Was wissen wir über den Schwangerschaftsabbruch? Ergebnisse eines empirischen Forschungsprojekts
Günther Kaiser
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Zusammenfassung
Der Schwangerschaftsabbruch ist seit langem Gegenstand rechtspolitischen Streits. Ziel des Reformgesetzgebers war es. mehr Gerechtigkeit durch mehr Gleichheit im Rahmen strafrechtlichen Schutzes für das beginnende Leben zu schaffen. Es galt, den Verdacht eines „Zufallsstrafrechts“ auszuräumen. Im Rahmen eines rechtsvergleichenden und empirischen Forschungsprojekts ist das Freiburger Max-Planck-Institut Fragen nachgegangen, die sich auf die gesetzlichen Problemlösungen, die Verbreitung des Schwangerschaftsabbruchs. die Entscheidungsmuster betroffener Frauen, die Einstellung und Verhaltensweisen der Ärzte sowie auf die Strafverfolgungspraxis beziehen. Aufgrund der Analyse vom psychosozialen Einfluß und von Konfliktfaktoren ergab sich, daß für die emotionale Akzeptanz der Schwangerschaft durch die Frau den Einstellungen des Partners maßgeblicher Einfluß zukommt. Die Sozialberatung wird im ganzen als sinnvoll angesehen. Die Indikationsfeststcllung hingegen wird nur im Hinblick auf medizinische Aspekte als positiv erachtet, im übrigen jedoch wird ihr keine Entscheidungsrclevanz beigemessen. Für die immer wieder beklagten Mißbräuche in der Handhabung der sogenannten allgemeinen Notlagenindikation ergaben sich keine Hinweise, wohl aber wurde der weite Normintcrprctationsspielraum durch die Befragung der Fachleute verdeutlicht. Ferner fanden sich erhebliche regionale Unterschiede hinsichtlich des Angebots der einen Abbruch durchführenden Stellen sowie der Strafverfolgungsaktivitäten. Entsprechend finden sich Hinweise auf einen innerdeutschen „Abtreibungstourismus“. Obwohl im ganzen die Strafverfolgung des kriminellen Schwangerschaftsabbruchs äußerst gering und selektiv ist, so daß man von einer „faktischen“ Entkriminalisierung sprechen kann, erfreut sich die gesetzliche Indikationslösung breiter Zustimmung, offenbar nicht zuletzt wegen der Einsicht in die Schwierigkeit, überhaupt eine Problemlösung zu schaffen, die allgemein akzeptiert wird. Zwar liefert die eher „liberale“ oder „konservative“ Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch nicht das erwartete Gewicht für die der Schwangeren konkret abverlangte Entscheidung. Der den Partnerschaftsbeziehungen eingeräumte Rang zeigt aber, daß Grundeinstellungen zur Ehe und Familie das Entstehen von konkreten Konfliktsituationen beeinflussen können. Obwohl die befragten Ärzte den Schwangerschaftsabbruch überwiegend als Tötung betrachten, billigen sie doch das geltende Indikationsmodell und halten es mit Ausnahme der Notlagenindikation allgemein für einen richtigen Ansatzpunkt. Freilich können auch hier Grundeinstellung und tatsächliches Verhalten auseinanderfallen. So ist denn auch in Konfliktnähe die Akzeptanz der gesetzlichen Regelung zum Schwangerschaftsabbruch nicht sehr hoch und fallen die staatlichen Interventionen weithin ins Leere. Angesichts der begrenzten Einflußmöglichkeiten des Strafrechts auf die konkrete Entscheidung zum Austragen der Schwangerschaft richtet sich das Augenmerk vor allem auf außerstrafrechtliche Maßnahmen zum Schutz des ungeborenen Lebens.
I. Schwangerschaftsabbruch als kriminologisches Problem
Der Schwangerschaftsabbruch ist seit langem Gegenstand rechtspolitischer Auseinandersetzung. Dies trifft für das Inland ebenso zu wie für das Ausland. Daran hat sich in der Bundesrepublik Deutschland auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Februar 1975 substantiell nichts geändert. Danach wurde die Fristenlösung des § 218a Strafgesetzbuch (StGB) a. F. für verfassungswidrig erklärt und der Weg zur Indikationslösung des geltenden Rechts vorgezeichnet. Allerdings entzündet sich der Streit heute mehr im Bereich flankierender Maßnahmen zu § 218 StGB; die neuere Debatte um ein bundeseinheitliches Beratungsgesetz oder die „Abtreibung auf Krankenschein“ belegt dies.
Nicht weniger bildet der Schwangerschaftsabbruch in vielen Staaten des Auslandes eine unverändert aktuelle Streitfrage Dabei stehen Positionen des Lebensschutzes solchen der Selbstbestimmung von zum Schwangerschaftsabbruch entschlossenen Frauen scharf gegenüber. So haben allein in den siebziger Jahren zwölf europäische Staaten ihr Abtreibungsrecht neu geregelt; in den achtziger Jahren folgten die Türkei (1983), Portugal (1984) und Spanien (1984/85) Etwa ein Jahrzehnt reicht die Reformdiskussion darüber in Belgien zurück und noch länger in der Schweiz Einzig die Republik Irland scheint hier eine Ausnahmestellung einzunehmen
Die Kritik am herkömmlichen Recht beruht nicht selten auf Beobachtungen, welche die Annahme eines „Zufallsstrafrechts“ im Hinblick auf den Schwangerschaftsabbruch nahelegen. Die Bedingungen. die als Voraussetzungen für die Einleitung von Ermittlungsverfahren wegen Schwangerschaftsabbruchs in der Regel auftreten, lassen nicht den Schluß zu. daß eine dem Lebensschutz dienende Handhabung der §§ 218 ff. StGB gegeben ist.
Normen erhalten verhaltensprägende Kraft, indem sie angenommen und angewandt werden. Weil es daran mitunter fehlen könnte, und d. h. an Norm-akzeptanz. Normdurchsetzung und -Vollzug, ist auch der Schwangerschaftsabbruch von kriminologischem Interesse. Offenbar fallen hier Verbrechenswirklichkeit und amtlich verfolgte Kriminalität weit auseinander.
So wurden im Jahre 1986 polizeilich gerade 43 Fälle und ebensoviele Tatverdächtige erfaßt sowie nur sechs Personen verurteilt. Die Auswahl der Fälle und Tatverdächtigen in den Jahren 1988 ist demgegenüber rapide angestiegen: 1987 waren es 250 Fälle bei 263 Tatverdächtigen. 1988 406 Fälle bei 317 Tatverdächtigen Für den sprunghaften Anstieg dürften indessen einige Großverfahren in Bayern ausschlaggebend sein, die auf die gesamte Bundesrepublik eine gewisse Sogwirkung ausübten Läßt man diese wohl singuläre Erscheinung im Längsschnittvergleich der letzten 25 Jahre außer Betracht, so ergibt sich ein Rückgang nach der Polizeistatistik auf etwa ein Hundertstel und nach der Verurteiltenstatistik gar auf ein Dreihundertstel. Dabei ist hervorzuheben, daß sich in dieser Entwicklung ein Bruch in der Abtreibungspraxis, der durch die Reform des Abtreibungsstrafrechts Mitte der siebziger Jahre verursacht sein könnte, statistisch nicht belegen läßt. Ein entsprechender Trend ist überall in Westeuropa zu beobachten, auch in Österreich und der Schweiz
Der geringen Zahl kriminalstatistisch erfaßter Abtreibungen stehen jährlich etwa 85000 offiziell als legal ausgewiesene Schwangerschaftsabbrüche gegenüber, im Jahre 1988 insgesamt 83 784 Diese auffällige Diskrepanz läßt sich allerdings in zwei unterschiedliche Richtungen interpretieren, denen für die Steuerungskraft des geltenden Abtreibungsstrafrechts nahezu gegenläufige Bedeutung zukommt. Einmal kann man annehmen, daß es einfach an ermittelbaren Deliktssachverhalten fehlt. Zum anderen läßt sich vermuten, daß die praktischen Definitionsprozesse in der Beurteilung, was strafbarer Schwangerschaftsabbruch ist, vom gesetzlichen Normprogramm abweichen. Die erste Interpretationsmöglichkeit weist auf das Dunkel-feld der (illegalen) Abtreibung hin. Dieses wird allgemein als sehr groß vermutet.
Zur näheren Bestimmung des Dunkelfeldes liegen bislang freilich nur unterschiedlich abgesicherte Schätzungen vor. Diese sagen zudem lediglich etwas über das Verhältnis der Zahl ärztlich gemeldeter Abbrüche zur Zahl der offiziell nicht registrierten Eingriffe aus. Ein solcher Ansatz genügt aber für die Bestimmung des Dunkelfelds strafbaren Schwangerschaftsabbruchs nicht: Einmal ist nicht jeder gemeldete Abbruch bereits strafbar i. S. d. §§ 218 ff. StGB, zum anderen schließt ein formal richtig durchgeführtes Vorverfahren zum Schwangerschaftsabbruch und dessen Meldung materielle Verstöße, d. h. falsche Indikationsstellungen, nicht aus.
Immerhin läßt sich den Schätzungen entnehmen, daß der Anteil der als illegal registrierten Abtreibungen an allen Schwangerschaftsabbrüchen äußerst gering ist. So haben Ketting/von Praag aus einer Abbruchszahl von 25 pro 1000 Frauen eine Gesamtzahl von jährlich 260000 bis 350000
Schwangerschaftsabbrüchen errechnet Spieker gelangt in Ergänzung der Berechnungen von Kuhn zu einer Schätzzahl von 210000 während von Baross eine nach Beginn der achtziger Jahre abfallende Tendenz ermittelt und für 1984 eine Gesamtzahl von 142000 Schwangerschaftsabbrüchen nennt
Doch selbst diese Schätzzahlen vermitteln nur einen relativ groben Maßstab. So ist etwa eine Verallgemeinerung des für einzelne Großstädte ermittelten Meldeverhaltens der Ärzte deshalb problematisch, weil es lokal sehr unterschiedlich ausfällt. Erhard z. B. nennt für den Anfang der achtziger Jahre bezogen auf Wiesbaden ein Meldedefizit von mindestens 85 Prozent, für Berlin 75, für Hamburg 40 und für Frankfurt 28 Prozent
Zur genaueren Erfassung des Dunkelfeldes der Abtreibungen sind daher Befragungen notwendig, die wiederum mit besonderen methodischen Problemen belastet sind. Auch wenn es fraglich erscheint, ob man begründet von der sogenannten Opferlosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs sprechen kann so werfen doch Befragungen der potentiell Beteiligten zusätzlich Schwierigkeiten auf: Entfällt die sogenannte Opferbefragung als zuverlässigste Form der Dunkelfelderhebung und berücksichtigt man ferner die begrenzte Sichtbarkeit der Delinquenz sowie das fehlende Interesse der unmittelbar Beteiligten am Bekanntwerden der Tat dann vermindert sich der Kreis der Auskunftspersonen. Er beschränkt sich im wesentlichen auf die unmittelbar an der Tat Beteiligten.
Nach einer vom Freiburger Max-Planck-Institut in Auftrag gegebenen Erhebung beantworteten 4, 4 Prozent der 1597 Frauen, die zwischen 1976 und 1985 im gebärfähigen Alter standen, die Frage, ob sie selbst im genannten Zeitraum einen Schwan-gerschaftsabbruch haben durchführen lassen, mit „ja“. Zwei Fünftel der genannten Abbrüche seien gesetzesgemäß vorgenommen worden. Etwa 60 Prozent der Abbrüche hingegen wurden als nicht legal bezeichnet, d. h. die Verfahrensvorschriften der §§ 218 ff. StGB wurden nicht eingehalten Neben der hohen Zahl bereits strafbarer Abtreibungen ist es zusätzlich die Vermutung einer Vielzahl materiell gesetzwidriger, obschon formell als legal ausgewiesener Abbrüche, welche die Diskussion bewegt. Angesprochen ist damit in erster Linie der oft beklagte „Mißbrauch“ der allgemeinen Notlagenindikation Deren Häufigkeitsentwicklung im Verhältnis zu den anderen Indikationen veranschaulicht die obige Tabelle. Demnach ist der Anteil der nach § 218 a Abs. 2 Ziff. 3 StGB indizierten Fälle an Indikationen binnen zehn Jahren um nahezu 30 Prozent angestiegen. Diese Entwicklung geht vor allem zu Lasten der allgemeinen medizinischen Indikation, deren Anteil 1977 noch fast drei Zehntel, 1988 aber nicht einmal mehr ein Zehntel betrug.
Ziel des Reformgesetzgebers war es, mehr Gerechtigkeit durch mehr Gleichheit im Rahmen strafrechtlichen Schutzes für das beginnende Leben zu schaffen. Es galt, den Verdacht der Praktizierung eines „Zufallsstrafrechts“ auszuräumen und über eine gleichmäßige Definition des Schutzbereichs der §§ 218 ff. StGB eine Regelhaftigkeit des Vollzugs der Sanktionsnorm zu schaffen.
Das Freiburger Max-Planck-lnstitut hat daher seit 1983 ein Forschungsprojekt verfolgt, dessen Zielsetzung es war. zu untersuchen, — ob und inwieweit die gesetzliche Regelung der §§ 218 ff. StGB und ihre praktische Handhabung verhaltenssteuernde Wirkung entfalten.
— ob sonstige persönliche (Lebens-) Einstellungen bei Schwangerschaftsabbruch Bedeutung gewinnen und — ob gegebenenfalls mit außerstrafrechtlichen Schutzmechanismen das Ziel des Reformgesetzgebers erreicht werden kann.
Ziele und Forschungsfragen wurden in drei Projekt-stufen bearbeitet:
— Unter der rechtsvergleichenden Perspektive wurde besonders ein Überblick über den größten Teil der in den europäischen Ländern geltenden gesetzlichen Regelungen angestrebt; dabei wurden auch die Verbreitung des Schwangerschaftsabbruchs sowie die Strafverfolgung unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und Rechtstraditionen untersucht
— In der empirischen Projektstufe ging es vor allem um die Implementation der Reformvorschriften zum Schwangerschaftsabbruch von 1976. wobei die Untersuchung sich mit drei Schwerpunktaspekten näher befaßt: die Strafverfolgungspraxis im Hinblick auf den Schwangerschaftsabbruch, die Entscheidungsmuster betroffener Frauen und schließlich die Einstellungen und Verhaltensweisen der Ärzte. — In der letzten Projektstufe geht es nunmehr um die Klärung der rechtspolitischen Schlußfolgerungen und damit auch um die Frage nach etwaigen Alternativen zur geltenden Regelung des Gesetzes
Im folgenden soll vor allem dem empirischen Projektteil und seinen Befunden die Aufmerksamkeit gelten, beginnend mit den Problemen, die sich aus der Anwendung des erneuerten Gesetzes ergeben haben.
II. Implementation der reformierten §§ 218 ff. StGB
1. Strafverfolgungspraxis
Befaßt man sich mit den Ermittlungs-und Kontrollmöglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden, so wird deutlich, daß neben Faktoren wie etwa die Konfliktfähigkeit der Ärzte als Gruppe schon die Normvorgabe der §§ 218 ff. StGB einer strafrechts-praktischen Aufhellung des Dunkelfeldes Grenzen setzt.
Unter den Voraussetzungen des § 218 Abs. 3 S. 2 StGB — der Schwangerschaftsabbruch ist nach Beratung von einem Arzt vorgenommen worden und seit der Empfängnis sind nicht mehr als 22 Wochen verstrichen — ist die Schwangere nicht strafbar. Der abbrechende Arzt entscheidet nach § 218 StGB nach „ärztlicher Erkenntnis“, was einen kontrollfreien Beurteilungsspielraum bedeutet -Der indikationsstellende Arzt schließlich macht sich, so er nicht als Teilnehmer nach § 218 StGB in Betracht kommt, wegen unrichtiger Indizierung nach § 219 a StGB nur dann strafbar, wenn er „wider besseres Wissen“ handelt
Vor diesem Hintergrund wird auch die Einschätzung durch die in der Freiburger Untersuchung befragten 79 Richter und 138 Staatsanwälte verständlich: Zwar geht die Mehrheit dieser Personen von einer hohen Zahl unrechtmäßiger Indikationsstellungen aus. Auch hielten es zwei Drittel der Befragten nicht für richtig, bei Vorliegen einer Indikationsbescheinigung die ärztliche Entscheidung ungeprüft zu übernehmen. Gleichwohl fanden es nahezu die Hälfte der Richter und ein Drittel der Staatsanwälte „problematisch“, diese Entscheidung später zu überprüfen
Im Hinblick auf die rechtlich und faktisch starke Stellung der Ärzte sollte ferner bedacht werden, daß sie im Rahmen der §§ 218 ff. StGB nicht nur Adressaten einer strafrechtlichen Sanktionsdrohung sind, sondern ihnen darüber hinaus als „Implementa-tionsträgern" eine Macht-und Kontrollposition eingeräumt ist, die ein auf Zusammenarbeit angelegtes Verhältnis zu staatlichen Einrichtungen erfordert. Bei einer Intensivierung der Strafverfolgungsaktivitäten wäre dagegen eine zunehmende „Einigelung" von Ärzten, etwa im Sinne weiter sinkender Melde-bereitschaft und eine sich daraus ergebende Vergrößerung des ohnehin bestehenden Informationsdefizits, die erwartbare Folge. Hierin mag ein Grund dafür liegen, daß neuerdings vorgeschlagen wird, die Abrechnung der ärztlichen Leistungen durch die Krankenkassen vom Nachweis der erfolgten Meldung abhängig zu machen Es bleibt zu fragen, aufwelche Art und Weise der äußerst kleine Rest an Fällen zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden gelangt.
Nach der Freiburger Untersuchung sind es -ähnlich den Feststellungen früherer Erhebungen aus der Zeit vor der Reform drei Hauptgründe, die zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens fuhren. Ein Verfahren wird entweder eingeleitet als Nebenprodukt eines anderen Strafverfahrens wegen illegaler Abtreibung oder aufgrund einer „unfreiwilligen“ Selbstanzeige der betroffenen Frau, etwa anläßlich einer Vernehmung in einem anderen Strafverfahren oder durch die Anzeige des Freundes oder Ehemannes im Rahmen partnerschaftlicher Konflikte. Demgegenüber haben die „polizeilichen Eigenermittlungen“ als Einflußgröße heute im Gegensatz zur Zeit vor der Reform völlig an Bedeutung verloren. Zum einen wird dies darauf zurückgeführt, daß nunmehr Schwangerschaftsabbrüche in der Regel von Ärzten durchgeführt werden und deshalb herkömmliche Verdachtsstrategien, die gegenüber den sogenannten „Engelmachern“ angewandt wurden, nicht mehr greifen Zum anderen betonten die nach der Freiburger Untersuchung befragten 17 Leitenden Oberstaatsanwälte und 18 Polizeidienststellenleiter, daß die Reform des Abtreibungsstrafrechts bestimmte Strafverfolgungsbedürfnisse beseitigt habe und § 218 StGB praktisch bedeutungslos geworden sei -Daß eine gleichmäßige Verstärkung aktiver Kontrollstrategien in absehbarer Zeit zur Erreichung des Reformziels nach „mehr Gerechtigkeit durch mehr Gleichheit“ wesentlich beitragen könnte, läßt sich demnach nicht erwarten.
Beruht bereits die Einleitung von Strafverfahren wegen Verletzung der §§ 218 ff. StGB aufzufälligen Initiativen oder schutzzweckfremden Strategien, so wäre es nicht minder „zufällig“, wenn sich die verbleibenden Fälle als besonders gravierend herausstellten. Daß dem aber nicht so ist, ergibt sich bereits aus einer Betrachtung der gewandelten Sanktionsstrukturen.
Während Mitte der fünfziger Jahre in Deutschland gegen rund 30 Prozent der wegen Schwangerschaftsabbruchs nach allgemeinem Strafrecht Verurteilten eine unbedingte und etwa gegen 60 Prozent eine bedingte Freiheitsstrafe verhängt wurde, kamen die zwischen 1977 und 1986 nach Erwachsenenstrafrecht verurteilten 232 Personen zu mehr als drei Vierteln mit einer Geldstrafe davon. Nur in etwa zehn Prozent der Geldstrafen lag die Tagessatzzahl über 90. in fast der Hälfte aller Sanktionen aber unter 30. Eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung wegen Abtreibung ist daher heute die große Ausnahme. Im erwähnten Zehnjahreszeitraum wurde sie lediglich in acht Fällen (= 3, 4 Prozent) verhängt, nach 1983 überhaupt nicht mehr.
Nach der in der Freiburger Untersuchung durchgeführten Analyse von 851 Ermittlungs-und Strafakten handelte es sich bei nahezu zwei Dritteln der 1637 Beschuldigten (64 Prozent) um schwangerschaftsabbrechende Frauen bzw. um am Abbruch beteiligte Gehilfen, die der Frau nahestanden. Es hat sich gezeigt, daß praktisch in allen Fällen die Art und Weise des Abbruchs für die Frauen zum Strafausschließungsgrund des § 218 Abs. 3 S. 2 StGB geführt hätte, wenn sie an einer Beratung teilgenommen hätten. Denn etwa 90 Prozent der festgestellten Eingriffe wurden durch einen Arzt vorgenommen, und 99 Prozent erfolgten innerhalb der 22-Wochenfrist des § 218 Abs. 3 S. 2 StGB. Daher verwundert nicht, wenn die soziale Lage der beschuldigten Frauen, soweit sie sich aus den Strafakten erschließen läßt, dafür spricht, daß vor allem Unwissenheit. Mängel in der sozialen Handlungs-Kompetenz und wirtschaftliche Bedrängnis erhebliche Bedeutung für den strafbaren Schwangerschaftsabbruch gewinnen. Die beobachtbaren Kriterien fügen sich weniger dem Bild von Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung als vielmehr der sozialen Hilflosigkeit.
Denn im Blickfeld der Strafverfolgungsbehörden ist die „durchschnittliche" Beschuldigte ledig oder geschieden bzw. getrenntlebend (74 Prozent), 24 Jahre alt. stammt aus Kleinstädten (66 Prozent). bestreitet ihren Lebensunterhalt selbst (70 Prozent). verfügt über ein durchschnittliches Einkommen von monatlich etwa 600 DM. stammt aus einer Arbeiterfamilie (60 Prozent), hat Sonder-oder Hauptschulabschluß (69 Prozent) sowie keine Berufsausbildung (54 Prozent)
Auffällig an diesem Sozialprofil gegenüber jenen Frauen, die in strafloser bzw. in nicht ermittelbar strafbarer Weise einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen, ist weniger die fehlende Partner-beziehung, die in beiden Gruppen besteht sondern vielmehr der Hinweis auf die überwiegende Unterschichtzugehörigkeit der beschuldigten Frauen
Frauen, die in strafloser Weise eine Schwangerschaft abbrechen, unterscheiden sich hinsichtlich ihrer höheren Schulbildung von den beschuldigten Frauen. Allerdings befinden sich auch die Angehörigen der erstgenannten Gruppe zumeist noch in Berufsausbildung und, daraus folgend, überwiegend noch nicht in einer wirtschaftlich gefestigten Position — ein Ergebnis, das im übrigen eher gegen die erwartete praktische Relevanz des sogenannten Wohlhabendenprivilegs-38) in § 218 Abs. 3 S. 2 StGB zu sprechen scheint.
Die Merkmale der beschuldigten und abgeurteilten Frauen entsprechen damit mehr denen wiederholter Rückfalltäter als dem Bild jener Frauen, die sich von vornherein bewußt für den Schwangerschaftsabbruch entscheiden, die gegenüber jeglicher Beratung unzugänglich sind und zur Durchsetzung ihres Entschlusses alle gesetzlichen Möglichkeiten ausschöpfen. Hier allenfalls ließe sich eine Auflehnung gegen die bestehende Wertordnung, insbesondere gegen die herkömmliche Rollenzuweisung als Frau und Mutter, denken. Eine derartige Deutung pflegt man neuerdings ganz allgemein zur Erklärung des Anstiegs weiblicher Kriminalität heranzuziehen, freilich nur mit begrenzter Aussagekraft. Denn es kann nicht außer Betracht bleiben, daß sich die Anteile der Geschlechter an der Delinquenz dort am stärksten angleichen, wo die Rollenauflehnung am schwächsten ist. nämlich bei den älteren Frauen.
2. Entscheidungsmuster betroffener Frauen
Bereits die Auswertung früherer Untersuchungen ergab, daß besonders finanzielle Erwägungen die Entscheidung, ob die Schwangerschaft ausgetragen werden soll, beeinflussen. Ebenso haben sich die familiäre Situation, die Intaktheit der Partnerbeziehung sowie Gesundheit und psychische Stabilität als entscheidungserheblich erwiesen Weniger die individuellen persönlichkeitsspezifischen Merkmale unterscheiden die Frauen mit Schwangerschaftsabbruch von jenen, welche die Schwangerschaft austragen. Unterschiede lassen sich vielmehr hinsichtlich der situativen Faktoren feststellen, die der jeweiligen Lebenssphäre der Frau entsprechen
In dem Forschungsvorhaben des Max-Planck-Instituts wurde bei der Untersuchung der Entscheidungsfindung der Frau demgemäß differenziert. Zunächst wurde nach psychosozialen Einflußund Konßiktfaktoren gefragt. Hierbei hat sich gezeigt, daß die Schwangerschaft eher ausgetragen wird, wenn die Frau eine konservative Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch hat; beobachtet wurde aber auch, daß „die Liberalität bezüglich des Schwangerschaftsabbruchs mit der Problemnähe wächst“ Wichtig bei der Entscheidungsfindung war ferner die erste Reaktion des Partners. Seine und die erste Reaktion der Frau sind allerdings durch finanzielle Verhältnisse, Schulbildung, Kinderzahl u. ä. beeinflußbar Im Hinblick auf die emotionale Akzeptanz der Schwangerschaft durch die Frau kommt den Einstellungen des Partners maßgeblicher Einfluß zu. Eine Schwangerschaft wird um so eher positiv beurteilt, wenn auch der Mann dazu steht. Des weiteren sind die Gefühle der Frau positiver, je verbindlicher die Partnerbeziehung und je höher das verfügbare Einkommen sind. Eine familienorientierte Einstellung zur Mutter-rolle trägt ebenfalls zu positiven Reaktionen im Hinblick auf die Schwangerschaft bei.
Auf dem Hintergrund dieses Sozial-und Einstellungsprofils drängt sich der Eindruck auf, daß bei „normaler“ Beratung und Indikationsstellung der rechtswidrige Schwangerschaftsabbruch zumindest für die Schwangere selbst ein straffreier hätte sein können. Offenbar verhindern Unwissenheit und Mängel in der sozialen Handlungskompetenz das rechtzeitige und ordnungsgemäße Beschreiten des Instanzenwegs überhaupt Gleichwohl ist der Informationsstand der Frauen bezüglich der Verfahrensregeln der §§ 218 ff. generell recht groß. Deshalb wird der Instanzenweg, wenn auch zum Teil mit Hindernissen, eingehalten.
Eine andere Frage ist, ob die betroffenen Frauen die gesetzliche Indikationsregelung auch für eine problemadäquate Lösung halten. Hier hat sicher-geben, daß die Sozialberatung im großen und ganzen als sinnvoll angesehen wird. Die Indikationsfeststellung selbst hingegen wird nur im Hinblick auf medizinische Aspekte als positiv erachtet, im übrigen jedoch wird ihr keine Entscheidungsrelevanz beigemessen. Oft empfinden Frauen die Indikationsfeststellung als Eingriff in ihre eigene Entscheidungsmöglichkeit; nicht selten äußert sich daher das Verlangen nach einer einfachen Fristenlösung Die Frauen, welche in Kontakt mit den Institutionen der §§ 218 a und b StGB gekommen sind, empfinden den Instanzenweg also weniger als Entscheidungshilfe denn als unumgängliche Prozedur. Deshalb darf der Einfluß der verschiedenen Einrichtungen (Beratungsstellen, indikationsstellender Arzt und der den Abbruch durchführende Arzt) auf die konkrete Entscheidung der Frau nicht zu hoch veranschlagt werden.
Was die Akzeptanz der Sozialberatung durch die betroffenen Frauen angeht, so liegt diese mit einem „Zufrieden“ -Satz von 82 Prozent sehr hoch, obschon hierbei zu berücksichtigen ist, daß die Mehrheit der Frauen in erster Linie die formale Abwicklung der Beratung anstrebt Inhaltlich messen immerhin ca. die Hälfte derjenigen Frauen, die eine Schwangerschaft nach anfänglichen Zweifeln austragen, der Sozialberatung eine „entscheidungsrelevante Bedeutung“ zu Bereits zum Abbruch entschlossene Frauen lassen sich hingegen durch die Beratung nur in seltenen Fällen noch umstimmen
Da aber die meisten Frauen sich schon entschieden haben, bevor sie eine Beratungsstelle aufsuchen, kommt der Sozialberatung die vom Gesetzgeber intendierte Entscheidungsrelevanz nicht zu. Die Vorentschiedenheit vieler Frauen zeigt sich auch bei der zweiten Institution der §§ 218 ff. StGB. 91, 3 Prozent der Frauen, die eine positive Indikation anstreben, erhalten diese auch; dabei wurde nur in etwa 50 Prozent der Fälle die Indikationsfeststellung schon vom ersten konsultierten Arzt getroffen
Betrachtet man in diesem Zusammenhang die Häufigkeitsentwicklung der Notlagenindikation — 1988 waren über 85 Prozent aller Indikationen Notlagen-indikationen, 1979 lediglich etwa 70 Prozent —. so scheint der Gedanke des Mißbrauchs der Notlagen-indikation nahezuliegen. Die aus der Häufigkeitsentwicklung, insbesondere der sozialen Indikation, abgeleitete Mißbrauchshypothese erscheint freilich nicht unanfechtbar.
Zunächst bleibt festzuhalten, daß bereits die gesetzliche Ausgestaltung der Notlagenindikation ihr eher einen relativ hohen Anteil an allen Indikationsstellungen sichert. Der Gesetzgeber hat in § 218 Abs. 2 Ziff. 3 StGB bewußt auf eine Nennung von Regelbeispielen verzichtet, um der Vielfalt möglicher Notlagen gerecht werden zu können. Die an sich erwünschte Flexibilität birgt allerdings die Gefahr erheblicher Einstufungsschwierigkeiten im Einzelfall durch den zur Beurteilung von Notlagenindikationen in der Regel nicht speziell ausgebildeten Arzt.
Die Unbestimmtheit der seit 1976 unveränderten Regelung der Notlagenindikation kann per se wederdie beschriebene Häufigkeitsentwicklung erklären noch die Annahme von Mißbräuchen völlig widerlegen. Sie eröffnet aber auch andere Interpretationsmöglichkeiten, etwa im Sinne einer doppelten Zuordnungsmöglichkeit von Fallsituationen sowohl unter die medizinische als auch unter die Notlagen-indikation und eine partiell damit zusammenhängende Verschiebung der einzelnen Indikationshäufigkeiten
Neuere Ergebnisse zur Implementation der §§ 218ff. StGB stimmen eher skeptisch, was die These vom weitverbreiteten und eindeutigen Mißbrauch der allgemeinen Notlagenindikation angeht: Vom Freiburger Max-Planck-Institut wurden 1986 insgesamt 406 Gynäkologen befragt Von ihnen gaben 325 (80 Prozent) an. Indikationen zum Schwangerschaftsabbruch zu stellen. Sie wurden aufgefordert, für jeden Indikationsbereich ihren letzten Fall zu schildern. Auf diesem Wege wurden insgesamt 741 Fallbeispiele ermittelt, die wiederum von vier voneinander unabhängigen juristischen Fachleuten beurteilt wurden. Zwar waren nur in etwa der Hälfte der geschilderten 250 Beispielsfälle die beurteilenden Juristen mehrheitlich der Meinung, daß es sich um einschlägige Sachverhalte der allgemeinen Notlagenindikation handelte. Jedoch lehnten nur sieben Prozent der Experten die Notlagenindikation völlig ab. Bei mehr als einem Drittel der Schilderungen gingen die Ansichten der Exper-ten stark auseinander Auch bei einer anderen Expertenbefragung des Max-Planck-Instituts wurden vergleichbare Ergebnisse erzielt. Danach lehnten drei juristische Experten 5. 6 Prozent der von den Ärzten festgestellten Notlagenindikationen ab
Diese Ergebnisse verdeutlichen weniger die immer wieder beklagten Mißbräuche in der Handhabung als vielmehr den weiten Norminterpretationsspielraum selbst bei Fachleuten, aber auch das Erfordernis genauester Detailkenntnis, die Forscher und Kritiker benötigen, um die Mißbrauchshypothese zu überprüfen. Offenbar entschließen sich Schwangere in solchen Konfliktsituationen, die mit der Art und Weise der Schwängerung sowie dem Gesundheitszustand von Frau und Kind nicht im unmittelbaren Zusammenhang stehen, heute mehr als noch vor einem Jahrzehnt zu einem legalen Schwangerschaftsabbruch. Die Sozialberatung bereitet trotz der sehr unterschiedlichen regionalen Präsenz der verschiedenen Beratungsträger eher geringe Schwierigkeiten.
Nach der Untersuchung von Hendel-Kramer u. a. ist die Wahl der Beratungsstellen in neun von zehn Fällen problemlos Trotz unterschiedlicher landesrechtlicher Bestimmungen und darin enthaltener verschiedener programmatischer Aussagen zum Beratungsgegenstand wurden in der Studie von Holzhauer im Vergleich zwischen Baden-Württemberg und Hessen auch keine Unterschiede in der Beratungstätigkeit aufgefunden, so daß insoweit der Nutzen eines geplanten bundeseinheitlichen Beratungsgesetzes fraglich bleibt.
Hochsignifikante regionale Unterschiede finden sich aber hinsichtlich des Angebots der einen Abbruch durchführenden Stellen. Ein Schwangerschaftsabbruch darf nur in einem Krankenhaus oder in einer hierfür eigens durch die zuständigen Länderbehörden zugelassenen Einrichtung vorgenommen werden. In Hessen wird von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, solche spezialisierten Einrichtungen zur (ambulanten) Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen zuzulassen. In Baden-Württemberg dagegen wird der Eingriff fast ausschließlich stationär in Krankenhäusern vorgenommen die aber den Bedarf nicht decken. In der Folge verlassen annähernd zwei Drittel der zur Abtreibung entschlossenen Frauen aus Baden-Württemberg ihr Bundesland, um den Eingriff in Hessen durchführen zu lassen Anzumerken ist, daß in diesem Zusammenhang lediglich von einem hohen „innerdeutschen Abtreibungstourismus“ die Rede sein kann; der „Abtreibungstourismus“ nach Holland ist dagegen gering und zumindest seit 1976 zurückgegangen
Das aus dem unterschiedlichen regionalen Angebot von Abbruchseinrichtungen resultierende Nord-Süd-Gefälle bei den Abbruchzahlen ist wiederholt in Schrifttum und rechtspolitischer Diskussion kritisch erörtert worden. Die beachtlichen regionalen Unterschiede setzen sich bei den Strafverfolgungsaktivitäten fort. Anders als bei den offiziellen Ab-bruchzahlen besteht hier jedoch kein Nord-Süd-Gefälle.
So stellten beispielsweise in den Jahren , 1977 bis 1981 die Länder Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz mehr als 61 Prozent der erfaßten Fälle. 62 Prozent der Tatverdächtige Prozent der erfaßten Fälle. Prozent der Tatverdächtigen und nahezu 75 Prozent der Verurteilten, obwohl für die Gesamtzahl aller in dem genannten Zeitraum registrierten Straftaten und Verurteilungen der Anteil dieser Länder bei lediglich 30 bzw. 37 Prozent liegt. Seit 1977 meldet allein Bayern die Hälfte aller Verurteilungen. Nach dem Großverfahren in Memmingen, in dem in den Jahren 1987/88 bislang weit über einhundert Frauen rechtskräftig verurteilt wurden, wird dieser Anteil zumindest vorübergehend weiter steigen, wie sich der Statistik bereits entnehmen läßt 60). Bundesländer wie Berlin, Hamburg und Schleswig-Holstein melden demgegenüber seit Ende der siebziger Jahre keine Verurteilungen mehr 61).
Sieht man einmal von Bayern ab, so bewegen sich die Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern mittlerweile auf sehr niedrigem Niveau; sie scheinen sich innerhalb des allgemeinen Trends zur „faktischen“ Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs gleichsam zu verflüchtigen.
Angesichts der vielfältigen Einwände, die gegen die Effizienz der bestehenden Gesetzesregelung sprechen, wäre eigentlich eine skeptische Einstellung auch der nicht unmittelbar betroffenen Bevölkerung gegenüber dem geltenden Recht zu erwarten. Die vorliegenden empirischen Befunde weisen jedoch auf ein recht differenziertes Einstellungsbild hin. Dieses ist einerseits durch eine wachsende Zustimmung zur gesetzlichen Indikationslösung, andererseits durch eine Geringschätzung der praktischen Durchführung des Gesetzes gekennzeichnet. Nach der breit und repräsentativ angelegten Untersuchung von Zundel u. a. 62), in der 2510 Bürger der Bundesrepublik im Alter zwischen 16 und 60 Jahren 1977 befragt wurden, sprachen sich noch 28 Prozent für ein generelles Verbot der Abtreibung aus. 48 Prozent stimmten für eine Dreimonatsfristenlösung oder völlige Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs. Nur 25 Prozent billigten die „zwischen den Polen liegende“ gesetzliche Indikationslösung. Die wachsende Zustimmung zur geltenden Indikationslösung deutet sich bereits in der Studie von Buschmann an. Nach dem Projekt von Clement in dem 1922 Studenten an zwölf Universitäten im Jahr 1981 befragt wurden, stuften lediglich sechs Prozent der weiblichen und zehn Prozent der männlichen Personen die §§ 218 ff. StGB als zu „liberal“ ein. aber auch nur ein Drittel der Befragten trat für eine weitergehende Liberalisierung ein. 52 Prozent der Männer und 51 Prozent der Frauen hingegen stimmten dem Kompromiß der geltenden gesetzlichen Regelung grundsätzlich zu. Im einzelnen hielten allerdings nahezu neun von zehn Personen, welche die Indikationslösung prinzipiell bejahten, die Durchführung des Gesetzes für verbesserungsbedürftig.
Die wachsende Akzeptanz der Indikationslösung zeigt eine zunehmend differenzierte, von bestimmten Situationsvorgaben abhängige Sichtweise an Fragt man danach, welche Faktoren es im einzelnen sind, die eher mit einer konservativeren bzw. eher liberaleren Einstellung zur Abtreibung korrelieren, so ergeben sich signifikante Zusammenhänge vor allem mit der Kirchenbindung, der Religionszugehörigkeit, der parteipolitischen Orientierung und den Vorstellungen über den sinnhaften Aufbau der Welt, aber auch der Haltung zur Mutterrolle und zur Ehe Je traditioneller die Einstellung zu diesen Faktoren ist, desto konservativer ist tendenziell auch die Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch. Hiernach liegt es nahe zu vermuten, daß es vor allem die Verluste an herkömmlichen Wertbindungen sind, welche die konkrete Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch maßgeblich beeinflussen. Gegenüber der kurzschlüssigen Annahme eines linearen Zusammenhangs zwischen genereller Einstellung zur Abtreibung und konkreter Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch ist allerdings Skepsis angezeigt, wie die neuere empirische Forschung annehmen läßt.
So hat die Untersuchung des Max-Planck-Instituts zwar ergeben, daß Frauen mit Schwangerschaftsabbruch und sogenannte Konfliktschwangere, also Frauen, die ihre Schwangerschaft erst nach erheblichen Zweifeln austragen, wesentlich häufiger eine Liberalisierung des § 218 StGB vertreten als Schwangere ohne Entscheidungskonflikte und repräsentative Bevölkerungsstichproben. Dementsprechend tendieren 82 Prozent der Frauen mit Schwangerschaftsabbruch zu einer liberalen Einstellung zur Abtreibung im Sinne eines Selbstbestimmungsrechts der Frau, während dies bei den Konfliktschwangeren nur zu 61 Prozent und bei den Schwangeren ohne Entscheidungskonflikte nur zu 34 Prozent der Fall war Doch wäre es verfrüht, dieses Ergebnis dahingehend zu interpretieren, daß es zugespitzt der „Sittenverfall“ wäre, der häufig die Entscheidung für einen Abbruch beeinflußte. Eine solche vorschnelle Deutung geriete eher in den Verdacht, die eigenen Erwartungen bestätigt zu sehen. Denn es ist möglich, daß sich die Einstellung der Betroffenen erst nach Durchführung des Abbruchs im Sinne einer liberalen Haltung ändert, während die konkrete Entscheidung aus ganz anderen Gründen getroffen worden ist. Darauf, daß die generelle Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch auf die konkrete Entscheidung einen eher geringen Einfluß hat, deutet auch der Befund hin. wonach bei der Altersgruppe der 25-bis 29jährigen Frauen, die nach der Bundesstatistik die niedrigste Abbruchsrate aufweist, der höchste Anteil „liberaler“ Antworten zum Schwangerschaftsabbruch zu verzeichnen ist Bei der Gruppe der Frauen über 35 Jahren andererseits steigt sowohl die Abbruchs-rate als auch der Anteil „konservativer“ Antworten stetig an.
Wie inkonsistent generell Werthaltungen zum Schwangerschaftsabbruch erscheinen, wenn konkrete Lebenssituationen zu beurteilen sind, haben auch Zundel u. a. gezeigt: Nach dieser Untersuchung genügt schon die lebensnahe Darstellung von — zuvor abstrahiert geschilderten — Fallsituationen, um bei Befragten einen Meinungswandel bzw. zuvor nicht bestehende Meinungsambivalenzen auszulösen. Nach der MPI-Studie beeinflußt die kon-krete Erfahrung früherer Schwangerschaftsabbrüche die „liberale“ Einstellung zur Interruptio deutlich Demzufolge ist es eher das Erleben der konkreten außergewöhnlichen Situation, die zu einem Einstellungswandel gegenüber der Abtreibung führt, weniger die generelle Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch, welche die Entscheidung in der konkreten Lage unmittelbar beeinflußt. Damit bleibt die Frage, welche letztlich ausschlaggebenden Gründe es wohl sind, die beim konkreten Entschluß zum Schwangerschaftsabbruch häufig die normativen Orientierungen überlagern, diese zurückdrängen, jedenfalls aber neutralisieren.
In der Regel leben Frauen mit einem Schwangerschaftsabbruch in der aktuellen Situation in ungefestigteren Lebensverhältnissen als schwangere Frauen ohne Entscheidungskonflikte und soge-nannte Konfliktschwangere. Sie befinden sich eher in unverbindlichen Partnerschaften, sind häufiger noch in der Ausbildung und verfügen über weniger Einkommen. Diese Faktoren beeinflussen auch die emotionale Akzeptanz der Schwangerschaft durch die Frau: Eine Schwangerschaft wird um so eher positiv beurteilt, je verbindlicher die Partnerbeziehung ist. je mehr der Mann zur Schwangerschaft steht und je höher die verfügbaren finanziellen Mittel sind
Die Relevanz, die psychosoziale Konflikte für eine Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch gewinnen. wird auch schon in früheren Untersuchungen. obschon mit unterschiedlicher Nuancierung, betont. So haben z. B. nach der Untersuchung von Oeter/Nohke die befürchteten finanziellen Einschränkungen das größte Gewicht, ferner Sorgen der Schwangeren, nach der Geburt eines Kindes ihren Beruf nicht mehr ausüben zu können. Schließlich erlangen antizipierte negative Auswirkungen der ausgetragenen Schwangerschaft auf die Partnerbeziehung, das Bedürfnis nach Autonomie und Gesundheit sowie die Wohnsituation entscheidenden Einfluß.
Freilich wird man auch nach diesen Befunden Bindungsverlusten und Wertewandel eine Bedeutung nicht absprechen können. Zwar liefert die eher „liberale“ oder eher „konservative“ Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch nicht das erwartete Gewicht für die der Schwangeren konkret abverlangte Entscheidung. Der den Partnerschaftsbeziehungen eingeräumte Rang zeigt aber, daß sich wandelnde Grundeinstellungen zu Ehe und Familie das Entstehen von konkreten Konfliktsituationen beeinflussen können. 3. Einstellung und Verhaltensweisen von Ärzten
Der dritte Aspekt der empirischen Projektstufe geht näher auf die Einstellungen und Verhaltensweisen der am Schwangerschaftsabbruch beteiligten Ärzte ein. Untersucht wurden die grundsätzliche Einstellung der Ärzte zur gesetzlichen Regelung — insbesondere die Akzeptanz der verschiedenen Indikationen, weiterhin die Verhaltensweisen bei legalem Schwangerschaftsabbruch sowie die Normkenntnis und -interpretation der Ärzte. Die Untersuchung hat ergeben, daß 80 Prozent der Ärzte einen Schwangerschaftsabbruch als Tötung ansehen, wobei aber knapp zwei Fünftel dieser Ärzte (38 Prozent) dies als Notlösung hinnehmen. Lediglich ein Fünftel betrachtet das Problem des Schwangerschaftsabbruchs als einen Aspekt des Selbstbestimmungsrechts der Frau
Die Einstellung zur konkreten ärztlichen Regelung korrespondiert in der Regel mit der grundsätzlichen Einstellung der Ärzte zum Schwangerschaftsabbruch. Etwa zwei Drittel der befragten Ärzteschaft finden das geltende Indikationsmodell gut bzw. halten es für einen richtigen Ansatzpunkt. Das letzte Drittel hingegen favorisiert eine freizügigere Regelung etwa in Richtung Fristenlösung oder gar der völligen Freigabe. Was die einzelnen Indikationen angeht, so werden die medizinische, eugenische und kriminologische Indikation von der Ärzteschaft überwiegend akzeptiert. Die Notlagenindikation hingegen wird nur von rund 43 Prozent gebilligt Demgemäß läßt sich die gängige Ansicht, Ärzte gingen mit dem Problem der Abtreibung leichtfertig oder gar selbstherrlich um, nicht aufrechterhalten. Denn 79 Prozent der indikationsstellenden und 77 Prozent der Abbrüche durchführenden Ärzte empfanden ihre Tätigkeit als belastend. Als Begründung wurde mehrheitlich angeführt, daß es um die Tötung menschlichen Lebens gehe. Oft stehen die Ärzte in einem Konflikt zwischen persönlicher Auffassung und Anerkennung allgemeingültiger Normen, aus dem heraus sie ihre Entscheidung treffen müssen. So gab es auch bei den 42 Prozent der Gynäkologen, die einen Schwangerschaftsabbruch für sich persönlich ablehnten, einige, die dennoch bereits einen solchen Eingriff vorgenommen hatten
Vor allem bei der Feststellung einer Notlagenindikation wurde von Seiten der Ärzte immer wieder Unsicherheit beklagt. Vielfach wurde eine klar definierte Notlagenindikation gefordert, um der eigenen Unsicherheit und Belastung Herr zu werden. Bezüglich der Normkenntnis fällt auf, daß einem Teil der Ärzte nicht bekannt ist, daß im Falle der medizinischen Indikation keine gesetzliche Frist eingehalten werden muß. Dennoch befürwortet der Großteil auch dieser Ärzte eine medizinische Indikation ohne Fristeinhaltung. Bei der eugenischen Indikation wird von einem Drittel der Ärzte Kritik an der 22-Wochenfrist geübt; die 12-Wochenfrist der Notlagenindikation wird von zwei Dritteln der Ärzteschaft für akzeptabel gehalten. 94 Prozent der Ärzte wissen, daß sie sich bei der Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs strafbar machen können. Sanktionswissen im Bereich der Indikationsfeststellung haben hingegen nur etwa 75 Prozent. Insbesondere wird die gesetzliche Sanktionsdrohung im Bereich der Notlagenindikation als abschreckend erlebt. Vielfach wird die Indikation bei Unsicherheit des Arztes deshalb nicht erteilt, weil er um die Strafbarkeit einer unrichtigen Indikationsfeststellung weiß. Insofern kann in diesem Zusammenhang von einem generalpräventiven Effekt der gesetzlichen Regelung gesprochen werden, der aber nicht überbewertet werden darf.
III. Begrenzte Möglichkeiten rechtlicher Steuerung
Die empirische Befundlage zum Schwangerschaftsabbruch weist im ganzen auf die Normalität von Straffälligkeit, aber auch auf die Selektivität von Strafverfolgung hin. Die nähere Analyse der Fälle wegen strafbarer Abtreibung Beschuldigten zeigt auch hier, wie sehr die situationsgebundenen und persönlichkeitsspezifischen Determinanten krimineller Entscheidungsbildung durchschlagen. Seltener hingegen läßt sich die Autonomie der das Recht brechenden Persönlichkeit empirisch sichern. Nach verbreiteter Auffassung handelt es sich um ein persönliches, soziales, jedenfalls außerrechtliches Problem, Ausdruck eines Wertekonflikts, der nicht nur im Einzelfall in der Brust der individuellen Persönlichkeit lebt, sondern wie auch im internationalen Vergleich der Rechtsordnung deutlich wird, insofern Lebensschutzmodelle einerseits den Selbstbestimmungsmodellen andererseits als regulative Prinzipien gegenüberstehen Zumindest in Konfliktnähe ist die Akzeptanz der gesetzlichen Regelung zum Schwangerschaftsabbruch nicht sehr hoch und fallen die staatlichen Interventionen weithin ins Leere. Die lückenhafte Normanwendung kann eher als Normerosion denn als Normbekräftigung im Sinne integrierender Generalprävention verstanden werden. Angesichts der geringen Relevanz abstrakter Einstellungen zum Schwangerschaftsabbruch für die konkrete situative Entscheidung bleibt zweifelhaft, ob das Strafrecht des Schwangerschaftsabbruchs oder gar dessen etwaige Verschärfung über eine mögliche Stützung allgemeiner Grundhaltungen hinaus auch die Einzelfallentscheidung beeinflußt. Neuere Forschungsergebnisse stimmen eher skeptisch.
Nicht zufällig betont das Bundesverfassungsgericht die von einer Strafnorm ausgehende „Femwirkung“. Es führt überdies aus, das Gesetz sei nicht nur Instrument zur Steuerung gesellschaftlicher Prozesse nach soziologischen Erkenntnissen und Prognosen, sondern solle auch verdeutlichen, was für den einzelnen Recht und Unrecht ist Die symbolische Funktion des Strafrechts lebt allerdings weitgehend von der Uninformiertheit und fehlenden Aufklärung der Normadressaten über die mangelnde Durchsetzbarkeit strafrechtlicher Normen
Angesichts der begrenzten Einflußmöglichkeiten des Strafrechts auf die konkrete Entscheidung für das Austragen der Schwangerschaft richtet sich das Augenmerk um so mehr auf außerstrafrechtliche Maßnahmen zum Schutz des ungeborenen Lebens An dieser Problemlage wird deutlich, daß und wie sehr Rollen-und Wertewandel. Bindungsverluste sowie veränderte Toleranz zur Verflüchtigung des Verbrechens und seiner Spuren führen, aber auch eine überzeugende soziale Konfliktlösung erschweren, die überdies dem Lebensschutz die gebührende Achtung zollt.
Günther Kaiser, Dr. jur., geb. 1928; Studium der Rechtswissenschaft 1952— 1956 in Tübingen und Göttingen; Juristische Staatsprüfungen 1956 und 1960; Promotion 1962 in Tübingen; 1969 Habilitation in Tübingen; seit 1973 Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg. Veröffentlichungen u. a.: Randalierende Jugend, Heidelberg 1959; Verkehrsdelinquenz und Generalprävention, Tübingen 1970; Jugendkriminalität, Weinheim/Basel 19823; Strafvollzug im europäischen Vergleich, Darmstadt 1983; Einführung in die Kriminologie, Heidelberg 1989*.
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