Die dritten Direktwahlen zum Europäischen Parlament in der Bundesrepublik Deutschland
Peter Gluchowski/Wolfgang Staudt/Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff
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Zusammenfassung
Das Europawahlergebnis wird vor dem Hintergrund bundes-und europapolitischer Stimmungstrends in der Wählerschaft dargestellt und auf seine regionalen Strukturen hin untersucht. Diese Wahl fand für die CDU/CSU zu einem wesentlich ungünstigeren Zeitpunkt statt als die vorausgegangene. Die Union hatte diesmal ein ausgeprägtes Popularitätstief, das in der Mitte einer Legislaturperiode typisch für nationale Regierungsparteien ist. Aber auch die früher eher idealistischen, europabezogenen Einstellungen der Wählerschaft waren einer nüchterneren Sicht der EG gewichen. Bei grundsätzlich positiver Haltung zum europäischen Integrationsprozeß mehrten sich noch kurz vor der Wahl die kritischen Stimmen über den Nutzen der EG-Mitgliedschaft sowie die Wünsche nach Wahrung der deutschen Belange und Durchsetzung der deutschen Interessen. Vor diesem Hintergrund gelang es den Unionsparteien nicht, ihre nach wie vor hohen europapolitischen Kompetenzen in Stimmen umzusetzen. Der nationale und europapolitische Protest kam vielmehr den rechten Parteien zugute, die erstmals für EG-kritische Wähler eine Alternative boten. Insbesondere der Wahlerfolg der Republikaner ist größtenteils auf eine starke Mobilisierung solcher Wähler zurückzuführen, die sich 1984 vor allem in Bayern und Baden-Württemberg ihrer Stimme enthielten. Das Wahlergebnis deutet so erneut auf den typischen Nebenwahlcharakter von Europawahlcn hin: Da ihre Bedeutung relativ gering eingeschätzt wird, ist die Neigung der Wähler zur Protestartikulation groß. Gerade deshalb darf das Wahlergebnis weder als ein bundespolitischer Test für die Republikaner noch als ein Hinweis auf zukünftige Parteienkonstellationen im Bundestag verstanden werden.
I. Der Charakter von Europawahlen
Europawahlen haben ihre eigenen Rahmenbedingungen, Entscheidungssituationen und Quasi-Gesetzmäßigkeiten. Eine europäische Regierung steht (bisher) nicht zur Wahl. Das Europäische Parlament (EP) hat im Beziehungsgeflecht der europäischen Institutionen einen zwar zunehmenden, aber immer noch relativ geringen Einfluß auf die europäische Politik. Und die politischen Programme und Stärkeverhältnisse der EP-Fraktionen und ihrer jeweiligen Flügel sind für die Mehrzahl der Wähler nur schwer durchschaubar. Damit entfällt für die meisten Wähler ein bedeutendes Wahlmotiv: das Bewußtsein, auf europäischer Ebene über Machterhalt oder Machtwechsel, über die Kontinuität einer bestimmten Politik oder deren Kurs-korrektur entscheiden zu können. Europawahlen stellen sich für die Wähler als eine vergleichsweise unwichtige Wahl dar, bei der für sie wenig auf dem Spiel zu stehen scheint. Dies spiegelt sich auch in den Einschätzungen der Bevölkerung wider: Kurz vor der Wahl hielten 63 % der Befragten Europa-wahlen für sehr wichtig oder zumindest für wichtig — im Gegensatz zu 95%, die den Bundestagswahlen, 90% die den Landtagswahlen und immerhin noch 86%, die den Kommunalwahlen diese Bedeutung zumaßen 1).
Abbildung 19
Tabelle 5: Nationale oder europäische Lösung politischer Probleme Quelle: Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung, Archiv-Nr. 8804, 8901.
Tabelle 5: Nationale oder europäische Lösung politischer Probleme Quelle: Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung, Archiv-Nr. 8804, 8901.
Europawahlen haben deshalb in der Bundesrepublik den typischen Charaktervon Nebenwahlen, bei der die Wahlentscheidungsfaktoren der spezifischen politischen Arena (hier: Europapolitik) durch Faktoren der politischen Hauptarena (nationale Politik) ergänzt oder überlagert werden Infolge der geringen Bedeutung von Nebenwahlen ist die Wahlbeteiligung typischerweise gering und die Neigung zum Protestwahlverhalten gegen die Politik der jeweiligen nationalen Regierung groß. Deshalb fiel bei den bisherigen Europawahlen die Wahlentscheidung in den meisten EG-Mitglieds-ländern zu Lasten der jeweiligen nationalen Regierungsparteien aus Aufgrund einer Quasi-Gesetzmäßigkeit hängt die Größe der Verluste dabei von einer typischen Popularitätskurve der Regierungsparteien ab: Nach gewonnener nationaler Wahl steigt die Regierungspopularität zunächst infolge einer Nachwahleuphorie für kurze Zeit an, sinkt dann aber in der Folgezeit bis etwa in der Mitte einer Legislaturperiode deutlich ab, um kurz vor der nächsten nationalen Wahl wieder anzusteigen Das Ergebnis der Europawahl wird für die nationale(n) Regierungspartei(en) deshalb wesentlich dadurch mitgeprägt, in welche Popularitätsphase der Zeitpunkt der Europawahl fällt. In den Koalitionsregierungen der Bundesrepublik ist besonders die größere Regierungspartei von den Popularitätsverlusten in der Mitte einer Legislaturperiode betroffen. Auf die FDP als kleineren Koalitionspartner wirkt sich dagegen der Popularitätszyklus in der Regel kaum aus.
II. Nationale und europäische Meinungstrends im Vorfeld der Wahl
Abbildung 15
Tabelle 1: Veränderungen im Prozeß der europäischen Einigung Quelle: 3/1984, 3/1989 Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung. Archiv-Nr. 8401, 8901; 5/1989. 6/1989 Basisresearch-Telefonumfragen.
Tabelle 1: Veränderungen im Prozeß der europäischen Einigung Quelle: 3/1984, 3/1989 Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung. Archiv-Nr. 8401, 8901; 5/1989. 6/1989 Basisresearch-Telefonumfragen.
1. Die bundespolitische Ausgangslage Gemessen an ihrer Popularitätskurve (Abbildung) fand die Europawahl 1989 für die in Bonn regierenden Unionsparteien zu einem wesentlich ungünsti-geren Zeitpunkt statt als die vorausgegangene. Im Juni 1984 (15 Monate nach der Bundestagswahl) hatten sie zwar bereits an Popularität verloren, wurden aber im Vergleich zur SPD noch überwiegend positiv eingeschätzt. Im Juni 1989 dagegen — fast zweieinhalb Jahre nach der Bundestagswahl 1987, die von schwierigen, von der Bevölkerung vielfach kritisch bis ablehnend aufgenommenen Reformvorhaben gekennzeichnet waren — befanden sie sich in einem ausgeprägten Stimmungstief, in das sie seit Anfang des Jahres 1988 geraten waren. Zwar ver-besserte sich dieses Stimmungstief seit Mai 1989 leicht dennoch lag die Union zum Zeitpunkt der Wahl in ihrer Popularität ebensoweit hinter der SPD zurück, wie sie 1984 vor ihr geführt hatte. Ein weiteres Novum in der innenpolitischen Parteienkonstellation waren die Wahlerfolge, die rechtsradikale Splitterparteien seit Anfang des Jahres 1989 erzielten. Galten die Republikaner bis dahin noch primär als bayerisches Phänomen, so brachten sie mit ihrem Wahlerfolg im Januar 1989 die Berliner CDU um die Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Sechs Wochen später mußte die CDU auch bei den Kommunalwahlen in Hessen deutliche Verluste durch die NPD und die Republikaner hinnehmen. Sie verlor dabei ihre Mehrheit in Frankfurt und in zahlreichen weiteren kommunalen Parlamenten.
Abbildung 20
Tabelle 6: Vergleich der Europawahlergebnisse 1989— 1984
Tabelle 6: Vergleich der Europawahlergebnisse 1989— 1984
Spätestensjetzt wurde deutlich, daß die Unionsparteien durch die vermehrte Konkurrenz am rechten Rand des Parteiensystems Gefahr liefen, Stimmen zu verlieren. Diese Gefahr erschien besonders bei der Europawahl groß, da hier ein innenpolitisches Protestvotum leichtfällt, weil damit der Bestand der Bundesregierung nicht gefährdet wird, die Wahl-entscheidung auf nationaler Ebene also folgenlos bleibt. 2. Die europapolitische Ausgangslage Die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft und die deutsche EG-Mitgliedschaft wurden im Vorfeld der Wahl sehr differenziert und pragmatisch beurteilt. Dabei ergaben sich zwei gegenläufige Trends: Zum einen stiegen nach dem Durchbruch, der mit der Entscheidung zur Einführung des europäischen Binnenmarktes erreicht wurde, die positiven Haltungen gegenüber dem europäischen Integrationsprozeß deutlich an. Andererseits deutete sich mit einer ausgeprägten Forderung nach Wahrung und Einbringung der deutschen Interessen innerhalb der EG ein verstärktes deutsches Selbstbewußtsein an, das das eher ideelle Europa-engagement früherer Jahre allmählich ablöste
Abbildung 21
Tabelle 7: Sitze der Bundesrepublik Deutschland im Europäischen Parlament
Tabelle 7: Sitze der Bundesrepublik Deutschland im Europäischen Parlament
Für 90% der Bundesbürger ist die Europäische Gemeinschaft zu einer Selbstverständlichkeit geworden; nur 10% wollen sie abschaffen. Überwog noch vor der Europawahl 1984 die Ansicht, die erste Legislaturperiode des direkt gewählten Europaparlaments sei eher durch Rückschläge (35 %) als durch Fortschritte (21 %) im europäischen Integrationsprozeß gekennzeichnet gewesen, so ergab sich diesmal ein deutlich positiveres Meinungsbild (Tabelle 1). Gut jeder zweite Bundesbürger war von den Fortschritten im europäischen Einigungsprozeß überzeugt. Nur jeder dreizehnte beurteilte den Integrationsprozeß negativ. Die stärkste Zunahme der Positiveinschätzungen erfolgte in den letzten drei Monaten vor der Wahl. Auch die Arbeit des Europäischen Parlaments wurde besser eingeschätzt als 1984. Der Integrationsprozeß selbst fand bei der großen Mehrheit der Bevölkerung grundsätzliche Befürwortung. Gut die Hälfte der Bevölkerung wollte ihn so weiter geführt sehen wie bisher. Ein Drittel sprach sich sogar für eine Beschleunigung der europäischen Einigung aus und nur 14 % wollten sie verlangsamen.
Abbildung 22
Tabelle 8: Stimmenanteile und Wählertrends 1984— 1989 in Süd und Nord Quelle: Infas-Report Wahlen (Anm. 7), S. 45
Tabelle 8: Stimmenanteile und Wählertrends 1984— 1989 in Süd und Nord Quelle: Infas-Report Wahlen (Anm. 7), S. 45
Der Wunsch nach Schaffung einer europäischen Regierung stand dabei im Vordergrund. 52% der Bevölkerung waren für eine solche Regierung entweder mit beschränkten oder sogar mit umfassenden Kompetenzen (Tabelle 2). Für die meisten Wähler stellte sich die Frage nach der zukünftigen Ausgestaltung der Europäischen Gemeinschaft aber als Alternative zwischen dem Status quo (36%) und einer europäischen Regierung mit eingeschränkter Kompetenz (35%) dar. Eine Regierung mit umfassender Kompetenz wurde nur von 17% befürwortet. Auffällig waren dabei, abweichend vom allgemeinen Trend, generationsspezifische Bewertungsmuster. Die Wähler der mittleren Altersgruppen (25-bis 44jährige) hatten die weitestgehende Vorstellung von einer . zukünftigen Ausgestaltung der EG, nämlich die Befürwortung einer europäischen Regierung mit umfassender Kompetenz (ca. 23%). Eine Regierung mit beschränkter Kompetenz fand unter den 18-bis 24jährigen Jung-und Erstwähler die meisten Anhänger (43%). Bei den älteren Jahrgängen — insbesondere den über 60jährigen — zeigte sich dagegen eine deutlich überdurchschnittliche Befürwortung des Status quo und gleichzeitig die stärkste EG-Gegnerschaft. Während die europäische Einigung grundsätzlich von einem wachsenden Teil der Bevölkerung zunehmend honoriert wurde, mehrten sich andererseits in den letzten Monaten vor der Wahl offensichtlich die Verärgerungen über und die Unzufriedenheit mit der konkreten Politik innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Dies kam besonders bei der Bewertung der deutschen EG-Mitgliedschaft zum Ausdruck. Noch im November 1988 unterschieden sich hier die Einschätzungen kaum vom generellen Bild früherer Jahre: Die Hälfte der Bevölkerung nahm Vorteile und Nachteile der EG-Mitgliedschaft gleichermaßen wahr. Und diejenigen, die überwiegend negativ urteilten, hielten sich mit den überwiegend Zufriedenen die Waage (jeweils ein Viertel der Wähler). Danach stieg jedoch der Anteil der Skeptiker stark an (Tabelle 3). Im Mai 1989 lag er bereits bei 31 % und erhöhte sich bis zur Wahl im Juni noch auf 39 %. Kurz vor der Wahl überwogen im Meinungsklima damit deutlich die negativen Aspekte deutscher EG-Mitgliedschaft.
Abbildung 23
Tabelle 9: Ergebnisse der Europawahl 1989 in Baden-Württemberg nach Regions-und Kreistypen
Tabelle 9: Ergebnisse der Europawahl 1989 in Baden-Württemberg nach Regions-und Kreistypen
Als ein wesentlicher Posten dieser Negativbilanz wurde dabei die „Zahlmeisterrolle“ der Bundesrepublik angesehen. Obwohl 40 % aller Bundesbürger nach eigenem Bekunden nicht wußten, wie hoch die deutschen Zahlungen an die EG-Gemeinschaftskasse sind, hielten sie zwei Drittel unverändert für zu hoch. Und diejenigen, die Veränderungen in der Höhe der Zahlungen während der letzten Jahre wahrgenommen hatten, urteilten weitgehend negativ: 72 % von ihnen hielten die deutschen Beiträge für noch ungerechter als einige Jahre zuvor. Auch die Auswirkungen des europäischen Binnenmarktes auf die Bundesrepublik wurden — gemessen an den überaus positiven Einstellungen zur europäischen Integration — eher vorsichtig zurückhaltend eingeschätzt. Bei relativ geringem Kenntnisstand hielten sich Hoffnungen und Befürchtungen ziemlich exakt die Waage. Die eine Hälfte der Bevölkerung sah den Binnenmarkt eher optimistisch. die andere eher pessimistisch. Negative Auswirkungen des Binnenmarktes wurden dabei überwiegend im Bereich der Wirtschaftspolitik (35%) und der Arbeitsmarktpolitik (16%) erwartet. Die Bundesbürger fürchteten vor allem allgemeine Wettbewerbsnachteile für die Bundesrepublik und speziell für die deutschen Landwirte, mögliche Preissteigerungen, eine Steigerung der Arbeitslosenzahlen, die vermehrte Einreise von Gastarbeitern und die Gefährdung des hohen deutschen Sozialleistungsstandards. Bei dieser kritischen Sicht über den Nutzen der EG für die Bundesrepublik wurde die jetzige Wahl verB mutlich stärker von bundesrepublikanischem Selbstbewußtsein dominiert als die vorherigen. Die Durchsetzung der bundesdeutschen Belange innerhalb der EG hatte für die Wähler einen klaren Vorrang vor weiteren Fortschritten in der europäischen Integration. Nur 19 % waren bereit, diese nationalen Interessen zugunsten einer europäischen Einigung zurückzustellen. 79 % dagegen wollten sie unter allen Umständen künftig in der Europäischen Gemeinschaft durchgesetzt wissen (Tabelle 4). Die Anhänger von CDU/CSU, SPD und FDP unterschieden sich in dieser Haltung nicht wesentlich. Die weitaus stärkste Befürwortung für einen harten nationalen Kurs in Brüssel und Straßburg kam aus dem Wählerpotential der neuen rechtsradikalen Parteien, die geringste dagegen war in der Anhängerschaft der GRÜNEN zu beobachten.
Abbildung 24
Tabelle 10: Ergebnisse der Europawahl 1989 in Bayern nach Regions* und Kreistypen
Tabelle 10: Ergebnisse der Europawahl 1989 in Bayern nach Regions* und Kreistypen
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung erschien es fraglich, ob die Unionsparteien ihre europapolitische Kompetenz, die ihnen bei den vorherigen Europawahlen zu guten Ergebnissen verhelfen hatte, auch diesmal würde umsetzen können. Trotz innenpolitischer Schwierigkeiten schien diese Kompetenz noch im März 1989 ungebrochen. 45 % der Wähler billigte ihnen den stärksten Einsatz für Europa zu. Nur 33 % hielten die SPD für kompetenter. Damit hatte sich der Vorsprung der CDU/CSU vor der SPD gegenüber der Situation vor der Europawahl 1984 sogar noch um fünfProzentpunkte vergrößert. Die gewandelte Einstellung über den Nutzen der konkreten EG-Politik für die Bundesrepublik schien jedoch diejenigen Parteien, die im Wahlkampf eine eher anti-europäische Haltung erkennen ließen, eher zu begünstigen. Bereits bei der Europawahl 1984 gelang es insbesondere der NPD (aber auch anderen kleinen rechten Splitterparteien) mit einem Wahlkampfgegen die Europäische Gemeinschaft kleinere Wahlerfolge zu erzielen. Mit den Republikanern und der Deutschen Volks-union (DVU) traten 1989 erstmalig Parteien an, die mit ihrem generellen massiven „Nein zu dieser EG“ auf breiter Front Protest und Antihaltungen gegen die Europäische Gemeinschaft zu mobilisieren versuchten und damit für EG-kritische Wähler eine erfolgversprechende, eindeutig nationalistische und anti-europäische rechte Alternative darstellten.
Abbildung 25
Tabelle 11: Ergebnisse der Europawahl 1989 in der Bundesrepublik ohne Bayern und Baden-Württemberg nach Regions-und Kreistypen
Tabelle 11: Ergebnisse der Europawahl 1989 in der Bundesrepublik ohne Bayern und Baden-Württemberg nach Regions-und Kreistypen
Bundesweit existierte im Frühjahr 1989 ein latentes rechtes Wählerpotential von beachtlicher Größe: 15% erklärten sich bereit, die Republikaner oder eine andere rechtsradikale Partei „unter gegebenen Umständen“ mit ihrer Stimme zu unterstützen. Nirgendwo waren die kritischen Einstellungen gegenüber der EG so verbreitet wie in diesem Wähler-potential: Fast zwei Drittel sahen in der deutschen EG-Mitgliedschaft nur Nachteile; 84% hielten die Leistungen der Bundesrepublik an die EG für zu hoch, und fast zwei Drittel sahen dem Binnenmarkt mit besonders starken Befürchtungen entgegen. Annähernd jeder aus diesem Potential (93%) sprach sich für die uneingeschränkte Durchsetzung der deutschen Interessen in Brüssel und Straßburg aus. Diese Haltung wurde für die Anhänger des Rechtspotentials zum wichtigsten Wahlmotiv überhaupt. In diesem politischen Klima waren sowohl die Wahlbeteiligung als auch die Stimmabgabe für eine bestimmte Partei stärker als bei den vorausgegangenen Europawahlen eine Entscheidung zwischen pro-und antieuropäischer Haltung. Dieses Spannungsfeld wirkte sich zweifellos auf die Wählerschaft mobilisierend aus. Jeder dritte Wähler hielt die Europawahl vom 18. Juni 1989 für wichtiger als die beiden vorhergehenden. 3. Politische Themen zwischen europäischer Zuständigkeit und verstärktem nationalem Interesse
Im Spannungsfeld zwischen pro-und antieuropäischen Haltungen hielten die Wähler weitgehend die schon seit Jahren drängenden nationalen Probleme auch im europäischen Rahmen für wichtiger als die verschiedensten Themen der europäischen Integration. Im Wahlkampf selbst spielten jedoch für viele Wähler Themen nur eine untergeordnete Rolle. Wie schon 1984 konnten auch 1989 in Meinungsumfragen mehr als ein Drittel der Befragten keine Angaben über die wichtigsten Themen im Wahl-29 kampf machen Die wahrgenommenen Wahlkampfthemen betrafen zwar weitgehend integrationspolitische Fragen wie die Einführung des Binnenmarktes und die Weiterführung der Vereinigung/Integration; von den politischen Aufgaben, die man als wichtig für Europa ansah. waren diese aber nicht die wichtigsten. An vorderster Stelle standen vielmehr solche Aufgaben, die schon seit Jahren auch im nationalen Rahmen als besonders wichtig angesehen wurden, nämlich die Friedenssicherung (46%).der Umweltschutz (26%). die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit (14%). die Wirtschaftsstabilität (9%) und die Ausländer-/Asylantenpolitik (8%) Dann erst folgten der Wichtigkeit nach die Themen der europäischen Integration, wie die im Wahlkampf der Parteien besonders herausgehobene Thematik des zukünftigen europäischen Binnenmarktes (7%), der Wegfall der Grenzen (5%) und die Schaffung einer gemeinsamen Währung (4%).
Hier zeigt sich auf der einen Seite, daß die thematischen Entscheidungsgründe für die Europawahl von denen der nationalen Politik überlagert wurden. Auf der anderen Seite übertrugen viele Wähler aber auch nicht unterschiedslos den nationalen Aufgabenkatalog auf Europa. Denn von den für die Bundesrepublik Deutschland wichtigsten politischen Problemen — Bekämpfung der Arbeitslosigkeit (51%) vor Ausländer-/Asylantenpolitik (36%), Umweltschutz (35%), Rentensicherung (15%) und im Mittelfeld Friedenssicherung (7%) — wurden nur die Friedenssicherung und der Umweltschutz (wie oben gezeigt) für die europäische Ebene als wichtig angesehen. Offensichtlich erwartet man nur bei bestimmten Aufgaben von der Zusammenarbeit mit anderen Ländern in der Europäischen Gemeinschaft eine Hilfe bei der Lösung dieser Probleme. Diese differenzierte Sicht der Nützlichkeit und Leistungsfähigkeit der EG zeigt sich noch deutlicher in der Beschreibung, welche vorgegebenen Aufgaben besser national und welche besser zusammen mit den europäischen Partnern zu lösen sind (Tabelle 5). Zu den politischen Aufgaben, die eindeutig besser europaweit gelöst werden sollten, gehörten — neben den bedeutendsten europäischen Aufgaben Umweltschutz und Friedenssicherung — die Entspannungspolitik mit der Sowjetunion und die Bündnisfrage mit den USA. Zu den Aufgaben, die besser allein in der Bundesrepublik zu lösen seien, gehörten ebenso eindeutig die sozialen Fragen wie Rentensicherung, Verbesserung der Sozialleistungen, Wohnungsbauförderung sowie die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Bei anderen von einer Mehrheit der Bevölkerung als wichtig angesehenen Aufgaben wie Wirtschaftsstabilität und Verbrechensbekämpfung bestand unmittelbar vor der Wahl nur noch ein leichtes Übergewicht für eine gemeinsame europäische Lösung. Diese Einstellung ist vor allem darauf zurückzuführen, daß im letzten halben Jahr vor der Wahl nationale Problemlösungen für die Bürger immer mehr in den Vordergrund traten. Davon blieben nur die eindeutig europäisch zuzuordnenden ökologischen sowie außen-und sicherheitspolitischen Themen ausgenommen. Bei allen anderen politischen Aufgaben entschieden sich im Frühjahr 1989 zwischen elf und 15% mehr Wähler als noch ein halbes Jahr vorher dafür, die Aufgaben besser allein in der Bundesrepublik zu lösen. Die Wähler drückten somit zunehmend Vorbehalte gegen einen zu großen Einfluß der EG auf die Lösung aller Aufgaben aus, die sie nicht eindeutig dem europäischen Rahmen zuordneten bzw. bei denen sie aus Brüssel schlechtere Lösungen als im bundesrepublikanischen Rahmen befürchteten. Besonders ausgeprägt waren diese Vorbehalte unter den Anhängern der rechten Parteien. die sich besonders stark für nationale Lösungen aussprachen. Dieser Trend entspricht dem generell gewachsenen Wunsch, innerhalb der EG deutsche Interessen durchzusetzen.
Ein besonderes Element in der Bedeutung politischer Frageri vor der Europawahl spielte die Ausländer-/Asylantenthematik. In der Form der Zuzugsbeschränkung für Ausländer und Asylanten hat dieses Thema in den letzten Jahren den größten Bedeutungszuwachs erhalten. Sowohl im Herbst 1985 als auch im Herbst 1986 maßen diesem Thema nur gut ein Drittel der Bevölkerung besondere Wichtigkeit bei. Im Frühjahr 1989 dagegen sahen mehr als die Hälfte der Bevölkerung (56%). zwei Drittel der CDU/CSU-Anhängerschaft und sogar neun von zehn Anhängern der rechten Parteien dieses Thema als besonders wichtig an. Für die Anhänger der rechten Parteien war es sogar die wichtigste politische Aufgabe überhaupt. Der Bedeutungszuwachs innerhalb der letzten zweieinhalb Jahre vollzog sich — wenngleich auf unterschiedlichem Niveau — in allen Bevölkerungsgruppen nahezu gleichmäßig. Junge Leute und Hochgebildete halten dabei das Ausländerthema für weniger wichtig als alte Menschen und Wähler mit Volksschul-'bzw. Hauptschulbildung. Darüber hinaus stieg in allen Parteianhängerschaften — angefangen von den Republikanern und der NPD über die Unionsanhänger bis hin zu den Anhängern der GRÜNEN — gegenüber der letzten Legislaturperiode die Bedeutung dieses Themas nahezu gleichmäßig um 20 Prozentpunkte an.
Die Europawahl fand also in einer Zeit statt, in der auf der einen Seite die Themen der europäischen Integration beim Wähler keine hohe Priorität besaßen, auf der anderen Seite aber die Wahlkampfkonzeption der beiden Volksparteien darauf angelegt war. sich als jeweils bessere Europapartei darzustellen Daneben erwartete man von der EG zwar Hilfe bei der Lösung bestimmter wichtiger Teilbereiche der Politik (insbesondere beim Umweltschutz und in außen-und sicherheitspolitischen Fragen). aber gleichzeitig war in allen anderen Politikfeldern der Wunsch nach eigenständigen bundesrepublikanischen Lösungen gewachsen. Hinzu kamen älterer EG-Agrarprotest und diffuse Ängste, aber auch konkrete Sorgen z. B. um die Zahlmeisterrolle der Bundesrepublik und um die Auswirkungen des Binnenmarktes. Zusammen mit der deutlich gestiegenen distanzierten Haltung gegenüber steigenden Ausländerzahlen bestand deshalb eher für rechte Parteien — die bei diesen Themen die Meinungsführerschaft besaßen — die Chance, dieses Klima für sich zu nutzen, als für die SPD als große Oppositionspartei.
III. Das Wahlergebnis
Abbildung 16
Tabelle 2: Zukünftige Ausgestaltung der Europäischen Gemeinschaft Quelle: Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung, Archiv-Nr. 8901. März 1989.
Tabelle 2: Zukünftige Ausgestaltung der Europäischen Gemeinschaft Quelle: Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung, Archiv-Nr. 8901. März 1989.
Das Wahlergebnis vom 18. Juni 1989 reflektiert den typischen Nebenwahlcharakter der Europawahl: Bei relativ niedriger (wenn auch im Vergleich zu 1984 gestiegener) Wahlbeteiligung mußten die in der Bundesregierung führenden Unionsparteien empfindliche Verluste hinnehmen, die von den übrigen im Bundestag vertretenen Parteien nicht oder nur in unwesentlicher Höhe in prozentuale Stimmengewinne umgemünzt werden konnten. Der nationale und europapolitische Protest wurde vielmehr rechtsaußen manifest. Von 45, 8 Millionen wahlberechtigten Bundesbürgern beteiligten sich diesmal 28, 5 Millionen an der Wahl. Im Vergleich zur Europawahl 1984 stieg damit die Wahlbeteiligung bundesweit um 5, 5 Prozentpunkte auf 62, 3 % an. Sie blieb aber noch um 3, 4 Punkte unter derjenigen der ersten Direktwahl von 1979 (65, 7%).
Mit einem Stimmenanteil von 37, 8% (10, 7 Mill. Wähler) erzielte die CDU/CSU ihr schwächstes Ergebnis in den bisherigen Europawahlen. Die Zahl ihrer Mandate im Europäischen Parlament sank von 41 auf 32. Trotz der starken Verluste von 8, 1 Prozentpunkten (— 758 Tsd. Stimmen) blieb sie aber noch knapp stärkste Partei (Tabellen 6 und 7).
Die SPD mußte bei einem Stimmenanteil von 37, 3% (10, 5 Mill. Wähler) trotz eines absoluten Stimmenzuwachses von 1, 2 Millionen infolge der gestiegenen Wahlbeteiligung einen leichten relativen Verlust von 0, 1 Prozentpunkten hinnehmen. Ihre Mandatszahl sank dadurch von 33 auf 31 ab. Die GRÜNEN konnten mit einem leichten Zuwachs von 0, 2 Prozentpunkten (+ 356 Tsd. Stimmen) ihren Anteil bei 8. 4% (2, 4 Mill. Wähler) stabilisieren und die Zahl ihrer Mandate sogar von sieben auf acht erhöhen.
Den Freien Demokraten gelang mit 5, 6% (1, 6 Mill. Wähler) der Wiedereinzug in das Europaparlament, wo sie mit vier Sitzen vertreten sein werden. Mit einem Zuwachs von nur 0, 8 Prozentpunkten (+ 384 Tsd. Stimmen) sind sie der größte Gewinner der Wahl unter den im Bundestag vertretenen Parteien.
Eigentlicher Gewinner sind jedoch die Republikaner, die mit ca. zwei Mill. Stimmen die Fünfprozenthürde übersprangen, einen Stimmenanteil von 7, 1% für sich verbuchten und damit auf Anhieb sechs Mandate erreichten.
Bemerkenswert hoch liegt außerdem mit 3, 7% der Anteil der „sonstigen Parteien“, wobei allein die rechten Parteigruppierungen (DVU, Ökologisch-Demokratische Partei, Bayern Partei, Christliche Mitte. Zentrum, Liga) 3% der Stimmen für sich verbuchen konnten. Erfolgreichste Partei unter ihnen war die DVU. die auf 1. 6% kam. Zusammen mit den Republikanern mobilisierte somit der rechtsradikale und rechtskonservative Rand bei dieser Wahl über 10% der Stimmen.
IV. Strukturelle und regionale Besonderheiten des Wahlergebnisses
Abbildung 17
Tabelle 3: Nutzen der EG-Mitgliedschaft für die Bundesrepublik Quelle: 10/1983 bis 3/1989 Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung. Archiv-Nr. 8307. 8804. 8901; 6/1989 Infas-Report Wahlen. Europawahl 1989, Bonn 1989, S. 120.
Tabelle 3: Nutzen der EG-Mitgliedschaft für die Bundesrepublik Quelle: 10/1983 bis 3/1989 Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung. Archiv-Nr. 8307. 8804. 8901; 6/1989 Infas-Report Wahlen. Europawahl 1989, Bonn 1989, S. 120.
1. Strukturelle Besonderheiten Das vorliegende Wahlergebnis muß vor allem vor dem Hintergrund einer ausgeprägten Nord-Süd-Differenzierung gesehen werden. Regionale Kulturen scheinen dabei für die Gewinn-und Verlustmuster der Parteien ausschlaggebender zu sein als soziale Strukturen
Bundesweit betrachtet stieg die Wahlbeteiligung dort am stärksten, wo sie bei der vorhergehenden Wahl niedrig gewesen war, so daß sich die Wahlbeteiligungsraten diesmal tendenziell einander anglichen Der deutliche Zuwachs der Wahlbeteiligung wurde zum allergrößten Teil durch die starke Mobilisierung der Wähler in den Bundesländern Bayern (+ 14, 9 Prozentpunkte) und Baden-Württemberg (+ 10, 2 Prozentpunkte) hervorgerufen. Im übrigen Bundesgebiet stieg die Wahlbeteiligung nur um 1, 2 Prozentpunkte an. Bei der Europawahl 1984 war sie in beiden südlichen Bundesländern stark überdurchschnittlich gesunken. Offensichtlich äußerten bereits bei dieser Wahl im Süden der Bundesrepublik zahlreiche Bürger ihre Proteste gegen die EG in Form einer Wahlenthaltung, kehrten 1989 aber zu den Urnen zurück. Diese starke Remobilisierung im Süden ging in erster Linie auf das Konto der Republikaner und wirkte sich zu Lasten von CDU und CSU aus. Obwohl die CDU in Baden-Württemberg nur ca. 33 000 Stimmen einbüßte, hatte sie prozentual aufgrund der gestiegenen Wahlbeteiligung einen starken Verlust von 11, 6 Prozentpunkten zu verzeichnen. In Bayern gewann die CSÜ sogar 215 000 Stimmen hinzu, verlor aber prozentual dennoch aus demselben Grund 11, 8 Prozentpunkte. Die Republikaner erzielten in Baden-Württemberg ein Ergebnis von 8, 7 % und in Bayern sogar eines von 14. 6%. Die SPD verlor in Bayern, gewann in Baden-Württemberg allerdings 1, 8 Prozentpunkte hinzu. Außerhalb Bayerns lagen die Verluste der Union, faßt man alle übrigen Bundesländer zusammen, mit 7, 3 Prozentpunkten etwa in der Größenordnung der letzten Landtagswahlen. SPD, FDP und GRÜNE gewannen Stimmen hinzu; die Republikaner blieben knapp unter 5 % (Tabelle 8).
Die Bedeutung konfessioneller Bindungen zeigt sich auch bei dieser Wahl, schwächte sich im Vergleich zu früheren Wahlen jedoch ab. Damit setzte sich ein schon länger sichtbarer Trend fort. Die CDU/CSU verlor in Gebieten mit hohen Katholikenanteilen erheblich, blieb aber dennoch stärkste Partei. Gleichzeitig verzeichneten die Republikaner in diesen Regionen überdurchschnittliche Wahlerfolge. Die Gebiete mit hohen Katholikenanteilen liegen jedoch überwiegend in Bayern und Baden-Württemberg; bei getrennter Süd-Nord-Betrachtung stellte der Katholikenanteil kein entscheidendes Kriterium für hohe Wähleranteile der Rechtsparteien dar. Im Süden der Bundesrepublik verlor die CDU/CSU bei starken Gewinnen der Republikaner in katholischen und protestantischen Gebieten relativ gleichmäßig. Außerhalb der beiden südlichen Bundesländer kehrte sich der Zusammenhang sogar teilweise um. Vor allem in den katholischen Gebieten in Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen kam zumindest ansatzweise der Oppositionseffekt zum Tragen, indem Teile der Unionsverluste der SPD zuflossen
Die Regionen mit überdurchschnittlichen Verlusten der Union und damit gleichzeitig die Gebiete mit den höchsten Stimmenanteilen für die Republikaner sind außerdem durch hohe Anteile an (landwirtschaftlichen) Selbständigen und Arbeitern, niedrige Bevölkerungsdichte sowie niedrige Arbeitslosenquoten gekennzeichnet. Auch diese scheinbar so deutlichen Zusammenhänge sind vor allem auf Nord-Süd-Effekte zurückzuführen. Sie werden ebenfalls dadurch hervorgerufen, daß die entsprechenden Gebiete überwiegend in Bayern und Baden-Württemberg liegen und in diesen beiden Bundesländern die Republikaner ihre größten Wahlerfolge erzielten. Lediglich für den Arbeiter-anteil gilt — sowohl im Süden als auch im restlichen Bundesgebiet —, daß mit steigendem Arbeiteranteil der Stimmenanteil für die Rechtsparteien zunimmt. Diese Tendenz ist in Baden-Württemberg am deutlichsten ausgeprägt, in Bayern und im übrigen Bundesgebiet dagegen nur abgeschwächt sichtbar
Die SPD verlor überdurchschnittlich in Regionen, in denen auch die CDU/CSU ihre höchsten Verluste verzeichnete, die Republikaner ihre besten Ergebnisse erzielten und die GRÜNEN leicht dazugewannen. Diese Gebiete liegen fast ausschließlich in Bayern. Außerhalb Bayerns verlor die SPD nur in einigen städtischen Zentren, vorwiegend in solchen mit einem hohen Anteil an Dienstleistungen. Insgesamt verzeichnete sie außerhalb Bayerns überwiegend Gewinne, die mit unterdurchschnittlichen Wahlergebnissen für die Republikaner, hohem Protestantenanteil sowie Verlusten der GRÜNEN zusammenfielen.
Die FDP verbesserte sich insgesamt gegenüber 1984. Ihre Gewinne konzentrierten sich, ebenso wie bei den GRÜNEN, auf städtische Gebiete, während sie in ländlichen Gebieten geringfügig verlor. Die Entwicklung in den Hochburgen der einzelnen Parteien folgte im allgemeinen dem Bundestrend. Lediglich die CSU macht eine Ausnahme. Sie verlor in ihren Hochburgen fast 13 Prozentpunkte, von denen die SPD nicht profitierte, sondern sogar trotz niedriger Ausgangsstärke Verluste verzeichnete. Dagegen erreichten die Republikaner in diesen Gebieten Stimmenanteile von 13, 6 %. In einigen SPD-Hochburgen wanderten offenbar auch ehemalige sozialdemokratische Wähler in größerem Umfang zu den Republikanern ab. Die FDP mußte in den CSU-Hochburgen. entgegen dem Bundestrend, geringe Verluste in Kauf nehmen. 2. Raumstruktur und Wahlverhalten Diese Ergebnisse zeigen, daß Unterschiede zwischen dem Norden und Süden der Bundesrepublik das Wahlergebnis in wesentlich stärkerem Ausmaß als sozialstrukturelle Merkmale bestimmen. Die große Bedeutung regionaler Einflüsse legt es nahe, das Wählerverhalten verstärkt auf der kleinräumigen Ebene zu betrachten. Vor dem Hintergrund des räumlichen Gliederungssystems zeigt sich, daß innerhalb der beiden südlichen Bundesländer die Wahlbeteiligung in den ländlichen Gebieten sowie im Umland der Städte am stärksten gestiegen war Die Verluste der Union fielen in den ländlichen Regionen am höchsten aus (Tabellen 9 und 10).
Das Erstarken der beiden Rechtsparteien kann man nicht als typisch ländliches Phänomen bezeichnen. Ihr Wahlergebnis blieb in Bayern in den städtischen Zentren kaum hinter den ländlichen Gebieten des Alpenvorlandes zurück, wo sie einen Stimmenanteil von 17, 3 % erreichten. Das Wahlergebnis der SPD fiel in den beiden südlichen Bundesländern gegensätzlich aus. In Baden-Württemberg gewann sie in fast allen Gebieten, am deutlichsten mit 3, 1 Prozentpunkten in ländlichen Regionen mit günstigem Arbeitsmarkt. Dagegen verlor sie in Bayern in allen Regionen Stimmenanteile, am meisten in den städtischen Zentren.
Für die FDP zeigten sich im Süden keine spektakulären Veränderungen; geringe Gewinne, vorwiegend in den Verdichtungsgebieten, glichen Verluste. die eher die ländlichen Regionen betrafen, annähernd aus. Die GRÜNEN verzeichneten in Bayern geringe Gewinne, am deutlichsten in den städtischen Zentren, in Baden-Württemberg dagegen, mit Ausnahme der städtischen Zentren, geringe Verluste.
Außerhalb der beiden südlichen Bundesländer fielen die Verluste der Unionsparteien in den ländlich geprägten Regionen eher durchschnittlich aus. Die Wahlbeteiligung stieg in diesen Gebieten unterdurchschnittlich, und die beiden Rechtsparteien erzielten hier ihr niedrigstes Ergebnis. Die SPD geB wann, mit Ausnahme der kreisfreien Städte in Verdichtungsgebieten, in allen Regionen. Ihre größten Zugewinne verzeichnete sie im suburbanen Umland der Städte sowie in den ländlichen Gebieten (Tabelle 11). Die FDP gewann gleichmäßig in allen Regionen. Die GRÜNEN gewannen geringfügig Stimmenanteile dazu, am deutlichsten in den Städten. Damit besteht für diese beiden Parteien keine wesentliche Abweichung zu der Entwicklung im Süden der Bundesrepublik.
Das bundesweite Wahlergebnis wurde somit in hohem Maße durch eine Nord-Süd-Teilung mit Bayern und Baden-Württemberg auf der einen und dem Rest des Bundesgebietes auf der anderen Seite bestimmt. Unter diesem Gesichtspunkt behält von den sozialstrukturellen Merkmalen allein der Arbeiteranteil eine gewisse Aussagekraft: Mit steigendem Arbeiteranteil steigt tendenziell auch der Stimmenanteil für die Republikaner. Im Süden wirkte sich diese Entwicklung überwiegend zu Lasten von CDU/CSU aus; im nördlichen Teil der Bundesrepublik verlor in Arbeitergebieten teilweise auch die SPD, vor allem in einigen Städten des Ruhrgebietes, Stimmen an die Republikaner
Die weitere räumliche Aufgliederung zeigt, daß innerhalb Bayerns die Rechtsparteien in den ländlichen Gebieten vor allem von besonders hohen CSU-Verlusten sowie überdurchschnittlich angestiegener Wahlbeteiligung profitiert haben, in den Städten dagegen auch in nennenswertem Umfang von SPD-Verlusten. Der Oppositionseffekt zugunsten der SPD versagte hier völlig. In Baden-Württemberg kam dieser Effekt teilweise zum Tragen. Die CDU verlor hier im gleichen Umfang Stimmen-anteile wie in Bayern; in einigen Regionen, insbesondere im städtischen Umland sowie in den ländliehen Gebieten, fing die SPD jedoch einen Teil dieser Verluste auf. Der größere Teil floß dennoch den Rechtsparteien zu.
Im restlichen Bundesgebiet trat der Oppositionseffekt etwas stärker in Kraft. Am meisten profitierte die SPD von den Verlusten der CDU in den ländlichen Regionen, in denen gleichzeitig die Rechtsparteien ihr niedrigstes Wahlergebnis erzielten. Somit nimmt Baden-Württemberg eine Zwischenstellung zwischen Bayern und dem nördlichen Teil der Bundesrepublik ein. Mit Bayern hat dieses Bundesland die Verluste der Union sowie — auf etwas niedrigerem Niveau — den Anstieg der Wahlbeteiligung und die Wahlerfolge der rechten Parteien gemeinsam. Dagegen gleicht die Entwicklung der SPD in Baden-Württemberg und der hier teilweise auftretende Oppositionseffekt dem Wahlergebnis im übrigen Bundesgebiet.
V. Fazit
Abbildung 18
Tabelle 4: Durchsetzung nationaler Interessen in der EG Die Bundesrepublik sollte in der EG Quelle: Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung. Archiv-Nr. 8901.
Tabelle 4: Durchsetzung nationaler Interessen in der EG Die Bundesrepublik sollte in der EG Quelle: Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung. Archiv-Nr. 8901.
Die Europawahl von 1989 bestätigt einen Trend, der in jüngster Vergangenheit auch bei anderen Wahlgängen auf Landes-und kommunaler Ebene beobachtet wurde: den Trend zur Dekonzentration des Parteiensystems bei gleichzeitigem Verlust der Oppositionsfunktion für die SPD. Beide Volksparteien haben, wie bei mehreren Wahlen zuvor, auch bei dieser Europawahl prozentuale Verluste hinnehmen müssen und repräsentieren nur noch 75 % der Wählerschaft. Zugleich hat sich die Tendenz zur Erweiterung des Parteiensystems mit wachsenden Wähleranteilen für Klein-und Splitterparteien verstärkt. Das Ausmaß beider Entwicklungen — schrumpfende Anteile der Großparteien und wachsende für Kleinparteien — ist sicherlich durch die spezifische Funktion der Europawahl im Hinblick auf ihre Bedeutung und auf die Protestartikulation bestimmt worden. Aber auch abgeschwächt weist diese Wahl auf strukturelle Veränderungen und neue Problemdimensionen des gesamten Parteiensystems im Zuge von Individualisierungs-und Pluralisierungstendenzen in der Wählerschaft bei abnehmenden traditionellen Parteibindungen hin. Nicht zuletzt durch diese strukturellen Veränderungen war es den Republikanern — in abgeschwächtem Maße auch der DVU — erst möglich, neben dem EG-kritischen und antieuropäischen Protest auch vielfältigen Protest gegen die Bundesregierung, die etablierten Parteien und nicht zuletzt gegen das politische System generell zu mobilisieren Sie konnten zwar an ihre jüngsten Wahlerfolge prozentual anknüpfen, ihr bundespolitisches Sympathiepotential schöpften sie jedoch regional nur unterschiedlich aus. Am stärksten gelang dies in Bayern und Baden-Württemberg, wo sie mit Abstand ihre besten Ergebnisse erzielten. Dabei profitierten sie von der dort stark gestiegenen Wahlbeteiligung, weil sie zahlreiche Nichtwähler, die in der Europawahl 1984 mit dem Fernbleiben von den Urnen ihren Protest gegen die EG artikuliert hatten, mobilisieren konnten. Da auf der anderen Seite die relativ geringe Wahlbeteiligung weitgehend zu Lasten der Großparteien ging, konnten die Republikaner-Stimmen anteilsmäßig besonders stark durchschlagen.
Die Erfolge der rechtsradikalen Parteien gingen insbesondere in den südlichen Landesteilen überwiegend zu Lasten von CDU und CSU. Den Unionsparteien gelang es hier offenbar nicht, die bei einem beträchtlichen Teil ihrer bisherigen Wähler — vor allem in den ländlichen Räumen sowie im gewerblich-mittelständischen Bereich — wachsenden Sorgen und Befürchtungen, aber auch bereits bestehende Unzufriedenheiten (insbesondere mit der Agrarpolitik) aufzugreifen und diese Wähler weiter an sich zu binden. Dementsprechend konnte die Union ihre europapolitischen Kompetenzen, vor allem angesichts ihrer seit längerem negativen Einschätzung in der Innenpolitik, nur sehr eingeschränkt nutzen. Der EG-kritische und antieuropäische Protest ging deshalb zu ihren Lasten.
Aber auch die SPD litt regional unterschiedlich unter den Erfolgen der Rechten. Im Süden der Bundesrepublik, insbesondere in den städtischen Regionen Bayerns, verhinderte die hohe Mobilisierung prozentuale Stimmenzuwachse für sie. Und in städtischen Problemzonen des übrigen Bundesgebietes, wie in einigen Ruhrgebietsstädten, konnten die Republikaner sogar in sozialdemokratische Wählertraditionen eindringen. Die SPD hielt sich dafür außerhalb Bayerns in traditionellen Hochburgen der CDU, besonders in den ländlich-katholischen Gebieten, schadlos.
Ob sich mit dem ersten Wahlerfolg der Republikaner in einem bundesweiten Wahlgang das Parteien-system der Bundesrepublik zu einem Fünfparteiensystem erweitert hat. muß eine offene Frage bleiben. Aus den typischen Rahmenbedingungen und den Entscheidungssituationen der Europawahl folgt, daß für diesen Wahltyp eigene Beurteilungsmaßstäbe gelten. Da es hier nicht um den Bestand einer Regierung — weder in der EG, noch in der Bundesrepublik — geht, ist die Neigung, bei der Stimmabgabe aktuelle Unzufriedenheiten zu artikulieren, erheblich größer als bei Bundestagswahlen. Europawahlergebnisse reflektieren in besonderem Maße kurzfristige Tendenzen in der Wählerschaft, die sich ebenso kurzfristig durch politische Ereignisse wieder ändern können. Das vorliegende Wahlergebnis darf deshalb nicht, oder zumindest nur sehr eingeschränkt, als ein bundespolitisches Votum für die Republikaner interpretiert werden und ist ebensowenig ein Hinweis auf zukünftige Parteienkonstellationen im Bundestag.
In seiner Bedeutung für die europäische Politik ist der hohe Stimmenanteil für die antieuropäischen rechten Parteien wohl weniger ein Votum gegen die europäische Integration, sondern eher ein Hinweis darauf, daß ein relativ großer Teil der Bevölkerung sich Sorgen darüber macht, ob die wirtschaftlichen und sozialen Standards der Bundesrepublik im fortschreitenden Integrationsprozeß hinreichend berücksichtigt und die eigenen Interessen und Belange in der Europäischen Gemeinschaft in Zukunft gewahrt werden.
Peter Gluchowski, Diplom-Kaufmann, geb. 1942; Leiter des Forschungsbereichs Empirische Sozialforschung des Forschungsinstituts der Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin. Veröffentlichungen auf den Gebieten der Wahl-und Einstellungsforschung sowie der Lebensstil-Forschung. Wolfgang Staudt. Diplom-Volkswirt, geb. 1946; wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsbereich Empirische Sozialforschung des Forschungsinstituts der Konrad-Adenauer-Stiftung. Sankt Augustin. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. Dr. agr.. geb. 1952; wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsbereich Empirische Sozialforschung des Forschungsinstituts der Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin. Veröffentlichungen in den Bereichen Abweichendes Verhalten, Stadt-und Regionalforschung.
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