal sollte der Wahlgang einen Hinweis liefern auf die Popularität_der liberalen PSD-Regierung von Cavaco Silva und seiner Wirtschafts-und Sozialpolitik, die als gegen die ärmeren Schichten gerichtet heftig kritisiert worden war. Würde die Sozialistische Partei, die mit Mario Soares einen ebenfalls populären Staatspräsidenten stellt, diesen Unmut auffangen können und wieder auf Platz eins unter den Parteien aufrücken, oder würde der PSD von Cavaco Silva bestätigt werden?
Auch in der Bundesrepublik wurde die dritte Europawahl in erster Linie als Test auf die gegenwärtigen politischen Stärkeverhältnisse gewertet. Seit der Serie schwerer Wahlniederlagen steckte die Union in einer tiefen Krise, die Diskussionen über Richtung und Führung ausgelöst hatte. Würde der führenden Regierungspartei CDU/CSU endlich ein Befreiungsschlag aus ihrer bedrängten Lage gelingen? Falls nein, wer würde von den Defiziten der Christdemokraten profitieren? Die traditionelle Opposition, wie es früher die Regel war, oder die kleinen Parteien am Rande, insbesondere die neue rechtsradikale Konkurrenz? Würden sie die Proteststimmen auf sich lenken und sich somit möglicherweise bundesweit etablieren?
Neben der Frage, wie stark sich die Wähler für Europa würden mobilisieren lassen, wie sehr sie die Gelegenheit nutzen würden, ihrer Regierung einen national motivierten Denkzettel zu verpassen, interessierte zudem (über alle zwölf Mitgliedsländer hinweg) die Entwicklung der Parteien an den Rändern links und rechts. Schon die beiden ersten Direktwahlen hatten nämlich gezeigt: Die Europa-wahlen bieten der Wahlbevölkerung Gelegenheit, mit der Wahl eines „ohnmächtigen“ Parlaments, das aus den eigenen Reihen keine Regierung bildet und in den Augen der Wähler auch keine gefestigte Identität besitzt, traditionelle Bindungen weiter zu lockern und eigene, experimentelle Wege zu gehen. Die Folgen waren: extrem niedrige Wahlbeteiligungen (in den Ländern, wo nicht Wahlpflicht besteht); Wahl kleinerer Parteien, zum Teil anti-europäisch orientiert oder auch radikal regional ausgerichtet, rechtsextrem angesiedelt oder aber ökologisch engagiert.
II. Die Wahlergebnisse in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft
Abbildung 2
Tabelle 1: Mandatswechsel 1989— 1984 (1987)
Tabelle 1: Mandatswechsel 1989— 1984 (1987)
1. Gewinner — Verlierer Anhand der Dokumentation der Europawahlergebnisse vom 15. bis 18. Juni läßt sich feststellen, inwieweit der Wahlgang als eine low-interest-Wahl angesehen werden kann; in welchem Umfang er den Charakter einer Nebenwahl hatte, wobei die Regierung geschwächt, die Opposition gestärkt wurde; ob aufgrund der Neigung zum Experimentieren neuen Parteien und politischen Richtungen ein Durchbruch gelang und schließlich, inwieweit sich in ganz Europa einheitliche Trends durchsetzen. Wir beschränken uns dabei auf den Überblick über die Gesamtergebnisse aus den einzelnen Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Eine weitere Regionalisierung würde den hier zur Verfügung stehenden Raum sprengen. Mithin ist es auch nicht möglich, an dieser Stelle Aussagen über sozial-strukturell determinierte Trends bei dieser Wahl zu machen.
Das Europäische Parlament 1989 besitzt etwas andere Konturen als sein Vorläufer. Vergleichszeitpunkt ist Mitte 1987, also nachdem die neuen Mitgliedsländer Spanien und Portugal ihre Abgeordneten für Straßburg gewählt hatten.
Bezogen auf die Fraktionen bzw. Konföderationen des vorherigen Parlaments gab es 1989 drei Gewinner (vgl. Abbildung) 1): Die Sozialisten (15 Mandate mehr; jetzt 181), die GRÜNEN bzw. die „Regenbogenfraktion“ (+ 13; jetzt 33) sowie die Euro-Rechten (+ 5; jetzt 22) — sofern man die bundesdeutschen Republikaner hierzu zählt.
Verlierer waren demgegenüber einerseits die nach Fraktionen getrennten konservativen Parteien und andererseits die Kommunisten: Die Europäischen Demokraten (ED) verloren 17 Mandate (jetzt 50). die Christdemokraten (Europäische Volkspartei/EVP) sieben (jetzt 106), die Sammlungsbewegung der Europäischen Demokraten (SdED) neun (jetzt 20). Die Kommunistische Fraktion büßte sechs ihrer bisher 49 Sitze ein.
Mit nur zwei Abgeordneten weniger ist die Liberale Fraktion eher stabil geblieben (jetzt 43). Die Zahl der fraktionslosen und unabhängigen Abgeordneten erhöhte sich um acht auf 20, wobei es wahrscheinlich nicht nur hier die eine oder andere Ände-rung durch Anschluß an andere Fraktionen geben wird.
Die in nur einer Fraktion gesammelten sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien (181 Sitze) bauten ihren deutlichen Vorsprung als stärkste Fraktion vor der der Europäischen Volkspartei (106) weiter aus. Alle bürgerlichen Parteien zusammen (EVP, ED, Liberale, SdED) kamen allerdings auf 219 Sitze (— 35). 2. Ausmaß an Fluktuation Das Ausmaß an Mandatswechseln war 1989 beträchtlich, aber nicht größer als 1984. In der Addition von gewonnenen und verlorenen Mandaten (vgl. Tabelle 1) haben 136 Sitze — ein Viertel der Gesamtzahl — zwischen den Fraktionen bzw. Konföderationen in den einzelnen Ländern gewechselt; ohne die erst 1987 hinzugekommenen Länder Portugal und Spanien sind es 120; 1984 hatte die Summe der gewechselten Mandate 114 betragen, damals ebenfalls ein Viertel. Offensichtlich gibt es für die Fluktuation bestimmte Grenzen.
Der Grad an Umverteilung richtet sich dabei weitgehend danach, wieviel Mandate den einzelnen Mitgliedsstaaten zustehen: An der Spitze liegen — mit jeweils über 20 Mandatswechseln — die vier Länder mit der höchsten Mandatszahl (81 Sitze): Großbritannien. Bundesrepublik, Frankreich und Italien; ihnen folgt Spanien mit 60 Sitzen. Am Ende steht Luxemburg, wo es trotz einiger prozentualer Verschiebungen keine Veränderung in der Verteilung der sechs Sitze gab. Mit anderen Worten: Das Ausmaß an Fluktuation hing stark von institutionellen Faktoren ab. die sich in der europaweiten Zuteilung von Mandaten zu Wahlberechtigten niederschlagen. Dabei „kosten“ je Land die einzelnen Mandate unterschiedlich viel Stimmen: in den kleineren Ländern weniger, in den größeren mehr, was sich auf Fluktuationsausschläge ebenfalls auswirkt. 3. Einheitliche oder länderspezifische Trends?
Die zum Teil deutlichen Änderungen in den Fraktionsstärken rufen auf den ersten Blick den Eindruck eines „Linksrucks“ in Europa, bei gleichzeitiger Stärkung des rechtsextremen Flügels, hervor. Dies stellt aber keineswegs einen europaweiten Trend dar. Dazu waren Ausgangssituation und Motivlagen in den zwölf Mitgliedsländern zu sehr von verschiedenen innenpolitischen Konstellationen bestimmt. Oppositions-bzw. Teilwahleffekte spielten eher eine Rolle als generelle politische Entwicklungen. Die Gewinne und Verluste von Parteien-bündnissen im Europäischen Parlament waren denn auch europaweit nicht gleichverteilt, sondern beruhen jeweils schwerpunktmäßig auf starken Bewegungen in einzelnen Mitgliedsländern. Das hat im übrigen auch zu deutlichen Verschiebungen der nationalen Gewichte innerhalb der Fraktionen geführt (vgl. Tabelle 2).
Allein 13 der 15 zusätzlichen Mandate für die Sozialisten stammen aus dem Wahlsieg der britischen Labour Party, wobei durch das Mehrheitswahlrecht in Großbritannien die prozentuale Kräfteverschiebung zwischen Konservativen und Labour in den veränderten Mandatszahlen stark überzeichnet wird. Die Briten haben nun mit 46 Abgeordneten das größte Gewicht in der Sozialistischen Fraktion; der Abstand zur nächstgroßen Nationengruppe wird durch die Mandatsverluste der deutschen Sozialdemokraten (um — 2 auf 31) noch verbreitert. Ebenso wie in der Bundesrepublik blieben die Mandatsgewinne und -Verluste der Sozialisten in den übrigen Ländern innerhalb einer Spanne von + 2 bis — 2 Sitzen und saldieren sich im Gesamtergebnis auf einen Gewinn von weiteren zwei Mandaten.
Ähnlich ist das Bild bei den Christdemokraten: Das Abschneiden der EVP-Fraktion ist dominiert von den Mandatseinbußen der bundesdeutschen Union (— 9). Die Christdemokraten gewannen in den Niederlanden zwei Sitze, in Belgien, Griechenland und Spanien je einen. In Portugal (— 1) und Irland (— 2) verloren sie. Die mit 27 Abgeordneten stabilen italienischen Christdemokraten sind nunmehr recht nahe an die CDU/CSU (32) herangerückt.
Die konservativen Europäischen Demokraten verloren in allen drei Ländern, in denen sie antraten. Neben Dänemark und Spanien (jeweils — 2) ist hier wiederum Großbritannien zu nennen, das mit 13 verlorenen Mandaten den größten Ausschlag für den Rückgang der Fraktionsstärke von 67 auf 50 Abgeordnete gegeben hat.
Die Verluste für die Kommunisten (und ihnen nahestehender Parteien) konzentrierten sich auf die beiden Länder, die auch bisher das Gros dieser Fraktion stellten: Italien (— 5; jetzt 22) und Frankreich (-3; jetzt 7). In Spanien und Portugal gewannen sie je einen Sitz hinzu.
Auch für die Liberalen zeigte sich kein einheitlicher Trend in Europa. Bei leichten Einbußen (— Sitze) blieb die EP-Fraktion fast stabil. Hier ragt die deutsche FDP heraus, die nach dem Scheitern von 1984 nun wieder mit vier Abgeordneten in Straßburg einzog. Zudem gewannen die Venstre in Dänemark sowie liberale Einzelkandidaten in Irland je ein Mandat hinzu, während es in sechs Ländern, in Belgien (— 1), Frankreich (— 1). Italien (— 1), Portugal (— 1), Niederlande (— 2) und Spanien (— 2), Verluste gab.
Die Sammlungsbewegung der Europäischen Demokraten (SdED), die sich aus den französischen Gaullisten, der irischen Regierungspartei Fianna Fail und der Scottish National Party zusammensetzt, verlor in Frankreich 2) sieben Mandate und in Irland zwei.
Die Mandatsgewinne für die ökologischen Parteien (+ 13 Sitze) rühren von den Erfolgen der GRÜNEN in Frankreich (+ 9) und in Italien (+ 3) her. Ein zusätzliches Mandat steuerten die bundesdeutschen GRÜNEN (von 7 auf 8) bei. Die GRÜNEN in Großbritannien, prozentual weit stärker als die in Frankreich oder in der Bundesrepublik, erhielten aufgrund des britischen Mehrheitswahlrechts keinen Sitz, stärkten somit nur symbolisch europaweit die . grüne Bewegung.
Rechtsparteien waren nur in der Bundesrepublik sichtlich auf dem Vormarsch: Die Republikaner vergrößerten mit ihrem Wahlerfolg die „Europäische Rechte“ um sechs Mandate; aus Belgien ist zudem das neue Mandat für den „Vlaams Blök“ hinzuzurechnen. Demgegenüber verlor der italienische MSI einen Sitz, und der griechische EPEN-Abgeordnete büßte sein Mandat ein, während Le Pens französische Front National ihre 1984 sensationell eroberten zehn Sitze behielt. Auf gesamteuropäischer Ebene treten die Rechtsradikalen nun mit größerer Lautstärke auf. 4. Das prozentuale Gesamtresultat für Europa Berechnet man die Ergebnisse der Parteien in den zwölf Mitgliedsstaaten, geordnet nach den Fraktionen des bisherigen Europaparlaments, auf ein prozentuales Gesamtresultat für Europa (vgl. Tabelle 3), so fallen die Verschiebungen gegenüber 1984/87 weit geringer aus, als es die Veränderungen der Fraktionsstärken andeuten. Die unterschiedlichen Wahlberechtigtenzahlen und abweichende Trends in der Wahlbeteiligung dämpfen hier die Ausschläge ganz beträchtlich.
Die Sozialisten sind mit 29. 6 Prozent die relativ stärkste Gruppierung in Europa; gegenüber 1984/87 ergeben sich leichte Verbesserungen von + 1, 3 Prozentpunkten. Zweitstärkste Fraktion ist die EVP, die auf 23 Prozent kommt. Ihre europaweiten Verluste sind mit — 0, 3 Punkten eher gering, ähnlich wie die der Konservativen (6, 5; — 1, 2) und der Sammlungsbewegung der Europäischen Demokraten (2, 6; — 0. 9), die jeweils nur in drei Ländern antraten. Auch die Liberalen verloren, auf die Gemeinschaft bezogen, leicht an Rückhalt (— 1, 0) trotz des Erfolgs der FDP in der Bundesrepublik. Deutlicher fallen die Einbußen der Kommunisten aus (9. 9; -2, 1).
Die stärksten Gewinne verzeichnen die ökologischen Gruppen und die verschiedenen ihnen bisher in der „Regenbogen“ -Fraktion angeschlossenen Regionalisten. Sie verdoppelten ihren Anteil um 3, 9 Punkte auf 7, 8 Prozent. Demgegenüber fallen die Zugewinne der „Euro-Rechten“ mit + 1, 1 Punkten auf 4, 7 Prozent bescheiden aus.
Knapp ein Zehntel der Stimmen in Europa entfiel auf Parteien, die keiner Fraktion des Europäischen Parlaments angehören oder den Sprung über die von Land zu Land unterschiedlichen Mandatshürden nicht schafften.
III. Die Europawahl als Nebenwahl — Oppositionseffekte nicht überall
Abbildung 3
Tabelle 2: Mandatsverteilung im Europäisches Parlament nach der Dritten Direktwahl 1989
Tabelle 2: Mandatsverteilung im Europäisches Parlament nach der Dritten Direktwahl 1989
Das auf gesamteuropäischer Ebene nur wenig ausgeprägte Gewinn-und Verlustmuster folgt in den einzelnen Mitgliedsstaaten keinem einheitlichen parteipolitischen Trend. Wie schon 1984, setzte sich 1989 eher der bei Teil-bzw. Zwischenwahlen häufig zu beobachtende midterm-oder Oppositionseffekt durch. Darunter ist folgendes zu verstehen; Die Wähler nutzen bei Wahlen zwischen zwei Wahlterminen von großer, national entscheidender Bedeutung (nämlich bei Nachwahlen, Landtags-/Regionalwahlen, u. ä.) die Gelegenheit, um mit der Regierung abzurechnen. Zwischenwahlen öffnen ein Ventil. Zumeist profitieren die parlamentarischen Oppositionsparteien von diesem Unmut. Am 15. /18. Juni gab es allerdings von dieser Regel auch bedeutsame Ausnahmen.
Die Sozialisten und Sozialdemokraten, in sechs Ländern in der Opposition, gewannen in vier Fällen, in der Bundesrepublik stagnierten sie, in den Niederlanden verloren sie Stimmen (vgl. Tabelle 4). In Griechenland. Luxemburg und Belgien, wo Sozialisten die Regierung stellen oder daran beteiligt sind, verloren sie deutlich; in Frankreich und Italien gewannen sie im Vergleich zu vor fünf Jahren 2. 8 Punkte hinzu; in Spanien blieb der PSOE gegenüber 1987 stabil.
Etwas deutlicher, aber auch nicht durchgängig, ist der Trend zu Regierungsverlusten und Gewinnen in der Oppositionsrolle bei den verschiedenen konservativen Parteien, EVP, ED. SdED (vgl. Tabelle 5). Die konservativen Regierungsparteien in der Bundesrepublik. Irland. Dänemark und Großbritannien erlitten deutliche Stimmenverluste; in Italien und Luxemburg blieben sie in etwa stabil; Gewinne gab es für den regierenden CDA in den Niederlanden und die CVP/PSC in Belgien. Dort gewann also der eine Koalitionspartner, während der andere von den Wählern einen Denkzettel bekam. Ein leichter Oppositionseffekt wurde den Konservativen nur in Griechenland und in Dänemark (Centrum-Demokraterne) zuteil; in Portugal, Spanien und Frankreich erlitten sie trotz ihrer Oppositionsrolle prozentuale Einbußen.
Alles in allem rechtfertigen es diese differenzierten Trends nicht, den Europawahlen 1989 den typischen Charakter von Nebenwahlen mit entsprechenden Oppositionseffekten zuzuschreiben. Um dies abschließend zu bewerten, muß man einen Vergleich zu der jeweils letzten Nationalwahl heranziehen.
Auch dabei ist kein durchgängiger Verlusttrend für die jeweilige Regierung, kein durchgängiger Gewinntrend für die Opposition, sofern sie von Sozialisten oder Konservativen gestellt wird, zu beobachten. Allerdings sind auf der Vergleichsebene mit der letzten Nationalwahl die Muster sehr viel eindeutiger als beim Vergleich der beiden letzten Europawahlen. Wo Sozialisten an der Regierung beteiligt sind, wurde ihnen nahezu durchgängig ein Denkzettel verpaßt (vgl. Tabelle 6); eine Ausnahme bildet hierbei Italien. Kaum besser sieht es auf der Seite der Konservativen aus, wo sie in Europa am Ruder waren. In drei Ländern honorierten die Wähler ihre Arbeit, überall sonst mußten sie Einbußen einstekken (vgl. Tabelle 7). Unter diesem Blickwinkel treten die für Nebenwahlen typischen Muster auf: Neigung zu Strafaktionen gegen die verantwortliche Regierung, Protestvoten für die Opposition.
IV. Tendenzen zu den extremen Rändern?
Abbildung 4
Tabelle 3: Wahlergebnisse der Konföderationen (in Prozent)
Tabelle 3: Wahlergebnisse der Konföderationen (in Prozent)
Wie schon 1984 gab es auch am 15. /18. Juni 1989 nahezu durchweg Gewinne für grüne Parteien bzw.der bisherigen „Regenbogenfraktion“ angeschlossene Gruppierungen (vgl. Tabelle 8). Sie reichten von dem leichten Zuwachs (+ 0, 2) der bundesdeutschen GRÜNEN bis zu den 14, 5 Prozent der englischen Green Party. Leichte Verluste gab es nur in Spanien sowie für die dänische „Volksbewegung gegen die EG“.
Weit weniger durchgängig im Vergleich zu den Ökologen war der Trend auf dem rechtsextremen Spektrum (vgl. Tabelle 9). Drei Gewinnländern, mit der Bundesrepublik deutlich an der Spitze, steTabelle hen drei Verlustländer gegenüber. Die statistische Bedeutung dieser Zahlen tritt jedoch zurück hinter die politische Gewichtung dieser Entwicklung. Er ist überaus brisant, wenn — mehr als 40 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs — in drei der großen EG-Mitgliedsstaaten rechtsradikale Parteien fünf Prozent der Wählerstimmen und mehr erreichen. Und dies insbesondere mit anti-europäiTabelle sehen Affekten, die sie bei ihren Wählern stimulieren. Für die Bundesrepublik läßt sich feststellen: Die Europawahl 1989 verhalf einer neuen Rechts-partei zum Durchbruch; sie war damit Anlaß und Instrument für Teile der Wählerschaft, eine neue politische Orientierung zu dokumentieren.
Im Vergleich zu den Nationalwahlen verschärft sich auch europaweit der Trend zu den radikalen Parteien. Die Ökologen gewannen durchweg (vgl. Tabelle 10), auch die Rechtsparteien (Tabelle 11); Italien stellt dabei wiederum eine Ausnahme dar, weil im europäischen Vergleich die Faschisten die längste Parlamentstradition in der Nachkriegsgeschichte haben und deshalb offenbar Verschleißerscheinungen zeigen.
V. Der Charakter als low-interest-Wahl 1989 erneut bestätigt
Abbildung 5
Tabelle 4: Stimmenanteile der Sozialisten in den beiden Europawahlen
Tabelle 4: Stimmenanteile der Sozialisten in den beiden Europawahlen
Am 15. bzw. 18. Juni 1989 wurden bei der dritten Direktwahl des Europäischen Parlaments rund 138 Millionen gültige Stimmen für die Parteien abgegeben, eine Million weniger als 1984 (eingerechnet die 1987 nachgeholten Wahlen der Neumitglieder Portugal und Spanien). Und das, obwohl etwa acht Millionen mehr Bürger der Gemeinschaft wahlberechtigt waren.
Fast 245 Millionen Bürger der zwölf EG-Mitglieds-staaten waren aufgerufen, die Abgeordneten des Europäischen Parlaments zu wählen, rund acht Millionen mehr als bei der letzten Wahl 1984/87. Die Zahl der Wähler blieb mit rund 143 Millionen jedoch fast unverändert. So ergab sich erneut ein Rückgang der europaweiten Wahlbeteiligung um etwa zwei Prozentpunkte auf 58, 5 Prozent. Rechnet man zum Wahlgang von 1984 die Wahlen von 1987 in Portugal (gleichzeitig mit einer National-wahl) und Spanien nicht hinzu, dann betrug die Wahlbeteiligung damals 59, 4 Prozent und lag knapp einen Punkt höher als 1989.
Wegen unterschiedlicher Wahlrechtsformen (Wahl-pflicht in einigen Ländern) und situativer Sonderbedingungen (wie der gleichzeitigen Nationalwahlen in Irland, Griechenland und Luxemburg, was die Wahlbeteiligung erhöhte) waren 1989 auch wieder starke Abweichungen zwischen den zwölf Mit-'gliedsländern in Trend und Größenordnung der Wahlbeteiligung zu beobachten.
Deutliche Rückgänge der Wählerquoten, die zu Werten etwas über oder unter der 50-Prozent-Marke führten, weisen Portugal (-21, 1 Punkte; hier gab es keine gleichzeitige Nationalwahl wie 1987), Spanien (-14, 1), Frankreich (-8, 0), Dänemark (— 6, 3) und die Niederlande (— 3, 4) auf. Durchschnittlich verringert haben sich die Wähler-zahlen in Italien (— 1, 9), Belgien (— 1, 4) und Luxemburg (— 1, 4), also in jenen Ländern, die wegen der Wahlpflicht die eifrigsten Europawähler aufweisen (über 80 Prozent). Nur in vier Ländern stieg die Wahlbeteiligung: Drastisch (+ 20, 7) wegen der Nationalwahl in Irland, leicht in der Bundesrepublik (+ 5, 5), in Großbritannien (+ 3, 6), das aber dennoch mit 36, 2 Prozent Schlußlicht bleibt, sowie in Griechenland (+ 2, 3), wo es Wahlpflicht gibt und die Wähler durch die gleichzeitige Nationalwahl zusätzlich motiviert waren.
So bestätigt sich, was auch schon in bezug auf allgemeine Trends nach links oder rechts, zu den klei23 neren Parteien am Rande oder im Hinblick auf den Oppositionseffekt bei Nebenwahlen festgestellt wurde: Wegen der differenzierten Trendmuster läßt sich der europäische Wahlgang 1989 nur schwer in allgemeine Entwicklungen einordnen. Dies gilt auch für die Wahlbeteiligung. Allerdings ist der europaweite Durchschnittswert wie schon zwischen 1979 und 1984 erneut um rund zwei Prozentpunkte gesunken. Dies bestätigt die These von der lowinterest-Wahl. Dieser Trend setzt sich jedoch aus gegenläufigen Komponenten zusammen, die zum größten Teil wieder nur aus nationalen Sonderbedingungen zu erklären sind.
Wahlsoziologisch gesehen blieb die Europäische Gemeinschaft somit ein vielschichtiges, in sich stark differenziertes Gebilde, weit entfernt von einem politisch geeinten Europa.
Hans-Jürgen Hoffmann, M. A., geb. 1953; Leiter des Bereichs Politikforschung bei infas, Institut für angewandte Sozialwissenschaft. Bonn. Veröffentlichungen: Politogramme infas-Report Wahlen; Beiträge zur Analyse von Landtags-und Bundestagswahlen. Ursula Feist. Diplom-Psychologin; Leiterin der Abteilung Wahlforschung bei infas, Institut für angewandte Sozialwissenschaft, Bonn. Veröffentlichungen: Analysen zu Bundestags-und Landtagswahlen, zum Wandel des Parteiensystems, zu Parteimitgliedern und Parteieliten, zum Einfluß des Fernsehens auf das Wahlverhalten.
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