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Ausstiegswege aus der Sucht illegaler Drogen. Forschungsergebnisse und praktische Konsequenzen | APuZ 9/1995 | bpb.de

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APuZ 9/1995 Drogenmarkt Deutschland: Die Szene im Wandel Ausstiegswege aus der Sucht illegaler Drogen. Forschungsergebnisse und praktische Konsequenzen Drogenkonsum und Drogenpolitik in Westeuropa. Epidemiologische Befunde im Vergleich

Ausstiegswege aus der Sucht illegaler Drogen. Forschungsergebnisse und praktische Konsequenzen

Wolfgang Schneider

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Im Beitrag werden die zentralen Ergebnisse eines Forschungsprojektes an der Universität Münster „Herauswachsen aus der Sucht illegaler Drogen“ dargestellt. Mit Hilfe von qualitativen Methoden wurden biographische und drogale Erfahrungskarrieren rekonstruiert und die Lebensweltbedingungen von Selbstaussteigern und kontrollierten Gebrauchern im Vergleich zu denen therapiebereiter Drogenabhängiger dokumentiert. Die Forschungsergebnisse zeigen, daß Drogenabhängigkeit kein statischer Zustand ist, der, einmal erreicht, nur über langzeittherapeutische Maßnahmen aufhebbar wäre. Die phasensequenzanalytische Aufarbeitung von drogalen Entwicklungsverläufen im Längsschnitt bestätigt, daß es unterschiedliche Muster und Phasen des Gebrauchs illegaler Drogen gibt. Sie reichen von zwanghaften, exzessiven Formen bis hin zu kontrolliertem und regelorientiertem Gebrauch. Außerdem konnten vielfältige Ausstiegsverläufe eruiert werden, die ohne professionelle Betreuung selbständig eingeleitet und auch durchgehalten werden. Abschließend werden praktische Konsequenzen, die sich aus diesen Forschungsergebnissen ergeben, diskutiert.

I. Forschungsprojekt „Herauswachsen aus der Sucht illegaler Drogen“

Ausgangspunkt und Fragestellung Forschungen zum selbstgesteuerten, nicht therapiebezogenen Ausstieg aus der Drogenbindung und zum kontrollierten, nicht süchtigen Gebrauch sind in der Bundesrepublik Deutschland äußerst rar. Bedingungen und Erscheinungen von Selbstausstiegsprozessen und zum nichtabhängigen Gebrauch aus der Subjektperspektive, d. h. aus der Sicht unmittelbar Betroffener, sind bisher so gut wie nicht erforscht, geschweige denn für Überlegungen hinsichtlich praktischer Konsequenzen fruchtbar gemacht worden. Dieses Manko ist nicht zuletzt auf den bisher kaum gelungenen Zugang zur privaten Drogenszene zurückzuführen. Selbst-aussteiger und kontrollierte Gebraucher halten sich bekanntlich nicht in Reichweite offizieller Drogenhilfe auf. Mit unserem kürzlich abgeschlossenen Forschungsprojekt „Herauswachsen aus der Sucht illegaler Drogen“ haben wir versucht, in dieses „unbekannte Land“ vorzustoßen 1. Erstmals wurden Zugänge zu den sensiblen privaten Bereichen von Selbstaussteigern und autonom kontrollierten Gebrauchern illegaler Drogen angestrebt und -trotz großer Schwierigkeiten -gefunden.

Unsere Absicht war es, mit Personen innerhalb der privaten Drogenszene in Kontakt zu kommen, die sich als Selbstaussteiger und kontrollierte Gebraucher definieren. Es galt herauszufinden, wie sie es geschafft haben, selbständig auszusteigen und/oder einen nichtabhängigen Gebrauch zu praktizieren. Eine relative Verhaltensstabilität bezüglich eines Selbstausstiegs oder eines kontrollierten Gebrauchs konnten wir natürlich nur aufgrund der Selbstzuschreibung und auch nur für den Untersuchungszeitraum von zwei Jahren ermitteln. „Allgemeingültige“ Aussagen über die Bedingungen des Selbstausstiegs oder des kontrollierten Gebrauchs waren also nicht zu erwarten, Verallgemeinerungen sind folglich unzulässig. Dies trifft allerdings auch auf die sogenannten Erfolgs-messungen posttherapeutischer Verlaufsmuster zu. Die Durchführung von zeitlich gestreckten Längsschnittstudien wäre hier sicher vorteilhaft und würde zu erweiterten Erkenntnissen führen.

Hauptziel unserer qualitativen Untersuchung war -pointiert zusammengefaßt -die Dokumentation und Analyse des komplexen Geflechts von Auslösebedingungen, Verlaufsformen, Stabilisierungsund Destabilisierungsfaktoren beim selbstinitiierten, privatorganisierten und umweltgestützten Ausstiegsprozeß aus dem Status des kompulsiven, das heißt zwanghaften und exzessiven Drogen-gebrauchs. Diese Definition macht bereits deutlich, daß u. a. die Rede von „Selbstheilern“ oder „Spontanaussteigern“ sehr skeptisch zu beurteilen ist. Diese weitverbreitete, eher medizinisch orientierte Annahme verkennt, daß ein selbsteingeleiteter Ausstieg aus der Abhängigkeit durch vielfältige Bedingungen vorbereitet und mitgestaltet wird, also kaum spontan oder gar natürlich geschieht.

Mit der Absicht, lebensgeschichtliche Vergleiche anstellen zu können, haben wir auch solche Drogengebraucher in die Untersuchung einbezogen, die sich im Rahmen professioneller Hilfe von ihrem zwanghaften Gebrauch zu befreien suchten oder sich als „Auflagenklienten“ (§ 35 ff. Betäubungsmittelgesetz [BtmG]; § 64 Strafgesetzbuch [StGB]) in Therapie befanden; sie fungierten also in unserer Untersuchung als Vergleichsgruppe. Auf diese Weise wurde eine vergleichende, kontrastive Analyse der Bedingungen verschiedener Clean-, Ausstiegs-und kontrollierter Gebrauchs-phasen möglich.

Das methodische Fundament unserer Untersuchung bildet eine längsschnittlich angelegte, biographisch orientierte, qualitative Interviewerhebung mit den folgenden drei Gruppen: -therapiebereite Drogengebraucher (fremd-oder selbstinitiierte Aussteiger); -Selbstaussteiger ohne therapeutische Intervention; -autonom kontrollierte und substituierende Gebraucher illegaler Drogen. Im Zeitraum von Juli 1989 bis April 1991 führten wir insgesamt 17 narrativ orientierte Interviews mit therapiebereiten Drogengebrauchern, 15 mit kontrollierten, 9 mit substituierenden Opiatkonsumenten und 19 mit Selbstaussteigern durch (n = 60). Die einzelnen Interviews fanden in Münster privat oder an verschiedenen Orten in Nordrhein-Westfalen im privaten Bereich statt. Ein Interview dauerte durchschnittlich drei bis vier Stunden. Für die Auswertung standen darüber hinaus 52 Zweitinterviews zur Verfügung, die nach mindestens einem halben Jahr mit denselben Personen durchgeführt wurden. Unsere Auswertungsstrategien zielten insgesamt auf -die Ausformulierung differenzierter Individualprofile und exemplarischer Fallanalysen; -die Herausarbeitung von Gruppenprofilen und auf -einen kontrastiven Gruppenvergleich 2. Methodische Grundlagen der Interview-auswertung Das zur Anwendung gebrachte Auswertungsverfahren läßt sich als qualitative Methode der exemplarischen Deskription begreifen. Unter dieser Methode wird die möglichst zuverlässige und präzise Darstellung der Merkmale von Objekten, Sachverhalten, Ereignissen und Handlungen verstanden, soweit diese in sprachlichen Symbolen repräsentiert sind, sowie deren Interpretation. Ziel der exemplarischen Deskription als qualitativer Inhalts-analyse war es, das Textmaterial inhaltlich so zu reduzieren und „zu übersetzen“, daß die Textimmanenz garantiert und die Perspektivität jedes einzelnen drogalen Biographieentwurfes erhalten blieb. Es galt, so nah wie möglich an der Textproduktion des Interviewpartners zu bleiben, ohne den jeweiligen Text durch den theoretischen Blick des Interviewers überzuinterpretieren und damit den „Gegenstandsbezug“ aus den Augen zu verlieren. Dieses äußerst zeitintensive Verfahren orientierte sich letztendlich an einer diskursiven, theoriegesteuerten Konsensbildung als argumentative Geltungsbegründung im Forscherteam.

Zum Verfahren selbst: Nach einer wortwörtlichen und vollständigen Transkription der einzelnen Interviews wurde eine erste textnahe Paraphrase (Umschreibung) der Interviewtexte als diskursives Interpretationsverfahren im Forschungsteam durchgeführt. Sodann wurden die Erzähltexte im kontrastiven Gruppenvergleich nach einer drogalen Phasensequenzanalyse (Einstiegsphase, Gebrauchsphase, Entzugs-und/oder Therapiephase, Ausstiegsphase etc.) strukturiert. Eine derartige Aufbereitung des Materials ermöglichte die inhaltsorientierte Zusammenfügung bestimmter, durch den Interviewpartner markierter Lebensbereiche und Handlungsfolgen innerhalb der einzelnen Drogenverlaufs-bzw. Gebrauchsphasen. Diese subjektbezogenen Markierungen im Interview gaben dann Aufschlüsse über die Zuordnung von Orientierungs-und Ordnungskriterien, die den Erkenntnisinteressen unseres Forschungsprojektes entsprachen, also über die Erstellung von sogenannten Individualprofilen im Sinne einer „reflektierenden Interpretation“ Darauf aufbauend wurde -induktiv -ein theoretisches Modell von Ausstiegsverläufen und regelorientierten kontrollierten Gebrauchsformen entwickelt

Unser Auswertungsverfahren bezieht sich auf die bewußt erinnerte, -weil durch die aktuell gegenwärtige Lebenssituation gefärbte -konstruierte und gleichzeitig auch rekonstruierte Wirklichkeit des jeweiligen Interviewpartners. In Anlehnung an Franz-Josef Brüggemeier gehen wir bezüglich unserer Phasensequenzanalyse drogaler Entwicklungsverläufe aus der subjektiven Sicht der Betroffenen davon aus, daß es unzutreffend ist, „zwischen unmittelbaren, gewissermaßen objektivem Vergangenem einerseits und deren überlagerter, verfälschter Erinnerungsvariante andererseits zu unterscheiden“

Biographien in diesem Sinne sind situationsgebundene, temporär geltende Orientierungsmuster, die aufgrund der je konkreten Gegenwartsperspektive hergestellt werden. Sie stellen eine zweck-rationale, biographische „Selektion aufgrund des , Hier‘ und Jetzt 4 dar“ Unser Auswertungsverfahren als Analyse von Reinterpretationen ist also nur von der Gegenwartsbestimmung der Selbst-thematisierungen als beschreibender Bilanzierungen möglich Es ist hier nicht möglich, die gesamte Spannbreite der Forschungsergebnisse detailliert darzulegen. Ich beschränke mich deshalb im folgenden darauf, die wesentlichsten Ergebnisse zum Prozeß des Herauswachsens aus der Sucht am Beispiel des kontrollierten Gebrauchs und des Selbstausstiegs in geraffter Form zu präsentieren.

II. Herauswachsen aus der Sucht: Übergänge

1. Zum kontrollierten Gebrauch illegaler Drogen Aus den Teilergebnissen zum kontrollierten Gebrauch illegaler Drogen sind keine repräsentativen oder generalisierenden Aussagen ableitbar. Die Gründe liegen auf der Hand: unvermeidlich selektiver Zugang aufgrund des Dunkelfeldes, Forschungsmittelbegrenzung auf zwei Jahre, qualitative Auswertungsstrategie durch Betonung der „subjektiven Sicht“. Angestrebt wurde, exemplarisch Varianten drogaler Entwicklungsverläufe als lebensgeschichtliche Prozeßmodelle im Zeitverlauf hinsichtlich einer Typenbildung analytisch herauszuarbeiten und zu dokumentieren

Unsere Forschungsergebnisse zeigen ganz allgemein: Drogenabhängigkeit ist kein statischer Zustand, der, einmal erreicht, nur über langzeit-therapeutische Maßnahmen aufhebbar wäre. Drogenabhängigkeit ist nicht durch festlegbare Kategorien definierbar. Es gibt weder Verlaufsform einer Drogenabhängigkeit, den Drogen-abhängigen oder gar die Suchtpersönlichkeit, noch gibt es die Ursachen für die Entstehung von Drogenabhängigkeit. Kein Lebenslauf führt unweigerlich zur Abhängigkeit, selbst wenn er ungünstige Prognosedaten anhäuft. Das vorherrschende Bild von der Unentrinnbarkeit von Drogenabhängigkeit -versinnbildlicht durch das Vorurteil „Einmal süchtig, immer süchtig“ -, durch die einseitig pharmakologisch-klinische Blickrichtung eines ausschließlich substanzfixierten Krankheitsbildes hervorgerufen, ist in seiner Pauschalität nicht mehr haltbar. Die Ergebnisse widersprechen ferner -einer Opfertheorie, die kein aktives Subjekt kennt, das sich mit den szenetypischen Widrigkeiten situationsspezifisch auseinandersetzt; -einer mechanistischen Betrachtungsweise der Drogengebrauchsentwicklung, die eine stereo-type Abfolge von physischen und psychischen Zuständen unterstellt; -einer rein problemorientierten Beschreibung und Erklärung (Sucht ist Flucht, Drogen als Problembewältigungsmittel, Sucht als „Versuch der Selbstheilung einer mißlingenden Identitätsentwicklung“ die die Variabilität von Einstiegs-und möglichen Ausstiegsverläufen, deren Motive sowie die Etablierung kontrollierter Gebrauchsformen negiert, sowie -einer individuumzentrierten und drogenspezifischen Blickrichtung, welche umfeldgestützte Einflußgrößen vom Einstieg über zwanghafte oder kontrollierte Gebrauchsmuster bis hin zum möglichen Ausstieg außer acht läßt.

Drogale Entwicklungsverläufe passen nicht in die leider noch immer vertretene, simplifizierende Kausalkette: „Persönlichkeitsdefizit -Abhängigkeit -Therapie -Abstinenz“. Ein lineares Verlaufs-modell von Drogenabhängigkeit taugt nicht zu ihrer Erklärung. Teilergebnisse unserer lebensweltnahen Studie verdeutlichen, daß ein kontrollierter, d. h. mit der Erfüllung funktionaler Anforderungen (wie Arbeit, Ausbildung) zu vereinbarender Gebrauch illegaler Drogen Resultat von selbstgesteuerten und umweltgestützten Ausstiegsversuchen oder die Vorstufe zum Prozeß des allmählichen Herauswachsens aus der Sucht sein kann. Dabei ist selbst ein weitgehend sozial-integrierter, täglicher Drogengebrauch durchaus möglich. Diese Variante ist inzwischen auch für die Bundesrepublik durch wissenschaftliche Ergebnisse im Hinblick auf den Gebrauch von synthetischen Opiaten als Substitutionsmittel (L-Polamidon, Methadon, Codeinpräparate) abgesichert

Gebraucher illegaler Drogen sind also nicht generell „behandlungsbedürftig“ und handlungsunfähig. Die Chance zur Etablierung regelorientierter, kontrollierter Gebrauchsmuster ist trotz Verbotsbedingungen durchaus gegeben. Die kriminalisierten Lebensbedingungen verhindern allerdings häufig derartige Entwicklungsmöglichkeiten.

Unsere längsschnittlichen Analysen von Drogengebrauchsverläufen zeigen, daß es durchaus die

I Möglichkeit gibt, Heroin und Kokain kontrolliert in einer Weise zu gebrauchen, daß physische, soziale und juristische Probleme vermieden werden. Zwar lassen sich bei unseren Interviewpartnern über alle Gruppierungen (Selbstaussteiger, Therapiebereite, kontrollierte Gebraucher) verteilt begrenzte kontrollierte Gebrauchsphasen von „weichen“ und „harten“ Drogen feststellen. Aber unsere Analysen zum kontrollierten Gebrauch verdeutlichen, daß dieser auch als eine bewußte und autonom eingeleitete, relativ stabile Gebrauchsvariante angesehen werden kann, die keine ausschließlich drogenbezogene Lebensführung einschließt. Kontrollierter Gebrauch ist nicht nur als eine zeitlich begrenzte „Durchgangsphase“ in Richtung eines zwanghaften Gebrauchs oder als Vorstufe zur Abstinenz zu interpretieren. Es gibt also Personen, die es geschafft haben, den Drogengebrauch in konventionelle Lebenskontexte zu integrieren und ihren Opiat-/Kokaingebrauch auf einem Level einzupendeln, der in der Regel weit von der Möglichkeit einer physischen Abhängigkeitsbildung entfernt ist

Die Möglichkeit der Etablierung kontrollierter Gebrauchsmuster ist nach unseren Ergebnissen abhängig von -dem Drogengebrauchssetting als umfeldgestützte Gebrauchsbedingungen; -den intrapersonellen Ressourcen (subjektive Kontrollerwartung, psychosoziale Bedeutung des Gebrauchs); -der Einbindung in konventionelle Lebensbezüge und der damit verbundenen Ausbildung gleichbedeutender Handlungsalternativen (die wiederum als Unterstützungsformen wirken können); -der Konstituierung regelorientierter Gebrauchsmuster und -der Anwendung risikobewußter Gebrauchsformen.

In höherem Maße als die jeweilige Gebrauchs-häufigkeit bzw. -Intensität ließen sich vor allem risikobewußte Gebrauchsformen (Vermeiden von Needle-sharing, kein intravenöser Gebrauch sondern Rauchen oder Sniefen, selbstinitiierte Cleanphasen als Gebrauchspausen, bewußte Dosis-begrenzung und vorsichtige Dosisantestung) als Kriterien einer eigenverantwortlichen und selbst-kontrollierenden Schadensminimierung (u. a. auch Reduktion des Risikos einer Überdosierung und der Möglichkeit einer HIV-Infizierung) ermitteln. Aufgrund des „Faktums der Illegalität“ des Gebrauchs und einer sicherlich nicht zu unterschätzen-den oder gar zu verharmlosenden Wirkungs-und Suchtpotenz „harter“ Drogen war -nach unseren Ergebnissen -ferner die Konstituierung und Einübung von Gebrauchsregeln notwendig, um einen kontrollierten Gebrauch kultivieren zu können. Eine Ritüalisierung dieser informellen Gebrauchs-regeln verlief individuell unterschiedlich und hatte ihren Ort vordringlich im privaten Bereich. Zu diesen selbstkonstruierten Gebrauchsregeln gehörten: -die bewußte Einhaltung der Bedingungen bestimmter Gebrauchsgelegenheiten (z. B. Öffnungszeiten), -eine deutliche Distanz zur Drogenszene, -die Vermeidung von Kriminalisierung durch private Drogenbeschaffung außerhalb der öffentlichen Drogenszene; -die bewußte finanzielle Mittelaufwendung (Kalkulation des Finanzbudgets); -eine Priorität drogenunspezifischer Handlungsalternativen im Arbeits-und Freizeitbereich sowie -kein Gebrauch von Drogen in Krisensituationen und -der Einsatz von Drogen als Mittel zur Selbst-belohnung.

Die Entwicklung und Einhaltung dieser Gebrauchsregeln ist wesentlich durch die Angst vor weiterer oder befürchteter Verelendung und den Wunsch motiviert, daß der Drogengebrauch nicht negativ mit der Alltagsbewältigung in Beziehung steht, d. h., nicht zu einer „Junkiesation“ zur Entwicklung eines ausschließlich auf den Drogen-gebrauch ausgelegten Selbstkonzeptes, führt. Der Gebrauch selbst folgt oft einer bewußten Risikoabschätzung durch Inrechnungstellen möglicher psychosozialer „Folgekosten“ eines fortgesetzten Drogengebrauchs. Der kompulsive Gebrauch wird als nicht geeignete Handlungsweise aufgegeben oder gar nicht erst entwickelt. Unsere Ergebnisse zeigen unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten bis zur Etablierung kontrollierter Drogen-gebrauchsmuster: -Ausprägung ausschließlich kontrollierter Gebrauchsformen ohne Entwicklung eines zwanghaften Gebrauchs; -eher sporadische, episodenhafte, situationsspezifische Gebrauchsvarianten von Heroin und/oder Kokain;-Entwicklung kontrollierter Gebrauchsmuster als Produkt einer heterogenen und zeitlich ausgedehnten Drogenverlaufsentwicklung; -kontrollierte Gebrauchsmuster als Resultat der Überwindung zwanghaften Gebrauchs (selbst-organisierter Ausstiegsprozeß); -kontrollierter Gebrauch als Produkt eines institutionsgesteuerten Ausstiegsprozesses (Therapie) sowie -kontrollierter Gebrauch als medikamentengestützter Stabilisierungsprozeß mit Methadon und/oder Codeinpräparaten

Die Entwicklung und Etablierung kontrollierter Gebrauchsformen kann als ein biographischer und drogaler Erfahrungs-und Lernprozeß angesehen werden, innerhalb dessen die aktive Aneignung und Verinnerlichung lebensstilbezogener Gebrauchsregeln erfolgt Diese drücken nicht nur die Zugehörigkeit zu einer drogengebrauchenden Gruppierung aus, sondern auch zu einem bestimmten Habitus und einer Lebensform: Sie sind Ausdruck, Instrument und Ergebnis sozialer Orientierung im teils drogalen, teils konventionellen Lebenszusammenhang. Ihre bewußte Anwendung zielt einerseits auf Zusammenhalt und andererseits auf Abgrenzung von anderen Lebensstilen.

Ein weiteres zentrales Ergebnis unserer qualitativen Untersuchung ist, daß kontrollierte Gebraucher in zwei Welten (,, in-between“ -Situation) leben, wobei mitunter eine Vorwegnahme negativer Sanktionen durch drogenunspezifische Bezugs-gruppen für den heimlichen, aber kontrollierten Gebrauch bedeutsam wird. Wir haben es hier mit einem „gedoppelten“ Sozialisierungsprozeß zu tun: Einfügung in konventionelle Lebenskontexte bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung drogenbezogener Lebensstile. Dies erfordert eine spezifische Integrationsleistung durch Vermeidung von Auffälligkeiten, um „in-between-Situationen“ sozusagen als Grenzgänger lebbar zu machen. Soziale Handlungsfähigkeit innerhalb „zweier Welten“ bedarf eines Prozesses des wechselseitigen Aushandelns von unterschiedlichen Lebenswelten und zugehöriger Erwartungsbündel (Rollen). Rollen-distanz ist als eine wesentliche Verhaltensstrategie gefordert, d. h., es geht darum, zwischen sozial definierten Handlungsanforderungen und Erwartungen einerseits und dem Bedürfnis, illegale Drogen zu konsumieren, andererseits zu vermitteln und abzuwägen. Es gilt, Handlungsfähigkeit zwischen beiden Polen herzustellen. Das von uns festge­ stellte typische „Sowohl-als-auch“ wird durch Rollendistanz möglich. Gleichzeitig ist aber auch Toleranz gegenüber Ambiguität notwendig, d. h., widersprüchliche oder unterschiedliche Anforderungen müssen als Widersprüche erkannt, ertragen und flexibel im Verhalten berücksichtigt werden. Lebensstilbezogene Gebrauchsregeln fungieren dabei als Regulierungsmodi. Gebrauchsregeln koordinieren und regulieren -zumeist als Regelset -das Drogengebrauchsverhalten, die Distanzhaltung zur Drogentotalität der Szene; sie vermeiden negative Gebrauchsfolgen und begünstigen eine positive Drogenwirkung. Insofern können wir die Anwendung von Gebrauchsregeln als die „innere Ordnung“ einer eher privaten Gebrauchskultur illegaler Drogen ansehen. Zum einen bewirkt die Einhaltung von Gebrauchsregeln Routinisierung und Selbstdisziplinierung beim Drogengebrauch. Zum anderen erfolgt eine subjektive Bewertung der Angemessenheit des Drogengebrauchs im Zusammenhang mit der Erfüllung sozialer Verpflichtungen. Dies führt letztendlich zur Gebrauchskontrolle und zu bewußten Verhaltensarrangements zwischen „zwei Welten“.

Dabei ist jedoch zu bedenken, daß diese Gebrauchsregeln implizite Regeln sind, d. h., sie sind privaten, informellen Ursprungs und von daher auch zerbrechlich; sie tragen das Risiko des Mißlingens. Hieraus ergeben sich für die praktische Drogenhilfe im Bereich akzeptierender Drogenarbeit spezifische Konsequenzen: die Vermittlung und Stützung von Gebrauchskontrollregeln und Safer-Use-Strategien mit dem Ziel einer eigenverantwortlichen und selbstregulierenden Schadens-begrenzung

Die Vielzahl von uns ermittelter, individuell unterschiedlicher -mitunter auch gegensätzlicher -Strategien bewußter Risikoabschätzung als Gebrauchsregeln verweist darauf, daß eine sozial vermittelbare Form der Selbstprävention, die einen moderaten, genußorientierten und nicht zwanghaften Gebrauch fördern könnte, lediglich ansatzweise realisiert ist. Dies liegt zum einen an den kulturspezifischen Konsumbedingungen von Substanzen, zum anderen ist es in den kriminalisierten Lebensbedingungen begründet. Der einzelne Ge-braucher sieht sich in einer ausgegrenzten und verfolgten Subkultur mit Risiken konfrontiert. Auch wenn Gebrauchsregeln für nichtendemische Drogen mitunter sozial vermittelt werden, so muß der Gebraucher trotzdem eigenständig Bewältigungsstrategien zur Schadensminimierung entwickeln.

Bezüglich der Methadonsubstitution als eines weiteren Wegs aus dem zwanghaften Drogengebrauch heraus zeigen unsere Ergebnisse, daß die Einleitung einer Substitution eine bewußte Entscheidung für eine psychosoziale Stabilisierung und damit auch für eine äußere Kontrolle des Drogengebrauchs darstellt. Für viele Interviewpartner erwiesen sich jedoch die hochschwelligen Indikationskriterien beim Modellprogramm ebenso wie bei der NUB-Substitution (Neue Untersuchungsund Behandlungsmethoden) als schwerwiegende Hürden, die es zu überwinden galt. Nach unseren Ergebnissen fungieren die Substitutionsmittel (L-Polamidon, Codeinpräparate) als materiell-instrumentelle Stütze für den psychosozialen Stabilisierungsversuch. Trotz eines extern kontrollierten täglichen oralen Opiatgebrauchs haben unsere Interviewpartner -nach einer relativ langen Drogen-karriere -drogenfreie Bezüge aufgebaut, sich von der Drogenszene distanziert, sich gesundheitlich und sozial stabilisiert, Handlungschancen wahrgenommen, und sie führten -jedenfalls bis zum Abschluß der Untersuchung -ein nicht ausschließlich drogenfixiertes Leben (abgesehen von einem gelegentlichen Beigebrauch von zumeist Cannabis und Alkohol). Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt auch eine neuere Studie des Instituts zur Förderung qualitativer Drogenforschung, akzeptierender Drogenarbeit und rationaler Drogenpolitik (INDRO) zur Methadon-und Codeinsubstitution in Nordrhein-Westfalen (regionale Erhebungsorte Bonn, Münster, Langenfeld, Essen und Dortmund). Substitutionsbehandlungen erwiesen sich auch hier als „gestreckte“ Übergangsprozesse, die Veränderung von relativ fixierten Szenezusammenhängen einleiten und zu einer gelingenden Lebenspraxis im Sinne psychosozialer Stabilisierung trotz eines täglichen Opiatgebrauchs führen. Die Ergebnisse zeigen darüber hinaus eine eindeutig entkriminalisierende Wirkung der Substitution

Nach unseren Ergebnissen vollzieht sich die mögliche Entwicklung hin zu einem autonom kontrollierten Gebrauch illegaler Drogen als einer relativ stabilen Gebrauchsvariante keineswegs als lebenszyklischer Automatismus, sondern setzt die Nutzung und Wirksamkeit von vorhandenen Stützsystemen (Freunde, Familie, Kontakte außerhalb der Drogenszene, vorhandene Berufserfahrungen etc.) voraus. Sie wird wahrscheinlicher, je größer Handlungsmöglichkeiten und Anknüpfungspunkte außerhalb einer drogenbezogenen Alltagspraxis sind. 2. Selbstausstieg ohne professionelle Betreuung Neben dem klassischen therapiegestützten Ausstieg gibt es nach unseren Ergebnissen vielfältige Ausstiegsversuche, die jenseits des alltäglich sichtbaren Szenelebens und außerhalb einer professionellen Betreuung selbständig eingeleitet und auch durchgehalten werden. Unsere Ergebnisse bestätigen somit ältere und neuere Erhebungen meist aus dem Ausland Sie zeigen, daß gelungene Ausstiegsversuche nicht gleichsam als autonom ablaufende Prozesse anzusehen sind. Ein Ausstieg aus der ausschließlich drogenbezogenen Lebensführung wird durch vielfältige Bedingungen vorbereitet, unterstützt und mitgestaltet (Ausstiegsmotive, Stützsysteme, Anknüpfungspunkte in nicht drogenbezogenen Lebenskontexten, szenetypische Lebensbedingungen). Der selbstinitiierte, privat-organisierte und umweltgestützte Ausstiegsprozeß kann nach unseren Erkenntnissen als ein psychosoziales Übergangsstadium (Transition) begriffen werden. Unter den Bedingungen der kriminalisierten Alltagspraxis von Drogengebrauchern stellt der selbst eingeleitete Ausstiegsprozeß zeitlich besonders hohe und zum Teil außergewöhnliche Anforderungen an das Bewältigungsvermögen. Dieser Übergang als Veränderung von eingelebten Szenezusammenhängen, verstanden als biographische Wandlungsprozesse, verlangt eine spezifische Handlungskompetenz. Der Aussteiger ist nicht beteiligtes Objekt, sondern er handelt im Prozeß des Übergangs, verändert diesen und damit auch sich selbst. Ausstiegsprozesse als Übergangsverläufe sind keine linearen Prozesse, sondern Bewegungssequenzen innerhalb eines Entwicklungsprozesses, und sie stehen in einem Verhältnis der wechselseitigen Beeinflussung von Person und Umwelt. Bewältigungsanforderungen und Bewältigungsanstrengungen sind von daher vielfältig und wechselseitig voneinander abhängig.

Allgemein formuliert und in Anlehnung an die Übergangsdefinition von Harald Welzer kann der selbsteingeleitete Ausstiegsprozeß als ein Ver­ änderungsprozeß verstanden werden, an dessen Ende neue Erfahrungen, Wahrnehmungs-und Deutungsweisen stehen. Nach unseren Ergebnissen ist der selbsteingeleitete Ausstieg ohne überwiegende professionelle Betreuung als biographischer Wandlungsprozeß in seiner Entwicklung relativ offen. Wir konnten aufgrund unserer qualitativen Phasensequenzanalysen im Längsschnitt folgende minimal voneinander abweichende (ausschließlich für die Gruppe der Selbstaussteiger geltende) Entwicklungsverläufe ermitteln: -ein relativ undramatisches, stufenförmiges Herauswachsen aus drogenspezifischen Lebenskontexten; -eine „Entproblematisierung“ des zwanghaften und exzessiven Drogengebrauchs durch Etablierung kontrollierter Gebrauchsvarianten als Vorstufe oder Produkt des selbsteingeleiteten Ausstiegsprozesses; -einen komplexen „Developmental-change“ -Effekt unterschiedlicher und zeitintensiver Ausstiegssequenzen bis zur Stabilisierungsphase

Diese Ausstiegsszenarien sind höchst heterogen und variabel und verbieten demzufolge unzulässige Verallgemeinerungen. Nach unseren Ergebnissen entwickelt sich eine Ausstiegsmotivation zum einen aus der Angst vor weiterer oder auch nur vorweggenommener Verelendung, zum anderen aus dem Bedürfnis nach bewußter Umweltkontrolle und zum dritten aus zufälligen Ereignissen wie Tod einer nahestehenden Person, Schwangerschaft oder Momente „totaler Selbstbewußtheit“ unter dem Motto „So kann es nicht weitergehen“. Eine Bereitschaft zum Ausstieg entsteht also nicht erst, wenn der Drogengebraucher aufgrund von Intensität und Ausweglosigkeit seiner Drogenentwicklungsgeschichte „reif“ wird, sich einer stationären Therapie zu unterziehen.

Die Entwicklung hin zu einem selbstinitiierten und privatorganisierten Ausstieg als Übergang setzt -wie beim kontrollierten Gebrauch -die Nutzung und Wirksamkeit von vorhandenen Stützsystemen und die Vorwegnahme positiver Folgen der relativen Abstinenz voraus. Behandlungsauflagen (§ 35ff. BtMG), als „helfender Zwang“ gedacht, verhindern mitunter geradezu den Prozeß selbst-initiierter und privatorganisierter Ausstiegsversuche und damit eine soziale und berufliche Reintegration. Illegalität und Kriminalisierung erweisen sich auch hier als nicht geeignet, den Konsumenten Eigenverantwortung zuzugestehen. Sie führen oft zu einer Verfestigung drogaler Identität, die Ausstiegsprozesse oder die Entwicklung kontrollierter Gebrauchsformen verhindert.

Unsere qualitative Analyse von Ausstiegsverläufen bestätigt ein Ergebnis von Paul Biernacki, daß für die erfolgreiche Überwindung kompulsiven Drogengebrauchs eine Identitätstransformation notwendig ist, um auf Dauer die „Junkie-Identität“ überflüssig zu machen und eine nicht drogen-bezogene Lebenspraxis zu ermöglichen. Diese lebensgeschichtlichen Wandlungsprozesse im Selbstverständnis und Verhalten ziehen zum einen eine Änderung des „Identitätsgefühls“ und damit der Bewertung von Lebenszusammenhängen nach sich. Zum anderen greifen sie auf die Existenz multipler Identitätsmuster zurück, die auch bei Opiatgebrauchern vorhanden sind Innerhalb des Ausstiegsprozesses werden diese „Identitätsressourcen“ aktiviert. Wie wir zeigen konnten, hängt dieser Wandlungsprozeß von den interaktiven Erfahrungen und den damit verbundenen Möglichkeiten, aber auch Risiken ab. Die Resultate von Interaktion, z. B. Unterstützerqualität, sind für die Identitätsumwandlung von zentraler Bedeutung. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt auch das Frankfurter Forschungsprojekt zum selbstorganisierten Ausstieg „Genommene Würde zurückgeholt“ -so läßt sich mit den Worten von Rosemarie Fischer dieser „Revitalisierungsprozeß“ beschreiben. „Aktiv und als autonom handelnde Subjekte gestalten sie (die Selbstaussteiger, Anm. d. V.) die Moderation ihres Ausstiegs und ermöglichen sich damit erneut und sehr allmählich ein Leben in Würde. Sie nehmen die auf ihre Motivation treffenden, für ihren Ausstieg günstigen Konstellationen wahr und initiieren Aktivitäten des helfenden Umfeldes.“ Wie wir sehen, ist die Fähigkeit zum Aufbau einer nicht ausschließlich drogenbezogenen Identität keine rein persönlichkeitsspezifische Leistung, sie entsteht vielmehr aus der gelungenen interaktiven Verquickung mit Aspekten konventioneller Lebenspraxis.

Unsere entscheidende These lautet: Die selbstinitiierte, privatorganisierte und umweltgestützte Überwindung des zwanghaften Drogengebrauchs kann als ein retroaktiver, übergangsbezogener und umweltgestützter Selbstsozialisierungsprozeß verstanden werden. Die Wahrnehmung und Nutzung von sozialen Unterstützungsquellen und Identitäts­ ressourcen als neu arrangierbare Ich-Bausteine machen den Ausstiegsprozeß als Übergang möglich. Die Überwindungsverläufe als Selbstsozialisierung und Erweiterung von Handlungsspielräumen können als dynamische Geschehensabläufe verstanden werden. Sie werden durch die wechselseitige Einflußnahme von Person, Drogengebrauch und Umwelt gesteuert. Eins bleibt jedoch zu bedenken: Selbstgestaltete Ausstiegsprozesse sind nicht kausalanalytisch festlegbar, es erfolgt kein sich quasi automatisch vollziehender Prozeß der Abwendung vom dysfunktional erlebten Drogengebrauch. Daraus folgt, daß Ausstiegsprozesse nicht planbar sind. Insofern verbietet sich eine wie auch immer geartete prognostische Ausstiegsmodellkonstruktion; zu vielfältig, plural, mehrdeutig und multiperspektivisch stellen sich Ausstiegsprozesse und Ausstiegskontexte dar. Unsere exemplarischen Ergebnisse verdeutlichen demnach ein „realistisches“ Bild, eine Vorstellung von der Vielfältigkeit, Komplexität und auch „Unvordenkbarkeit“ möglicher Überwindungsprozesse.

III. Fazit und praktische Konsequenzen

Eine Schwarz-Weiß-Betrachtung von Drogenabhängigen, die Wirklichkeit nur in der Alternative -entweder Überdosis und Tod oder Langzeit-therapie mit Umwertung aller Werte -wahrnimmt, entspringt, gelinde gesagt, einem Interesse an negativer Sensation: der Fixer als defizitäre Schreckens-gestalt aus einer anderen Welt. Wie falsch diese Vorstellung ist, geht daraus hervor, daß die Zahl derer, die sich selbständig aus der Abhängigkeit lösen oder kontrollierte, nicht auffällige Gebrauchsformen entwickelt haben, weit größer sein muß als die Summe der Drogentoten und derer, die Langzeittherapien erfolgreich durchlaufen. Die deterministische Auffassung von Abhängigkeitskarrieren als automatisch verlaufende Verelendungsprozesse muß -nach unseren Ergebnissen -relativiert werden.

Drogengebrauchsentwicklungen haben nicht den Charakter naturlogischer Abläufe -entweder in Richtung Verelendung oder Abstinenz. In diesem Zusammenhang muß die noch weit verbreitete Wahrnehmung von Drogengebrauchern als „Defizitwesen“ oder „Risikopersonen“ revidiert werden. Drogengebraucher verfügen über ein großes Repertoire an Verhaltensalternativen, und das heißt auch: Sie sind nicht generell „behandlungs-bedürftig“ und handlungsunfähig Die Chancen zum selbstorganisierten Ausstieg oder zur Etablierung kontrollierter Gebrauchsformen werden von nicht wenigen -selbst unter kriminalisierten Lebensbedingungen -genutzt.

Unsere Forschungsergebnisse zum kontrollierten Gebrauch illegaler Drogen und zum Selbstausstieg können zu der Hypothese führen, daß die Kriminalisierung illegaler Drogengebraucher, verbunden mit Strafe und Sanktionsandrohungen zur Durchsetzung der Abstinenznorm, zum Teil kontraproduktiv auf die mögliche Entwicklung einer selbstorganisierten Gebrauchskultur illegaler Drogen und auf Selbstausstiegsprozesse wirkt. Da eine personenbezogene Entkriminalisierung realpolitisch noch nicht auf der Tagesordnung steht, d. h. die prekäre Grenze der Illegalität nicht aufgehoben ist, lassen sich die folgenden Konsequenzen für eine betroffenen-orientierte und schadensbegrenzende Drogenarbeit skizzieren: Begreift man schadensbegrenzende Drogenarbeit als adressatenorientierte Perspektive der Einbeziehung vorhandener Handlungskompetenz von Betroffenen, dann sollte eine Zielorientierung in der Stützung und/oder Vermittlung von Safer-Use-Strategien und Gebrauchsregeln bestehen. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß schadensbegrenzende Drogen-arbeit nicht zu einer totalen Überversorgung per Institutionalisierung führen und somit zu einer Ghettoisierung, ja Kolonialisierung der letzten „freien“ Lebensräume der Betroffenen degenerieren darf. Insofern sollte eine „empowermentorientierte Drogenarbeit“ -verstanden als ein selbstorganisierter Prozeß im Alltagsleben -auf die Aufhebung der pädagogischen „Reparaturmentalität“ zielen. Die Unterstützung zur (Wieder-) Herstellung der Selbststeuerungsfähigkeit, die Aufhebung der „Opfer-und Klientenrolle“ von Drogengebrauchern wird somit zum Angelpunkt einer akzeptanz-orientierten Drogenarbeit Dies sind die praktischen Konsequenzen unserer qualitativen Lebensweltstudie, die -trotz der bestehenden Gesetze, die angeblich jegliche Selbstbemächtigung verunmöglichen -schlicht pragmatisch begründet sind. Grundlegendes Prinzip schadensbegrenzender Drogenarbeit sollte nach unseren Forschungsergebnissen die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts von Drogengebrauchern sein. Sie sollten als kompetente Akteure wahrgenommen und als Konstrukteure eines möglicherweise gelingenden, auch drogenbezogenen Alltags angesehen werden. Akzeptanzorientierte Drogenhilfe muß also subkulturelle und drogenbezogene Lebens-praxis als existent anerkennen und drogen-bezogene Lebensstile tolerieren. Ihre Angebote müssen auf Freiwilligkeit basieren, auf den „Defizitblickwinkel“ und auf eine „Klientelisierung“ verzichten sowie bedürfnisorientiert ausgerichtet sein. Die Angebotspalette sollte so breit wie möglich gefächert sein (Kontaktläden, Spritzentausch auch im Knast, medizinische Akutversorgung, Vermittlung von Safer-Use-Kenntnissen, Druck-räume, Beratung, Entzugsplatz-und Therapievermittlung, flächendeckende Substitution etc.). Es gilt, Selbsthilfeaktivitäten ohne Kontrollabsicht zu unterstützen, Selbstverfügungskräfte so gut es geht zu stärken und zu erweitern, multiple Ausstiegshilfen (Substitution, Selbsthilfe, Therapie etc.) wahlweise anzubieten sowie niedrigschwellige, alltags-praktische Hilfestellungen ohne Vorbedingungen zu leisten. Akzeptanzorientierte Drogenarbeit versteht sich in diesem Sinne nicht als ein „Modell der freiwilligen Selbstbindung qua Einsicht“ als „Methodik drogenhelferischen Handelns, das als Ziel sozialen Lernens Freiwilligkeit und Einsicht in die Notwendigkeit eines drogenfreien Lebens anstrebt“ Akzeptanzorientierte Drogenarbeit ist demzufolge auch nicht ein selbst im „Sumpf stekkender“ sozialpädagogischer Versuch zur Rettung „eines im Sumpf Versinkenden“ Münchhausen läßt nicht grüßen.

Eine wie oben beschriebene akzeptanzorientierte, nicht klientelisierende Drogenarbeit toleriert -auch unter den Bedingungen der prohibitiven Drogenpolitik -das Recht von Drogengebrauchern auf Anderssein, macht sie nicht zum Objekt staatlich-administrativer und sozialpädagogisch-therapeutischer Maßnahmen zum Zwecke der Integration durch unbedingte Abstinenz. Sie wehrt sich gegen eine „Methodisierung“ der Betroffenen, gegen eine pathologisierende Betrachtungsweise von Drogen-konsumenten. Sie hat Respekt vor der „EigenSinnigkeit“ von Deutungsmöglichkeiten; sie kann unter dem Primat der Prohibitionspolitik nur „kreativ“ zwischen dem Doppelmandat von Kontrolle und Hilfe hin-und her manövrieren. Eine weitergehende Normalisierung der Lebensbedingungen von Konsumenten nichtendemischer Drogen wird aber erst dann gelingen, wenn sich auch die Drogen-politik notwendigen Konsequenzen (personenbezogene Entkriminalisierung, substanzbezogene Legalisierung) nicht länger verschließt

Fussnoten

Fußnoten

  1. Das Forschungsprojekt „Herauswachsen aus der Sucht illegaler Drogen“ wurde im Zeitraum 1989-1992 unter der Leitung von Prof. Dr. Georg Weber und dem Verfasser an der Universität Münster durchgeführt. Gefördert wurde das Projekt durch das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW, das Ministerium für Wissenschaft und Forschung NRW und durch das „alte“ Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Mitarbeiter waren: Uwe Kemmesies, Ralf Gerlach, Stefan Engemann, Wolfgang Haves, Michael Wulfert und Heike Zurhold.

  2. Ausführlich vgl. Georg Weber/Wolfgang Schneider, Herauswachsen aus der Sucht illegaler Drogen, Düsseldorf 1992, S. 125 ff.

  3. Ralf Bohnsack, Rekonstruktive Sozialforschung, Opladen 1991.

  4. Vgl. G. Weber/W. Schneider (Anm. 2), S. 133ff.

  5. Franz-Josef Brüggemeier, Aneignung vergangener Wirklichkeit -Der Beitrag der Oral History, in: Wolfgang Voges (Hrsg.), Methoden der Biographie-und Lebenslaufforschung, Opladen 1987, S. 145 ff.

  6. Wolfgang Voges, Zur Zeitdimension in der Biographie-forschung, in: ders. (Hrsg.) (Anm. 5), S. 135.

  7. Siehe ausführlich: G. Weber/W. Schneider (Anm. 2), S. 78ff.; Wolfgang Schneider, Methodische Defizite der Evaluationsforschung im Drogenbereich, in: Neue Praxis, 23 (1993) 3, S. 219-227; ders., Drogenforschung ohne Subjekt?

  8. Anmerkungen zum unsinnigen sezierenden Blick in der Drogenforschung, erscheint in: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, (1995). Vgl. G. Weber/W. Schneider (Anm. 2), S. 153ff.

  9. Vgl. Christian Rausch, Jugendalter und Drogenkonsum, in: Sozial Extra, 18 (1994) 4, S. 24-27.

  10. Vgl. etwa Horst Bossong, Möglichkeiten und Grenzen der Methadonsubstitution, in: ders. /Heiner Stöver (Hrsg.), Methadonbehandlung, Frankfurt am Main 1992; Prognos, Jahresbericht wissenschaftlich begleitetes Erprobungsverfahren medikamentengestützte Rehabilitation bei i. v. Opiatabhängigen. Modellprogramm NRW, Köln 1993; Peter Raschke, Medikamentengestützte ambulante Therapie und die ambulante Abstinenz-Therapie, Hamburg 1994; Ralf Gerlach/Wolfgang Schneider, Methadon-und Codeinbehandlung, Berlin 1994.

  11. Vgl. G. Weber/W. Schneider (Anm. 2), S. 463 ff.

  12. Ralf Gerlach/Uwe Kemmesies, Resubjektivierung und Normalisierung, in: Wiener Zeitschrift für Suchtforschung, 22 (1990) 3/4, S. 3-10.

  13. Vgl. G. Weber/W. Schneider (Anm. 2), S. 455 ff.

  14. Zu einer kulturgebundenen Substanztheorie vgl. Henning Schmidt-Semisch, Die prekäre Grenze der Legalität, München 1994.

  15. Siehe dazu ausführlich: Peter Cohen, Schadensminimierung durch Selbstregulierung, in: Jürgen Neumeyer/Gudrun Schaich-Walch (Hrsg.), Zwischen Legalisierung und Normalisierung, Marburg 1992; Wolfgang Schneider, Akzeptierende Drogenarbeit als Empowerment, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 27 (1992) 4, S. 159-168; ders., Selbstgestaltete Sekundärprävention, in: Karin Böllert/Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Umgang mit Drogen, Bielefeld 1993; ders., Akzeptierende Drogenarbeit -ein neues Paradigma?, in: Sozial Extra, 18 (1994) 5, S. 2-5; ders., Kontrollierter Umgang mit Drogen, in: Drogenmagazin. Zeitschrift für Drogenfragen, 5 (1994) 4, S. 15-22.

  16. Vgl. R. Gerlach/W. Schneider (Anm. 10).

  17. Vgl. etwa Paul Biernacki, Pathways from Heroin Addiction, Philadelphia 1986; Harald Klingemann, Coping and Maintenance Strategies of Spontaneous Remitters from Problem Use of Alcohol and Heroin in Switzerland, in: The International Journal of the Addictions, 38 (1992) 12, S. 1359-1388; Dan Waldorf/Cris Reinarman/Susanne Murphy, Cocaine Changes. The Experience of Using and Quitting, Philadelphia 1992; Hans-Volker Happel/Rosemarie Fischer/Karin Wittfeld, Selbstorganisierter Ausstieg, Frankfurt am Main 1993.

  18. Harald Welzer, Transitionen. Zur Sozialpsychologie biographischer Wandlungsprozesse, Tübingen 1993.

  19. Vgl. G. Weber/W. Schneider (Anm. 2); auch: Heike Zurhold, Drogenkarrieren von Frauen im Spiegel ihrer Lebensgeschichten, Berlin 1993; Wolfgang Schneider, Selbst-ausstieg als Transition, in: Sucht, 40 (1994) 3, S. 56-62.

  20. Vgl. P. Biernacki (Anm. 17); D. Waldorf/C. Reinarman/S. Murphy (Anm. 17).

  21. Vgl. H. -V. Happel/R. Fischer/K. Wittfeld (Anm. 17).

  22. Rosemarie Fischer, Genommene Würde zurückgeholt. Subjektentwicklung am Beispiel der „Selbstheiler“, Frankfurt am Main 1993.

  23. Vgl. etwa Krista Stosberg, Sozialisation und Drogen, Frankfurt am Main 1993; Thomas Knecht, Der Heroinabhängige in forensisch-psychiatrischer Sicht, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 38 (1994) 3, S. 149-156.

  24. Vgl. etwa Karl-Heinz Reuband, Soziale Determinanten des Drogengebrauchs, Opladen 1994; Anmerkung der Redaktion: Siehe auch den Beitrag von K. -H. Reuband in diesem Heft.

  25. Vgl. H. Schmidt-Semisch (Anm. 14).

  26. Vgl. Werner Stark, Die Menschen stärken, in: Blätter der Wohlfahrtspflege, 23 (1993) 2, S. 41-44.

  27. Vgl. etwa Ralf Gerlach/Stefan Engemann, Zum Grund-verständnis akzeptanzorientierter Drogenarbeit, Münster 1994; INDRO e. V. (Hrsg.), Reader zur niedrigschwelligen Drogenarbeit in NRW, Berlin 1994.

  28. Vgl. Uwe Kemmesies, Zur (V) Er(un) möglichung akzeptierender Drogenarbeit, in: Wiener Zeitschrift für Suchtforschung, 25 (1993), S. 55-62.

  29. Hans-Joachim Jungblut, Niedrigschwelligkeit. Kontext-gebundene Verfahren methodischen Handelns am Beispiel akzeptierender Drogenarbeit, in: Thomas Rauschenbach/Friedrich Ortmann/Maria Karsten (Hrsg.), Der sozialpädagogische Blick, Weinheim -München 1993, S. 109.

  30. Ebd., S. 108.

  31. U. Kemmesies (Anm. 28), S. 57.

  32. Vgl. etwa Wolfgang Schneider, Warten auf Godot? Zur Notwendigkeit der Entkriminalisierung des Drogengebrauchs, in: Päd. Extra, 22 (1993) 7/8, S. 62-76; Heino Stöver, Drogenfreigabe -Plädoyer für eine integrative Drogen-politik, Freiburg 1994.

Weitere Inhalte

Wolfgang Schneider, Dr. phil., Dipl. -Päd., geb. 1953; Studium der Pädagogik, Soziologie und Psychologie in Münster; Lehrbeauftragter für Drogenarbeit an der Universität Münster; Leiter des Instituts zur Förderung qualitativer Drogenforschung, akzeptierender Drogenarbeit und rationaler Drogenpolitik, INDRO e. V. Veröffentlichungen u. a.: Biographie und Lebenswelt von Langzeitcannabiskonsumenten, Berlin 1984; (zus. mit Georg Weber) Herauswachsen aus der Sucht illegaler Drogen, Düsseldorf 1992; (zus. mit Ralf Gerlach) Methadon-und Codeinsubstitution, Berlin 1994; zahlreiche Aufsätze in Fachzeitschriften.