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Weniger Abtreibungen — aber wie? Ein Beitrag zur Überwindung der Polarisierung | APuZ 14/1990 | bpb.de

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APuZ 14/1990 Abtreibung: Das Versagen des Rechtsstaats „Lebensschützer“ auf dem Rechtsweg Was wissen wir über den Schwangerschaftsabbruch? Ergebnisse eines empirischen Forschungsprojekts Schwangerschaftsabbruch — Betroffene Frauen berichten Weniger Abtreibungen — aber wie? Ein Beitrag zur Überwindung der Polarisierung

Weniger Abtreibungen — aber wie? Ein Beitrag zur Überwindung der Polarisierung

Waldemar Molinski

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die gegenwärtige Diskussion um die Abtreibung dreht sich vornehmlich um die Fragen, ob die Abtreibung immer sittlich unerlaubt oder unter bestimmten Umständen sittlich doch erlaubt sei und wie weit deshalb unter Zuhilfenahme rechtlichen Zwangs die Abtreibungszahlen gesenkt werden können. Im Unterschied dazu wird in der vorliegenden Arbeit davon ausgegangen, daß das Ziel der Verringerung von Abtreibungen auf diese Art nur in sehr unzulänglicher Weise angegangen wird. Weil die Autonomie bei der Entscheidung über Abtreibungen zumindest unter unseren freiheitlichen gesellschaftlichen Verhältnissen von außen nur in recht begrenztem Umfang einzuengen ist, muß vielmehr entschiedener versucht werden, die Menschen mit Schwangerschaftskonflikten — unabhängig davon, ob sie unbedingte Abtreibungsgegner oder bedingte Abtreibungsbefürworter sind — dazu zu bewegen, daß sie ihr Selbstbestimmungsrecht und ihre Gewissensfreiheit bei Entscheidungen über Abtreibungen möglichst sinnvoll nutzen. Zur Verwirklichung dieses Ziels wird vorgeschlagen, einerseits Schritte zur Vertiefung der Ehrfurcht vor dem Leben und speziell dem ungeborenen Leben und andererseits zur Erlangung eines besseren Verständnisses der Möglichkeiten weiblicher Selbstverwirklichung durch Mutterschaft zu unternehmen, um so zu verhindern, daß Abtreibungen vorschnell als eine gangbare Lösung von Schwangerschaftskonflikten angesehen werden. Zur Reduzierung von Schwangerschaftskonflikten sollten gleichzeitig Bemühungen unternommen werden, die Mitmenschen der schwangeren Frauen und ihrer ungeborenen Kinder zu mehr Solidarität mit ihnen zu bewegen. Zur Vermeidung von Schwangerschaftskonflikten müssen darüber hinaus intensive Anstrengungen unternommen werden, um die Entstehung unerwünschter Schwangerschaften soweit wie möglich zu verhindern. Je mehr Abtreibungsgegner wie -befürworter für die Verwirklichung dieser Ziele gewonnen werden können, je mehr müßte es gelingen, die gegenwärtige Konfrontation zwischen Abtreibungsgegnern und -befürwortem durch eine Kooperation bei der Verringerung von Abtreibungen zu ersetzen.

I. Die Herausforderung

Nach dem Statistischen Jahrbuch 1989 für die Bundesrepublik Deutschland gab es 1988 insgesamt 83784 Abtreibungen, davon 86, 8 Prozent aus sogenannter sozialer Indikation. Alle Wissenschaftler gehenjedoch davon aus, daß die Zahl derjährlichen Abtreibungen wesentlich höher liegt, viele meinen, daß sie mindestens doppelt so hoch ist Wie dem auch sei: Viele Zeitgenossen halten die große Anzahl der Abtreibungen für unerträglich. Für sie ist (fast) jede Abtreibung eine Abtreibung zu viel, weil wir nicht berechtigt seien, ein ungeborenes Kind zu töten, dem die gleiche Personwürde zuzubilligen ist wie geborenen Menschen. Ausgenommen sind deshalb allenfalls die Abtreibungen, ohne deren Vornahme die Mutter und ihr ungeborenes Kind sterben müßten, weil durch diese Abtreibungen dem sicheren Tod im Rahmen des Möglichen entgegengewirkt wird.

Andere jedoch halten Abtreibungen unter verschiedenen Umständen im Interesse des ungeborenen Kindes, seiner Mutter oder auch beider für berechtigt, entschuldbar oder nicht strafwürdig. Denn ihrer Ansicht nach ist die Tötung eines Ungeborenen, dessen Leben ihnen mehr oder weniger lebensunwert erscheint oder die das Leben seiner Mutter mehr oder weniger beeinträchtigt, gerechtfertigt, entschuldigt oder mindestens nicht strafwürdig, weil es sich bei diesem Lebewesen um einen potentiellen Menschen und nicht um eine Person mit allen Rechten und Pflichten handelt, die sich aus dem personalen Status ergeben.

Beide Gruppen halten aufgrund ihrer Überzeugung diejenigen, die ihre Ansicht nicht teilen, für ideologisch verrannt. Sie halten ihren eigenen subjektiven Standpunkt für unbedingt richtig. Jedoch sollten sie nicht ihre ganze Kraft darauf verwenden, den anderen Standpunkt zu bekämpfen. Vielmehr sollten sie sich gemeinsam darum bemühen, die Anzahl der Abtreibungen weitestgehend zu begrenzen, und zwar auf eine Weise, die möglichst allgemein annehmbar ist. Die Voraussetzung für eine fruchtbare Zusammenarbeit bei dieser Zielsetzung besteht, weil beide Gruppen davon ausgehen, daß es sich bereits bei den Embryonen um menschliches Leben handelt, mit dem man möglichst schonend umgehen sollte.

Eine solche Zusammenarbeit schließt Bemühungen um die Wahrheitsfrage nicht aus. Aber im praktischen Interesse sollten möglichst viele Menschen für eine Zusammenarbeit bei der Vorbeugung von Abtreibungen gewonnen werden, die über die sittliche Beurteilung der Abtreibung und der zu ihrer Verringerung zur Verfügung stehenden Mittel unterschiedliche und kontroverse Theorien haben. Deshalb wird hier nach Wegen gefragt, wie beide Seiten zu einer konkreten Verringerung der Abtreibungen beitragen können.

II. Suche nach Gemeinsamkeiten bei Abtreibungsgegnern und Abtreibungsbefürwortern

1. Ehrfurcht vor dem Leben

Die grundlegende Aufgabe im Dienst einer wirksamen und sittlich angemessenen Vorbeugung von Abtreibungen besteht unter diesen Umständen in der Vertiefung der „Ehrfurcht vor dem Leben“ im allgemeinen und speziell dem vorgeburtlichen Leben. Diese Forderung geht von der Annahme aus, daß die Hemmschwelle gegenüber Abtreibungen gehoben werden kann, wenn der Wert des Lebens höher eingeschätzt wird. Solange ein Leben kaum Wert hat. ist es auch nicht sonderlich schutzwürdig. Ehrfurcht vor dem Leben äußert sich in der Ehrfurcht vor dem Leben von Pflanzen, Tieren und Menschen, besonders auch in der Hochachtung des Lebens der Jungen und Alten, der Kranken und Gesunden, der Freunde und Feinde, der Gerechten und Ungerechten und eben auch der Geborenen und Ungeborenen.

Im Kontext einer zunehmenden Sensibilität für ökologische Erfordernisse besteht eine gute Chance, gerade auch die Ehrfurcht vor dem wer-denden Leben zu fördern. Albert Schweitzer nimmt unter seinem Stichwort „Ehrfurcht vor dem Leben“ die ökologische Thematik vorweg, die inzwischen alle erreicht hat. Bekanntlich geht es der ökologischen Bewegung darum, den zerstörerischen Umgang mit der Natur, auch der menschlichen Natur, der bei uns ein enormes Ausmaß erreicht hat, durch einen sanften zu ersetzen. Durch Wahrung des ökologischen Gleichgewichts’soll alles Leben erhalten werden und sich entfalten können. Mit dieser Zielsetzung erreicht die ökologische Bewegung immer mehr Zustimmung. Gleichzeitig wird deutlich, daß wir mit den Techniken, die wir zur Lösung unserer Lebensprobleme anwenden, immer mehr die Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Überleben, vielleicht für das Überleben überhaupt, gefährden oder gar zerstören.

Auch die Abtreibung ist solch eine harte Technik, durch die in den sehr sensiblen biologischen und speziell hormonalen Haushalt einer schwangeren Frau eingegriffen und neues menschliches Leben in ihr zerstört wird Von daher müßte gerade auch die ökologische Bewegung für eine Neuordnung unserer Gesellschaft eintreten, die Abtreibungsindikationen zunehmend überflüssig macht.

2. Zur Frage nach der unbedingten Schutzwürdigkeit des ungeborenen Lebens

Viele bestreiten die Personalität des ungeborenen menschlichen Lebens, besonders in den frühen Entwicklungsstadien Deshalb erscheint es im Interesse der Verringerung von Abtreibungen angemessen. mehr Überzeugungsarbeit dafür zu leisten, daß das ungeborene menschliche Leben allgemein in einem besonders qualifizierten Sinn als schutzwürdig anerkannt wird. Konsequent sollten die neuesten biologischen Kenntnisse über die sehr schnelle spezifisch menschliche Entwicklung der Embryonen vom Augenblick der Befruchtung an vermittelt werden. Unter Zuhilfenahme neuer Techniken, z. B.der intrauterinen Fotografie kann bereits dokumentiert werden, wie die Embryonen schon in kürzester Zeit menschliche Gestalt annehmen sowie subjektiv und koordiniert auf äußere Reize reagieren. Dadurch kann den Menschen unmittelbar bewußt werden: Die Embryonen sind wirklich menschliche Wesen; sie haben sehr früh Herztöne und Gehirnströme, und sie sind schmerzempfindlich

3. Unzulänglichkeit allein biologischer Argumentation

Tatsächlich ist das gezeugte menschliche Erbgut, zumindest wenn es nicht schwerstgeschädigt ist, vom Moment der Befruchtung an auf die Entfaltung eigenständigen spezifisch menschlichen Lebens ausgerichtet. Dadurch unterscheidet es sich bereits rein biologisch von nichtmenschlichem Leben. Diese Einsicht kann helfen, die Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben von Anfang an zu vertiefen

Jedoch ist der Hinweis auf die im biologischen Sinne spezifisch menschliche Anlage des Embryos allein kaum geeignet, die spezifische Eigenart und die besondere Schutzwürdigkeit des ungeborenen Lebens möglichst konsensfähig zu machen. Dazu muß man vielmehr den subjektiven und intersubjektiven Charakter und den moralischen Wert dieses im biologischen Sinne zweifelsfrei spezifisch menschlichen Lebens verdeutlichen.

Die Frage nach Wirklichkeit und Wert des Einzel-menschen, des Bürgers und der Gemeinschaft läßt sich nämlich genausowenig wie die Frage nach Wirklichkeit und Wert andersartiger Lebewesen allein mit biowissenschaftlichen Argumenten beantworten Man würde die Biologie gewaltig überfordern, wenn man die Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens von Anfang an bloß mit Berufung auf die Biologie rechtfertigen wollte. Tatsächlich geschieht das aber in hohem Maße.

Um die Polarisierung zwischen Abtreibungsgegnern und -befürwortern zu überwinden, ist es daher dringend nötig, daß die Diskussion über den Wirklichkeitss'tatus des ungeborenen menschlichen Lebens so vertieft wird, daß seine Werthaftigkeit in individueller und sozialer Hinsicht überzeugend herausgearbeitet wird. Dies ist in der Vergangenheit bisweilen vernachlässigt worden. Aber mit einer solchen Diskussion kann ein einseitig biologistisches und materialistisches Verständnis allen Lebens und somit auch des menschlichen Lebens abgebaut werden. Die mangelnde Ehrfurcht vor dem Leben mit ihren bedenklichen Auswirkungen auf den unzureichenden Schutz gerade des biologisch minderwertigen menschlichen Lebens ist nicht zuletzt auf diese einseitig biologische Interpretation zurückzuführen. Deshalb müssen die Wirklichkeit und der Wert des menschlichen Lebens auch philosophisch, theologisch, human-und sozialwissenschaftlich begründet werden. Entsprechend abgesicherte Interpretationen des subjektiven und inter-subjektiven Sinns der biologisch zweckmäßig verlaufenden Evolution sind dabei unverzichtbar

Wenig hilfreich aber ist es, wenn gerade kirchlich gebundene Vertreter die Personalität der Embryonen vom Moment der Verschmelzung des Erbgutes an ausschließlich mit dem Hinweis auf biologische Argumente zu begründen versuchen. Sie erschweren damit nämlich unnötigerweise den Dialog mit denen, die Schwierigkeiten haben, den moralischen Wert des menschlichen Lebens in frühen Entwicklungsstadien anzuerkennen. Darüber hinaus leisten sie auch dem biologischen Mißverständnis des Menschen Vorschub, demzufolge dieser bloß ein Lebewesen wie alle anderen Lebewesen ist.

Vor allem muß unter Hinzuziehung anderer fach-wissenschaftlicher Erkenntnisse noch differenzierter herausgearbeitet werden, welchen Wert dieses Leben in sich selbst und für uns alle besitzt, welche Qualität es hat. Dabei wird aufzuzeigen sein, warum es sowohl im Interesse des Gemeinwohls als auch im wohlverstandenen Eigeninteresse des vorgeburtlichen Lebens liegt, dieses Leben aufrechtzuerhalten. Je überzeugender es gelingt, die anthropologische Bedeutung des ungeborenen Lebens in umfassender Weise darzustellen, desto wirksamer wird man die Ehrfurcht vor diesem Leben wecken und vertiefen können. 4. Zur Frage nach der Sinnhaftigkeit jeglichen menschlichen Lebens Mit Berufung auf die sogenannte kindliche Indikation werden einerseits eine ganze Anzahl von gesunden Feten abgetrieben, bei denen Anlaß zum Verdacht einer Erbkrankheit oder einer sonstigen vorgeburtlichen Schädigung besteht Andererseits werden anscheinend zunehmend Feten mit verhältnismäßig begrenzten gesundheitlichen Behinderungen abgetrieben, deren Behinderungen infolge einer verbesserten Frühdiagnose zunehmend erkannt werden. Dazu kommt neuerdings die selektive Abtreibung sogenannter „überzähliger“ Mehrlinge nach hormonaler Sterilitätsbehandlung oder nach Embryotransfer

Die kindliche Indikation wird weithin als ein die Abtreibung rechtfertigender bzw. entschuldigender Tatbestand angesehen. Außerdem sind viele der Meinung, daß die Voraussetzungen für eine kindliehe Indikation häufiger vorhanden sind als es nach der Rechtslage der Fall ist. Es wird behauptet, daß es viele Gründe geben kann, die die Abtreibung berechtigen, und zwar im Interesse des zu erwartenden lebensunwerten Lebens des ungeborenen Kindes. Die Gründe reichen bis zu den schlechten Zukunftsaussichten für einen angemessenen Arbeitsplatz und den Gefahren künftiger atomarer Verseuchung. Diese Einstellung ist außerordentlich problematisch nicht nur. weil sie zu einer unverantwortlichen Ausweitung der Verstöße gegen das Lebensrecht der Ungeborenen führt und unzulängliche Lebensqualität als einen hinreichenden Grund dafür ansieht, ein Leben als lebensunwert anzusehen und infolgedessen zu töten. Sie führt vielmehr auch zu einer verhängnisvollen Ausweitung der Intoleranz gegenüber den aufgrund vorgeburtlicher Schäden Behinderten und gegenüber den Behinderten im allgemeinen, deren Leben dadurch noch zusätzlich erheblich erschwert wird.

Eine Verringerung der Abtreibungszahlen hängt vor diesem Hintergrund von einer tiefgreifenden Neubesinnung über den Sinn des menschlichen Lebens ab. Hier zeigt sich u. a. besonders deutlich, welchen Beitrag die Kirchen zur Senkung der Abtreibungszahlen leisten können: daß sie nämlich die Frage nach dem Sinn des Lebens für viele Menschen zeitgemäßer beantworten und ihre Deutung des Lebenssinns überzeugender vermitteln. Dazu muß dann selbstverständlich auch der entschiedene soziale und caritative Einsatz für Behinderte weitergeführt werden.

III. Förderung von Mutterschaft als eine Möglichkeit weiblicher Selbstverwirklichung

1. Abtreibung als Befreiung vom Gebärzwang?

Zahlreiche Frauen sehen eine Abtreibung als letzten vernunftgesteuerten Ausweg aus dem Gebärzwang. Während Männer sich der Verantwortung für ihr Kind dadurch entziehen können, daß sie die schwangere Mutter allein lassen, können sich Frauen der Verantwortung für ihr Kind vor der Geburt des Kindes nur durch Abtreibung entziehen. Von daher ist es verständlich, daß schwangere Frauen die gleiche Freiheit wie ihre Geschlechts-partner suchen, die infolge einer unerwünschten Schwangerschaft keinem Gebärzwang ausgesetzt sind. Sie wollen ihre Freiheit verwirklichen, indem sie sich in einer ihnen ausweglos erscheinenden Situation vernunftgesteuert gegen die Natur und für die Abtreibung entscheiden. Solange Frauen jedoch davon ausgehen, daß sie den Männern gegenüber so lange nicht wirklich gleichberechtigt sind, wie sie einem naturhaften Gebärzwang unterliegen, wird in ihrem berechtigten und nötigen Kampf um Gleichberechtigung die Abtreibung immer ein ganz wichtiges Instrument zur Erreichung jener Art von Gleichberechtigung sein.

Man muß deshalb klären, warum die Abtreibung kein geeignetes Mittel zur Befreiung von unberechtigter Benachteiligung durch die Männer und zur Erlangung von angemessener Gleichberechtigung ist. Dazu ist es vor allem nötig, bewußt zu machen: Männer, die zu Lasten der Mutter der Verantwortung für ihr Kind ausweichen, vollziehen damit keineswegs eine vernunftgesteuerte Befreiungstat, sondern entziehen sich in irrationaler Weise einer Zwangssituation, für die sie zwar mitverantwortlich sind, der sie sich aber nicht gewachsen fühlen. Ein solches Verhalten ist sicher kein vernünftiges emanzipiertes Vorgehen. Dasselbe gilt für die Frau, wenn sie eine Schwangerschaft, die sie als Gebärzwang empfindet, durch eine Abtreibung beendet.

2. Frauen und Männer sind gleichwertig und gleichberechtigt, aber nicht gleich

Um zu verstehen, daß eine Schwangerschaft keine Beeinträchtigung der Frauen gegenüber den Männern bedeutet, muß man bedenken: Frauen und Männer sind ihrer menschlichen Natur nach zwar gleichwertig und in dem Maße auch gleichberechtigt, wie sie gleichermaßen Mensch sind und deshalb an der Menschenwürde teilhaben. Sie sind weiterhin von Natur und Menschenwürde her gleichermaßen verantwortlich für die Entstehung neuen Lebens, aber Frauen und Männer sind nicht in jeder Hinsicht gleich. Sie sind vor allem während der Zeit der Schwangerschaft in unterschiedlicher Weise verantwortlich für die Erhaltung und Entfaltung des von ihnen verantworteten neuen Lebens. Sie haben von Natur aus unterschiedliche Fähigkeiten und Aufgaben und insofern auch unterschiedliche Rechte und Pflichten. Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen Mann und Frau besteht darin, daß allein die Frau ein Kind empfangen und austragen kann. Hieraus erwachsen für Frauen spezifische Möglichkeiten, Rechte und Pflichten. Diese sollte man nicht zu ändern versuchen, um mehr Gleichheit mit Männern zu erreichen. Vielmehr sollte man erheblich mehr dafür tun, die Männer zur Übernahme ihrer Verantwortung gegenüber der Mutter und dem gemeinsamen ungeborenen Kind zu bewegen.

3. Formen der Selbstverwirklichung aufgrund unterschiedlicher Lebensformen

Durch eine ungewollte Schwangerschaft stellen sich den Frauen nicht nur Probleme. Vielmehr erschließen sich auch Chancen weiblicher Selbstverwirklichung, die ausschließlich Müttern offenstehen. Sie sollten diese nutzen, um die neue Lebensphase positiv zu gestalten.

Mutterschaft eröffnet die Möglichkeit für spezifische Formen weiblicher Selbstverwirklichung, die keineswegs geringer sind als andere Formen der Selbstverwirklichung. Denn: Männer und Frauen haben allein oder gemeinsam als Paare, aber ohne Kinder, bestimmte Möglichkeiten zu ihrer Selbstverwirklichung, die innerhalb einer Familie nicht möglich sind und die vor allem den Eltern wegen der Notwendigkeit der Sorge für ihre Kinder verschlossen sind. Aber diese Formen der Selbstverwirklichung verschließen gleichzeitig andere Chancen, die nur in Familien möglich sind und vor allem Müttern mit ihren Aufgaben der Zuwendung zu den ihnen anvertrauten und von ihnen abhängigen Kindern offenstehen. Ob die eine oder andere Art der Selbstverwirklichung größere oder geringere Chancen eröffnet, hängt einerseits davon ab, welche Art der Selbstverwirklichung man selbst vorzieht, und andererseits davon, welche Nachteile für die Verwirklichung dieser oderjener Art der Selbstverwirklichung man in Kauf nehmen will und muß.

Gegenwärtig entscheiden sich viele Frauen bei uns gegen die Mutterschaft. Das zeigt sich besonders deutlich an den relativ wenigen Geburten und den relativ vielen Abtreibungen. Diese begrenzte Bejahung der Mutterschaft liegt darin begründet, daß vielen Frauen (und auch Männern) ein Leben, wie es Frauen und Männer ohne Kinder führen, attraktiver erscheint als eine Existenz als Mutter (und Vater). Ein anderer Grund muß darin gesehen werden, daß bei uns Familien, vor allem alleinerziehende Mütter, gegenüber den Menschen ohne Kinder in vielerlei Hinsicht tatsächlich so erheblich benachteiligt sind, daß dadurch die Vorteile nicht aufgewogen werden, die die Mutterschaft (und Vaterschaft) mit sich bringt.

Bei all dem darf man nicht übersehen, daß eine schwangere Frau Selbstverwirklichung unabhängig von Mutterschaft nur um den Preis der Tötung ihres (und ihres Partners) ungeborenen Kindes erreichen könnte. Das aber ist eine Alternative, die nach der Auffassung vieler unbedingt zu vermeiden ist und nach der Meinung anderer so weit wie irgend möglich vermieden werden sollte.

Es liegt nicht nur im Interesse der Senkung der Abtreibungszahlen, sondern auch einer sinnvollen Frauen-(und Männer-) -emanzipation, Wege zu einer Lebensgestaltung zu finden, die den Schwangeren ebenso wie ihren Kindern eine solche menschenwürdige Verwirklichung ihres Lebens ermöglicht, daß ihnen die Abtreibung nicht als ein Ausweg aus einer durch Schwangerschaft entstandenen Selbstentfremdung erscheint. Von daher müssen Lebensbedingungen geschaffen werden, unter denen sich beide Partner und das neue Leben, für das beide verantwortlich sind, menschengerecht entfalten können. Dafür tragen die staatliche Gemeinschaft und alle gesellschaftlichen Kräfte erhebliche Mitverantwortung. Auf dieser Grundlage sind Frauenemanzipation und gleichzeitige wohlverstandene Männeremanzipation notwendige Prozesse, die alle gesellschaftlichen Kräfte fördern sollten.

4. Schwangerschaft und Mutterschaft als Chancen der Selbstverwirklichung

Abtreibungen können zu einem erheblichen Teil dadurch verhindert werden, daß die Notlagen von schwangeren Frauen wirksam bekämpft werden. Solche Maßnahmen dienen der Förderung echt partnerschaftlicher Verantwortung von Männern und Frauen und der wirtschaftlichen und sozialen Befreiung der Frauen. Denn solche Maßnahmen zielen darauf ab, den Frauen zu helfen, ohne größere wirtschaftliche und soziale Benachteiligungen zu ihrem Kind „ja“ zu sagen.

Die Stabilisierung und sogar Ausweitung von Indikationen dient demgegenüber nicht der Befreiung schwangerer Frauen vom sogenannten Gebärzwang, sondern vielmehr der Aufrechterhaltung der bei uns herrschenden Verhältnisse, die es den Kinderlosen und speziell den Männern ermöglichen, die Verantwortung für ihre Kinder einseitig deren Müttern anzulasten und sich selbst ihrer Mit-verantwortung für Kinder in hohem Ausmaß zu entziehen.

IV. Solidarische Hilfen für schwangere Frauen und ihre ungeborenen Kinder

1. Stärkung der Partnerbeziehung und gemeinsame Verantwortung für das Kind

Da Abtreibungen in erster Linie auf Partnerschaftskonflikte zurückzuführen sind erscheint es vordringlich, eine konstruktive und tragfähige Partner-beziehung zu gestalten. Diese ist ein ganz wesentlicher Einflußfaktor zur Verringerung der Abtreibungszahlen. Aber es besteht bislang eine beachtliche Ratlosigkeit, welche wirksamen Schritte man unternehmen kann, um Partnerschaftskonflikte Schwangerer zu vermeiden bzw. abzubauen. Sehr oft ist der Auslöser für solche Konflikte das nicht vorhandene Verantwortungsbewußtsein der Männer für das von ihnen gezeugte Kind und für ihre schwangere Partnerin. So wie es darauf ankommt, daß die Mütter lernen müssen, ihre Mutterschaft als eine spezifische und privilegierte Form weiblicher Selbstverwirklichung zu erfahren und zu gestalten, kommt es genauso stark darauf an, daß die Männer lernen, in der Bejahung ihrer Vaterschaft ebenfalls eine Möglichkeit zur Selbstverwirklichung zu erfahren, durch die ihr Dasein bereichert werden kann. Auch für die Väter müssen deshalb vielfältige Angebote bereitgestellt werden, die es ihnen erleichtern, sich mit ihrer Vaterschaft zu identifizieren und die damit verbundenen Aufgaben positiv wahrzunehmen. Vor allem neue Wege bei der Regelung der Arbeitszeit und bei der Aufteilung der Tätigkeiten von Frau und Mann füreinander und für die Kinder zielen in diese Richtung. Alle Angebote, die eine stärkere Identifizierung der Männer mit ihrer Vaterschaft fördern, wären zudem Beiträge, von Symptomen einer „vaterlosen Gesellschaft“ wegzukommen.

Die Väter sollten in jedem Fall von Anfang an in vollem Umfang in die Schwangerschaftsberatung einbezogen werden. Dies sollte ganz besonders für die Schwangerschaftskonfliktberatung gelten. Solange dies jedoch nicht gewährleistet ist. muß allen Frauen, die nicht die notwendige Solidarität ihres Partners erfahren, diese im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe seitens der Gesellschaft umfassend gewährt werden. Praktische Solidarität ist vor allem deshalb notwendig, weil viele Frauen mit einem keineswegs schon festgelegten Abtreibungsvorhaben zur Schwangerschaftskonfliktberatung kommen.

2. Abbau wirtschaftlicher Benachteiligungen

Erhebliche wirtschaftliche Benachteiligungen derer, die Kinder haben, gegenüber Kinderlosen sind nicht nur für den weitgehenden Verzicht vieler Menschen auf Kinder maßgeblich, sondern auch für Abtreibungen Der Standpunkt, daß man kein Kind töten darf, um wirtschaftlichen Nachteilen zu entgehen, ist nur zu gut nachvollziehbar; gerade deshalb muß man auch zur Kenntnis nehmen, daß es ungerecht ist, von denen, die Kinder bekommen, größere wirtschaftliche Opfer zu verlangen als von jenen, die keine Kinder bekommen oder weniger Kinder haben. Vor allem muß man Verständnis dafür aufbringen, daß viele wirtschaftlich und sozial Benachteiligte eher an die Grenze ihrer Opferbereitschaft stoßen als andere. Wenn man die Abtreibungszahlen wirklich senken will, muß man in einer materialistisch orientierten Gesellschaft ganz entschieden dafür sorgen, daß ungerechtfertigte wirtschaftliche Benachteiligungen beseitigt werden. Die wirtschaftlichen Hilfen, die gegenwärtig durch staatliche Subventionen schwangeren Frauen mit wirtschaftlichen Problemen angeboten werden, können diese Benachteiligungen in akuten Krisen vielleicht bis zu einem gewissen Grad auffangen. Aber sie sind in keiner Weise geeignet, die finanziellen Nachteile derer zu beseitigen, die Kinder haben, und die Probleme der wirtschaftlich Benachteiligten wirklich zu lösen. Man muß sich deshalb darüber im klaren sein, daß alle, die sich nicht vehement für den Abbau der wirtschaftlichen Diskriminierung derer, die Kinder haben, und für eine wirksame Unterstützung Schwangerer in wirtschaftlicher Not einsetzen, bis zu einem gewissen Grad indirekt dem Abtreibungsentschluß Schwangerer Vorschub leisten. Umgekehrt gilt natürlich ebenso: Wer sich für ein Recht auf Abtreibung aus derartigen Gründen einsetzt, trägt sicher zur Stabilisierung einer ungerechten und kinder-, trauen-und familienfeindlichen Wirtschaftsordnung bei.

3. Überwindung von Diskriminierungen

Ein weiterer wichtiger sozialer Grund für Abtreibungen liegt in der heuchlerischen moralischen Diskriminierung von ledigen, verwitweten und geschiedenen Frauen, die ein Kind erwarten. Während unsere Gesellschaft auf der einen Seite gegenüber vor-und außerehelichen Geschlechtsbeziehungen sehr tolerant ist, wird dieser Personenkreis immer noch als unmoralisch angesehen. Da ist es nicht verwunderlich, daß ungefähr die Hälfte aller Abtreibungen bei diesen Frauen vorgenommen wird allerdings nicht nur aus Furcht vor Diskriminierungen. Dennoch bleibt festzuhalten: Jeder, der sich an dieser Form der Ausgrenzung beteiligt, macht sich an der Abtreibung strukturell mitschuldig. Wer sich aber für den Abbau solcher Diskriminierung einsetzt und den nicht verheirateten Müttern und ihren Kindern genauso positiv begegnet wie verheirateten Müttern und ihren Kindern, trägt umgekehrt zumindest indirekt dazu bei. daß bei uns weniger Kinder abgetrieben werden. Vor allem nicht verheiratete Mütter selbst, die den Mut haben, ihr Kind auszutragen, machen mit ihrer Haltung auch anderen Frauen in vergleichbaren Situationen Mut, einer Abtreibung zu widerstehen. Übrigens werden auch Eltern mit mehreren Kindern, die ein weiteres Kind erwarten, in erstaunlich hohem Ausmaß als asozial angesehen. Deshalb liegt es im Interesse der Verringerung der Abtreibungen, daß wesentlich größere Anstrengungen unternommen werden, um die sozialen Verdienste der Mehrkinder-Familien entsprechend zu würdigen. Die verhältnismäßig vielen Abtreibungen, die bei Müttern mit mehreren Kindern erfolgen, sind nämlich zweifellos auch durch die soziale Diskriminierung der Mehrkinder-Familien mitbedingt

V. Für eine kinder-und frauenfreundliche Gesellschaft

1. Keine moralische Verurteilung von Frauen, die abgetrieben haben

Man darf Frauen, die abgetrieben haben oder abtreibungswillig sind, moralisch nicht verurteilen. Das gilt nicht nur, weil sie ihr Verhalten subjektiv nicht als grundlegend falsch empfinden und nicht selten sogar als zwangsläufig erforderlich betrachten, sondern vor allem, weil man über niemanden moralisch richten darf. Dies entspricht nicht nur der christlichen Grundüberzeugung, sondern eine solche Haltung ist auch für ein friedliches Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft unabdingbar. Aus rechtlichen und moralischen Gründen muß man den Abtreibungswillen von Frauen, die sich aufgrund eines schweren Notstandes zu einer Abtreibung entschließen, tolerieren. Aus dieser Überlegung heraus hat sich z. B. die Deutsche Bischofskonferenz in Absprache mit dem Vatikan dazu entschlossen. Beratungsstellen für Schwangere in Not-und Konfliktsituationen nur dann kirchlich anzuerkennen, wenn die Mitarbeiter dieser Beratungsstellen dazu bereit sind, gesetzlich vorgeschriebene Bescheinigungen über bei ihnen erfolgte Beratungen auszustellen. Diese Bescheinigungen braucht man als eine von mehreren Voraussetzungen (nur) dazu. um eine Abtreibung aus sozialer Indikation zu erreichen. Die Bischöfe nehmen also eine unter Umständen entfernte materielle Mitwirkung an einer sittlich unerlaubten Abtreibung als vermeintliches . Übel in Kauf, weil sie der Ansicht sind, daß durch die Tätigkeit der kirchlichen Beratungsstellen die Zahl der Abtreibungen eher gesenkt als vermehrt wird.

Tatsächlich stellt sich die Abtreibungsproblematik bei den verschiedenen betroffenen Frauen sehr unterschiedlich dar. Die einen empfinden diese sehr stark, andere weniger und wieder andere kaum oder gar nicht. In einer pluralen Gesellschaft mit unterschiedlichen Subkulturen existieren selbstver-ständlich verschiedene Einstellungen mit sehr unterschiedlichen Wertauffassungen zu vielfältigen Sachverhalten und Problemen nebeneinander. Dies muß auch bei der Abtreibungsproblematik berücksichtigt werden.

Das bedeutet jedoch nicht, daß man den eigenen sittlichen Standpunkt zur Abtreibung preisgeben oder in Frage stellen muß, soweit man ihn guten Gewissens als gerechtfertigt ansieht. Die Toleranz-forderung gegenüber den Andersdenkenden und -entscheidenden ist gerade auch bei der Abtreibungsproblematik von zentraler Bedeutung. Nur wenn gleichzeitig selbstsichere und selbstkritische Toleranz vorhanden ist, besteht nämlich Aussicht, daß die Polarisierung zwischen Abtreibungsgegnem und -befürwortern zunehmend einer Bereitschaft zu einem konstruktiven Dialog darüber weicht, wie Abtreibungen möglichst weitgehend vermieden werden können.

2. Einsatz für eine kinder-und frauenfreundliche Gesellschaft

Man sollte sich klar sein, daß die Abtreibungszahlen bei uns auch deshalb so hoch sind, weil unsere Gesellschaft gegenüber Kindern kühl und distanziert und oft sogar feindlich ist. Auch um zu erreichen. daß die Zahl der Abtreibungen spürbar gesenkt wird, ist es deshalb dringend nötig, sehr gezielt auf einen Abbau des bei uns weithin vorherrschenden kinderfeindlichen Klimas hinzuwirken.

Eine kinderfreundliche Gesellschaft muß unbedingt auch frauenfreundlich sein, weil das Leben, Überleben und Wohlbefinden der Kinder entscheidend von der Lebensqualität der Mütter abhängt. Viele Frauen werden sich heute ihrer Rechte viel deutlicher bewußt, und sie fordern sie auch entschiedener ein. Als Grund für Abtreibungen geben Frauen häufig ungünstige Lebensbedingungen an. Sie empfinden es oft als unzumutbar, Kinder zu haben. Sie meinen, sie dürften abtreiben, weil ihnen durch ihre Schwangerschaft die elementaren Voraussetzungen für ihre Selbstverwirklichung entzogen würden.

Vor diesem Hintergrund muß man noch entschiedener alle Maßnahmen fördern, die alleinstehenden Frauen das Aufziehen und die Erziehung ihrer Kinder erleichtern und es ihnen ermöglichen, ihren beruflichen, individuellen und gesellschaftlichen Interessen ebenso nachgehen zu können wie die Mitmenschen, die weniger oder gar nicht durch die Verantwortung für Kinder beansprucht sind. Auch im Interesse der Senkung der Abtreibungszahlen schließt dies unter anderem Bemühungen um verbesserten Mutterschutz, mehr Teilzeitarbeitsplätze, mehr Kinderkrippen, bessere Kindergärten und mehr Ganztagsschulen ein. So wird auch in diesem Zusammenhang deutlich: Hohe Abtreibungszahlen sind in großem Ausmaß ein Symptom für die Kinder-, Frauen-und Familienfeindlichkeit unserer Gesellschaft, die abgebaut werden müssen.

VI. Vorbeugung von Abtreibungen durch Verhinderung unerwünschter Schwangerschaften

Wenn es gelingt, daß unerwünschte Schwangerschaften soweit wie nur irgend möglich überhaupt nicht zustande kommen, wird dadurch potentiellen Abtreibungen wirksam vorgebeugt. Überdies würden viele unnötige Probleme verhindert, die für die betroffenen Frauen, Kinder und Männer aufgrund einer unerwünschten Schwangerschaft oft auch dann entstehen, wenn auf eine Abtreibung verzichtet und das zunächst unerwünschte Kind angenommen und ausgetragen wird. Viele Gründe, die gegen eine Schwangerschaft sprechen, bleiben nämlich auch im Falle einer verantwortungsvollen Bejahung eines zunächst unerwünschten Kindes bestehen.

1. Verantwortliche Empfängnisregelung als Mittel zur Vorbeugung von Abtreibungen

Offensichtlich wird beim Geschlechtsverkehr oftmals die Möglichkeit einer Schwangerschaft zu wenig bedacht. Wenn es dann doch zu einer unerwarteten und oft auch objektiv unerwünschten Schwangerschaft kommt, wird diese nicht selten durch Abtreibung beendet. Abtreibung wird damit nachträglich zu einer alternativen Methode der Geburtenregelung

Grundvoraussetzung für Erfolge bei der Vermeidung unerwünschter Schwangerschaften ist deshalb, daß das Bewußtsein dafür geschärft wird, wann man die Möglichkeit einer Zeugung bzw. Empfängnis eingehen darf oder gar soll, und unter welchen Umständen man das Risiko hierzu unbedingt vermeiden muß. Deshalb muß die praktische Fähigkeit zur Familienplanung wesentlich vertieft werden; dies ist die Fähigkeit, selbständig und verantwortlich zu bestimmen, wann eine Schwangerschaft erwünscht ist und wie groß eine Familie unter bestimmten Umständen werden sollte. Dies erfordert auf der anderen Seite auch die sichere Kenntnis und ggf. Anwendung empfängnisverhütender Maßnahmen. Tatsächlich muß man immer wieder feststellen, daß die Fähigkeit dazu bei vielen Menschen stark unterentwickelt ist. Deshalb sind hier entscheidende und wirksame Hilfen unterschiedlicher gesellschaftlicher Kreise, besonders auch der Kirchen und des Staates, notwendig.

2. Unerwünschten Schwangerschaften vorbeugen

Wenn vor allem dafür Sorge getragen werden muß, daß keine Kinder mehr unverantwortlich gezeugt bzw. empfangen werden, besteht die grundlegende moralpädagogische Herausforderung darin, jedermann möglichst weitgehend dazu zu befähigen und zu motivieren, nicht das Risiko einer unverantwortlichen Schwangerschaft herbeizuführen. Dies ist das entscheidende Ziel. Die damit verbundene Aufgabe wurde von der Moralpädagogik bislang zu wenig wahrgenommen und muß künftig erheblich intensiviert werden.

Insbesondere Jugendliche unterschätzen das Risiko einer Schwangerschaft. Von daher kommt es bei ihnen in zunehmendem Ausmaß zu Frühschwangerschaften. Da diese sehr häufig eine Abtreibung zur Folge haben, ist es nötig, daß der Zusammenhang zwischen Geschlechtsverkehr und Fortpflanzung in zeitgemäßer Weise stärker thematisiert wird. Es scheint nämlich gerade bei Jugendlichen das Bewußtsein unterentwickelt zu sein, wie leicht Geschlechtsbeziehungen zu einer Schwangerschaft führen können. Hieraus folgt, daß besonders im Interesse der Vorbeugung von Abtreibungen insbesondere Jugendliche dazu motiviert werden müssen, die möglichen Konsequenzen realistischer zu erkennen.

Bekanntlich sind viele Erzieher zurückhaltend, die nötige Aufklärung und Motivation zu vermitteln. Dazu kommt, daß nicht eindeutig geklärt ist, wer für diese Aufgaben zuständig ist und wie diese angepackt werden sollen. Bezeichnend dafür ist der lange Streit über die Notwendigkeit sowie die Art und Weise schulischer Sexualaufklärung und -erziehung.

Außer bei Jugendlichen stößt die Vorbeugung unerwünschter Schwangerschaften offenkundig auch bei einer großen Anzahl verheirateter Paare auf erhebliche Probleme. In unserer Gesellschaft werden nämlich fast die Hälfte aller Abtreibungen bei verheirateten Frauen und insgesamt mehr als die Hälfte aller Abtreibungen bei Frauen mit einem oder mehreren Kindern vorgenommen. Das läßt darauf schließen, daß diese Frauen bzw. Paare entweder zu einer sicheren Vorbeugung unerwünschter Schwangerschaften nicht in der Lage waren oder die Abtreibung als eine alternative Methode der Geburtenregelung bewußt einsetzen. Dies bedeutet, daß hinsichtlich einer angemessenen Vorbeugung unerwünschter Schwangerschaften noch vielfältige Informations-und Motivationsarbeit geleistet werden muß.

3. Mitverantwortung der Männer für die Empfängnisregelung

Daß viele Frauen unverhofft und unerwünscht schwanger werden, hat wesentlich auch damit zu tun, daß zahlreiche Männer ihre Verantwortung für eine sinnvolle Schwangerschaftsverhütung bzw. Familienplanung völlig unzureichend wahrnehmen und häufig ganz verdrängen. Kommt es zu einer unerwünschten Schwangerschaft, drängen sie oftmals zu einer Abtreibung.

Im Interesse einer möglichst wirksamen und angemessenen Schwangerschaftsverhütung bzw. Familienplanung ist es deshalb außerordentlich wichtig, daß die Mitverantwortung des Mannes in dieser Hinsicht wesentlich nachdrücklicher zur Geltung kommt. Denn Mann und Frau sind sowohl für Zeugung und Empfängnis einerseits als auch für die Empfängnisverhütung andererseits gleichermaßen verantwortlich. Eine wirksame Schwangerschaftsverhütung ist von daher um so eher gegeben, wie beide Partner diese Frage nicht verdrängen, sondern vielmehr miteinander darüber sprechen und sich in der Wahl der Methode einig sind. Das entspricht auch einem angemessenen Bild von Partnerschaft und Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann.

4. Streit um Empfängnisverhütung

Die Vorbeugung von unerwünschten Schwangerschaften ist zwar ein geeignetes Mittel zur Vorbeugung von Abtreibungen. Dies ist jedoch auslegungsbedürftig. Denn die Meinungen über die zweckmäßigen und angemessenen Mittel zur Empfängnisverhütung bzw. Familienplanung gehen weit auseinander. So besteht in weiten Teilen unserer Bevölkerung Übereinstimmung darin, zum Zweck der Empfängnisverhütung alle künstlichen Methoden anwenden zu dürfen, sofern beide Partner dies wünschen bzw. damit einverstanden sind. Im Gegensatz zu dieser Position gibt es in anderen Kreisen der Bevölkerung zum Teil erhebliche Vorbehalte dagegen, ja sogar grundsätzliche Ablehnung. Diese wird vor allem innerhalb der katholischen Kirche stark vertreten. Der Streit um die angemessenen Methoden zur Empfängnisverhütung führt bei vielen Menschen zu erheblichen Unsicherheiten bei der Verhinderung unerwünschter Schwangerschaften. Diese sind vor allem damit zu erklären, daß viele, vor allem kirchlich gebundene Menschen, meinen, die künstliche Empfängnisverhütung sei zwar vielleicht ein kurzfristig und im Einzelfall scheinbar angemessenes, nicht aber ein auf Dauer angebrachtes und mit dem Gemeinwohl übereinstimmendes Mittel zur Vorbeugung unerwünschter Schwangerschaften. Man dürfe deshalb das Ziel der Vorbeugung unerwünschter Schwangerschaften nicht um den Preis anstreben, daß man dafür unter Umständen die sogenannte künstliche Empfängnisverhütung anwendet. Im Interesse einer möglichst wirksamen und angemessenen Vorbeugung von unerwünschten Schwangerschaften muß noch gründlicher über die Frage nachgedacht werden, welcher Stellenwert der Vorbeugung unerwünschter Schwangerschaften im Kontext von möglichen Abtreibungen und unterschiedlichen Methoden der Empfängnisverhütung zukommt. Nur so kommt der Streit um die Methoden, die bei der Vorbeugung unerwünschter Schwangerschaften und der aus ihnen sich ergebenden Abtreibungen anzuwenden sind, in die richtige Perspektive.

Man darf deshalb die Diskussion über das Für und Wider der sittlichen Erlaubtheit der Empfängnisverhütung nicht abbrechen, bloß weil inzwischen eine gewisse Verhärtung der gegensätzlichen Standpunkte erfolgt ist.

Vielmehr muß danach gefragt werden, warum es dazu kommen konnte, obwohl die Probleme, die zu den verschiedenen Auffassungen führen, offenkundig und die konkreten Möglichkeiten zu ihrer Lösung keineswegs offenkundig sind. Man wird dann zu dem Ergebnis kommen, daß sowohl Befürworter als auch Gegner der Empfängnisverhütung ein gemeinsames Interesse an einer sinnvollen Familienplanung haben und gleichermaßen interessiert sind, Wege zu ihrer zweckmäßigen und angemessenen Verwirklichung zu finden.

Die Vorbeugung unerwünschter Schwangerschaften ist auch ein ganz wichtiges Mittel zur Senkung der Abtreibungszahlen. Deshalb muß man um mehr Gemeinsamkeit und Miteinander auf dem Gebiet der Vorbeugung unerwünschter Schwangerschaften bemüht sein. Unsere Gesellschaft — insbesondere die Kirche — würde sich sonst zu Recht dem Vorwurf aussetzen, aufgrund theoretischer Überlegungen und ideologischer Verkrustungen den praktischen und sittlich engagierten Schutz des ungeborenen Lebens zu vernachlässigen.

VII. Förderung der Fähigkeit zu verantwortungsvoller Gewissensentscheidung

1. Das Selbstbestimmungsrecht und die Gewissensfreiheit bei Empfängnisverhütung und Abtreibung

Möglichst alle Betroffenen sollten in die Lage versetzt werden, nach ihrem Gewissen selbst entscheiden zu können, welche Methode der Empfängnisverhütung für sie selbst in ihrer Situation sicher und angemessen ist. Die Entscheidungen darüber, ob ein Kind erwünscht ist und wie ungewollten Schwangerschaften vorzubeugen ist. haben aufgrund ihres Selbstbestimmungsrechts und ihres Rechts auf Gewissensfreiheit letztlich die betroffenen Paare selbst zu treffen. Dabei müssen sie die sittlichen und rechtlichen Prinzipien und Normen beachten; sie müssen diese im Rahmen ihrer Kompetenz und Verantwortung selbständig interpretieren und anwenden. Beide Partner müssen die Verantwortung übernehmen, wenn sie eine Schwangerschaft herbeiführen

Ebenso sollten sie dazu befähigt werden, selbst darüber entscheiden zu können, wie eine Abtreibung in ihrer Situation sittlich zu bewerten ist und entsprechend zu handeln. Sie müssen auch in dem Rahmen, in dem eine Abtreibung legitim bzw. legal durchgeführt werden soll, die Verantwortung für die Folgen der Entscheidung zur Abtreibung übernehmen. Aber die Entscheidung zur Abtreibung kann letztlich nur die Mutter selbst fällen. Nur sie allein kann entscheiden, ob eine Abtreibung für sie der einzig gangbare Weg aus einer Schwangerschaft ist. Dabei ist zu bedenken: An der Zeugung wirken Mann und Frau gleichermaßen mit. Eine Schwangerschaft aber muß eine Frau allein austragen. Deshalb hat ein Vater nicht das Recht, über eine Abtreibung gleichermaßen mitzubestimmen wie über das Eingehen eines Zeugungsrisikos.

2. Erziehung zur Selbstbestimmung

Die Heranbildung der Fähigkeit zu verantwortlicher Selbstbestimmung ist um so vordringlicher, je notwendiger eine eigenverantwortliche Entscheidung wird. Tatsächlich wird diese Notwendigkeit aus drei Gründen immer größer:

1. Angesichts der Polarisierung der Meinungen darüber. ob und unter welchen Umständen eine Abtreibung sittlich zu rechtfertigen oder zu entschuldigen ist. wird der Druck größer, sich ein eigenes Urteil über die sittliche Bedeutung der Abtreibung im allgemeinen und im besonderen zu bilden.

2. Angesichts der technologischen und pharmakologischen Entwicklung wird die Früherkennung einer Schwangerschaft und die Durchführung einer Abtreibung nicht nur immer leichter und ungefährlicher. sondern auch ohne besonderes Risiko individuell verwirklichbar. Den vorläufig letzten Höhepunkt in dieser Entwicklung stellt das französische Abtreibungsmittel RU 486 dar, das eine billige Abtreibung völlig oder weitgehend ohne ärztliche Überwachung möglich macht. Dadurch wird der Ermessensspielraum der einzelnen dafür, ob sie eine Abtreibung vornehmen sollen oder nicht, erheblich vergrößert.

3. Die Gesetzgebung und Rechtsprechung eröffnen -nach Ländern und Regionen etwas verschieden -schon gegenwärtig einen großen Spielraum für in-51 dividualisierte Abtreibungsentscheidungen. Der Druck zu einer noch größeren Erweiterung dieses Spielraums läßt keineswegs nach, trotz des zunehmenden Gegendrucks von Abtreibungsgegnern, die eine Einengung des Ermessenspielraums für die nicht strafbare bzw. legale Durchführung von Abtreibungen fordern.

Damit unter diesen Umständen Menschen mit Schwangerschaftskonflikten in ihrer Fähigkeit gefördert werden, ihren Konflikt nach bestem Wissen und Gewissen zu lösen, ist es nötig, daß die verschiedenen Standpunkte, wie diese Konflikte sittlich zu lösen sind, deutlich und argumentativ zur Geltung gebracht werden. Im Rahmen des Möglichen müssen sie zu anderen und gegensätzlichen sittlichen Beurteilungen in Beziehung gesetzt werden. Ferner müssen Übereinstimmungen und Unterschiede der verschiedenen Standpunkte herausgestellt und in ihren Begründungen dargestellt werden. Nur der informierte Bürger kann sich nämlich ein möglichst weitgehend sachlich richtiges persönliches Gewissensurteil bilden. Deshalb muß die öffentliche Diskussion über das Für und Wider von Abtreibungen sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht in angemessenem Rahmen weitergeführt und vertieft werden. Man überwindet die Polarisierung zwischen den verschiedenen Standpunkten nur dadurch, daß man sie geduldig und füreinander aufgeschlossen ins Gespräch miteinander bringt.

Darüber hinaus ist es nötig, die Fähigkeit zu gewissenhafter Selbstbestimmung zu fördern, d. h. die Fähigkeit zum gewissenhaften Umgang mit der Fülle der teils gegensätzlichen Informationen im Kontext der Notwendigkeit, sich unter Zeitdruck nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden zu müssen. Menschen mit Schwangerschaftskonflikten müssen noch mehr geschult werden, persönliche Verantwortung für ihr Tun zu übernehmen, indem sie überkommene und sich widersprechende Informationen in ihrer Bedeutung für das eigene möglichst vernünftige und somit sittlich verantwortliche Tun überprüfen.

Das Angebot von Beratungsstellen, die in der Lage sind, die Gewissensentscheidungen von Menschen mit Schwangerschaftskonflikten mittels ihrer Beratung leichter zu ermöglichen und nicht zu manipulieren. kann die Konfliktlösungsfähigkeit fördern. Eine Verbesserung der Gesetzgebung über die Schwangerschaftsberatung, die eine Beratung mit dieser Zielsetzung sichert, ist deshalb wünschenswert und erscheint vom hier vertretenen Standpunkt aus auch erforderlich.

3. Argumente gegen eine zu große Ausweitung des Selbstbestimmungsrechts

Die für das Gemeinwohl verantwortlichen Repräsentanten des Staates und gesellschaftlichen Institutionen haben verständlicherweise Hemmungen, den Ermessensspielraum für individuelle Abtreibungsentscheidungen zu weit auszudehnen. Der Grund dafür ist die Furcht vor subjektiv zwar vielleicht gerechtfertigten, aber objektiv falschen Abtreibungsentscheidungen, durch die eine sinnvolle Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Menschen mit Schwangerschaftskonflikten vereitelt und das Lebensrecht des ungeborenen Lebens ausgehöhlt würde. Man fürchtet somit eine einseitige Betonung des Menschenrechts auf Gewissensfreiheit zu Lasten des Menschenrechts auf Leben der ungeborenen Kinder.

Aber diese Autoritäten und Institutionen müssen bei ihrem Widerstand gegen eine Ausweitung des individuellen Entscheidungsrechts im wohlverstandenen Interesse des Gemeinwohls bedenken: Sie haben nur geringe Macht, den Mißbrauch dieses Rechts mit ihren Möglichkeiten zu begrenzen. Sie haben aber eine Möglichkeit, den guten Gebrauch dieses individuellen Entscheidungsrechts zu fördern und dadurch zur Senkung der Abtreibungszahlen beizutragen. Das ergibt sich aus folgenden drei Überlegungen:

1. Die sittliche Autorität dieser Autoritäten und Institutionen ist angesichts der Pluralität der Auffassungen über die moralische Bedeutung von Abtreibungen begrenzt. Eine Ausweitung ihrer Autorität ist unter diesen Umständen primär nicht durch eine verstärkte Betonung ihres formalen Autoritätsanspruchs möglich, sondern durch eine bessere Begründung ihres inhaltlichen Autoritätsanspruchs. Nicht Forderung von mehr Gehorsam, sondern mehr Aufklärung und Gewissensbildung ist deshalb in der Hinsicht das Zeichen der Zeit.

2. Diese Autoritäten und Institutionen überlassen es im hohen Maß den einzelnen, für die unmittelbaren Folgen ihrer Entscheidung allein einzustehen, und sind nur begrenzt in der Lage, die Solidargemeinschaft dazu zu bewegen, für die mittelbaren Folgen einzustehen, für die die Menschen mit Schwangerschaftskonflikten mit einer Lösung ihres Abtreibungsproblems im Interesse des Gemeinwohls einstehen sollten. Nicht primär Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts, sondern Erleichterung einer verantwortlichen Selbstbestimmung durch mehr Solidarität bei der Bewältigung der Probleme, die die Menschen mit Schwangerschaftskonflikten zu lösen haben, ist deshalb in dieser Hinsicht das Gebot der Stunde. Die Verantwortung für das Gemeinwohl darf nicht einseitig den Menschen mit Schwangerschaftskonflikten überlassen werden, sondern die Verantwortung der Solidargemeinschaft für Menschen mit Schwangerschaftskonflikten muß entschieden gefördert werden. Sonst werden die Autoritäten und Institutionen, die für das Gemeinwohl verantwortlich sind, zu einseitigen Interessenvertretern von Mehrheiten oder Mächtigen zu Lasten von Minderheiten oder Schwachen.

3. Die rechtliche Macht dieser Autoritäten und Institutionen stößt immer stärker an ihre Grenzen, je weniger ihre rechtlichen Ansprüche sittlich bejaht werden und je weniger sie Macht haben, ihre rechtlichen Ansprüche mit — angemessenen und von der Rechtsgemeinschaft bejahten — rechtlichen Zwangsmitteln durchzusetzen. Tatsächlich ist, wie aus der Erfahrung feststeht und aus dem Ausgeführten hervorgeht, das rechtliche Abtreibungsverbot sittlich umstritten. Und die Macht, ein strenges rechtliches Abtreibungsverbot durchzusetzen, wird um so geringer, je leichter man sich ihm entziehen kann. Das aber ist möglich wegen der großen Interpretationsbreite und der sich daraus ergebenden Manipulierbarkeit des Rechts, wegen der beachtlichen Möglichkeit, sich strengen Rechtsansprüchen aufgrund der regional unterschiedlichen Rechtslagen und Rechtsanwendungen zu entziehen und wegen der zunehmend schwierigeren Überprüfbarkeit von Rechtsverletzungen aufgrund der besseren Möglichkeit zur Durchführung von kaum überprüfbaren Abtreibungen.

All das macht deutlich, daß sowohl im Interesse einer angemessenen Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Menschen, denen sich das Problem der Abtreibung stellt, als auch des Schutzes des ungeborenen Lebens, das von Abtreibung bedroht ist, es nötig ist, die Fähigkeit zu selbständigen Entscheidungen zu fördern. Im Interesse der Senkung der Abtreibungszahlen sind deshalb gemeinsame Bemühungen der unbedingten Abtreibungsgegner und der bedingten Abtreibungsbefürworter möglich und nötig, die die Förderung einer verantwortlichen Selbstbestimmung der Menschen mit Schwangerschaftskonflikten bezwecken.

VIII. Fazit: Kooperation statt Konfrontation

Aus den Ausführungen ergibt sich, daß nicht nur trotz unterschiedlicher sittlicher Beurteilung der Abtreibung, sondern bis zu einem gewissen Grad sogar ihretwegen gemeinsame Bemühungen um die Senkung der Abtreibungszahlen möglich sind und erfolgreich sein können, weil Abtreibungsgegner und -befürworter ein gemeinsames Interesse daran haben sollten, die Ehrfurcht vor dem Leben zu vertiefen, den Wert des ungeborenen Lebens und der Mutterschaft differenzierter zu erfassen, die solidarische Hilfe für schwangere Frauen und ihre ungeborenen Kinder zu intensivieren, unsere Gesellschaft kinder-und frauenfreundlicher zu gestalten, mehr unerwünschte Schwangerschaften zu verhindern und die verantwortliche Selbstbestimmung von Menschen mit Schwangerschaftskonflikten zu fördern. Das sind nicht alle Maßnahmen zur Senkung der Abtreibungszahlen, die diejenigen bejahen könnten, die an einer Verringerung der Abtreibungszahlen interessiert sind.

Aber bereits diese Analyse und Vorschläge machen deutlich, daß eine Senkung der Abtreibungszahlen nicht durch einen intoleranten Umgang mit den Gegnern des eigenen Standpunktes erreicht werden kann. Vielmehr wird ein von den verschiedenen Standpunkten ausgehendes und die anderen Standpunkte soweit wie möglich respektierendes gemeinsames Bemühen einen viel besseren Schutz des werdenden Lebens ermöglichen als er gegenwärtig gewährleistet ist. Ähnlich wie Wehrdienstleistende und Wehrdienstverweigerer einander ergänzende Bemühungen um die Sicherung des Friedens erfolgreich unternehmen können, können auch Abtreibungsgegner und -befürworter einander ergänzende Maßnahmen zum besseren Schutz sowohl des verantwortlichen Selbstbestimmungsrechts der Schwangeren als auch des ungeborenen Lebens treffen

Fussnoten

Fußnoten

  1. Beachtliche Teile der Öffentlichkeit und einige Wissenschaftler gehen sogar davon aus. daß die jährlichen Abtreibungszahlen noch einmal deutlich über dieser Schätzung liegen. So geht beispielsweise Manfred Spicker von mindestens 200000 bis 210 000 Abtreibungen pro Jahr aus. Manfred Spicker. Die Reform des Paragraphen 218 ist gescheitert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 10. August

  2. Vgl. Ulrich Neuenschwader (Hrsg.), Albert Schweitzer. Straßburger Predigten, München 1966, S. 115— 136; Albert Schweitzer, Ehrfurcht vor dem Leben, Bern 1954, S. 147154.

  3. Vgl. Peter Petersen, Schwangerschaftsabbruch — unser Bewußtsein vom Tod im Leben. Tiefenpsychologische und anthropologische Aspekte der Verarbeitung, Stuttgart 1986.

  4. Vgl. Franz Böckle, in: Handbuch der christlichen Ethik, Bd. 2, Freiburg 1978; S. 36— 59. sowie die Entschließung des 88. Deutschen Ärztetages vom 15. Mai 1985, in: Deutsches Ärzteblatt, 82 (1985) 50.

  5. Vgl. Friedrich-Christian Schröder, Den Embryo müssen sie sehen. Was bei der Schwangerenberatung fehlt, in: FAZ vom 23. April 1987, zit. nach Siegfried Ernst, Die Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens, Köln 1988, S. 6.

  6. Vgl. Katharina Zimmer. Das Leben vor dem Leben, München 1984; dies., Das Leben vor der Geburt, Kempten 1985; siehe auch Dokumentarfilm „Der stumme Schrei“, USA 1965 (Originaltitel: „The silent scream“).

  7. Vgl. Erich Blechschmidt, Wie beginnt das menschliche Leben?, Stein a. Rhein 19764.

  8. Vgl. Hubert Markl, Grenzen des Lebendigen, in: Bilder und Zeiten (FAZ) vom 2. Januar 1988.

  9. Die von der Deutschen Bischofskonferenz 1982 gestartete Initiative „Wähle das Leben“ (Arbeitshilfen Nr. 27, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz) hat dazu bereits verschiedene Impulse gegeben. In jüngster Zeit hat die Gemeinsame Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) „Gott ist ein Freund des Lebens“. Trier 1989. große Beachtung gefunden.

  10. Vgl. Patrick Boland/Heinrich-Adolf Krone/Rudolf-Arthur Pfeiffer (Hrsg.). Kindliche Indikation zum SchwangerSchaftsabbruch. Bamberger Symposion, in: Wissenschaftliche Information, 7 (1981) 7; Johannes Reiter. Dürfen nur Gesunde zur Welt kommen?, in: Rheinischer Merkur/Christ und Welt vom 15. Mai 1981.

  11. Nur ein Zwilling war erwünscht — Selektive Abtreibung, in: FAZ vom 17. März 1988.

  12. Vgl. Monika Häußler/Brigitte Holzhauer. Die Implementation der reformierten §§ 218 StGB: Empirische Untersuchungen zu Einstellung und Verhalten von Ärzten und schwangeren Frauen. Vortrag beim Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg 12. Februar 1988, als Manuskript gedruckt; dies.. Beratung und § 218 StGB: Hürdenlauf oder Hilfestellung? Ergebnisse einer neuen Studie zum Schwangerschaftsabbruch, in: Pro Eamilia Magazin, (1988) 6. S. 22 ff. Lediglich ein Viertel der Frauen gab an, daß das finanzielle Unvermögen, ein Kind aufzuziehen, sehr wichtig für die Entscheidung gewesen sei. Demgegenüber lag für fast die Hälfte der Frauen ein maßgeblicher Entscheidungsgrund in der Befürchtung, daß ihre Partnerbeziehung für ein Kind nicht tragfähig genug sei.

  13. Vgl. Alexander Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. München 1973.

  14. Vgl. Karl Oeter/Anke Nohke, Der Schwangerschaftsabbruch. Gründe. Legitimation. Alternativen. Stuttgart u. a. 1982, S. 39— 44 (Schriftenreihe des Bundesministeriums für Jugend. Familie und Gesundheit. Bd. 123).

  15. Nach dem Statistischen Jahrbuch 1989 für die Bundesrepublik teilen sich die im Jahr 1988 insgesamt vorgenommenen 83 784 Schwangerschaftsabbrüche nach dem Familienstand der Schwangeren wie folgt auf: Ledige 37 674. Verheiratete 39 899, Verwitwete 377, Geschiedene 4 569, Unbekannt 1 265, in: Statistisches Bundesamt (Hrsg ). Statistisches Jahrbuch 1989 für die Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 1989, S. 384.

  16. Schwangerschaftsabbrüche nach vorangegangenen Lebendgeburten zeigten sich 1988 wie folgt: Keine vorangegangene Lebendgeburt (v. L.) 39 752, eine v. L. 17 005, zwei V. L. 17 533, drei v. L. 6 263, vier v. L. 2 019, fünfv. L. 737, sechsv. L. 287. sieben v. L. 109. acht und mehrv. L. 79. in: Statistisches Jahrbuch ebd.. S. 384.

  17. Vgl. Karl Oeter/Michael Wilken. Psychosoziale Entstehungsbedingungen unerwünschter Schwangerschaften. Stuttgart u. a. 1981 (Schriftenreihe des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit, Bd. 75), S. 325; siehe auch Informationen des Ludwig Boltzmann Instituts für Schwangerenbetreuung, in: Concepte. 6 (1989), S. 21 — 22 f.

  18. Vgl. Karl Rahner, Vom Gewissen, in: Schriften zur Theologie XVI. Humane Gesellschaft und Kirche von morgen, Zürich u. a. 1984, S. 11-25; Franz Böckle, Humanae vitae als Prüfstein wahren Glaubens, in: Stimmen der Zeit, 208 (1990), S. 3-16.

  19. Vgl. Waldemar Molinski. Kirche und Pazifismus, in: Armand Clesse/Waldemar Molinski (Hrsg.). Proteste für den Frieden — Sorgen um die Sicherheit. München 1984. S. 27 — 53.

Weitere Inhalte

Waldemar Molinski, Dr. theol. et phil., geb. 1926; Ordinarius für Katholische Theologie und ihre Didaktik an der Bergischen Universität — Gesamthochschule Wuppertal. Zahlreiche Veröffentlichungen zu aktuellen individual-und sozialethischen Problemen.