Der Beitrag skizziert zunächst die verschiedenen Institutionen der direkten Demokratie in der Schweiz. Diese existieren nicht nur auf Bundesebene, sondern auch auf Kantons-und Gemeindeebene, wo sie noch umfassender sind als im Bund. Danach werden die Funktionen der Institutionen der direkten Demokratie für das politische System der Schweiz beschrieben, wobei die grundsätzlich unterschiedlichen Wirkungen von Initiative und Referendum betont werden. Während mit dem Referendum ein Veto am Schluß eines Entscheidungsprozesses ausgeübt werden kann, erlaubt die Initiative, ein gesellschaftliches Problem auf die politische Agenda zu setzen. Beide Instrumente tragen auf ihre Weise zur Integrationskraft des politischen Systems der Schweiz bei, beide haben die Funktionsweise dieses Systems stark geprägt. In zwei Schritten wird dann die Praxis der Schweizer direkten Demokratie beschrieben. Zunächst werden Anwendungshäufigkeit und Erfolg von Initiative und Referendum diskutiert. Während Initiativen in erster Linie von der Linksopposition lanciert werden, erweist sich das fakultative Referendum traditionell vor allem als Instrument für konservative Kreise, welche damit Reformen, die ihnen zu weit gehen, zu blockieren versuchen. Anschließend werden die materielle Problemlösungsfähigkeit der Bürger, die zunehmende Rolle professioneller Abstimmungspropaganda im Meinungsbildungsprozeß sowie die abnehmende und selektiver werdende Beteiligung an Abstimmungen diskutiert. Der Beitrag schließt mit einer Diskussion des Anpassungsdrucks, der heute nach Ansicht einflußreicher Schweizer Autoren im Zusammenhang mit der Frage des Beitritts der Schweiz zur Europäischen Gemeinschaft auf die Institutionen der direkten Demokratie ausgeübt wird.
I. Die Institution der direkten Demokratie
Die Bundesverfassung von 1848, mit der die Schweizerische Eidgenossenschaft in ihrer heutigen Form gegründet worden ist, sah bereits ein Initiativrecht auf Totalrevision sowie das obligatorische Referendum für alle übrigen Verfassungsänderungen vor Diese sind seither „Volk und Ständen“ zur Abstimmung vorzulegen. Zur Annahme einer Verfassungsänderung bedarf es dabei sowohl einer Mehrheit der Stimmbürger als auch einer Mehrheit der Stände, d. h.der heute 26 Kantone und Halbkantone, welche den deutschen Ländern entsprechen. Das Kriterium der doppelten Mehrheit schützt einerseits die territorialen Minderheiten vor der „Tyrannei der Mehrheit“. Da die einzelnen Kantone erhebliche Größenunterschiede aufweisen, besteht aber andererseits die Möglichkeit, daß eine relativ begrenzte Minderheit den Mehrheitswillen durchkreuzt.
Nach 1848 wurden die direktdemokratischen Einrichtungen auf Bundesebene kontinuierlich ausgebaut und differenziert. In der Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 wurde zunächst das fakultative Gesetzesreferendum eingeführt, mit dem im Parlament verabschiedete Gesetze und allgemein verbindliche Bundesbeschlüsse zur Volksabstimmung gebracht werden können. Dazu notwendig sind die Unterschriften von 50000 Stimmbürgern oder -eine in der bisherigen Praxis ungenützte Möglichkeit -das Begehren von acht Kantonen 1891 folgte die Einführung der Verfassungsinitiative. Diese erlaubt es 100000 Stimmbürgern, eine partielle Verfassungsänderung zu beantragen Eine Verfassungsinitiative kann entweder in der Form einer allgemeinen Anregung oder als ausformulierter Verfassungsartikel präsentiert werden. Die von einer Initiative beantragte Verfassungsänderung wird zunächst vom Parlament diskutiert. Handelt es sich um einen ausformulierten Text und stimmt das Parlament ihm zu, so wird er Volk und Ständen zur Annahme oder Ablehnung vorgelegt. Lehnt das Parlament den Vorschlag ab, so kann es den Stimmbürgern dessen Ablehnung empfehlen und ihnen allenfalls einen eigenen Gegenvorschlag gegenüberstellen, zu dem sie in derselben Volksabstimmung Stellung nehmen müssen
Im Laufe des 20. Jahrhunderts kamen weitere Elemente hinzu. 1921 wurde das fakultative Staatsvertragsreferendum eingeführt, vorerst beschränkt auf unbefristete internationale Verträge. 1977 wurde es erweitert auf Verträge, welche den Beitritt zu internationalen Organisationen oder die multilaterale Vereinheitlichung des Rechts vorsehen. Seit 1949 gibt es schließlich ein obligatorisches Referendum für allgemeinverbindliche dringliche Bundesbeschlüsse, welche nicht verfassungskonform sind. Die Einführung dieses Referendums war eine Reaktion auf das Vollmachtenregime, das die schweizerische Regierung in den dreißiger Jahren während der Wirtschaftskrise geführt hatte. Nicht verfassungskonforme dringliche Bundesbeschlüsse müssen gemäß dieser Bestimmung ein Jahr nach ihrem Inkrafttreten Volk und Ständen zur Abstimmung vorgelegt werden. Im Ablehnungsfall treten sie außer Kraft
Nie verwirklicht wurde die Gesetzesinitiative auf Bundesebene. Ein entsprechendes Postulat von 1950 sowie eine Volksinitiative von 1958 scheiterten ebenso am Widerstand bürgerlicher Kreise wie der erste diesbezügliche Vorstoß von 1872. Seit dem Zweiten Weltkrieg erlitt eine ganze Reihe weiterer Versuche zum Ausbau der direktdemokratischen Rechte auf Bundesebene dasselbe Schicksal: In den fünfziger und sechziger Jahren scheiterten die durch Initiativen lancierten Forderungen nach einem Referendum für Konzessionen von Wasserkraftwerken (1956), zu Fragen der öffentlichen Finanzen (1956) sowie zur atomaren Bewaffnung (1963). Seither gab es drei weitere erfolglose Versuche zur Ausweitung der direktdemokratischen Rechte: Die Ausweitung der Volks-rechte im Nationalstraßenbau (1978) fand ebenso-wenig eine Mehrheit wie jene in Sachen Kernenergie (1979) und jene betreffend Militärausgaben (1987).
Wenn man von direktdemokratischen Institutionen in der Schweiz spricht, sollte man nicht aus den Augen verlieren, daß es diese Institutionen auf allen drei Systemebenen gibt, auf der Ebene des Bundes, der Kantone und der Gemeinden. Auf der Kantonsebene sind diese Institutionen sogar noch besser ausgebaut als auf der Bundesebene So gibt es in allen Kantonen die Gesetzesinitiative, und alle Kantone kennen auch das Finanzreferendum. In 19 Kantonen sind Ausgabenbeschlüsse, die einen bestimmten Betrag übertreffen, dem obligatorischen Referendum unterstellt. Sie müssen dem Volk automatisch zur Abstimmung unterbreitet werden. Alle übrigen Kantone kennen das fakultative Finanzreferendum. In einigen Kantonen sind auch die kantonalen Stellungnahmen im Rahmen von Konsultationsverfahren des Bundes zu Fragen der Kernenergie und des Straßenbaus dem obligatorischen (oder fakultativen) Referendum unterstellt. Schließlich besteht in den meisten Kantonen auch ein Referendum zum Abschluß von interkantonalen Verträgen.
II. Die Funktionen von Referendum und Initiative
Abbildung 12
Tabelle 2: Urheber von fakultativen Referenden und Initiativen: 1945-78 und 1975-89 (Angaben in Prozent) Quelle: Für die Periode 1945-78 vgl. Tabelle 6-25 bei G. Ganguillet (Anm. 16), S. 497; die Daten für die Periode 1975-1989 stammen aus dem aktuellen Forschungsprojekt zur Mobilisierung neuer sozialer Bewegungen in der Schweiz, das unter der Leitung des Autors steht. Beide Datensätze sind lückenhaft in bezug auf die Information über die Träger von Initiativen und Referenden; nach dem Wissensstand des Autors gibt es gegenwärtig keine vollständigeren Quellen.
Tabelle 2: Urheber von fakultativen Referenden und Initiativen: 1945-78 und 1975-89 (Angaben in Prozent) Quelle: Für die Periode 1945-78 vgl. Tabelle 6-25 bei G. Ganguillet (Anm. 16), S. 497; die Daten für die Periode 1975-1989 stammen aus dem aktuellen Forschungsprojekt zur Mobilisierung neuer sozialer Bewegungen in der Schweiz, das unter der Leitung des Autors steht. Beide Datensätze sind lückenhaft in bezug auf die Information über die Träger von Initiativen und Referenden; nach dem Wissensstand des Autors gibt es gegenwärtig keine vollständigeren Quellen.
Die Instrumente der direkten Demokratie erlauben eine Öffnung des politischen Systems, vermindern seine Autonomie gegenüber Einflüssen der gesellschaftlichen Umwelt und implizieren gleichzeitig auch eine Einschränkung der Handlungsfähigkeit. Direktdemokratische Mechanismen beinhalten einen hohen Konsensbedarf, was die politischen Entscheidungsprozesse kompliziert und verlängert. Gleichzeitig erhöhen sie aber auch die Integrationsfähigkeit des politischen Systems und die Legitimität einmal getroffener Entscheidungen. Volksentscheide werden in der Schweiz auch von den jeweils unterlegenen Bevölkerungsgruppen in aller Regel akzeptiert.
Es gilt aber, zwischen der Wirkungsweise des Referendums einerseits und jener der Initiative andererseits deutlich zu unterscheiden. Die beiden Instrumente folgen zwei ganz unterschiedlichen Logiken. Wenden wir uns zunächst dem historisch älteren Referendum zu. Mit dem -obligatorischen oder fakultativen -Referendum haben die Stimmbürger die Möglichkeit, am Ende eines politischen Entscheidungsprozesses zu intervenieren. Das Referendum hat den Charakter des Vetos, es bildet ein Sicherheitsventil, das den Stimmbürgern die Möglichkeit gibt, die Durchsetzung eines Projekts, das ihnen nicht paßt, zu verhindern. Das Referendum erlaubt eine sachfragenspezifische Opposition von Fall zu Fall.
Diese allgemeinen Eigenschaften des Referendums haben, gemäß der bekannten Hypothese von Neidhart den politischen Entscheidungsprozeß in der Schweiz von Grund auf verändert. Neidharts These bezieht sich in erster Linie auf das fakultative Referendum, aber in analoger Weise gilt sein Argument auch für das obligatorische Referendum. In bezug auf das fakultative Referendum besteht immer die Möglichkeit, daß eine Interessengruppe, die mit dem Ergebnis eines Gesetzgebungsprozesses nicht einverstanden ist, das fakultative Referendum gegen das vom Parlament verabschiedete Gesetz ergreift, eine Volksabstimmung erzwingt und damit das ganze Gesetzesprojekt gefährdet. Die Referendumsdrohung schwebt also, wie das Schwert des Damokles, über dem gesamten legislativen Prozeß. Um zu verhindern, daß allfällige unzufriedene Interessengruppen ein einmal geschnürtes Gesetzespaket nach Abschluß der parlamentarischen Verhandlungen mit Hilfe des Referendums sabotieren, hat sich, gemäß Neidharts Argumentation, in der Schweiz die Praxis herausgebildet, alle „referendumsfähigen“ Organisationen bereits in einem frühen Stadium in den Gesetzgebungsprozeß einzubeziehen. Die plebiszitäre Demokratie wurde, so Neidhart, in eine Verhandlungsdemokratie transformiert. Es sind ausgebaute vorparlamentarische Entscheidungs-verfahren entstanden, in die regelmäßig alle relevanten Interessengruppen miteinbezogen werden. In langwierigen Verfahren werden „referendumsfeste“ Kompromisse ausgehandelt, die dann vom Parlament kaum noch modifiziert werden. Die Referendumsdrohung einflußreicher Verbände begrenzt die Handlungsfähigkeit des Parlaments, sie impliziert eine Atmosphäre des Zweifels. Unentschlossenheit und selbst eine gewisse Hilflosigkeit des Parlaments sind die Folgen
Schließlich blieb auch die Regierung von der systembildenden Wirkung des Referendums nicht ausgenommen. Neidhart argumentiert, daß die großen Parteien, die in der Lage waren, Regierungsvorlagen mit Hilfe des Referendums zu Fall zu bringen, sukzessive in die Regierung aufgenommen werden mußten.
Zunächst wurde die katholisch-konservative Opposition kooptiert, nachdem sie durch den erfolgreichen Einsatz des fakultativen Referendums eine ganze Reihe von freisinnigen Reformprojekten zu Fall hatte. 1891 war Die gebracht es so weit:
Alleinherrschaft der liberalen Freisinnigen war gebrochen. 1919 wurde der zweite Konservative in die siebenköpfige Regierung aufgenommen, zehn Jahre später wurde die Bauernopposition integriert. Mitten im Zweiten Weltkrieg (1943) schließlich schafften auch die Sozialdemokraten erstmals den Eintritt in die Regierung. Nach einer kurzen Unterbrechung in den fünfziger Jahren wird die Schweiz seit 1959 von einer „großen Koalition“ von zwei Freisinnigen, zwei Christdemokraten, zwei Sozialdemokraten und einem Vertreter der (bürgerlichen) Volkspartei regiert.
Die Frage stellt sich, ob die beschriebene weitgehende Integration aller relevanten politischen Kräfte in der Schweiz ausschließlich, wie Neidhart dies tut, auf die Wirkungsweise des (fakultativen) Referendums zurückgeführt werden kann. Diesbezügliche Zweifel sind insofern angebracht, als sich auf Kompromisse und Schlichtung angelegte Konfliktregelungsmuster in allen kleinen Demokratien Westeuropas ausgebildet haben. Diese Mechanismen sind wahlweise mit den Konzepten der Proporzdemokratie, des Konsozialismus oder des Neokorporatismus beschrieben worden Die starke Integrationsfähigkeit der schweizerischen politischen Institutionen unterscheidet sich nicht grundsätzlich von jener der politischen Institutionen Schwedens, Dänemarks, Norwegens, der Niederlande, Belgiens oder Österreichs. Man kann aber vermuten, daß die institutionellen Integrationszwänge in der Schweiz aufgrund der Wirkungsweise des Referendums stärker sind als in diesen ansonsten vergleichbaren Ländern
Im Gegensatz zum Referendum, das am Schluß eines politischen Entscheidungsprozesses interveniert, bildet die Initiative dessen Ausgangspunkt. Die Initiative erlaubt es, Impulse zu geben. Sie ermöglicht ihren Urhebern, ein Problem auf die politische Agenda zu setzen. Im Unterschied zur Petition, der keinerlei Verbindlichkeit zukommt, verpflichtet die Initiative die politische Elite dazu, sich mit einem Problem auseinanderzusetzen. Selbst wenn sie die Ideen der Initiative nicht akzeptiert, wird sie von ihnen möglicherweise beeinflußt. In einem Gegenvorschlag nimmt sie eventuell Ideen der Initiative auf und macht vielleicht Konzessionen, welche die Initianten unter Umständen zu einem Rückzug ihrer Initiative veranlassen. Was aber noch wichtiger ist: Die Initiative impliziert eine verbindliche Stellungnahme aller Stimmbürger. Selbst wenn sie bei den Stimmbürgern keine Gnade finden sollte, gibt der Abstimmungskampf, welcher dieser Stellungnahme notwendigerweise vorausgeht, doch Anlaß zu einem öffentlichen Meinungsbildungsprozeß.
Die mit der Initiative verbundene Öffnung des Systems ist bedeutend, sollte allerdings auch nicht überschätzt werden. Verschiedene Aspekte schränken in der Praxis die damit verbundenen Zugangsmöglichkeiten ein. Zunächst einmal braucht es nicht unerhebliche Ressourcen, um die erforderlichen 100000 Unterschriften zusammen-zubringen Zweitens gilt es, einen Abstimmungskampf zu bestreiten, was erneut erhebliche Ressourcen voraussetzt. Wie nachfolgend ersichtlich, sind die Möglichkeiten, einen derartigen Ab-Stimmungskampf erfolgreich zu gestalten, auf Bundesebene relativ begrenzt.
Wie das Referendum, so hat auch das Instrument der Initiative eine latente integrative Funktion. Aufgrund einer detaillierten Studie der Auswirkungen der friedenspolitischen Initiativen auf die schweizerische Friedensbewegung können die mit der Initiative verbundenen integrativen Mechanismen genauer spezifiziert werden Als Folge der durch die Verfassung geforderten „Einheit der Materie“, derzufolge eine Initiative eine einzige, klar umschriebene Forderung zu stellen hat, sind die Urheber einer Initiative gezwungen, ihr Programm auf einen einzigen Punkt zu reduzieren. In diesem Sinne erzwingt die Initiative immer taktische Konzessionen. Zweitens sind mit der Lancierung einer Initiative für deren Urheber immer Opportunitätskosten verbunden. Die Unterschriftensammlung und der Abstimmungskampf binden einen beachtlichen Teil der Ressourcen der oppositionellen Gruppe, die sich zur Lancierung entschließt. Damit werden andere, in der Regel radikalere Aktionen verunmöglicht. Mit anderen Worten, die Lancierung einer Initiative schränkt das Handlungsrepertoire oppositioneller Kräfte erheblich ein. Im Extremfall kann es so weit kommen, daß die Lancierung die organisatorischen Möglichkeiten ihrer Urheber völlig erschöpft. Ein Beispiel dafür bildet die Jugendorganisation der Christdemokratischen Volkspartei (Junge CVP) des Kantons Wallis, welche durch die von ihr in Gang gebrachte Proporzinitiative zur Regierungsratswahl auf kantonaler Ebene völlig überfordert worden ist und sich in der Folge aufgelöst hat
Schließlich verstärkt die Lancierung einer Initiative die zentralistischen und bürokratischen Tendenzen in einer oppositionellen Bewegung. Da die Ressourcen beschränkt sind, erfordert ein großes Projekt wie eine Initiative ein erhebliches Maß an Konzentration von Personal und finanziellen Mitteln, die zudem zentral zu koordinieren sind. Die lokalen Gruppen einer sozialen Bewegung werden so abhängig von den strategischen Entscheidungen eines nationalen Komitees, und der Rhythmus ihrer Aktivitäten wird in stärkerem Maße durch die Zentrale bestimmt.
Epple-Gass kommt zum Schluß, daß diese integrativen Mechanismen die oppositionellen Bewegungen in der Schweiz insgesamt schwächen. Die thematischen Auflagen gefährden seiner Ansicht nach die langfristige Orientierung. Die Kanalisierung des Protestes in institutioneilen Formen nimmt den Bewegungen aus seiner Sicht die Möglichkeit, das Niveau und die Dynamik der politischen Diskussion zu bestimmen. Die Zentralisierung und Bürokratisierung schließlich schwächt, so meint er, die Mobilisierungsfähigkeit der Bewegung und führt zwangsläufig zur Integration ihrer Organisationen in die konventionelle Politik. Aus seiner Sicht hat das politische System der Schweiz gut mit den Initiativen umzugehen gelernt: Mit dosierten Konzessionen werde der in Initiativen formulierte Protest aufgefangen, ja neutralisiert. Gleichzeitig, so läßt sich hinzufügen, verhindert die Verfügbarkeit dieses legitimen Zugangskanals bis zu einem gewissen Grade, daß sich der gesellschaftliche Protest auf radikalere Weise äußert.
Zusammenfassend und entsprechend verkürzt kann man feststellen, daß das politische System der Schweiz aufgrund seiner direktdemokratischen Institutionen funktioniert wie ein Schwamm: Dank seiner mit diesen Institutionen verbundenen Offenheit absorbiert es alle möglichen gesellschaftlichen Forderungen; angesichts der damit verbundenen beschränkten Effizienz ist es aber nur begrenzt in der Lage, diese Forderungen in konkrete Entscheidungen umzusetzen.
III. Die Praxis der direkten Demokratie: Anwendungshäufigkeit und Erfolg
Abbildung 13
Tabelle 3: Thematische Schwerpunkte der Initiativen und Referenden: 1975-89 (Angaben in Prozent) 1) Die gerundeten Prozentwerte ergeben nicht immer 100 Prozent in der Addition. Quelle: Forschungsprojekt (vgl. Tabelle 2).
Tabelle 3: Thematische Schwerpunkte der Initiativen und Referenden: 1975-89 (Angaben in Prozent) 1) Die gerundeten Prozentwerte ergeben nicht immer 100 Prozent in der Addition. Quelle: Forschungsprojekt (vgl. Tabelle 2).
Zwischen 1848 und 1980 hat das Parlament auf Bundesebene 1 656 dem obligatorischen oder fakultativen Referendum unterstehende Vorlagen verabschiedet. Tabelle 1 zeigt, wie sich diese Vor-lagen auf die beiden Typen verteilen und welchen Erfolg sie hatten. In 144 Fällen handelte es sich dabei um Verfassungsänderungen, die dem obligatorischen Referendum unterstehen. 103 (= 72 Prozent) dieser Vorlagen wurden in der Volksabstimmung angenommen. 1512 Vorlagen waren dem fakultativen Referendum unterstellt, von dem allerdings nur in 103 Fällen (= 7 Prozent) tatsächlich Gebrauch gemacht worden ist. 45 der 103 Vorlagen (= 44 Prozent) blieben in der Abstimmung siegreich. Es wäre allerdings verfehlt, angesichts des nur punktuellen Einsatzes des fakultativen Referendums den Schluß zu ziehen, dieses sei eine eher bedeutungslose Erscheinung. Wie zu sehen war, entfaltet dieses Instrument seine Wirkung vor allem indirekt, indem der gesamte politische Entscheidungsprozeß auf seine Vermeidung hin angelegt wird. Die rein quantitative Betrachtungsweise läßt auch außer acht, daß das fakultative Referendum verschiedentlich gegen zentrale Modernisierungsprojekte ergriffen worden ist.
Ein vielzitiertes Beispiel ist der Fall der Krankenversicherung. Auf der Basis des 1890 angenommenen Verfassungsartikels zur Einführung einer obligatorischen Krankenversicherung hat das Parlament neun Jahre später ohne wesentliche Opposition das entsprechende Ausführungsgesetz angenommen. Gegen das Gesetz wurde dennoch das Referendum ergriffen, und in der Volksabstimmung wurde das Projekt mit großer Mehrheit verworfen. Gegen eine zweite, abgeschwächte Vorlage, welche u. a. auf das Obligatorium der Krankenversicherung verzichtete, wurde erneut mit Erfolg ein Referendum lanciert. In der Abstimmung von 1912 nahm das Volk schließlich diese abgeschwächte Version knapp an. Gemäß Neidhart waren es vor allem die großen Konflikte um die Einführung einer Krankenversicherung, welche zur Institutionalisierung der vorparlamentarischen Prozeduren in der Schweiz beigetragen haben.
Als Neidhart 1970 seine Studie zum fakultativen Referendum publizierte, schien es, als ob die Institutionalisierung dieser Verfahren tatsächlich plebiszitäre Nachkonflikte mehr oder weniger ausgeschaltet hätte. Die Zahl der zustandegekommenen fakultativen Referenden war in den sechziger Jahren deutlich zurückgegangen, und die betroffenen Vorlagen waren von eher untergeordneter Bedeutung. Diese Situation änderte sich aber sehr bald, wie aus Tabelle 1 ersichtlich ist. In den siebziger und achtziger Jahren hat die Zahl der fakultativen Referenden auf Bundesebene wieder erheblich zugenommen. Zudem richteten sich die Referenden auch gegen so zentrale Vorlagen wie das Raumplanungsgesetz, das Berufsbildungsgesetz oder die Revision der Rentenversicherung. Gerade bei den wichtigsten und umstrittensten Vorhaben brachten die ausgebauten vorparlamentarischen Entscheidungsverfahren seit den frühen siebziger Jahren trotz der Drohung mit dem fakultativen Referendum keine dauerhaften Kompromisse mehr zustande Ähnliche Zunahmen der Zahl der fakul-tativen Referenden lassen sich seit den späten sechziger Jahren auch auf kantonaler und kommunaler Ebene feststellen Tatsächlich stellen die Referenden auf Bundesebene nur eine Minderheit dar: So waren über 90 Prozent der Referenden in der Periode 1975-1989 entweder kommunaler oder kantonaler Art.
Das fakultative Referendum gilt traditionell als bevorzugtes Instrument konservativer Kreise. Das Referendum erlaubt ihnen, den Status quo zu verteidigen und Reformprojekte, die aus ihrer Sicht zu weit gehen, in einer Volksabstimmung zu Fall zu bringen. Die Logik des fakultativen Referendums benachteiligt dagegen die Linke Gelingt es ihr, eine ihrer Ansicht nach zu schwache Reform mittels Volksabstimmung zu blockieren, so hat sie noch nichts gewonnen. Der Reformprozeß muß in diesem Fall von neuem beginnen. Die Linke wird sich also die Lancierung eines Referendums gründlich überlegen. Sie profitiert von einem erfolgreichen Veto nur dann, wenn das vom Parlament verabschiedete Projekt kaum etwas am Status quo ändert oder wenn es gar einen Rückschritt impliziert.
In Tabelle 2 findet sich eine Übersicht über die Verteilung der Urheber von fakultativen Referenden auf den drei Ebenen des schweizerischen politischen Systems in den Perioden 1945-1978 und 1975-1989. Wie aus dieser Übersicht hervorgeht, wurden die fakultativen Referenden in der ersten Periode in der Tat mehrheitlich von konservativen Kräften lanciert: Mitte-Rechts-Parteien (die großen bürgerlichen Parteien), Rechtsaußenparteien (Nationale Aktion, Republikaner), etablierte Interessenorganisationen und „ad-hoc-Komitees“ sind zusammen für mehr als zwei Drittel der Referenden dieser Periode verantwortlich. Die „adhoc-Komitees“ sind nicht immer dem konservativen Lager zuzurechnen, aber man geht kaum fehl in der Annahme, daß sie mehrheitlich eine konservative Stoßrichtung hatten In der jüngsten Vergangenheit hat sich die Lage allerdings geändert. Trotz der für sie eher ungünstigen Ausgangslage haben die linksoppositionellen Kräfte -Organisationen der neuen sozialen Bewegungen, Linksparteien (u. a. Grüne) und Gewerkschaften -in dieser Periode häufiger vom fakultativen Referendum Gebrauch gemacht als eher konservative Organisationen. So hat es zum Beispiel auf der Bundesebene in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zwei Referenden der Linksopposition gegen (restriktive) Revisionen des Asylgesetzes gegeben, ein Referendum gegen die (undemokratische) Revision der Bundesrechtspflege, ein Referendum gegen die (umweltgefährdende) Revision des Straßenver-kehrsgesetzes sowie ein Referendum gegen die (rückschrittliche) Revision des Militärstrafgesetzes. Diese Tendenz zum intensiveren Gebrauch des fakultativen Referendums von links läßt auf einen zunehmenden Mangel an Reformfähigkeit des politischen Systems der Schweiz schließen.
Hinsichtlich der Initiative geht aus Tabelle 1 hervor, daß die Zahl der Initiativen auf Bundesebene in den siebziger und achtziger Jahren bisher ungeahnte Größenordnungen erreicht hat. Erneut läßt sich dasselbe Phänomen einer „Initiativenflut“ auch auf kantonaler und kommunaler Ebene feststellen Ebenso wie bei den Referenden wurden über 90 Prozent der von 1975 bis 1989 erfaßten Initiativen auf kantonaler oder kommunaler Ebene lanciert. Die Initiativen auf Bundesebene wurden nur selten in der Volksabstimmung angenommen (vgl. Tabelle 1). Von 1949 bis zur Annahme der Preisüberwacherinitiative (Konsumenten-schutz) im Jahre 1981 war keine einzige Initiative mehr erfolgreich. Seither sind aber erneut zwei Initiativen angenommen worden: die sogenannte „Rothenturm“ -Initiative (1987), die aus ökologischen Gründen die Errichtung eines Truppenübungsplatzes verhinderte, sowie die Moratoriums-Initiative (1990), die einen zehnjährigen Baustopp im Bereich der Kernenergie durchsetzte. Insgesamt sind nur knapp 10 Prozent aller Initiativen auf Bundesebene von'den Stimmbürgern akzeptiert worden. Der Erfolg der Initiativen läßt sich allerdings nicht ausschließlich aufgrund ihrer Annahmequote beurteilen. Wie Werder anhand einer Analyse der Initiativen auf Bundesebene in der Nachkriegsperiode gezeigt hat, entfalten Initiativen oft indirekte Wirkungen, sei es über einen durch sie hervorgerufenen Gegenvorschlag der Bundesversammlung, sei es über Gesetzes-oder Verordnungserlasse, die unter ihrem Druck Zustandekommen Eine derartige indirekte Wirkung haben beispielsweise die drei Initiativen zur schweizerischen Rentenversicherung gezeitigt, welche alle innerhalb kurzer Zeit Ende der sechziger Jahre zustandegekommen sind. Auf Druck dieser Initiativen wurde die Schweizer Rentenversicherung zu Beginn der siebziger Jahre auf dem Gesetzeswege großzügig ausgebaut. Zwei der Initiativen wurden daraufhin zurückgezogen, die dritte, welche die weitgehendsten Forderungen formuliert hatte, scheiterte in der Volksabstimmung. Schließlich sollte nicht übersehen werden, daß Initiativen auf Kantons-und Gemeindeebene erfolgreicher sind als auf Bundesebene. In der Periode 1945-1978 wurde rund ein Drittel der Initiativen auf unteren Systemebenen angenommen, und rund die Hälfte hatte mindestens einen indirekten Teilerfolg, während auf Bundesebene in dieser Periode nur eine einzige Initiative angenommen worden ist und nur rund ein Drittel indirekte Teilerfolge erzielte
Die Initiative war traditionell in erster Linie ein Instrument der linken Opposition in der Schweiz. Die Arbeiterbewegung hat mit einer Reihe von Initiativen den Ausbau des schweizerischen Sozialstaates betrieben. Da der Bundesstaat in der Schweiz über keine allgemeine Kompetenz in der Sozialgesetzgebung verfügt, verlangte jeder Ausbau des Sozialstaates zunächst eine Verfassungsänderung. Erst in einem zweiten Schritt konnte der entsprechende Verfassungsartikel dann auf Gesetzesebene konkretisiert werden Tabelle 2 zeigt, daß in der jüngeren und jüngsten Vergangenheit der Gebrauch von Initiativen von der Linksopposition (den Parteien der Linken) dominiert worden ist. Die Organisationen der neuen sozialen Bewegungen benützen die Kanäle der direkten Demokratie weit weniger häufig, wenn es auch einige sehr bekannte Beispiele von Initiativen zu Zielen dieser Bewegungen gibt: Zu denken ist etwa an die verschiedenen friedenspolitischen Initiativen, insbesondere an die Initiative zur Abschaffung der Schweizer Armee und an die Initiativen der Antikernkraftbewegung. Tabelle 2 bezieht sich auf die Gesamtheit aller Initiativen auf den drei System-ebenen von Bund, Kantonen und Gemeinden. Eine nach Ebenen differenzierte Betrachtungsweise zeigt, daß die Linksparteien vor allem auf Kantons-und Gemeindeebene dominieren, während die neuen sozialen Bewegungen auf Bundesebene stärker vertreten sind. Die Initiative bildet auch ein Instrument für die Opposition am rechten Rand des Parteienspektrums. So haben die Rechtsaußenparteien zum Beispiel eine ganze Reihe von Initiativen zur Beschränkung der ausländischen Wohnbevölkerung in der Schweiz lanciert. Wie die Tabelle 2 zeigt, hat aber der Gebrauch der Initiative von dieser Seite in letzter Zeit eher abgenommen. Rund zwei Drittel der Initiativen entfallen auf nur drei Themenbereiche: Umweltschutz/Kernener-gie, Sozialpolitik im weiteren Sinne (vor allem Bildungs-, Gesundheits-und Wohnungspolitik) sowie Aspekte politischer Institutionen (Stimmrechtsalter, Regierungsorganisation etc.). Bei den fakultativen Referenden dominieren ebenfalls Umweltschutz/Kernenergie, Sozialpolitik sowie Finanz-und Wirtschaftspolitik. Tabelle 3 gibt eine entsprechende Übersicht. Die Linksparteien sind die primären Urheber von Initiativen im Bereich der Sozialpolitik sowie in der Finanz-und Wirtschaftspolitik. Die Referenden in der Sozialpolitik kommen dagegen in erster Linie von rechts, also von bürgerlichen Parteien oder von etablierten Interessengruppen. Damit bestätigt sich die traditionelle Dynamik der direkten Demokratie in der Schweiz: Mit dem Initiativrecht übt die Linke Druck auf die Sozialgesetzgebung aus, während konservative Kreise den Ausbau des Sozialstaates mit Hilfe von Referenden zu bremsen versuchen.
Hinzu kommt neuerdings eine zweite Konfliktachse, die sich vor allem auf den Bereich Umweltschutz/Kernenergie bezieht. Die Referenden in diesem Bereich werden mehrheitlich von Organisationen der Umweltschutz-/Antikernkraftbewegung lanciert. Die Initiativen in diesem Bereich werden dagegen erneut von den Linksparteien dominiert, die für rund zwei Drittel davon verantwortlich zeichnen. Die Linksparteien bilden nicht nur in der Schweiz die wichtigsten Allianzpartner der neuen sozialen Bewegungen. Ihre Verbundenheit mit diesen Bewegungen manifestiert sich in der Schweiz aber insbesondere darin, daß sie vor allem die Anliegen der Umweltschutz-und Antikernkraftbewegung mit der Lancierung von Initiativen unterstützen. Wie im traditionellen Bereich der Sozialpolitik übt somit die Linke in der Schweiz auch im Umweltschutz mit ihren Initiativen Druck auf eine fortschrittliche Gesetzgebung aus. Im Unterschied zur traditionellen sozialpolitischen Dynamik deutet sich aber eine Funktionsänderung des fakultativen Referendums an: Mit dessen Hilfe versucht nun offenbar in erster Linie die Umweltschutzbewegung, ihr Veto gegen allzu reformschwache Kompromisse einzulegen.
Schließlich gilt es, die bemerkenswerte Intensivierung der Benutzung der direkten Demokratie, welche in der Schweiz seit den späten sechziger Jahren stattgefunden hat, in einen breiteren Kontext zu stellen. Zugenommen hat seither nicht nur die Zahl der Initiativen und Referenden, sondern auch der Umfang des unkonventionellen politischen Protests, der sich außerhalb der formellen, direkt-demokratischen Kanäle äußert Die Institutionen der direkten Demokratie haben einen Teil der politischen Mobilisierung, die in erster Linie von einer ganzen Reihe neuer sozialer Bewegungen ausgegangen ist, absorbiert, aber ein großer Teil dieser Mobilisierung hat gleichzeitig auch außerhalb direktdemokratischer Artikulationsformen stattgefunden. Die Verfügbarkeit direktdemokratischer Zugangskanäle hat zwar, wie Epple-Gass vermutet, einen insgesamt mäßigenden Einfluß auf diese Bewegungen ausgeübt Sie hat aber direkte Aktionen außerhalb konventioneller Kanäle nicht vollständig verhindert.
IV. Der Abstimmungsprozeß
Die direkte Demokratie ermöglicht den Stimmbürgern eine zeitlich und sachlich differenziertere Stellungnahme als der periodische Wahlakt. Damit stellt sie gleichzeitig aber auch höhere Anforderungen an das Urteilsvermögen der einzelnen Stimmbürger. In einer detaillierten Untersuchung der „materiellen Problemlösungskapazität“ der Schweizer Stimmbürger kamen Gruner und Hertig zum pessimistischen Schluß, daß den Anforderungen eines informierten, sachlich motivierten Entscheids im Durchschnitt aller Abstimmungen lediglich rund ein Fünftel der Stimmenden zu genügen vermögen Eine neuere Untersuchung stimmt diesbezüglich etwas optimistischer: Ihr zufolge sind je nach Vorlage zwischen zwei Fünftel und mehr als zwei Drittel der Stimmbürger in der Lage, einen sachlich begründeten Entscheid zu fällen
Die Einschätzung der individuellen „materiellen Problemlösungsfähigkeit“ hängt stark von den Kriterien ab, die man bezüglich Informiertheit und sachlicher Motivation des Entscheids im Einzelfall anlegt. Da diese Kriterien stets ein Element von Willkür enthalten, ist eine bündige Beurteilung der Problemlösungsfähigkeit der Bürger kaum möglich. Was sich aber in beiden erwähnten Studien übereinstimmend zeigt, ist die Abhängigkeit der individuellen Problemlösungsfähigkeit von der Thematik der Vorlagen. Bei Vorlagen mit einem starken Alltagsbezug, wie etwa bei Fragen zur Gestaltung von Institutionen (Stimmrechtsalter, Abschaffung der Armee), bei grundsätzlichen weltanschaulichen Fragen (Schwangerschaftsabbruch, „Überfremdung“) oder bei Verkehrsfragen („Gurtobligatorium“, Stopp des Nationalstraßenbaus) erreicht die Problemlösungsfähigkeit Höchstwerte. Bei komplexen wirtschaftspolitischen Entscheiden dagegen sind die Stimmbürger mehrheitlich überfordert: So waren im Februar 1978 bei der Abstimmung zum materiell komplexen Konjunkturartikel, der die Basis für ein makroökonomisches Steuerungsinstrumentarium in der Schweiz bildet, über zwei Drittel der befragten Urnengänger nicht in der Lage, dessen Inhalt auch nur annäherungsweise zu umschreiben. Als schlecht bekannt erwiesen sich aber beispielsweise auch Inhalt und Ziele einer so hohe Wellen werfenden Vorlage wie jener des revidierten Atomgesetzes im Mai 1979. Hier glaubten 59 Prozent der Ja-Stimmenden, mit dem Gesetz sei ein direktes Mitspracherecht des Volkes beim Bau neuer Atomanlagen verbunden, und knapp die Hälfte der Befürworter waren der Ansicht, die Betreiber von Kernanlagen hätten bei einem Schaden unbeschränkt zu haften. Beides waren zentrale Streitfragen im Abstimmungskampf, gerade sie aber wurden im neuen Gesetz nicht in diesem Sinne geregelt
Angesichts der hohen Anforderungen, die in der direkten Demokratie an die Problemlösungskapazität der Bürger gestellt werden, kommt dem Meinungsbildungsprozeß im Vorfeld der Abstimmung eine besonders wichtige Rolle zu. Die Frage stellt sich, inwiefern sich die Abstimmungsresultate durch gezielte Kampagnen beeinflussen lassen. Hertig hat anhand einer inhaltsanalytischen Auswertung der Abstimmungspropaganda in drei ausgewählten Zeitungen eine hohe Korrelation zwischen Propagandadominanz und Abstimmungsresultat nachgewiesen Bei 20 untersuchten Abstimmungen, bei denen die zum Entscheid anstehende Vorlage mit einer deutlichen Werbeunterstützung rechnen konnte bzw. gegen eine massive Nein-Propaganda anzukämpfen hatte, entschieden sich die Stimmbürger in einem einzigen Fall gegen die Empfehlung der propagandamächtigeren Seite, und zwar bei der Bundesfinanzreform 1979. Hertig interpretiert dieses Ergebnis vorsichtig als Warnsignal, das darauf hindeutet, daß „in vielen, wenn nicht sogar in einer Mehrheit der Fälle wohl weniger die Qualität der Argumente als die Höhe des Werbebudgets“ für den Abstimmungssieg ausschlaggebend ist.
Hertigs Resultat ist allerdings nicht unbestritten geblieben. Die empirische Basis seiner Untersuchung ist relativ schmal -Beschränkung auf nur drei Zeitungen, keine Berücksichtigung elektronischer Medien -und die erzielten Ergebnisse erweisen sich als stark abhängig von der Art der ausgewählten Abstimmungen Erneut ist nach Vorla-gen zu differenzieren: Bei „einfachen“ Vorlagen läßt sich durch Abstimmungspropaganda kaum etwas verändern. Bei komplexeren Sachfragen, die einen geringen Alltagsbezug aufweisen und bei denen die Bürger keine vorgefaßten Meinungen haben, sind die Einflußchancen dagegen relativ groß. Als Beispiel sei hier die Kleinbauerninitiative genannt, welche dank einer professionell geführten und mit enormen Geldmitteln geförderten Kampagne beinahe erfolgreich war. Es ist zudem wahrscheinlich, daß es mit der in der Schweiz zu beobachtenden zunehmenden Professionalisierung der politischen Werbung in Zukunft zu einer qualitativ entscheidenden Zunahme der Einflußmöglichkeiten kommt
Mit der oben beschriebenen Zunahme der Initiativen, fakultativen und obligatorischen Referenden hat auch die Zahl der Abstimmungstermine zugenommen. So ist es nicht unüblich, daß die Schweizer drei-bis viermal pro Jahr an die Urne gerufen werden, um jeweils über ein ganzes Bündel von nationalen, kantonalen und kommunalen Vorlagen abzustimmen. Mit der Zunahme der Abstimmungstermine ist aber die durchschnittliche Partizipationsrate an Volksabstimmungen in der Nachkriegszeit bis 1975 kontinuierlich gesunken. Lag die durchschnittliche Beteiligungsrate unmittelbar nach dem Krieg noch bei rund 60 Prozent, erreichte sie 1975 nicht einmal mehr 40 Prozent. Seither pendelt sie zwischen 35 und 45 Prozent hin und her; in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre ist sie leicht angestiegen, in der ersten Hälfte der achtziger Jahre ging sie wieder etwas zurück, um in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre erneut anzusteigen.
Für die allgemein rückläufige Entwicklung der Teilnahme an Abstimmungen sind verschiedene, sich zum Teil widersprechende Erklärungen gegeben worden. Für die einen ist sie ein Zeichen quantitativer und qualitativer Überforderung, für die anderen ein Indiz des Legitimitätsverlusts des politischen Systems. Wieder andere sehen darin gerade ein Zeichen eines grundsätzlichen Systemvertrauens. Eine bündige Interpretation dieses allgemeinen Trends steht noch aus. Eindeutig ist allerdings, daß die Partizipation mit der Zunahme der Abstimmungstermine und -vorlagen selektiver geworden ist So variiert die Teilnahme je nach Vorlage sehr stark. Negativrekorde wurden im Falle von komplexen, obligatorischen Referenden wie dem Bildungsartikel (1973) oder dem Konjunkturartikel (erste Version, 1975) mit einer Teilnahme von nur je 28 Prozent erzielt. Bei einfachen und politisch heiß umstrittenen Initiativen wie bei den frühen „Überfremdungsinitiativen“ kam es dagegen zu Spitzenbeteiligungen von 74 (1970) respektive 70 Prozent (1974). Bei der Abstimmung über die Initiative zur Abschaffung der Schweizer Armee haben im Herbst 1989 ebenfalls fast 70 Prozent der Stimmberechtigten teilgenommen.
V. Die Zukunft der direkten Demokratie in der Schweiz
Die direkte Demokratie in der Schweiz steht heute unter einem Anpassungsdruck von außen. Im Zusammenhang mit der europäischen Integration sind die Schweizer gezwungen, die direktdemokratischen Institutionen neu zu überdenken. Unter den zahlreichen Gründen, die üblicherweise dafür angeführt werden, daß die Schweiz der EG nicht beitreten könne, figurieren an prominenter Stelle ihre politischen Institutionen. Neutralität, Föderalismus und vor allem die direkte Demokratie sind in jüngster Zeit zum ausschlaggebenden Argument gegen einen Schweizer EG-Beitritt geworden. Für den Ökonomen Silvio Borner ist die direkte Demokratie beispielsweise „die Mutter oder zumindest Hebamme fast aller Schweizer Sonderfälle, die uns die Europaqualifikation erschweren“ Um diese Art von Hindernissen zu überwinden, fordern Autoren wie Borner und der Politologe Raimund E. Germann eine „eurokompatible“ Verfassung Dabei gehen sie davon aus, daß die Neugestaltung der politischen Institutionen in erster Linie bei der direkten Demokratie anzusetzen hat. Die ins Auge gefaßten Reformen beschränken sich aber nicht darauf. Das von Germann vorgesehene Paket von notwendigen Verfassungsänderungen umfaßt neben Anpassungen bezüglich des Referendums und der Initiative auch eine Reorganisation des Regierungssystems, eine Vereinfachung des Gesetzgebungsprozesses sowie den Übergang zu einer Konkurrenzdemokratie .
Was das fakultative Referendum betrifft, so schlägt Germann den Ersatz der heutigen Regelung durch ein „parlamentarisches Referendum“ vor. Gemäß diesem Vorschlag hätte die Parlamentsmehrheit die Möglichkeit zu entscheiden, ob eine Gesetzesvorlage dem Volk zur Abstimmung unterbreitet werden soll oder nicht. In bezug auf die Initiative folgen die Vorschläge Germanns jenen der eidgenössischen Kommission, welche in den siebziger Jahren einen Entwurf für die Total-revision der Bundesverfassung ausgearbeitet hat. Die heutige Initiative wäre durch eine „Einheitsinitiative“ zu ersetzen. Ohne auf die Details dieses Vorschlags einzugehen, kann festgehalten werden, daß auch er die Stellung des Parlaments verstärken möchte, auf Kosten der direkten Interventionsmöglichkeiten der Stimmbürger. Die Vertreter einer „eurokompatiblen“ Verfassung streben grundsätzlich eine Effizienzsteigerung des politischen Systems der Schweiz an, die ihrer Ansicht nach nur auf Kosten einer Einschränkung der direkten Demokratie möglich ist.
Die Notwendigkeit derartiger Verfassungsänderungen ist allerdings nicht unbestritten. Ein Beitritt der Schweiz zur EG hätte zweifellos Konsequenzen für die direkte Demokratie. Es käme zu Einschränkungen ihrer Anwendungsmöglichkeiten. Das Prinzip des Primats des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Recht hätte zur Folge, daß der Bereich der dem obligatorischen und fakultativen Referendum unterstellten Entscheidungen eingeschränkt würde. Ebenso käme es zu Einschränkungen hinsichtlich des Anwendungsbereichs der Volksinitiative. Wenn es auch in diesem Sinne zu einem Verlust an direkter Demokratie kommen würde, so ist keineswegs gesichert, daß die Institutionen der direkten Demokratie ein Hindernis für den Beitritt-darstellen würden. Abgesehen davon, daß ein allfälliger Beitritt Volk und Ständen zur Abstimmung unterbreitet werden müßte, was natürlich die Möglichkeit eines ablehnenden Entscheides impliziert, ist nicht a priori einzusehen, inwiefern die Institutionen der direkten Demokratie inkompatibel wären mit einer Integration der Schweiz in die EG Bei einem möglichen Beitritt blieben die politischen Rechte in der Schweiz auf nationalem, kantonalem und Gemeindeniveau unangetastet. Das Interesse, das den Institutionen der direkten Demokratie der Schweiz gegenwärtig in verschiedenen Ländern Europas entgegengebracht wird, deutet zudem darauf hin, daß diese Schweizer Institutionen erneut zu einem Exportartikel werden könnten Dies wäre aller Wahrscheinlichkeit nach eher der Fall, wenn sich die Schweiz ihrerseits nach Europa hin öffnen würde.
Es bleibt schließlich anzumerken, daß es nicht an alternativen Vorschlägen für eine Neuordnung der Schweizer Institutionen mangelt. So haben die beiden Staatsrechtler Kölz und Müller unlängst einen zukunftsweisenden Entwurf für eine Totalrevision der Bundesverfassung vorgelegt, der keinerlei Abstriche im Bereich der direkten Demokratie vorsieht, sondern Maßnahmen zum Schutze der bestehenden direktdemokratischen Einrichtungen trifft und in einigen Belangen gar Vorschläge zu deren Ausbau macht So sieht ihr Entwurf u. a. die Einführung der Gesetzesinitiative auf Bundesebene vor, sowie initiativenfreundliche Regelungen zur Festlegung der Europakompatibilität eines Initiativtextes. Angesichts der uneingeschränkten Legitimität, welche die direktdemokratischen Institutionen heute in der Schweiz genießen, scheint eine Verfassungsreform mit dieser Stoßrichtung nicht nur demokratischer, sondern auch realistischer zu sein.