Direkt-demokratische Institutionen und repräsentative Demokratie im Verfassungsstaat
Jürgen Gebhardt
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Zusammenfassung
Ausgehend von der aktuellen deutschen Diskussion wird das Verhältnis von plebiszitären und repräsentativen Elementen im Verfassungsstaat vor dem Hintergrund der Gegenüberstellung alternativer Demokratie-modelle und ihrer jeweiligen Begründung diskutiert. Im Anschluß daran wird in einer vergleichenden Analyse gezeigt, daß dem geschichtlichen Realtypus der repräsentativen Demokratie eine Referendumsdemokratie strukturfremd ist. Für die beiden anders gelagerten Fälle der Schweiz und einiger US-Einzelstaaten läßt sich die Referendumsdemokratie aus ihrer speziellen Geschichte und politischen Kultur plausibel erklären. Dem in zahlreichen demokratischen Verfassungsstaaten verbreiteten Verfassungsreferendum kommt als Ausdruck der ursprünglichen bürgerschaftlichen Autorität eine besondere legitimitätsstiftende Qualität im Vergleich zu den übrigen direkt-demokratischen Instrumenten zu. Aus den vorgetragenen Überlegungen ergeben sich Schlußfolgerungen für die anstehende Revision des Grundgesetzes: Das Instrument des nationalen Referendums müßte zunächst auf kommunaler und auf Länderebene wiederbelebt und gegebenenfalls erweitert werden. Das Verfassungsreferendum dagegen ist nicht zuletzt aufgrund der hohen legitimitätsstiftenden Wirkung geboten und mit der politischen Kultur der Bundesrepublik auch vereinbar.
Auch nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes hält die Diskussion an, ob und in welcher Form eine Grundgesetzrevision erfolgen solle. Allerdings wird eine nüchterne Betrachtung der Situation zu dem Schluß kommen müssen, daß sich die „normative Kraft des Faktischen“ bis auf weiteres durchsetzen wird, also wohl kaum eine Teil-oder gar Totalrevision ins Haus steht. Dafür spricht allein schon die nachhaltige Prägung, welche das Institutionengefüge und die dieses tragende politische Kultur bis hinein in die sozioökonomischen Fundamente in vierzig Jahren erfahren haben.
Doch unabhängig von einer solchen Entscheidung hat die Prinzipiendebatte um die Ergänzung der Verfassungsordnung durch direkt-demokratische Institutionen und Verfahren an Gewicht gewonnen. Das berührt natürlich die aus aktuellem Anlaß aufgeworfene Grundsatzfrage nach einer verfassungspolitisch gebotenen plebiszitären Sanktionierung einer neuen Verfassung bzw. verfassungsändernder und -ergänzender Gesetze ebenso wie die damit eng verknüpfte Forderung nach einer plebiszitären Mitwirkung der Bürgerschaft an der Gesetzgebung. Handelt es sich auch institutionell in beiden Fällen um ein und denselben Gegenstand, nämlich -um dem herrschenden Sprachgebrauch zu folgen -um das Referendum in Gestalt von Volksbegehren, Volksentscheid (obligatorisch und fakultativ) und Volksbefragung so berührt doch das Verfassungsreferendum den Legitimationsgrund des demokratischen Gemeinwesens auf andere Weise als dies im Falle einer plebiszitären Mitwirkung an der einfachen Gesetzgebung der Fall ist.
Der Begriff des Referendums spezifiziert die plebiszitären Sachentscheidungen im demokratischen Verfassungsstaat und unterscheidet diese von den in autoritären oder totalitären modernen Regimen praktizierten Formen des Plebiszits. Alle institutionellen Varianten direkt-demokratischer Sachoder Personalentscheidung entstammen, ungeachtet ihrer Unterschiede, dem ideenpolitischen Fundus der gesellschaftlichen Ordnungsexperimente im Zeitalter der demokratischen Revolution. Deswegen steht auch heute noch das Urteil über das Plebiszit unter dem Eindruck der im Zuge der Fundamentaldemokratisierung der westlichen Gesellschaften aufgeworfenen normativen Ordnungsprobleme, und es mischt sich auch in pragmatische Diskussionen um die Funktion des Referendums im Verfassungsstaat die stets wiederkehrende grundsätzliche Frage nach dem normativen Ordnungsgehalt bürgerschaftlicher Verfahren der Entscheidungsfindung.
I. Referenden und demokratischer Verfassungsstaat
1. Plebiszitäre Willensbildung in der deutschen Geschichte Eine systematische Betrachtung der Funktion des Referendums im Verfassungsstaat in empirisch-vergleichender Perspektive bedarf der Ausleuchtung des historischen Hintergrundes, wie dies Ernst Fraenkel schon 1958 vorbildlich unternahm Es lohnt sich, an die Darlegungen Fraenkels anzuknüpfen sowohl im Hinblick auf die Fragestellung im allgemeinen als auch in bezug auf die spezifische deutsche Bewußtseins-und Diskussionslage. Die politikwissenschaftlichen Analysen Fraenkels geschahen nicht zuletzt in der praktischen Absicht, die Deutschen wieder an die geistig-politische Welt der westlichen Demokratie heranzuführen, indem er ihnen eine Vorstellung von den Grundprinzipien der neuformierten verfassungsstaatlichen Ordnung unter nachdrücklicher Betonung des bedeutsamen und bleibenden deutschen Beitrages zur modernen Fortbildung des Staats-und Gesellschaftstyps der „westlichen Demokratie“, der Sozialstaatlichkeit, gab.
Wenn Fraenkel eine prinzipielle „Strukturwidrigkeit von Direktgesetzgebung und parlamentarischem Regierungssystem“ konstatiert, so bedeutet das nicht, daß er den „betont repräsentativen Charakter“ der deutschen Verfassungsordnung vorbehaltlos gutheißt. Das Resultat seiner theoretischen und historisch-vergleichenden Untersuchung hatte ihn gelehrt „daß in seiner reinen Form sowohl das repräsentative als auch das plebiszitäre System den Keim der Selbstvernichtung in sich tragen“ Hieraus ergebe sich das Postulat, „beide Prinzipien zu Komponenten eines gemischten plebiszitär-repräsentativen, demokratischen Regierungssystems auszugestalten“ und zwar solchermaßen, daß die repräsentativ organisierte parlamentarische Parteiendemokratie den plebiszitären Kräften „innerhalb der Parteien und Verbände ausreichend Spielraum gewährt“
Die besondere Sorge Fraenkels galt den „historischen Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus“ und deren eigentümlichen Auswirkungen auf das politische Bewußtsein der neuen deutschen Demokratie. In sicher ungebührlicher Verkürzung der Fraenkelschen Argumentation von 1963/64 sei festgehalten, daß er das Unbehagen vieler Deutscher an der Demokratie auf den tiefverankerten Widerspruch zwischen einer Verfassungsordnung und Verfassungssoziologie englischen Ursprungs und einer weitverbreiteten Verfassungsideologie französisch-jakobinischer Herkunft zurückführte Er stellte die These auf, daß das deutsche demokratische Denken bis hinein in den Marxismus und den extremen Nationalismus unter dem Einfluß des gegen den „repräsentativen Despotismus“ (Robespierre) des französischen Repräsentativsystems von 1791 gerichteten radikaldemokratischen plebiszitären, auf der Staats-und Gesell-schaftsdoktrin der Jakobiner beruhenden Modells der Verfassung von 1793 stand. Historisch habe der Gedanke der Repräsentation im deutschen politischen Denken keine tieferen Wurzeln geschlagen: „Burke und Fox, Madison und Hamilton, Mirabeau und Sieys haben die Grundlagen für das Verständnis des modernen Repräsentationsgedankens gelegt. Sollten sich unter den theoretischen Wegbereitern und politischen Ahnherrn des Repräsentationssystems auch ihnen geistig ebenbürtige deutsche Staatsdenker und Staatsmänner finden, so sind sie mir unbekannt geblieben“, stellt er lakonisch fest Fraenkel identifiziert solchermaßen den „Jakobinismus als Element einer vulgärdemokratischen Verfassungsideologie“. Diese Konzeption einer identitären, auf einer monistischen Gemeinschaftsidee basierenden Demokratie maß das Regierungshandeln stets an der Realisierung des empirischen Volkswillens und mußte folgerichtig die Strukturdefekte des parlamentarischen Repräsentationssystems als Demokratiedefizit schlechthin deuten. Anders ausgedrückt: Das Fortwirken dieser radikaldemokratischen Tradition beeinträchtigt -neben anderen Faktoren -das funktionsnotwendige Zusammenwirken von politischer Kultur und institutionellem Ordnungsgefüge.
Unmittelbar mit dem Problem der historischen Vorbelastungen des deutschen politischen Denkens hing für Fraenkel auch das Scheitern der Weimarer Republik zusammen. „Weimarer Erfahrung“ hieß für ihn die unreflektierte Übernahme und Mischung miteinander nicht vereinbarer außerdeutscher Verfassungselemente und die daraus resultierende Hypertrophie der plebiszitären Komponente im Regierungssystem der Weimarer Republik, wobei vulgärdemokratische Unterströmungen der Linken und antidemokratische Unter-strömungen der Rechten zusammenwirkten. Wnn heute zu Recht darauf hingewiesen wird, daß sich ein negatives Urteil über direkt-demokratische Institutionen in der Weimarer Republik nicht aus dem Verweis auf Verlauf und Ergebnis der gelegentlich praktizierten Volksentscheide gewinnen läßt so verengt diese Feststellung die geschichtliche Optik. Folgt man nämlich Fraenkel, so resultiert das Weimarer „Syndrom“ aus dem plebiszitär-autoritären Charakter der Verfassungsordnung insgesamt, d. h. aus der Kombination von Volkswahl des Präsidenten, fast uneingeschränktem präsidialen Parlamentsauflösungsrecht, Volksent-scheid und Volksbegehren und der präsidialen Befugnis zur Ernennung und Entlassung des Reichskanzlers Entsprechend hatten die Väter des Grundgesetzes den plebiszitären Komplex fast zur Gänze aus der Verfassung eliminiert. Da sich in den strikt parlamentarisch verfaßten Bundesländern das Problem eines starken, plebiszitär gestützten Präsidentenamtes nicht stellte, konnten trotz der „Weimarer Erfahrungen“ direkt-demokratische Mitwirkungsrechte in die meisten Länderverfassungen aufgenommen werden. Es spricht aber nichts dagegen, von den „Weimarer Erfahrungen“ abzusehen und nüchtern die Bedingungen und Möglichkeiten der Aufnahme des Referendums in das fest etablierte repräsentative Verfassungssystem der Bundesrepublik Deutschland zu diskutieren.
Das entscheidende Moment in der „Weimarer Erfahrung“ liegt für Fraenkel in der grundlegenden Erkenntnis der geschichtlichen Ambivalenz des plebiszitär ausgerichteten radikaldemokratischen Denkens im allgemeinen und des Instituts des Plebiszits im besonderen. „In ihrer Geburtsstunde hatte sich die Weimarer Republik zu einem plebiszitären Typ der Demokratie bekannt; in ihrer Todesstunde erhielt sie die Quittung“ die plebiszitär-autoritäre Verfassung schlug in die nationalsozialistische Führerdiktatur um. Ungeachtet deutscher Besonderheiten bestätigte sich in dieser Erfahrung das problematische, im ideenpolitischen Spannungsfeld der Französischen Revolution bereits wirksame Doppelgesicht der anti-repräsentativen Idee einer unmittelbaren, allein durch die Interpretation des wahren Volkswillens gesteuerten Volksherrschaft. Hieraus entwickelte sich historisch zum einen die Konzeption einer durch die Diktatur der Interpreten des wahren Gemeinwohls geschichtsnotwendig zu verwirklichenden, qualitativ neuen Sozialordnung jenseits aller menschlichen Fehlbarkeit, wie sie in der jakobinischen Episode erstmals in Erscheinung trat und seither in den Ideen und Praktiken der totalitären Demokratie fortwirkte. Zum anderen aber leitete der Cäsarismus Napoleons I. und seines Neffen Napoleon III. die Reihe sich plebiszitär auf den Volkswillen berufender Diktatoren der sogenannten „neopräsidentialen" Regime ein
In beiden Fällen wird das Sach-wie das Personalplebiszit auf verschiedene Weise dazu benützt, einer nicht-konstitutionellen, wohl aber im existentiellen Sinn repräsentativen Herrschaftsgewalt die von der Fundamentaldemokratisierung der modernen Gesellschaft her gebotene demokratische Legitimation zu verleihen. Diese knappe Problemskizze stellt keine Analyse totalitärer und autoritärer Regime dar; sie soll nur den geschichtlichen Erfahrungshintergrund ausleuchten, vor dem bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts das europäische Gespräch über plebiszitäre Institutionen und Verfahren stattfand.
Der Ausgangspunkt von Fraenkels Überlegungen, die gespaltene politische Kultur der Deutschen, in der die vulgärdemokratische Verfassungsideologie fortdauert, ist in der politikwissenschaftlichen Forschung niemals mit einer Interpretation der durch unsystematisch erhobene demoskopische Befunde bestätigten „Virulenz direktdemokratischer Vorstellungen in der Bundesrepublik“ verknüpft worden. So ergab 1973 eine INFAS-Repräsentativerhebung (mit einer problematischen Fragestellung), daß 63 Prozent der Bevölkerung in „wichtigen politischen Fragen“ in einer Volksabstimmung selbst entscheiden wollen Eine Allensbacher Erhebung vom November 1978 wies aus, daß 56 Prozent der Befragten eine plebiszitäre Sachentscheidung über wichtige Fragen zu den notwendigen Voraussetzungen für eine Demokratie rechneten Mangels einer hinreichenden Datenbasis und einschlägiger Untersuchungen ist der Stellenwert dieser Befunde schwer einzuschätzen. Welche Vorstellungen und Haltungen sich auch immer in diesen Antworten mischen, sie erklären die Mobilisierung der Bevölkerung für die nur gelegentlich auf Länderebene eingeleiteten Volksbegehren und Volksentscheide. Andererseits haben sie aber auch nicht zur Herausbildung regionaler Referendums-demokratien geführt. So konnte Abelein noch 1971 zum Abschluß einer Betrachtung der plebiszitären Elemente in den bundesrepublikanischen Landesverfassungen feststellen, daß „nach den bisherigen Erfahrungen die plebiszitäre Mitwirkung des Volkes trotz zahlreicher theoretischer Möglichkeiten keine große Rolle spielt. Wenn schon die bestehenden Möglichkeiten vom Volk nicht ausgeschöpft werden, kann auch den heute vielfach erhobenen, viel weitergehenden Forderungen nach , direkter Demokratie 4 und „imperativem Mandat 4 keine große Chance der Realisierung eingeräumt werden.“ Sicherlich spielt hier der skeptische Umgang der politischen Eliten mit direkt-demokratischen Instrumenten eine nicht unwichtige Rolle. Von Bedeutung ist aber eine andere Beobachtung. Die erste große Herausforderung der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik durch die außerparlamentarische Fundamentalopposition bewegte sich ganz unter dem von Fraenkel skizzierten Horizont der jakobinisch-marxistischen Traditionslinie eines radikaldemokratischen politischen und gesellschaftlichen Gegenmodells. Es ging weder um die Belebung noch um den Einbau direkt-demokratischer Institutionen in eine repräsentativ-demokratische Verfassung; das anti-parlamentarische Paradigma einer direkten Demokratie in der vielgestaltigen Neuen Linken orientierte sich vielmehr an rätedemokratischen Modellen in der Vorwegnahme einer revolutionären oder evolutionären Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft Solche Entwürfe einer kollektiv von der menschlichen Bedingtheit losgelösten Gemeinschaft konnten in ihrer grundsätzlichen Gegnerschaft zur westlichen Demokratie auch nicht die dort durchaus präsenten direkt-demokratischen Vorbilder in ihre Diskussionen miteinbeziehen. Schließlich lieferten ausgerechnet die konservativen und ausgeprägt kapitalistischen Demokratien der Schweiz und der USA die besten Beispiele einer Referendumsdemokratie.
Erwies sich letzthin die bestehende politische Ordnung als hinreichend widerstandsfähig, so zeigte sich auch nach dem ideologischen und politischen Zerfall der Neuen Linken, daß dies im Sinne der „Heteronomie der Zwecke“ gleichsam nebenher und unbeabsichtigt die Vitalisierung der in der deutschen politischen Kultur bereits angelegten bürgerschaftlich-demokratischen Elemente beschleunigt und damit insgesamt die soziale Verankerung der Verfassungsordnung verstärkt hat. Solchen neuen bürgerschaftlichen Tendenzen in der politischen Kultur entsprang die für westliche Kulturen typische Vielfalt selbstorganisierter gesellschaftlicher Gruppierungen, Initiativen und Subkulturen, die -wenngleich nach wie vor nicht unbeeinflußt von jakobinischer Kritik am „repräsentativen Absolutismus“ (Simon, Narr) -zum Kristallisationspunkt einer verfassungskonformen Diskussion um die Erneuerung direkt-demokratischer Partizipationsmöglichkeiten wurden. Unter diesen Vorzeichen wurden nicht nur in der Erörterung konzeptioneller und praktischer Zielvorstellungen neue Akzente gesetzt, sondern auch die international vergleichende Betrachtung des Referendums im repräsentativ-demokratisch organisierten Verfassungsstaat gewann erneut an Beachtung. 2. Demokratietheoretische Überlegungen zu plebiszitären Entscheidungsverfahren Haben auch diese -durch den Zusammenbruch der kommunistischen Regime nicht unerheblich beschleunigten -inneren Wandlungen in der politischen Ideenwelt der Deutschen dem Projekt einer direkten Demokratie als sozialistisch-demokratische Totalalternative zu einem defizienten kapitalistisch-formaldemokratischen Parlamentarismus die Überzeugungskraft genommen, so schwingt in der Argumentation mancher Befürworter direkt-demokratischer Instrumente doch immer noch eine normativ begründete Entgegen-setzung von repräsentativer Mehrheitsdemokratie und direkter Demokratie mit; hiernach bedarf es der Einrichtung direktdemokratischer Institutionen zur Erfüllung des im Begriff der Volkssouveränität als Legitimationsgrundlage angegebenen Demokratiepostulates. Die Einführung des Referendums gilt somit als ein Schritt zur „Verwirklichung des Demokratieprinzips“ Die Verwandlung der „Zuschauerdemokratie“ in eine „Teilnehmerdemokratie“ ist also gleichsam ein „verfassungspolitischer Auftrag“, dessen Ziel darin besteht, die Verwirklichung einer demokratischen politischen Kultur, d. h. einer Bürgerkultur zu ermöglichen.
Solche Hoffnungen auf eine strukturelle und qualitative Veränderung enthalten, wie Luthardt feststellt, „in der Sache eine erhebliche Überfrachtung und Überschätzung der damit überhaupt zu erzielenden Möglichkeiten.“ Er kommt zu dem Schluß: „Direkt-demokratische Formen und Institute sind, ihres ideologischen Beiwerks entkleidet, faktisch nichts anderes als eine spezifische Form der Willensbildung, Konfliktregelung und Entscheidungs-findung." Verzichtet man solchermaßen auf eine systematisch betriebene „Aufspaltung in zwei unterschiedlich legitimierte Regelkreise politischer Willensfindung und -bildung" und akzeptiert die demokratische Logik des Realtypus der westlichen Demokratie, d. h.der repräsentativen Demokratie, so können plebiszitäre Instrumente im „Rahmen eines notwendig , gemischten 4 Verfassungs-, Institutionen-und Politiksystems... durchaus politikrelevante Funktionen ausüben“ Vor-und Nachteile seien dabei pragmatisch abzuwägen und unter dem Gesichtspunkt des demokratischen Verfassungsstaates auf ihre Zweckmäßigkeit zu überprüfen. Steffani hat, im Nachgang zu den Überlegungen Fraenkels darauf hingewiesen, daß alle westlichen Demokratien nach ihrem Legitimationsverständnis repräsentativ-pluralistische Demokratien seien, sie jedoch in ihren Verfassungssystemen „eine Vielzahl unterschiedlicher Kombinationen repräsentativer und plebiszitärer Partizipationschancen... erkennen“ ließen Neben den Formen der unmittelbaren und mittelbaren Repräsentation gebe es plebiszitäre Sach-und Personalentscheidungen sowie die plebiszitäre Mitwirkung; gemeint sind alle Instrumente zur permanenten Einflußnahme auf die politischen Willensbildungs-und Entscheidungsprozesse, wie z. B. Parteien und Verbände In dieser Perspektive wird, unabhängig von dem speziellen Problem des Referendums, der durch die Fundamentaldemokratisierung gegebene plebiszitäre Grundzug aller modernen Massen-demokratien noch einmal in das Blickfeld gerückt: „Alle Verfassungen der westlichen Demokratien weisen Arrangements von Regelungen zur repräsentativen und plebiszitären Partizipation auf, die das Bemühen erkennen lassen, die zum Funktionieren eines demokratischen Verfassungsstaates erforderliche Balance zwischen repräsentativen und plebiszitären Institutionen und Kompetenzen zu sichern.“ Diese Zuordnung und Balance wird aber nicht in allen Demokratien in gleicher Weise „normativ postuliert oder praktiziert“. „Vielmehr betonen die einen deutlicher das institutionell-repräsentative Element, die . anderen das institutionell-plebiszitäre Element.“ Steffani möchte daher den Typus der rezeptiv-repräsentativen von jenem der konsultativ-repräsentativen Demokratie unterscheiden bei letzterem hätten die Repräsentanten dem Konsultationsbegehren der Repräsentierten nach plebiszitärer Partizipation als einem legitimen Anspruch möglichst wirkungsvoll zu entsprechen. Ob sich aus dieser Typisierung signifikante Unterscheidungsmerkmale für die Klassifikation westlicher Verfassungsstaaten gewinnen lassen, erscheint jedoch fraglich. Steffanis Aussagen lassen eher darauf schließen, daß hiermit eher das flexible, situationsbedingte Spannungsverhältnis innerhalb der politischen Kultur und deren institutioneller Ausgestaltung beschrieben wird, das auf „die demokratisch-oligarchische Doppelgestalt“ der modernen Politie (im Sinne von Verfassungsstaat) zurückgeht, wie sie Sternberger in seinem Versuch einer erneuerten Lehre von der gemischten Verfassung herausgearbeitet hat Stembergers theoretischem Zugriff ist auf den ersten Blick jede strukturfunktionale Analyse fremd. Doch trifft seine revidierte Konzeption von der Mischverfassung, welche ihn -unnötigerweise -veranlaßt, dem Verfassungsstaat das auf seine Schöpfer zurückgehende Prädikat einer „repräsentativen Demokratie“ zu entziehen, die entscheidende gesellschaftliche Rahmenbedingung der von anderen Autoren strukturfunktional analysierten Mischung von repräsentativen und plebiszitären Komponenten im Verfassungssystem.
So deutet Sternberger die Politie als „, eine Mischung 4 von Demokratie und Oligarchie, eine strenge Verknüpfung und wechselseitige Abhängigkeit einer politischen Klasse und einer allgemeinen Bürgerschaft besonders in Gestalt der politischen Parteien und der Wählerschaft“ Plebiszitäre Personal-und Sachentscheidungen, im letzteren Fall das Referendum, seien somit dem demokratischen Pol zugeordnete institutionelle Medien der Artikulation Das Verhältnis zwischen dem oligarchischen und dem demokratischen Faktor in den verschieden großen Verfassungsstaaten des Westens nimmt sich auch für Sternberger recht unterschiedlich aus; für die deutsche Politie befürwortete er im übrigen eine Stärkung des demokratischen Faktors durch Bürgerbegehren und Bürgerentscheid zumindest auf Kommunal-und Länderebene
II. Direkte Demokratie in komparativer Perspektive
Abbildung 2
Tabelle 2: Typen der direkten Gesetzgebung in den Vereinigten Staaten, 1978
Tabelle 2: Typen der direkten Gesetzgebung in den Vereinigten Staaten, 1978
1. Die Erfahrungen in westlichen Demokratien Nicht nur bei den Befürwortern des Referendums, sondern auch bei politikwissenschaftlichen Analytikern findet sich der stets wiederkehrende Verweis auf die weite Verbreitung des Referendums und ähnlicher Verfahren in den westlichen Demokratien. Aber in der Regel bleibt man im Exemplarischen stecken, bezieht sich mehr oder weniger selektiv auf Einzelfälle, vornehmlich auf die Schweiz. Dies gilt auch für die vergleichenden Studien. Sie dringen gemeinhin nicht zu einer systematisch-vergleichenden Analyse des Stellen-wertes des Referendums im westlichen Verfassungsstaat vor, welche klären könnte, ob sich in der vielgestaltigen politischen Formenwelt der westlichen Demokratie ein verfassungsstaatlicher Typus identifizieren läßt, dessen politische Kultur und politisches System auf eine besondere Nähe zur Referendumsdemokratie schließen lassen
Die von Butler und Ranney vorgelegte vergleichende Fünfländerstudie liefert zwar umfangreiches, deskriptiv bearbeitetes Material, beläßt es aber bei wenig aussagekräftigen Schlußfolgerungen. Die Autoren gelangen zu dem Ergebnis, daß sich einfache Generalisierungen über den Gebrauch des Referendums verböten: „Jedes hat seine spezielle Geschichte, verwurzelt in einer individuellen nationalen Tradition. Die Gründe für jedes Referendum, seine Behandlung durch Politiker und Wähler und seine Konsequenzen paßten in kein klares universales Muster.“ Die Bestimmung gemeinsamer Elemente bleibt folgerichtig blaß: das Verfassungsgebot eines konstitutionellen Referendums, die Legitimierung von Regierungsentscheidungen zum Zwecke der Demonstration der Unterstützung durch die Mehrheit der Wählerschaft oder die Delegation umstrittener Entscheidungen an das Elektorat. Referenden werden in den meisten Staaten sehr sparsam angewandt, und zwar „aus einer Vielzahl von zumeist praktischen und umständebedingten Gründen“
Allein Lijphart hat den Versuch gewagt, Umfang und Trends des Gebrauchs des Referendums (worunter er ausschließlich die Volksabstimmung versteht) in demokratischen Regimen zu überprüfen und dessen seltene, wenn auch sich ausweitende Anwendung zu erklären Gegenstand seiner Untersuchung ist das „Universum der westlichen Demokratien“: 21 langfristig (1945-1980) stabile demokratische Verfassungsstaaten, die in ihrer Grundform von politischer Kultur und politischem Systemaufbau die der repräsentativen Demokratie eigentümlichen gemeinsamen Strukturmerkmale aufweisen. Die jeweilig gegebenen spezifischen politischen Charakteristika der Variationen dieses Grundmusters untersucht Lijphart mit Hilfe der kategorialen Unterscheidung von Mehrheitsdemokratie und Konsensusdemokratie. Für das hier angestrebte Ziel einer funktionalen Erklärung des Referendums kann eine detaillierte Betrachtung des komplexen und variantenreichen Zusammenspiels von majoritären und konsensualen Determinanten im vielgestalteten Kosmos der repräsentativen Demokratie ebenso wie eine kritische Bewertung des Lijphartschen Ansatzes außer acht gelassen werden.
Lijphart geht von der plausiblen These aus, daß Referenden und andere direkt-demokratische Instrumente sowohl der majoritären wie der konsensualen Konzeption der repräsentativen Demokratie fremd seien, sie aber in beiden Typen zu einem gewissen Grad praktiziert würden. Auf Grundlage der nationalen Referenden der einzelnen Demokratien und ohne Berücksichtigung des nur in der Schweiz, in Italien und Österreich auf nationaler Ebene vorgesehenen Volksbegehrens versucht der Autor, ein generelles Muster der Referendumspraxis zu ermitteln. Tabelle 1 impliziert zudem, daß Lijphart weder zwischen obligatorischen, fakultativen und konsultativen Referenden noch zwischen Staaten mit und ohne einschlägigen Verfassungsbestimmungen differenziert.
Auf den ersten Blick wird vor allem die Ausnahmestellung der Schweiz deutlich, während die nächstfolgenden Staaten Australien und Neuseeland (sowie in jüngster Zeit Italien) mit weitem Abstand folgen. Insgesamt ist die Anzahl der Referenden gering, die plebiszitäre Sachentscheidung ist -abgesehen von der Schweiz -kein Mittel der „normalen Politik“ im Verfassungsstaat. Der von Smith vorgelegten Funktionsanalyse des Referendums zufolge sind, wie Lijphart zustimmend feststellt, die meisten Referenden regierungskontrolliert und „pro-hegemonial“, d. h. in den jeweiligen Auswirkungen laufen sie auf eine Unterstützung des Regimes hinaus. Nur in den Fällen, in denen Regierungen nicht über Zulassung, Zeitpunkt und Wortlaut bestimmen können, also im Falle des direkten Volksbegehrens, ist ein Referendum weitgehend unkontrolliert und vermag die betrof-fene Regierungspolitik herauszufordern, hat also einen „anti-hegemonialen“ Effekt. Ungenügend regierungskontrollierte Referenden können unter Umständen anti-hegemoniale Folgen erzeugen, wie es sich beispielsweise bei der Ablehnung des Beitritts zur EG in Norwegen zeigte Nur bedingt regierungskontrolliert können auch obligatorische Verfassungsreferenden sein, da zwar Wortlaut und Zeitpunkt, nicht jedoch die Abhaltung des Referendums selbst vom Regierungshandeln abhängig sind.
Im Regelfall ist somit, funktional gesehen, das Referendum kein eigenständiger Faktor der sachpolitischen Einflußnahme der Aktivbürgerschaft im politischen Willensbildungs-und Entscheidungsprozeß, sondern aufs engste verknüpft sowohl mit dem für das Wechselspiel von Regierung und Opposition konstitutiven Parteiensystem als auch in föderalistischen Demokratien mit dem Spannungsverhältnis zwischen Bund und Einzelstaaten, wie es sich etwa am Fall Australiens belegen ließe.
In keiner Weise läßt sich das Institut des Referendums einem spezifischen Modell repräsentativer Demokratie zuordnen. Weder das konkurrenzdemokratische noch das konsensdemokratische Modell weist eine besondere Affinität zum Referendum auf. Im Hinblick auf die Referendumshäufigkeit folgt der prototypischen Konsensdemokratie Schweiz die prototypische Konkurrenzdemokratie Australien. Das Referendum als institutionelles Merkmal korreliert weder mit dem einen noch mit dem anderen Demokratietypus
Auf der Suche nach weiteren Erklärungen für das Auftreten von Referenden schließt Lijphart aus, daß ihre Häufigkeit von einer über-oder unterdurchschnittlichen Frequenz von Wahlen abhängig sei. Das Institut des Volksbegehrens mag zwar die Referendumshäufigkeit erhöhen, abgesehen vom Sonderfall Schweiz aber gilt dies etwa für Italien nur bedingt. Bleibt der schon von Butler und Ranney ausgesprochene Hinweis, daß die Mehrzahl der Vorlagen verfassungsrechtlicher Natur seien, die Praxis des Referendums mehrheitlich also auf das Institut des obligatorischen oder fakultativen Verfassungsreferendums zurückzuführen ist. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt auch Bugiel in seiner vergleichenden Untersuchung. Erklärungsbedürftig wäre dann aber, warum nur einige und nicht sämtliche Demokratien das Verfassungsreferendum zwingend vorschreiben oder zulassen. Resümierend stellt Lijphart daher fest: „So schwierig es für einen Sozialwissenschaftler ist, eine Niederlage bei der Suche nach allgemeinen Sätzen und Theorien zugeben zu müssen, so sind wir dennoch gezwungen, Butler und Ranney zuzustimmen, daß Referenden in kein klares universales Muster passen.“
Die bisherigen Untersuchungsergebnisse können sicher nicht als ausreichend angesehen werden, denn weder liegt für die der vergleichenden politischen Systemforschung zugeordneten Makroebene eine alle verfügbaren und relevanten Fälle systematisch verarbeitende vergleichende Analyse vor, noch wird gar die Makroebene mit der Mesoebene der vermittelnden Strukturen und der Mikroebene des Individualverhaltens derart verknüpft, daß ein überzeugendes Gesamtbild von der Funktion des Referendums gezeichnet werden könnte. Vorbehaltlich möglicher, wenn auch angesichts der schmalen Datenbasis nur bedingt zu erwartender neuer Einsichten kann unter Berücksichtigung des derzeitigen Forschungsstandes festgestellt werden, daß das Referendum insbesondere als plebiszitäre verfassungsneutrale Sachentscheidung auch bei Berücksichtigung der vielfältigen Erscheinungsformen in der nationalen Politik des demokratischen Verfassungsstaates weder strukturtypisch noch strukturwidrig ist, sondern nur strukturfremd, soweit es sich nicht um das noch zu behandelnde ordnungspolitische Problem des Verfassungsreferendums handelt. 2. Die USA und die Schweiz als Sonderfalle Die hier gegebene Einschätzung bedarf einer Ergänzung. Sie betrifft den eigentümlichen Fall der Schweiz und den makroanalytisch in der Forschung als irrelevant angesehenen Fall der Einzelstaaten der USA. Auch hier gilt die Feststellung, daß das Referendum in keiner Weise modellspezifisch ist. Der konsensdemokratischen Schweiz steht wiederum das konkurrenzdemokratische System der Einzelstaaten der USA gegenüber. Deren Erscheinungsbild wird wiederum von großer Mannigfaltigkeit geprägt. In mehr als der Hälfte dieser Staaten ist -wie in der Schweiz -der politische Prozeß von der lokalen Politik bis hin zurjeweiligen Makropolitik in unterschiedlichem Grad direkt-demokratisch strukturiert, wie Tabelle 2 ausweist. Eine in gleicher Weise qualitativ und quantitativ orientierte empirische Erforschung des direkt-demokratischen Komplexes (als Inbegriff plebiszitärer Personal-und Sachentscheidungen) findet in diesen Gesellschaften ihr eigentliches Untersuchungsobjekt. Die semi-direkte oder Referendumsdemokratie der Schweiz ist traditionell ein Gegenstand intensiven wissenschaftlichen Interesses gewesen, umfangreiche Analysen liegen vor Ein Desiderat ist jedoch noch immer eine die verschiedenen Analyseebenen der lokalen, kantonalen und nationalen Politik systematisch miteinander verschränkende Darstellung der Funktionsweise der direkt-demokratischen Institutionen in der Schweiz.
Eine Untersuchung der Referendumsdemokratie in den USA steht von vornherein vor einer anderen Situation, da es sich im Unterschied zur Schweiz primär um ein regionalpolitisches Phänomen handelt. Die strikt repräsentative Praxis der Bundesverfassung, die nur den quasi-plebiszitär gewählten Präsidenten kennt, ruht auf dem politischen Fundament von rund 80000 politischen Teilsystemen. Neben den 50 Einzelstaaten sind dies counties, municipalities, townships und nicht zuletzt die vielen tausend special districts und school districts. Diese nur schwer beschreibbare Vielfalt der regionalen Ausformung der Bürgerkultur und ihrer Institutionen wird durch eine mehr oder weniger ausgeprägte Verschränkung von Repräsentativsystem und direkter Demokratie gekennzeichnet. Unter den 50 Einzelstaaten ist das plebiszitäre Element nicht überall in gleichem Umfang politik-mitbestimmend; doch in 23 Staaten findet sich ein voll ausgebildeter plebiszitärer Institutionenkomplex in der Kombination von Direktwahl von Regierungsämtern, Möglichkeiten der Abwahl von Amtsträgern, Verfassungsreferendum, Gesetzes-referendum und direktem oder indirektem Volks-begehren. Gewiß können diese politischen Einheiten gleichsam als ein Laboratorium für die Wirkungsweise direkt-demokratischer Politik angesehen werden, allerdings mit einer wichtigen Einschränkung: Ihr Spielraum wird durch die Rahmenbedingungen und Vorgaben der nationalen politischen Kultur und der bundesstaatlichen Ordnung erheblich eingeengt.
Die politikwissenschaftliche Beschäftigung mit den direkt-demokratischen Erscheinungen in den Einzelstaaten der USA intensivierte sich erst in den letzten beiden Jahrzehnten, als Reaktion auf die zu beobachtende Revitalisierung direkt-demokratischer Politik seit den siebziger Jahren, insbesondere in Kalifornien, als etliche spektakuläre Volksbegehren landesweites Aufsehen erregten. Es existieren eine Vielzahl in sich heterogener, in der Regel auf Einzelstaaten oder spezifische Politikfelder bezogener Fallstudien und Einzeluntersuchungen zur Rolle des Stimmbürgers, der Parteien, organisierter Interessen und der Medien sowie der Regierungen und Parlamente, die in einigen neueren Monographien ausgewertet worden sind Neben Staaten wie Arizona, Oregon oder South Dakota hat die Referendumsdemokratie vor allem in Kalifornien dem politischen Leben ihren ganz unverwechselbaren Stempel aufgedrückt, so daß dieser Staat ein bevorzugtes Studienobjekt darstellt Unter den besonderen, nicht ohne weiteres auf andere US-Staaten übertragbaren kalifornischen Bedingungen der politischen Kultur und Sozialstruktur bewirkt der unkontrollierte und anti-hegemoniale Charakter des Referendums eine Schwächung der legislativen Funktion des Einzelstaatsparlamentes, verringert die Handlungsfähigkeit der Regierung und eliminiert weitgehend die Parteien als eigenständige politische Akteure. Sachentscheidungen (auch als Entscheidungsverhinderung) in den jeweiligen Politikfeldern verlagern sich in beträchtlichem Umfang in den ungeregelten Referendumsprozeß, dessen Träger die von politischen Eliten dominierte -vor allem in Kalifornien -Vielfalt von organisierten Interessen, Bürgergruppen und -bewegungen sowie ad-hoc-Organisationen ist. Als Steuerungsinstanz von erheblichem Gewicht setzt die Gerichtsbarkeit mit Hilfe des Richterlichen Prüfungsrechtes der Volksgesetzgebung allerdings verfassungsrechtliche Grenzen, denn viele auf Volksbegehren hin verabschiedete Volksentscheide fallen der Judikative zum Opfer. Die dominierende Rolle organisierter ressourcenkräftiger Interessen, der gezielte Einsatz von Medien und die Instrumentalisierung direkt-demokratischer Mittel durch führende Politiker in und außerhalb des Parlamentes wie die gelegentlich erfolgreiche Intervention von Non-Profit-Organisationen und Bürgerbewegungen sind aber keineswegs der direkten Demokratie zuzurechnen, sondern weisen diese als ein in das gewaltenteilig organisierte konkurrenzdemokratische System eingepaßtes Strukturelement aus. Das Wechselspiel von Parlament, Regierung und direkt-demokratischer Willensbildung und Entscheidung spiegelt die diffuse und aufgesplitterte formale Machtstruktur und eine in sich heterogene und differenzierte hochmobile politische Kultur in einer dynamischen Gesellschaft mit einer spezifischen historischen Tradition wider.
Angesichts der hundertjährigen Tradition kalifornischer Politik ist es fraglich, ob eine Interpretation der Volksgesetzgebung der letzten Dekaden das Urteil erlaubt, die Volksgesetzgebung sei nur ein Ausdruck eines „rechten“ Populismus, der den Systemerfordernissen einer modernen Demokratie, d. h.der politischen, sozialen und kulturellen Integration, entgegenwirke Das der Analyse des Verhältnisses von repräsentativem und direktem Gesetzgeber zugrundegelegte Kriterium systemnotwendiger Integrationsleistungen mißt die kalifornische Politik mit einem ausgesprochen kontinentaleuropäischen Maßstab. Das negative Urteil trifft weniger die spezifische Funktion der direkten Demokratie als die kalifornische Politik und insbesondere die amerikanische Politik der Gegenwart schlechthin. Billerbecks Populismushypothese wird zudem durch einschlägige amerikanische Untersuchungen nicht bestätigt Die spezifischen, oft bizarren Erscheinungsformen der kalifornischen Politik und die gleichsam wellenförmig auftretenden Perioden plebiszitären Überschwangs gelten keineswegs für die Gesamtheit der Einzelstaaten in den USA. Soweit die vorliegenden vergleichenden Studien ein Urteil erlauben haben die direkt-demokratischen Instrumente in den meisten Referendumsstaaten und auch in jenen, deren Verfassungen die direkte Volksinitiative vorsehen, wie beispielsweise Oregon, eine komplementäre Funktion im Majoritätssystem. Durch diese gewinnt die organisierte Aktivbürgerschaft Einfluß auf sachpolitische Entscheidungen in positiver und negativer Hinsicht, ohne jedoch die Vorherrschaft des Staatsparlamentes grundsätzlich in Frage zu stellen. Der kritische Punkt, soweit aus einschlägigen Arbeiten zu ersehen ist, besteht darin, daß der potentielle Spielraum des unkontrollierten und anti-hegemonialen Referendums, insbesondere der des direkten Volksbegehrens, durch institutioneile Sicherungen des Repräsentativsystems verringert wird.
Cronin untersucht ausführlich das Für und Wider eines nationalen Referendums in den USA; diese Referendumsart findet in der Bevölkerung laut jüngsten Umfragen eine Mehrheit von 48 Prozent (1987) und wird, zumindest als konsultatives Referendum, von einzelnen politischen Gruppierungen befürwortet, ohne daß hierfür politische Erfolgsaussichten bestünden. Cronin selbst lehnt jedoch ein nationales Referendum ab und tritt statt dessen für ein abgesichertes System von Initiativen und Abstimmungen im Einzelstaat und in den Kommunen ein. Ersteres unterwerfe nämlich die nationale Gesetzgebung den Augenblicksstimmungen der öffentlichen Meinung und schwäche die in einer großen und disparaten Nation notwendige effektive politische Führung von Exekutive und Legislati-ve, deren Aufgaben in der Formung der öffentlichen Meinung im Sinne des öffentlichen Interesses lägen
Dieses Argument führt zu der grundsätzlichen Rahmenbedingung der gemischt plebiszitär-repräsentativen Systeme der Einzelstaaten zurück: Die Dominanz einer gesamtamerikanischen politischen Kultur und der darauf aufbauenden nationalen soziopolitischen Ordnung liefert den Bezugspunkt für die amerikanische politische Identität jenseits der regionalpolitischen Vielfalt und Heterogenität
Aus diesem Grunde wird die im Referendum und insbesondere in der Initiative angelegte Öffnung des politischen Systems in seiner möglichen desintegrativen Wirkung, welche Billerbeck für Kalifornien so stark betont, durch die Architektonik der politischen Gesamtordnung der USA ausgeglichen. Da keine eingehenden vergleichenden Untersuchungen der Auswirkungen auf das jeweilige Strukturgefüge des politischen Systems und auf die Verlaufsformen des politischen Prozesses in den Einzelstaaten zur Verfügung stehen, kann hier nur die Vermutung geäußert werden, daß der plebiszitäre Unterbau in den USA ungeachtet seiner möglichen desintegrativen Tendenz vor Ort auf das politische Regime der USA insgesamt bezogen eine latent integrative Funktion wahrnimmt. Insofern stellt sich in den USA die Frage nach der möglichen Integrationsfunktion der Referendums-demokratie anders als in der Schweiz, wo, wie Kriesi, den Ergebnissen Neidharts folgend, betont, die Wirkungsweise der direkten Demokratie die Integrationszwänge verstärkt und der Konsensdemokratie die für die Schweiz eigentümlichen Züge einer „Verhandlungsdemokratie“ verleiht.
So liegt der empiriegeleitete Vergleich plebiszitärer Praxis in der Schweiz und in den Einzelstaaten der USA nahe, steht aber unter dem Vorbehalt der unterschiedlichen makropolitischen Voraussetzungen. Hier ist die politikwissenschaftliche Forschung erst am Anfang und liefert erst tendenzielle Hinweise In bezug auf das Wahlverhalten und die Determinanten desselben bestätigen sich generell die Resultate der allgemeinen Wahlforschung in beiden Gesellschaften. Die Referendumsdemokratie mobilisiert den Stimmbürger in der Regel nicht stärker als die allgemeinen Wahlen. Einen Mobilisierungseffekt haben nur kontroverse, durch Grundprobleme des soziokulturellen Wandels hervorgerufene Themen. Im Hinblick auf neuartige Politikfelder wie Umwelt-oder Energiepolitik u. ä. könnte den direkt-demokratischen Verfahren eine gewisse Frühwarnfunktion zugeschrieben werden. Die damit verbundene Frage nach dem Innovationspotential plebiszitärer Partizipation bleibt angesichts der zu beobachtenden Option für den Status quo umstritten. Die Funktion eines „Sicherheitsventils“ für den politischen Protest, sei er populistischer oder anderer Art, scheint insbesondere für die USA nachweisbar zu sein. Ambivalent sind die Befunde hinsichtlich der Frage, ob das Referendum eine Entlastungswirkung auf das politisch-administrative System hat. In der Tat kann dieses hierdurch von gewissen konfliktbehafteten Entscheidungen entlastet werden; in den Einzelstaaten der USA werden solche Konfliktvermeidungsstrategien auch angewandt. Auf alle Fälle ist zu vermuten, daß hohe Ansprüche an die Kompetenz des Stimmbürgers gestellt werden, die zu einer weiteren Verfestigung des Mittelklassenfaktors im politischen Prozeß führen. In manchen Politikfeldern sind die Ergebnisse aber sehr negativ, und die Folgen belasten das Regierungshandeln stärker als zuvor. Die hier skizzierten Funktionen des direkt-demokratischen Instrumentariums in der Schweiz und in den USA verweisen im übrigen nicht auf den individuellen Stimmbürger als den entscheidenden Akteur, sondern auf eine in mannigfacher Form organisierte gruppenspezifisch agierende Aktivbürgerschaft, die im direkt-demokratischen Willensbildungs-und Entscheidungsprozeß die politischen Parteien als Akteure in ihren Funktionen beschneiden. Auch als komplementäres Element in einer repräsentativen Demokratie mindert das Referendum die Rolle der Parteien als zentrale Steuerungsinstanz der Politik.
Für den Stimmbürger haben direkt-demokratische Institutionen eine andere, oft übersehene, nämlich legitimitätsstärkende und edukatorische symbolische Funktion. Alle demoskopischen Daten belegen die überwältigende Zustimmung der Befragten zu solchen Instrumenten, selbst wenn diese nie oder nur selten an die Urne treten. Diese symbolische Funktion besteht darin, daß der einzelne sich als Glied der Bürgerschaft begreift und insbeson-dere seine Bürgerrolle in ihn unmittelbar betreffenden Angelegenheiten plastisch zu erfahren vermag.
Die symbolische Rolle kräftigt die diffuse Loyalität dem Regime gegenüber, aber sie setzt immer schon eine historisch gewachsene und im gesellschaftlichen Bewußtsein tief verankerte Bürger-kultur voraus. 3. Politische Kultur direkt-demokratischer Systeme Eingangs ihrer Untersuchung fragen sich Butler und Ranney, warum Referenden vor allem in der Schweiz und in den Einzelstaaten der USA praktiziert werden. „Die wahrscheinlichste Erklärung ist, daß nur in diesen Politien aufgrund der bürger-
schaftlichen Urversammlungen eine Präreferendumserfahrung von direkter Demokratie seit langem besteht.“ Erst in Folge des Bevölkerungswachstums im 19. und 20. Jahrhundert hätten sich Landsgemeinde und town meeting als nicht mehr praktikabel erwiesen, so daß das Referendum als Adaption der Prinzipien der direkten Demokratie an diese neuen Bedingungen großer Bevölkerungszahlen entstanden sei. Diese im wesentlichen falsche Aussage kann an dieser Stelle leider nicht durch eine ausführliche Erörterung der außerordentlich komplizierten Entstehungsgeschichte der Referendumsdemokratie auf beiden Kontinenten korrigiert werden. Da die von Butler und Ranney eingeführte erklärende Variable der historischen Tiefendimension der politischen Kultur bisher unwidersprochen blieb, bietet es sich jedoch an, auf jene gesellschafts-und geistesgeschichtlichen Konstitutionsmerkmale des für die politische Kultur determinierenden gesellschaftlichen Selbstverständnisses zu rekurrieren, denen das gemischt plebiszitär-repräsentativdemokratische System in der Schweiz und in den USA seine Entstehung verdankt.
Es handelt sich hierbei keineswegs um parallel verlaufende Entwicklungsgeschichten, so daß nur in begrenztem Maße analoge ideen-und gesellschaftspolitische Konstellationen aufgezeigt werden können. Eine geschichtliche Verknüpfung stellt zum einen der Einfluß der amerikanischen Bundesverfassung auf die schweizerische Verfassungsdiskussion im Vormärz dar zum andern die Rezeption der in der Schweiz erproben direkt-demokratischen Instrumente von Volksabstimmung und Volksbegehren durch die amerikanischen Reformer Ende des 19. Jahrhunderts Doch solche transatlantischen Bezüge erklären nicht die Binnengeschichte der politischen Kulturen. Wirkten auch die Traditionen der vormodernen christlich-kommunitären Formen der Vergemeinschaftung im Prozeß der Entstehung dieser Verfassungsstaaten fort, so waren sie doch weder Ausgangspunkt der modernen verfassungsstaatlichen Entwicklung noch Kristallisationspunkt der im republikanischen Prinzip der Selbstregierung einer selbstverantwortlichen Bürgerschaft begründeten Legitimität der Verfassung selbst.
Der entscheidende Punkt scheint zu sein, daß die „vormodernen“ Gemeinschaftsideen und -erfahrungen in den Formierungsprozeß des modernen Verfassungsstaates eingingen und dem im Repräsentativsystem angelegten Spannungsverhältnis des oligarchischen und des demokratischen Faktors sein jeweils eigentümliches Gepräge gaben. Wie die Bundesverfassung waren die amerikanischen Einzelstaatsverfassungen repräsentative Demokratien, enthielten aber gewisse plebiszitäre Traditionselemente. Der Ausgangspunkt für den Durchbruch des plebiszitären Elements im 19. Jahrhundert war jedoch der zunehmende Gebrauch der bereits in einigen frührevolutionären Verfassungen vorgesehenen Volksabstimmung für Total-und Partialrevisionen der Verfassung in einer wachsenden Zahl von Staaten. In der politischen Instrumentalisierung des Instituts der Verfassungsgebung durch das Volk verschwamm die Differenz zwischen dem Volk als Verfassungsgeber und dem Volk als Gesetzgeber in zahlreichen Staaten. So konnte die plebiszitäre Praxis von den Reformern der Progressivistischen Bewegung am Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Ziel der Bekämpfung der im Sinne des republikanischen Prinzips der Selbstregierung „illegitimen“ Machtkonzentration von Parteimaschinen und Wirtschaftsmächten in South Dakota (1898), in Utah (1900), in Kalifornien (1902) und in weiteren neun Staaten verfassungsmäßig institutionalisiert werden
Analog nahm die Aufnahme plebiszitärer Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürgerschaft unter dem Titel der „Volksrechte“ in der Schweiz ihren Ausgang vom oligarchisch-demokratischen Konflikt in den kantonalen Repräsentativsystemen des Vormärzes und erfaßte schließlich auch die Bundesverfassung. Gewiß war die plebiszitäre Öffnung des repräsentativ-demokratischen Systems stärker geprägt von den spezifisch schweizerischen kommunitären Traditionen, als dies in den USA durch die ursprüngliche Versammlungsdemokratie des town meeting der Fall war. Doch hier wie dort geschah der traditionsgeleitete Rückgriff auf überkommene plebiszitäre Praktiken unter den Bedingungen des etablierten Repräsentativsystems und unter Berufung auf das in der Verfassung dokumentierte moderne Prinzip der ursprünglichen Autorität des bürgerschaftlich verfaßten Volkes, das in der Idee der Volkssouveränität seinen dogmatischen Ausdruck fand.
Erst unter der symbolischen Voraussetzung eines kollektiven Verfassungsgebers konnte die Volks-gesetzgebung legitimiert werden; umgekehrt bedurfte es gesellschaftlich verwurzelter bürgerlicher Interaktionsformen, damit sich die verfassungsmäßig verankerten Rechte auf plebiszitäre Mitwirkung in der politischen Kultur mit Leben füllen konnten. Unter ganz unterschiedlichen geschichtlichen Bedingungen hat das Zusammenspiel von kommunitärer Tradition und moderner Repräsentativverfassung in der Schweiz und in den USA einen in seinen Grundzügen verfassungszentrierten Typus der Bürgerkultur hervorgebracht und das ursprüngliche repräsentativ-demokratische System gleichsam plebiszitär unterfüttert.
Solche Entwicklungen vollzogen sich keineswegs kampflos; sie waren begleitet von intensiven verfassungspolitischen Auseinandersetzungen, die in den USA wie in der Schweiz von Anfang an die wohlbekannte Frage aufwarfen, ob die Logik der Repräsentativverfassung weitere plebiszitäre Komponenten zuließe. Im Gegenzug entfaltete sich unter Berufung auf den Begriff der Volkssouveränität jene aus dem Jakobinismus bekannte fundamentalistische Demokratiedoktrin, die dann gegen die repräsentative Demokratie in Stellung gebracht werden konnte und die Rückgabe der Macht an das Volk -so der Kampfruf der amerikanischen Progressivisten -fordert. Aus den jeweiligen Stationen dieser Debatte läßt sich die Traditionsgeschichte eines ideen-und verfassungspolitisch motivierten demokratietheoretischen Diskurses rekonstruieren
Schon das kursorische Studium dieser Traditionsgeschichte zeigt die Wiederkehr der ewig gleichen Argumente. Sie enthält einen sachlogisch begrenzten Argumentationsbestand, aus dem sich auch die gegenwärtige deutsche Diskussion notwendigerweise bedienen muß.
III. Direkte und repräsentative Demokratie
Abbildung 3
Quelle: D. Butler/A. Ranney (Anm. 1), S. 71-72; Tabelle wie Anmerkungen wurden zur Verdeutlichung durch den Autor ergänzt.
Quelle: D. Butler/A. Ranney (Anm. 1), S. 71-72; Tabelle wie Anmerkungen wurden zur Verdeutlichung durch den Autor ergänzt.
1. Das Verfassungsreferendum Die Referendumsdemokratien in der Schweiz und den Einzelstaaten der USA haben mit einer Anzahl anderer repräsentativer Demokratien, unabhängig von ihrem konkurrenzdemokratischen oder konsensdemokratischen Zuschnitt, ein plebiszitäres Element gemeinsam: das Verfassungsreferendum. Es ist neben dem Territorialreferendum dort -wie auch in der Mehrheit anderer politischer Regimeformen -der gebräuchlichste Modus der plebiszitären Entscheidung.
Von den historischen Anfängen des demokratischen Verfassungsstaates her war das republikanische Prinzip der Selbstregierung unmittelbar verbunden mit dem konstitutiven Akt der Ordnungsgründung im Prozeß der Verfassungsgebung. Dazu bedurfte es des neuartigen Verfassungsbegriffes der Amerikaner -eines schriftlich niedergelegten höheren Gesetzes, das über aller Herrschaftsgewalt steht und den Maßstab für alle Gesetze im Gemeinwesen bildet. Die Bedeutsamkeit der Verfassung liegt in der „exklusiven Dokumentation“ der in einem theonomen Naturrecht verankerten Ordnungsprinzipien, in der „Identifikation einer guten Ordnung des Staates -also dessen, was für die antike Polis die eunomia und für das mittelalterliche Reich die Gerechtigkeit war -mit einer grundlegenden rechtlichen Urkunde“ In der Grundentscheidung über die Verfassung übt das bürgerschaftlich verfaßte Volk als Repräsentant seiner selbst seine ursprüngliche Autorität aus -bürgerschaftlich verfaßt heißt: nicht das Volk als Summe aller Individuen, sondern das Volk als rechtlich verfaßte politische Körperschaft freier, gleicher und gemeinverständiger Bürger
So stellt Stemberger zu Recht fest, daß die Legitimität des Verfassungsstaates „bürgerliche Legitimität“ ist. Sie fußt in Wahrheit nicht auf der Kollektivperson „Volk“, sondern auf der pluralen Bürgerschaft Und, so sollte man hinzufügen, in der Verfassung gibt diese sich selbst einen Entwurf des gemeinsamen „guten Lebens“ als verbindliche Richtschnur des Handelns vor. Die Entdeckung der Verfassung als Instrument der politischen Selbst-Ordnung der Bürgerschaft bedingten in den USA neuartige Formen des Entscheidungsprozesses des Volkes, die für das Modell des Verfassungsstaates Vorbildfunktion gewinnen sollten: Die Institute des Verfassungskonventes und der Popularratifikation. Dem Verfassungsreferendum, insbesondere wenn eine Totalrevision der Verfassung ansteht, kommt also eine besondere Qualität zu. 2. Schlußfolgerungen für die Bundesrepublik Deutschland Welche Schlußfolgerungen lassen sich aus unseren Überlegungen für die in der Bundesrepublik begonnene Verfassungsdiskussion ziehen? Aus der Systemlogik der repräsentativen Demokratie lassen sich keine zwingenden Gründe für die Einführung des Gesetzesreferendums in Gestalt von Volksbegehren und Volksabstimmung anführen.
Die besondere Gestalt unserer politischen Kultur als verfassungszentrierte Staatskultur spricht eher gegen derartige plebiszitäre Instrumente, denn es liegt in der Natur unserer parteiendominierten, etatistisch ausgerichteten parlamentarischen Demokratie, daß es bei der herrschaftsorientierten hegemonialen Funktion des Referendums bleibt, wie dies die vergleichende Analyse auch für die Mehrheit der demokratischen Verfassungsstaaten anzeigt. Unter den Bedingungen komplexer industriegesellschaftlich verfaßter und repräsentativ-demokratisch organisierter nationaler Gesellschaften funktioniert eine Volksgesetzgebung nicht als institutionalisierte Bürgermitsprache wie das Beispiel Italiens zeigt. Die entsprechenden Argumente in der deutschen Diskussion sind daher auch regelmäßig normativ-abstrakt demokratietheoretisch begründet und orientieren sich weniger an konkret-empirischen Sachverhalten.
Demokratietheoretisch ist aber die Einführung eines nationalen Referendums nicht zwingend geboten. Pragmatische Gründe sprechen -wie beispielsweise auch in den USA -eher gegen die Verankerung eines solchen Instituts in einer deutschen Verfassung. Eine referendumsdemokratisch durchformte politische Kultur hat sich nur in den Sonderfällen Schweiz und vielen Einzelstaaten der USA geschichtlich herausgebildet. Vergleichbare Traditionen sind in der Bundesrepublik Deutschland nicht wirksam geworden. Das belegt schon die seltene Nutzung der in den Länderverfassungen ausgewiesenen direkt-demokratischen Instrumente. Wenn also ein Ansatz zur Stärkung der bürgerschaftlichen Komponente in der deutschen politischen Kultur unternommen werden soll, dann bedarf es zuerst der Belebung und Ausweitung des Referendums in den Bundesländern, vor allem aber in der Kommunalpolitik. Das Verfassungsreferendum hingegen ist mit jeder politischen Kultur eines demokratischen Verfassungsstaates vereinbar und als symbolischer Ausdruck bür der -gerschaftlichen Legitimität im Falle einer Total-revision der Verfassung sicher geboten.
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