Jugend sucht Arbeit. Eine Längsschnittuntersuchung zum Berufseinstieg Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland
Erich Raab
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Zusammenfassung
Der Berufseinstieg ist für Jugendliche schwieriger geworden. Damit ist aber in ihren Einstellungen keine Abkehr von Arbeit und Beruf verbunden. Berufliche Integration wird von fast allen Jugendlichen als Voraussetzung für gesellschaftlichen Status und Teilhabe an materiellem Wohlstand begriffen. Schulabgängerinnen und Schulabgänger von heute zeichnen sich durch eine ausgeprägte Arbeits-und Berufsorientierung aus. Es fehlt ihnen jedoch häufig an Orientierungswissen und Handlungskompetenz, um ihren Berufseinstieg zu bewältigen. Dies gilt insbesondere für sozial schwache Jugendliche aus benachteiligten Milieus. Sie lassen sich auf eine Vielfalt unterschiedlichster Wege in den Beruf ein. Diese Wege sind teilweise erzwungen, weil die angebotenen Ausbildungswege nicht geeignet, erscheinen, aber sie werden auch immer häufiger freiwillig gewählt, weil auf der Suche nach dem letztendlich angestrebten Beruf experimentiert wird und Umwege bewußt in Kauf genommen werden. Die Normalbiographie des direkten Berufseinstiegs kommt immer seltener vor.
I Einleitung
Die Verlaufsmuster des Übergangs Jugendlicher von der Schule in den Beruf sind von den institutionellen Strukturen des Übergangssystems abhängig, längst aber nicht mehr ausschließlich durch diese geprägt -oder waren es nie. Sie werden im Gegenteil in wachsendem Maße individuell unterschiedlich gestaltet.
Neben der Ausbildung für die akademischen Berufe an Universitäten und Hochschulen besteht das berufliche Bildungswesen in Deutschland im Kern aus der betrieblichen Ausbildung im dualen System, ergänzt um vollzeitschulische Ausbildungen für bestimmte Berufe etwa an Berufsfachschulen oder Schulen des Gesundheitswesens. Veränderungen an beiden „Ufern“ des Übergangs, in der Schule und im Beschäftigungssystem, aber auch institutioneile Veränderungen innerhalb des Berufsausbildungssystems selbst, wirken sich zweifellos auf das Ausbildungsverhalten der Jugendlichen aus. Der Ausbau weiterführender Schulen und der Abbau von Arbeitsplätzen für gering oder nicht beruflich Qualifizierte hat nicht nur zu einer höheren Quote von Hochschulabsolventen geführt, sondern er hat institutioneile Veränderungen im Kernbereich des dualen Systems selbst bewirkt. Wichtigste Beispiele dafür sind die Ergänzung um „duale“ Ausbildungen an Berufsakademien, berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen, ausbildungsbegleitende Hilfen und Berufsausbildungen in überbetrieblichen Einrichtungen.
Um diese Entwicklung auch aus der Sicht der Jugendlichen zu untersuchen, hat das Deutsche Jugendinstitut im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft (BMBW), jetzt Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF), eine Längsschnittuntersuchung zum Übergang Schule -Beruf durchgeführt. Die Studie war als qualitativer Längsschnitt mit drei Erhebungswellen angelegt und zugleich als Regionalvergleich zweier unterschiedlich strukturierter und entwickelter Städte (München und Duisburg) konzipiert.
Der Vorteil dieses Ansatzes liegt zum einen in der methodischen Verknüpfung von objektiven Strukturen des Übergangs mit den darauf bezogenen subjektiv-biographischen Verarbeitungsmustern. Zum anderen liefert die Rekonstruktion der Übergangsverläufe sowie die Beschreibung der sozialisatorischen Effekte der Übergangsprozesse wichtige Hinweise für die weitere Ausgestaltung notwendiger Unterstützungsleistungen im Über-gang von der Schule zum Beruf
Als Untersuchungsgruppe wurden 329 Jugendliche ausgewählt, die in Duisburg und München nach dem Verlassen allgemeinbildender Schulen in Startpositionen (nicht akademischer) beruflicher Qualifizierung eingetreten waren. Ausgehend vom Interesse an der Rekonstruktion ausdifferenzierter Berufseinmündungswege haben wir die Untersuchungsgruppe so zusammengestellt, daß die unterschiedlichen Berufseinstiege vertreten waren. Die eine Hälfte wurde im ersten Ausbildungsjahr in verschiedenen betrieblichen Ausbildungen des dualen Systems aufgesucht; die andere Hälfte in vollzeitschulischen Berufsausbildungen, in schulischer Berufsvorbereitung, in berufsvorbereitenden und ausbildungsbegleitenden Maßnahmen der Arbeitsverwaltung. Die empirischen Erhebungen wurden mit Hilfe eines Leitfadeninterviews zwischen 1988 (erste Erhebungswelle) und 1991/92 (dritte Erhebungswelle) durchgeführt. Im folgenden werden die zentralen Ergebnisse des Projekts dargestellt.
II. Typisches Muster des Berufseinstiegs
Die systemischen Veränderungen des Ausbildungswesens in Form der Ausdifferenzierung seiner Grundstruktur erlauben, erleichtern und erfordern mehr aktive individuelle Beiträge und Leistungen der Jugendlichen selbst bei der Suche nach ihrem Weg ins Arbeits-und Berufsleben. In unserer Längsschnittuntersuchung haben wir versucht, solche Wege zu rekonstruieren, unterschiedliche Übergangsverlaufsmuster in all ihren Etappen zu beschreiben und die dabei entwickelten subjektiven Orientierungen und Handlungsstrategien der Jugendlichen zu erfassen. Dabei zeigte sich eine Vielfalt von Übergangsbiographien, die im folgenden an neun typischen Fallbeispielen anschaulich gemacht werden soll. Die Beispiele beziehen teilweise retrospektiv erhobene frühere Einmündungserfahrungen ein; sie erfassen also im Einzelfall einen längeren Zeitraum als die drei bis vier Jahre des Längsschnitts. Und sie enthalten auch die am Ende der letzten Erhebungswelle nachgefragten Bewertungen und Perspektiven der beruflichen Zukunft der Jugendlichen; reichen also über die zweite Schwelle des Berufseinstiegs teilweise deutlich hinaus. Anders als Ingo Mönnich und Andreas Witzel die separate Verlaufs-muster des Übergangs für die erste und zweite Schwelle beschrieben haben, haben wir versucht, Grundmuster für die beruflichen Einmündungsverläufe insgesamt zu erfassen. In die Untersuchung nicht einbezogen waren Direkteinsteiger in akademische Ausbildungen.
Neun Fallbeispiele Das erste Beispiel entspricht dem Muster der traditionellen Normalbiographie mit Direkteinstieg.
Ein deutscher Jugendlicher mit qualifizierendem Hauptschulabschluß absolviert erfolgreich eine Ausbildung als Zentralheizungs-und Lüftungsbauer und arbeitet anschließend im erlernten Beruf. Er wurde zwar von seinem Ausbildungsbetrieb übernommen, sucht aber nach einem anderen Betrieb, weil ihm hier die Arbeit zu anstrengend ist. Seine Zukunft sieht er in einem „normalen“ Arbeitsleben in seinem Beruf, ohne besondere Karriereambitionen und „ohne zu bukkein“. „Wenn die Bezahlung stimmt“, könnte er sich eventuell auch Teilzeitarbeit vorstellen.
Den zweiten Fall ordnen wir dem Muster einer unterstützten Normalbiographie zu. Ein türkischer Jugendlicher mit einfachem Hauptschulabschluß wurde nach der Schule vom Arbeitsamt in einen gewerblich-technischen Grundausbildungslehrgang vermittelt. Im Anschluß absolvierte er eine mit Hilfe des Lehrgangsträgers -einer Innung -gefundene Ausbildung zum Maler und Lackierer, die er unter Inanspruchnahme von ausbildungsbegleitenden Hilfen abschloß. Er wurde vom Ausbildungsbetrieb übernommen und will mittelfristig in seinem Beruf arbeiten. Langfristig denkt er aus gesundheitlichen Gründen an eine Weiterbildung zum Graphiker.
Dem Muster der verlängerten Normalbiographie entspricht eine Jugendliche mit Hauptschulabschluß 10. Klasse (Typ A) in Duisburg. Sie hat eine Ausbildung zur Verkäuferin nach einem Jahr abgebrochen, einige Monate eine Berufsfachschule Wirtschaft und Verwaltung (Handelsschule) besucht, diese ebenfalls wieder abgebrochen und nach einem Jahr Arbeitslosigkeit eine Ausbildung zur Friseurin begonnen und erfolgreich abgeschlossen. Sie arbeitet im Ausbildungsbetrieb in ihrem Beruf, allerdings unter fragwürdigen Bedingungen ohne Arbeitsvertrag. Berufsarbeit zur Existenzsicherung ist für sie angesichts ihrer Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit lebenswichtig, am liebsten würde sie einer Teilzeitarbeit nachgehen und macht dafür auch Zugeständnisse hinsichtlich ihrer Berufswünsche und der Arbeitsbedingungen.
Mit abgeschlossener Ausbildung in berufsfremde Arbeit eingestiegen ist ein deutscher Jugendlicher mit qualifizierendem Hauptschulabschluß. Er hat nach kurzer Zeit eine Einzelhandelskaufmannslehre abgebrochen, direkt im Anschluß eine Stukkateurausbildung erfolgreich absolviert, aber sofort danach einen Job als Arzneimittelausfahrer angenommen, weil ihm sein Ausbildungsberuf nicht mehr gefiel. Er strebt eine selbständige oder freiberufliche Tätigkeit an. Am liebsten wäre ihm, wenn „man das Geld arbeiten lassen“ könnte, statt selber zu arbeiten.
Das fünfte Beispiel gehört zum Muster der Übergangsverläufe abgeschlossene Ausbildung und anschließendes Studium im Bereich des erlernten Berufes. Ein türkischer Jugendlicher mit Realschulabschluß wird an einer Kollegschule zum Elektrotechnischen Assistenten ausgebildet und erwirbt dabei gleichzeitig die allgemeine Hochschulreife. Danach beginnt er ein Studium der Elektrotechnik an der Universität und will anschließend als Elektroingenieur in gehobener Position arbeiten.
Dem Muster Ausbildung abgeschlossen und anschließend berufsfremd studieren entspricht der Berufseinstieg eines deutschen Mädchens. Nach dem Abitur besuchte sie eine einjährige Höhere Handelsschule, machte dann eine Ausbildung zur Bankkauffrau, wurde vom Ausbildungsbetrieb übernommen und begann nach einem Jahr Arbeit im erlernten Beruf ein Studium für das Lehramt an Grundschulen. Eine interessante Arbeit als Grundschullehrerin, möglichst in Teilzeit, ist ihre Arbeitslebensperspektive.
Ohne Ausbildung in ungelernte Beschäftigung als Verkäuferin eingestiegen ist eine deutsche Jugendliche mit einfachem Hauptschulabschluß, die nach dem Verlassen der Schule zunächst ein Berufsvorbereitungsjahr absolviert hatte. Sie ist mit ihrem Beruf zufrieden und strebt später, wenn sie eine Familie haben wird, Teilzeitarbeit an.
Als achtes Muster des Übergangsverlaufs indentifizierten wir die „Maßnahmenkarriere“ mit Ausbildungsversuchen.Eine deutsche Jugendliche ohne Hauptschulabschluß war nach der Schule zunächst arbeitslos, fand dann verschiedene Jobs als Hilfskraft im Verkauf von Damenkonfektion und begann schließlich eine Ausbildung als Friseurin. Nach drei Monaten brach sie die Ausbildung ab, nahm an einem Berufsvorbereitungslehrgang teil, in dem sie den Hauptschulabschluß 10. Klasse (Typ A) nachholte. Eine weitere Berufsvorbereitungsmaßnahme mit dem Ziel der Fachoberschulreife brach sie aus finanziellen Gründen ab. Sie absolvierte einen Berufsvorbereitungslehrgang zur Näherin, war danach wieder arbeitslos, begann eine Berufsausbildung in einer überbetrieblichen Einrichtung als Tischlerin, die sie nach neun Monaten wiederum abbrach. Nach einer Maßnahme „Arbeitserprobung“ im Bereich Pflege und Gesundheit und verschiedenen Jobs begann sie eine Ausbildung in der Krankenpflege. Aber bereits zum Ende der Probezeit wurde sie gekündigt und ist seither arbeitslos. Ihre beruflichen Perspektiven sieht sie nun in einer ungelernten Beschäftigung im Pflegebereich.
Das neunte Muster schließlich ist die reine Maßnahmenkarriere, die ein türkisches Mädchen durchläuft, das auf Drängen seines Vaters nach der 6. Klasse ohne Abschluß von der Hauptschule abgegangen ist. Es absolvierte -nur einmal unterbrochen durch Arbeitslosigkeit -nacheinander fünf Berufsvorbereitungsmaßnahmen und landete schließlich auf einer ABM-Stelle als Näherin. So lange die junge Frau sich nicht aus ihrer türkischen Herkunftsfamilie lösen kann -„türkische Mädchen brauchen keine Ausbildung“ -und ihre eigenen Berufsvorstellungen, eine Ausbildung zur Altenpflegerin, nicht verwirklichen kann, reduzieren sich ihre beruflichen Möglichkeiten auf Beschäftigungsmaßnahmen und ungelernte Arbeit, letztendlich mit der Perspektive einer Familienarbeit als Hausfrau.
III. Untersuchungsbefunde zu den Wegen in den Beruf
Zu den in den neun Fallbeispielen vorgestellten Mustern von Übergangsverläufen gibt es Varianten nach der Qualität -Berufsfelder und Ausbildungsinhalte -und der Quantität -der Anzahl und Dauer der einzelnen Etappen oder Stationen im Übergangsgeschehen. Auch die Regulative der Verläufe sowohl auf der Angebotsseite als auch auf der Seite der subjektiven Strategien und der individuellen Kompetenzen sind verschieden. So werden manche Wege erzwungenermaßen eingeschlagen, weil insbesondere Jugendliche aus benachteiligten Verhältnissen mit dem, was ihnen an Ausbildung und Arbeit angeboten wird, oft nicht zurechtkommen. Andere Wege werden freiwillig beschritten, weil auf der Suche nach dem letztendlich angestrebten Beruf experimentiert und auch ein Umweg bewußt in Kauf genommen wird.
In dieser Vielfalt auf der individuellen Verhaltens-ebene werden aber auch generalisierbare Gemeinsamkeiten sichtbar. Unsere Befunde stützen die These „von der kalkulierbaren Karriere zur Patchworkbiographie“ aber nur, wenn unter letzterer nicht nur ein beliebiges Aneinanderfügen zufälliger Erfahrungsfelder, sondern auch eine permanente Anstrengung für neue und bessere Handlungsmöglichkeiten verstanden wird. Denn eines war mit zu vernachlässigenden Ausnahmen bei allen von uns untersuchten Jugendlichen spürbar: eine hohe Arbeits-und Berufsmotivation am Ende der allgemeinbildenden Schulzeit, aber auch eine große Orientierungs-und Hilflosigkeit bei der konkreten Realisierung des Berufseinstiegs. Dies hatte notwendigerweise in der Übergangsphase eine intensive Auseinandersetzung mit der Realität der Arbeitswelt zur Folge; das ernste Bemühen um Arbeit und Beruf prägt diesen Lebensabschnitt.
Die Notwendigkeit beruflicher Orientierung einschließlich wiederholter Neu-oder auch Umorientierungen besteht im übrigen nicht nur für Jugendliche in berufsvorbereitenden Maßnahmen oder für Ausbildungsplatzsuchende, sondern auch für Jugendliche, die einen oder gar ihren gewünschten Ausbildungsplatz gefunden haben. Auch sie sind während des Verlaufs ihrer Ausbildung immer wieder gefordert, ihre Berufswahlentscheidung zu überprüfen.
Auch wenn unsere Untersuchung nicht repräsentativ war, ist es interessant, die Verteilung dieser qualitativen Befunde in der Untersuchungsgruppe auszuzählen: Von den 195 Jugendlichen, die in der dritten Erhebungswelle noch erfaßt wurden, hatten am Ende 120 eine Berufsausbildung abgeschlossen. Nur 72 davon arbeiteten zuletzt im erlernten Beruf; immerhin 23 ausgebildete Jugendliche begaben sich anschließend in weiterführende Bildungs-oder Ausbildungsgänge.
Die Verteilung der Jugendlichen auf die zuvor anhand der neun Fallbeispiele vorgestellten Berufseinstiegsmuster zeigt die Tabelle.
Die 42 noch in Ausbildung befindlichen Jugendlichen werden aller Voraussicht nach ihren Berufs-einstieg nach einem der bereits benannten Muster von Varianten der Normalbiographie bewältigen können -darunter aber nur einer mit der Chance eines Direkteinstiegs, denn 25 haben bereits berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen in Anspruch genommen (unterstützte Normalbiographie), und die 16 verbleibenden haben bereits andersweitige Umwege hinter sich (verlängerte Normalbiographie), t Bei den 42 Direkteinsteigern in einen erlernten Beruf fällt auf, daß darunter keiner ohne Hauptschulabschluß, nur drei mit einfachem und auch nur acht mit einem qualifizierten Hauptschulabschluß waren, aber 20 Jugendliche mit mittlerem Bildungsabschluß und immerhin elf mit Hochschulreife. Demgegenüber verfügten von den sechs Jugendlichen, die nach erfolgreichem Abschluß ihrer Ausbildung direkt in die Arbeitslosigkeit entlassen wurden, einer über keinen, zwei nur über den einfachen und weitere zwei über den qualifizierten Hauptschulabschluß. Die Normal-biographie des Direkteinstiegs ins Arbeitsleben über eine betriebliche Ausbildung ist offensichtlich allein mit dem Hauptschulabschluß immer schwieriger zu realisieren; sie setzt offenbar in der Regel mindestens einen mittleren Bildungsabschluß voraus. Direkteinsteiger sind häufiger männliche, seltener weibliche und noch seltener ausländische Jugendliche.
Erfolgreiche Berufseinstiege auf dem Wege der unterstützten Normalbiographie -nach oder unter Zuhilfenahme von berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen -kommen nicht nur bei Jugendlichen mit niedriger schulischer Vorbildung vor. Wenn Jugendliche mit weiterführenden Schulabschlüssenvon diesem Angebot Gebrauch machen, dann tun sie dies insbesondere unter Bedingungen günstiger objektiver Chancenstrukturen, wo Verbesserungen der Einstiegsvoraussetzungen auch verwertbar sind, in unserer Untersuchung also fast ausschließlich in München.
Verlängerte Normalbiographien, das heißt unabhängig von berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen absolvierte Umwege in den Beruf, finden wir vor allem bei weiblichen Jugendlichen, bei Jugendlichen aus gehobenen Herkunftsverhältnissen, mit mittleren und hohen Schulabschlüssen, vorwiegend in München und ausschließlich bei deutschen Jugendlichen. Hier scheint von Bedeutung zu sein, daß sich Alternativen zum einmal gewählten Berufseinstieg vor allem für diejenigen bieten, die mit guten persönlichen Voraussetzungen, also insbesondere mit weiterführenden Schulabschlüssen von bestehenden objektiven Chancen im Übergangssystem Gebrauch machen können.
Mit abgeschlossener Ausbildung in berufsfremde Arbeit steigen vorwiegend junge Männer aus einfachen Herkunftsverhältnissen und mit einfachen oder allenfalls mittleren Bildungsabschlüssen ein. Es handelt sich dabei ausnahmslos um Jugendliche, die in gewerblichen Handwerksberufen (Maurer, Stukkateur, Maler und Lackierer, Gas-und Wasserinstallateur, Kfz-Lackierer) oder in einfachen IHK-Berufen (Teilezurichter, Kabeljungwerker, Einzelhandelskaufmann) ausgebildet wurden und die in ihrem Ausbildungsberuf offensichtlich nicht ihre berufliche Zukunft sehen. Eine Rolle mag auch spielen, daß sie in Berufsfeldern ausgebildet sind, in denen gerade bei einer Übernachfrage nach Ausbildungsplätzen in unterschiedlichem Umfang auch über Bedarf ausgebildet wird.
Nach Ausbildungsabschluß in ein Hochschulstudium übergewechselt -fachbezogen oder fach-fremd -sind vor allem junge Frauen aus gehobenen Verhältnissen, fast nur deutsche und natürlich schulisch gut vorgebildete (weibliche) Jugendliche.
Jugendliche, die ihr Berufsleben ohne abgeschlossene Ausbildung mit ungelernter Arbeit beginnen, haben in der Regel keinen oder nur einen einfachen Schulabschluß und kommen fast immer aus einfachen sozialen Verhältnissen. Ausländische und auch Münchener Jugendliche sind darunter stark überrepräsentiert, letztere sicher auch deshalb, weil es in München einen Job-Arbeitsmarkt gab, auf dem sich auch für diese Jugendlichen Beschäftigungschancen in nennenswertem Umfang boten.
Die Kennzeichnung der Jugendlichen, die vor ihrem Berufseinstieg sogenannte „Maßnahmenkarrieren“ durchlaufen, fällt ähnlich aus wie die der soeben beschriebenen Gruppe der ausbildungslosen Ungelernten, mit dem einzigen aber gravierenden Unterschied, daß es sich dabei vorwiegend -bei den „reinen Maßnahmenkarrieren“ sogar ausschließlich -um Duisburger Jugendliche handelt. Alle Münchner Jugendlichen hatten hingegen zu irgendeinem Zeitpunkt einmal einen Ausbildungsplatz.
Ein anderer Befund betrifft den Ausbildungsabbruch. Insgesamt 47 -das sind etwa 25 Prozent -der von uns befragten Jugendlichen haben im Verlauf der Untersuchung mindestens eine betriebliche Ausbildung abgebrochen, einzelne sogar bis zu viermal. Fünf weitere Jugendliche haben ein Hochschulstudium, zehn eine Berufsfachschulausbildung nicht beendet.
Eines der wichtigsten Ergebnisse unseres Längs-schnitts ist: Es gibt keine Jugendlichen (mehr), schon gar keine über bestimmte Kriterien wie Nationalität, Geschlecht oder Schicht zu kennzeichnende Gruppe von Jugendlichen, in deren Lebensentwurf von vornherein der Verzicht auf eine Berufsausbildung enthalten ist. Selbst bei den Jugendlichen, die am Ende ohne Ausbildung geblieben sind, und von denen wir annehmen dürfen, daß sie das Vorhaben auch endgültig aufgegeben haben, hat irgendwann einmal eine Ausbildungsabsicht vorgelegen, die aber aus Gründen, die in den sozialen Herkunftsverhältnissen liegen, oder aufgrund besonderer biographischer Ereignisse nicht verwirklicht werden konnte
Es gibt eine Gruppe von Jugendlichen, die ganz offensichtlich in unserem Bildungs-und Ausbildungssystem nach wie vor benachteiligt ist. Der im fünften Fallbeispiel vorgestellte ausländische Jugendliche ist unter den 33 ausländischen Jugendlichen unserer Untersuchungsgruppe der einzige, der es -mit der persönlichen Unterstützung eines früheren Lehrers, wie er betonte -geschafft hat, über eine Berufsausbildung an einer Kollegschule zu einem Hochschulstudium zu gelangen. Nur sechs weitere ausländische Jugendliche hatten am Ende einen Berufsabschluß und einen Arbeitsplatz: zwei davon unter Inanspruchnahme ausbildungsbegleitender Hilfen als Maler und Lackierer, zwei als Einzelhandelskauffrauen, einer als Kfz-Mechaniker und einer als Elektroinstallateur; dagegen waren sieben ausländische Jugendlichezuletzt arbeitslos und neun arbeiteten als Ungelernte bzw. waren in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme untergekommen.
Als letzter Befund unserer qualitativen Untersuchung sei auf die Unterschiede der Berufsperspektiven und Lebensentwürfe zwischen den Geschlechtern aufmerksam gemacht, die natürlich auch auf ein geschlechtsspezifisch unterschiedliches Berufswahlverhalten und unterschiedliche Berufseinmündungen zurückwirken. Die Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf wird von allen Jugendlichen angestrebt. Für die männlichen Jugendlichen bedeutet dies aber nach wie vor überwiegend die Vereinbarkeit einer lebenslangen Vollzeitberufstätigkeit mit den Anforderungen der Familie. Bei den Mädchen und jungen Frauen überwiegt der doppelte Lebensentwurf in Form von Familienarbeit verbunden mit Teilzeitbeschäftigung in der Familienphase mit Kindern. Eine Nur-Hausfrauenrolle wird von fast allen jungen Frauen an der zweiten Schwelle abgelehnt. Eine ausgesprochen auf eine berufliche Karriere hin orientierte Lebensplanung kommt hingegen schon vor. Die Mehrheit allerdings akzeptiert berufliche Abstriche zugunsten der Familie, verlangt dafür aber ein hohes Maß an Berufszufriedenheit. Eine -benachteiligte -Minderheit findet sich damit ab und richtet sich darauf ein, einmal neben der Familienarbeit zum Zwecke des Zuverdienstes auf unqualifizierte Hilfsarbeiten oft in ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen angewiesen zu sein
IV. Vielfalt -die neue Normalität des Berufseinstiegs?
Die Ausdifferenzierung der Übergangsverläufe von der Schule in den Beruf oder auch die „Erosion“ der Normalbiographie der Berufseinmündung, die in unserer Untersuchung deutlich wurde, umfaßt keineswegs den vorsätzlichen Verzicht auf eine abgeschlossene und anerkannte Berufsausbildung durch die Jugendlichen und rechtfertigt schon gar nicht die Abkehr von der bildungspolitischen Forderung nach einer Ausbildung für alle. Selbst wenn Jugendliche gegen Ende einer Ausbildung zu der Überzeugung gekommen sind, daß sie in ihrem Ausbildungsberuf anschließend nicht . arbeiten wollen, streben sie in der Regel dennoch den erfolgreichen Abschluß an oder suchen sich unverzüglich eine neue Lehrstelle. Verabschieden muß man sich allerdings von der Vorstellung einer quasi verpflichtenden Normalbiographie, die aus einer möglichst nahtlos an die Schule angeschlossenen Berufsausbildung mit direkt anschließender Beschäftigung im erlernten Beruf -wenn möglich sogar im Ausbildungsbetrieb -besteht. Hier stimmen unsere Ergebnisse mit denen älterer Verlaufs-untersuchungen über Absolventen betrieblicher Ausbildungen überein, die schon in den achtziger Jahren ergeben hatten, daß nur gut die Hälfte der ausgebildeten Jugendlichen anschließend im erlernten Beruf tätig war und auch wieder nur die Hälfte vom Ausbildungsbetrieb übernommen worden ist, sei es im erlernten Beruf oder mit einer anderen Tätigkeit
Das Ausbildungsverhalten der Jugendlichen und insbesondere die oben gegebenen Hinweise zu den notwendigen individuellen Orientierungsleistungen in der Übergangsphase machen auch deutlich, daß es bei der Berufseinmündung für die meisten Jugendlichen nicht (mehr) ausschließlich um fachliche berufliche Qualifizierungen geht, sondern daß Orientierungsphasen wiederholt notwendig werden können, Korrekturen einmal eingeschlagener Wege möglich sein und Alternativen an unterschiedlichen Stationen offen gehalten werden müssen. Die Übergangsverläufe werden von daher nicht nur ausdifferenziert, sondern zwangsläufig auch ausgedehnt. Dies erscheint geradezu als die neue Normalität des Übergangssystems. Aber damit sind nicht für alle gleiche oder gar erweiterte Chancen verbunden, denn insbesondere schwache und sozial benachteiligte Jugendliche verbessern ihre beruflichen Perspektiven jedenfalls dann nicht, wenn sie nur über für sich alleine nicht verwertbare Maßnahmen gelenkt werden. Für sie wäre statt dessen der bessere Weg eine verlängerte Ausbildung in einem der anerkannten Ausbildungsberufe selbst ganz im Gegensatz zu den bis heute immer wieder diskutierten besonderen Kurzausbildungen mit minderen beruflichen Qualifikationen unterhalb des Niveaus anerkannter Ausbildungsberufe.Dennoch darf insgesamt auf die Ergänzung der berufsfachlichen Ausbildungsgänge um berufs-vorbereitende Bildungsmaßnahmen, Motivationsund Orientierungshilfen sowie um ausbildungsund berufsbegleitende Hilfen, die mehr sein müssen als Nachhilfeunterricht, nicht verzichtet werden. Die Mehrzahl der Jugendlichen nimmt diese Maßnahmen, sofern sie nicht verschult sondern mit sozialpädagogischer Qualität und mit Lebens-und Arbeitsweltbezug angeboten werden, sehr ernst, weil sie ganz überwiegend einen ersten realitätsnahen und ganzheitlichen Eindruck des künftigen Arbeitslebens vermitteln. In der Öffentlichkeit immer wieder geäußerte negative Bewertungen derartiger Maßnahmen als unnütze Warte-schleifen auf dem Weg ins Arbeitsleben sind nur gerechtfertigt, wenn ausbildungsmarkt-und beschäftigungspolitische Rahmenbedingungen den Übergang in die Regeleinrichtungen von Ausbildung und Beschäftigung nicht zulassen. Nach unseren Untersuchungsergebnissen erbringen diese Maßnahmen jedoch durchweg bemerkenswerte Beiträge zur beruflichen Sozialisation. Viele ihrer Nutzer sind auf sie angewiesen und nehmen sie deshalb oft gezielt in Anspruch. Auch dies sollte bei einer Gesamtbewertung dieser Maßnahmen berücksichtigt werden.
V. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse
Ausgangspunkt und erkenntnisleitendes Interesse unserer Untersuchung waren relativ praktische Fragen der Rekonstruktion der Berufseinmündungsprozesse von Jugendlichen, die Ausbildung von Orientierungsmustern und Handlungsstrategien im Zusammenspiel mit den vorhandenen Strukturen des Übergangssystems und den verfügbaren Ressourcen zur Bewältigung eines erfolgreichen Berufseinstieges. Theoretische Fragen der Untersuchung, wie sie in der Einleitung beschrieben wurden, betreffen die Themen Individualisierung der Biographien, Ausdifferenzierung der Strukturen, Veränderung der Bedeutung von Arbeit und Beruf im Lebenslauf sowie Entkoppelung von Bildung und Beschäftigung. Hinzu kamen Implikate wie Regionalität, Geschlechtsspezifik und ein verändertes Verhältnis von sozialer Herkunft und sozialer Zukunft. Im folgenden werden bezogen auf diesen theoretischen Rahmen die wichtigsten übergreifenden Befunde unserer Untersuchung zusammengefaßt und thesenhaft vorgestellt. 1. Berufliche Integration wird von allen Jugendlichen als Voraussetzung für gesellschaftlichen Status und Teilhabe an materiellem Wohlstand begriffen. Bereits an der ersten Schwelle wurde deutlich, daß ein „normales“ Arbeitsleben mit Erwerbsarbeit, die nicht nur die materielle Existenz sichert, sondern die auch bestimmten inhaltlichen Ansprüchen genügt und für die man deshalb qualifiziert ausgebildet sein muß, zu den zentralen Lebensvorstellungen der männlichen ebenso wie der weiblichen Jugendlichen gehört. Die Grundlage dafür sehen die Jugendlichen in einem gesicherten Arbeitsplatz. Für über 75 Prozent der Jugendlichen hatte die Arbeitsplatzsicherheit vor allen anderen ihre Zukunft betreffenden Fragen die höchste Priorität.
Weder in München noch in Duisburg fanden wir zum Zeitpunkt des Berufseinstiegs Belege für eine ausgeprägte distanziert-gleichgültige Haltung der Jugendlichen gegenüber Arbeit und Beruf, ganz deutlich dagegen ein Vertrauen in die Leistungsgesellschaft, die individuelle Bemühungen und Anstrengungen belohnt. Auch die Antworten am Ende der Längsschnittstudie lassen keinen anderen Schluß zu: Für die Jugendlichen existiert -auch wenn der Einstieg in eine qualifizierte Berufsarbeit noch immer nicht gelungen ist -jenseits von Arbeit und Beruf keine denkbare alternative Grundlage für gesellschaftliche Teilhabe. Selbst Mißerfolgserlebnisse begründen noch keine grundlegende Abkehr von diesem gesellschaftlich vorgegebenen und institutionell gestützten Existenzmodell. 2. Der am Ende der Schule von uns festgestellten starken Arbeits-und Berufsorientierung entspricht bei allen Jugendlichen auch der Wunsch nach einer anerkannten Berufsausbildung, um die sie sich auch sehr bemühen. Es gibt fast keine Jugendlichen mehr und schon gar keine anhand bestimmter Merkmale wie Geschlecht, Nationalität oder soziale Herkunft beschreibbaren spezifischen Gruppen, die von vornherein auf eine qualifizierte Berufsausbildung verzichten. 3. Im Gegensatz zu dieser durchgängig positiven Arbeits-und Berufsorientierung stellen wir aber auch an der ersten Schwelle in der Regel eine große individuelle Orientierungs-und Hilflosigkeit fest, wenn es darum geht, den Berufseinstieg konkret anzugehen und zu bewältigen. Dieses gilt insbesondere für sozial schwache Jugendliche aus benachteiligten Milieus. Ihnen werden schulische Bildungszertifikate als Mittel sozialen Aufstiegs nicht selten verwehrt, weil sie oft nicht über die für einen erfolgreichen Schulabschluß erforderlichenVoraussetzungen verfügen. Außerdem gelangen sie -bedingt durch die Entkoppelung von schulischem Lernen und Anforderungen der Arbeitswelt -nicht einmal mehr in den Genuß einer schulischen Berufspropädeutik für die ihnen allenfalls noch offenstehenden einfachen Berufe. Insbesondere den jungen Frauen aus ausländischen Arbeiterfamilien wird dadurch eine eigenständige Existenz oft unmöglich gemacht. Sie bleiben auf die traditionellen herkunftsfamilialen Rollenmuster und Versorgungszusammenhänge angewiesen oder, wenn sie sich die mit dem Ausstieg aus diesen Verhältnissen verbundenen Konflikte leisten, auf ein sozialstaatlich alimentiertes Leben als ungelernte Sozialhilfeempfängerinnen.
Unter günstigen Bedingungen des regionalen Ausbildungs-und Arbeitsmarktes, wie wir sie in unserer Untersuchung in München vorfanden, werden diese Benachteiligungen oft kurzfristig oder unmittelbar nicht virulent. Hier können vielmehr sogar individuell „unreife“ und persönlich unselbständige Jugendliche, wenn sie über einen entsprechenden familialen Rückhalt verfügen -wenigstens vorübergehend -beruflich erfolgreich integriert werden. Aber insgesamt gilt: Die sozial schwer benachteiligten Jugendlichen sind die eigentlichen Modernisierungsverlierer. Die moslemisch-türkische Arbeitertochter in einer großindustriellen Krisenregion hat heute das katholische Arbeitermädchen vom Lande als Kunstfigur für Bildungsbenachteiligung der sechziger Jahre abgelöst. Die berufspropädeutische Leistung der Schule für diese Benachteiligten ist hier ganz offensichtlich unterentwickelt. Dies sehen die meisten Jugendlichen auch so. Selbst wenn sie ihre Schule und Schulzeit retrospektiv ganz allgemein positiv beurteilen, so hat sie doch für ihren konkreten Berufseinstieg nichts gebracht. 4. Jugendliche lassen sich auf eine Vielfalt differenzierter Wege in den Beruf ein. Sie werden teils erzwungen, weil insbesondere Jugendliche aus benachteiligten Verhältnissen mit dem, was ihnen an Ausbildung und Arbeit angeboten wird, oft nicht zurechtkommen; sie werden teils aber auch freiwillig begangen, weil auf der Suche nach dem letztendlich angestrebten Beruf experimentiert wird und auch Umwege bewußt in Kauf genommen werden. Die Normalbiographie des direkten Berufseinstiegs -beispielsweise nach dem Muster (Real-) Schulabschluß, kaufmännische Ausbildung, Arbeit im erlernten Beruf -kommt immer seltener vor. Das Spektrum möglicher Einstiegsverläufe umfaßt neben dem traditionellen Normalfall des bruchlosen Direkteinstiegs in den erlernten Beruf auch den Einstieg in ungelernte Arbeit oder die sozialstaatlich über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Sozialhilfe gestützte Existenz. In unserer Untersuchung konnten wir weitere, zwischen diesen Polen anzusiedelnde typische Verlaufsmuster unterscheiden. Dazu gehören der Normalbiographie ähnliche, sie in Grenzen variierende Übergänge, die etwa gezielte Unterstützungsmaßnahmen einbeziehen oder über Umwege zu Verlängerungen des Übergangsverlaufs führen. Darüber hinaus gibt es Einstiegswege, die zwar auf einer abgeschlossenen Ausbildung basieren, dann aber in fachfremden Beschäftigungen oder auch in weiterführenden Bildungsgängen an allgemeinbildenden oder beruflichen Schulen oder auch an Hochschulen fortgesetzt werden. Schließlich gibt es sehr lange „Maßnahmenkarrieren“ mit vielfach gescheiterten Ausbildungsversuchen, die keineswegs alle zu der angestrebten Eingliederung in die Regelagenturen von Ausbildung und Beschäftigung führen. 5. Unabhängig davon, auf welchem Weg der Berufseinstieg erfolgt, ist die Zeit nach dem Verlassen der allgemeinbildenden Schule eine Phase intensiver Auseinandersetzung mit der Realität der Arbeitswelt bei allen Jugendlichen. Das Ringen um Arbeit und Beruf dominiert diesen Lebensabschnitt. Dabei sind die Jugendlichen zu vielfältigen individuellen Leistungen herausgefordert („berufliche Selbstsozialisation“). Von einem psychosozialem Moratorium ist hierbei meist wenig zu spüren. Dieser von der Jugendforschung im Zusammenhang mit der allgemeinen Verlängerung der Jugendphase vorgetragene Befund setzt offensichtlich die institutionellen Strukturen von Schulen voraus und bezieht allenfalls -und nur in Ansätzen -diejenigen Schulabgänger ein, die sich anschließend in vollzeitschulischen Formen beruflicher Qualifizierung befinden oder, bereits mit der Hochschulzugangsberechtigung ausgestattet, eine betriebliche Ausbildung schon mit der Option aufnehmen, anschließend zu studieren.
Mit dem intensiven Prozeß der „individuellen Verberuflichung" in dieser Lebensphase gehen auch die anderen partiellen Entwicklungen des Erwachsenwerdens einher: die Ablösung von der Herkunftsfamilie, finanzielle Unabhängigkeit, der Entwurf eigener privater Zukunftspläne, die Aufnahme fester Partnerbeziehungen, aber auch eine wachsende gesellschaftliche Teilhabe, was sich in unserer Untersuchung auch in einem zwischen der ersten und der zweiten Schwelle stark gestiegenen Interesse an Politik ausdrückt. 6. Die Wege in den Beruf und die individuellen Bewältigungsstrategien, die Jugendliche dafür ausbilden, sind natürlich nicht unabhängig von den Strukturen des regionalen Übergangssystems. Der Regionalvergleich München -Duisburg hat gezeigt, daß sowohl das unterschiedliche Ausbildungs-und Arbeitsplatzangebot als auch die Alternativen im regionalen Bildungsangebot von den Jugendlichen deutlich wahrgenommen und in ihre individuellen Entscheidungen einbezogen werden. Beispiele dafür sind der „freiwilligere“ Wechsel von Ausbildungsplätzen im besser versorgten München und die häufigere Nutzung der Möglichkeiten, weiterführende Schulabschlüsse im durchlässigeren beruflichen Schulwesen in Duisburg nachzuholen. 7. Die die Regeleinrichtungen der beruflichen Bildung ergänzenden und flankierenden „Maßnahmen“ -also berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen sowie ausbildungs-und berufsbegleitende Hilfen der Arbeitsverwaltung und der berufsbezogenen Jugendhilfe -sind zu einem unverzichtbaren Bestandteil des Übergangssystems geworden. Insbesondere viele sozial benachteiligte Jugendliche, die nicht über den zur erfolgreichen individuellen Bewältigung des Berufseinstiegs erforderlichen familialen Hintergrund verfügen, sind auf dieses Angebot angewiesen. Für die Mehrzahl dieser Jugendlichen weisen die Maßnahmen durchaus wesentliche Merkmale der wirklichen Arbeitswelt aus und haben mithin einen positiven Einfluß auf ihre berufliche Sozialisation, auch wenn ihre Funktion als Mittel zum Einstieg in Ausbildung und Arbeit unter ungünstigen Arbeitsmarktbedingungen in der Region nicht zum Tragen kommt. Pauschale Diskreditierungen solcher Maßnahmen als Warteschleifen oder Parkplätze sind daher unangebracht. 8. Die Abhängigkeit des Berufseinstiegs und der beruflichen Sozialisation von den regionalen Gegebenheiten des Übergangssystems finden wir vor allem in bezug auf die tatsächliche berufliche Positionierung der Jugendlichen bestätigt. Hier wirken sich die unterschiedlichen Ressourcen, Arbeitsmarktbedingungen und die darauf bezogenen kommunalen Berufsbildungspolitiken deutlich aus. Weniger offensichtlich, aber durchaus spürbar ist der Einfluß von Regionalität auf die individuellen Sozialisationsverläufe, die aber stärker durch andere (familiale und schulische) Einflüsse geprägt sind. Der Zusammenhang von Persönlichkeitsentwicklung und beruflicher Sozialisation wird gelokkert, wo wie in München die Jugendlichen sich angesichts der Antizipation eines offeneren Arbeitsmarktes länger Optionen in bezug auf ihr späteres Berufsleben offenhalten können. 9. Die Ergebnisse des Längsschnitts zum Zusammenhang von beruflicher Sozialisation und sozialer Ungleichheit belegen auch, daß eine Individualisierung im Sinne einer Überwindung der durch die sozialen Herkunftsmilieus gesetzten Vorgaben in den schulischen und beruflichen Karrieren weit weniger wirksam ist, als dies etwa die Formel der „individualisierten Jugendbiographie“ ausdrückt Der Zusammenhang von sozialer Herkunft und sozialer Zukunft ist nach wie vor bedeutsam. Ebensowenig wie wir Sozialisationsprozesse gefunden haben, in denen Arbeit Und Beruf überhaupt keine Rolle spielen, haben wir herkunfts-und milieuunabhängige, ausschließlich individuell autonom bestimmte Biographien entdecken können. Auch die Unterschiede in den Strategien, den Verlaufsmustern und den daraus abgeleiteten sozialen Plazierungen lassen sich nicht in erster Linie als das Ergebnis subjektiver Willensakte deuten, wie dies die Individualisierungsthese nahe-legt, sondern erklären sich vielmehr aus milieubedingtem Bildungsverhalten. Indikatoren für die objektive Chancenstruktur, die den Aktionsradius der Jugendlichen weitgehend bestimmt, sind dabei die örtlichen Bildungsangebote und der regionale Arbeitsmarkt. 10. Für einige Jugendliche ist das Übergangssystem tatsächlich durchlässiger geworden. Es gibt Modernisierungsgewinner. Dabei handelt es sich vorwiegend um Aufsteiger aus einfachen, aber geordneten sozialen Verhältnissen, die wir in erster Linie als Bildungsaufsteiger wahrgenommen haben, und denen in der Tat ein zumindest vorübergehend gelockerter Zusammenhang von Bildung und Arbeit oder Beruf, ganz anders als es in ihren Herkunftsverhältnissen üblich war, einen gewissen Aufstieg über Schulbildung ermöglichte. Mit Schulbildung sind in diesem Fall weiterführende Schulabschlüsse gemeint -auch ohne berufspropädeutische Leistungen der Schule. In einigen Fällen war eine schulische Überqualifizierung für den letztendlich angestrebten Beruf sogar eine Voraussetzung.
Ein gelockerter Zusammenhang von Bildung und Beruf begünstigt in gewisser Weise auch manche jungen Frauen, deren Sozialisationsmuster traditionell schon immer weniger als das männlicher Jugendlicher auf Arbeit und Beruf ausgerichtet war. Ohne sich frühzeitig auf bestimmte berufliche Perspektiven und damit auch verbundene Einschränkungen und Zwänge festlegen zu müssen, können sich insbesondere Mädchen aus gehobe-nen sozialen Herkunftsverhältnissen auf ihre weiterführende Schulbildung konzentrieren und unabhängig von ihrer endgültigen beruflichen Positionierung auch sozial schon erwachsen und persönlich autonom werden und dennoch, vor allem unter günstigen Bedingungen des regionalen Arbeitsmarkts, ihre beruflichen Optionen offen-halten. 11. Für die Erklärung des veränderten Zusammenhangs von sozialer Herkunft und sozialer Zukunft ist die Schule von entscheidender Bedeutung. Die Analyse der Prozeßverläufe zeigt: Sozial stark benachteiligte Jugendliche scheitern bereits in der Schule. Für alle übrigen hat sich -vor dem Hintergrund der vorgefundenen beruflichen Orientierungslosigkeit und des Fehlens arbeitsweltbezogener Handlungskompetenz am Ende der allgemeinbildenden Schule -die Überwindung der ersten Schwelle von der Schule in eine Ausbildung als schwierigster und damit auch weichenstellender Schrift auf dem Weg in den Beruf herausgestellt. Sozialer Aufstieg wiederum setzt eine erfolgreiche weiterführende Schullaufbahn und eine problemlose Überwindung dieser ersten Schwelle voraus. Allerdings ist die Reichweite der Schule als Instrument für sozialen Aufstieg nach unten und nach oben begrenzt. Milieubenachteiligte Unterschichtskinder werden von ihr kaum erreicht und gefördert, sondern eher weiter ausgegrenzt. Die mit weiterführenden Bildungsabschlüssen verbundenen Berechtigungen für sozial benachteiligte Bildungsaufsteiger werden keineswegs immer und selbstverständlich erfolgreich im Beschäftigungssystem umgesetzt; dazu bedarf es in der Regel zusätzlicher, oft nicht vorhandener (familialer) Ressourcen. Das mag eine Erklärung dafür sein, daß sozialer Aufstieg über Bildung oft zwei -bei Ausländern, die zusätzlich zur Bildungs-auch noch die Kulturbarriere überwinden müssen, sogar drei -Generationen dauert. 12. Zu den Perspektiven und Lebensentwürfen von Jugendlichen an der zweiten Schwelle gehört heute durchgängig ein Arbeits-und Berufsleben, das Existenz und Unabhängigkeit sichert, das für viele darüber hinaus auch interessant sein und Spaß machen, für manche gar Lebenssinn stiften und Selbstverwirklichung ermöglichen soll. Das bedeutet aber nicht, daß Arbeit und Beruf absoluten Vorrang haben. Im Gegenteil -sie sind bei der überwiegenden Mehrheit der Jugendlichen eingebettet in einen ganzheitlichen Lebensentwurf, in dem ein zufriedenstellendes Privatleben mit gehobenem Lebensstandard im Mittelpunkt steht, mit dem aber untrennbar eine anerkannte Berufstätigkeit verknüpft ist.
Die Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf wird von allen Jugendlichen angestrebt. Für die männlichen Jugendlichen bedeutet dies nach wie vor überwiegend die Vereinbarkeit einer lebenslangen Vollzeit-Berufstätigkeit mit einer eigenen Familie. Bei den Mädchen und jungen Frauen überwiegt der doppelte Lebensentwurf in der Form von Familienarbeit verbunden mit Teilzeitbeschäftigung in der Familienphase mit Kindern. Eine Nur-hausfrauen-Rolle wird von fast allen Mädchen an der zweiten Schwelle abgelehnt. Eine ausgesprochen auf eine berufliche Karriere hin orientierte Lebensplanung hingegen kommt schon vor. Die Mehrheit allerdings akzeptiert gewisse berufliche Abstriche zugunsten der Familie, verlangt dafür aber auch ein hohes Maß an Berufszufriedenheit.
Erich Raab, M. A. (Soziologie), geb. 1943; wissenschaftlicher Referent in der Abteilung Jugend und Bildung des Deutschen Jugendinstituts München. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Hermann Rademacker und Gerda Winzen)'Handbuch Schulsozialarbeit, München 1987; Jugend sucht Arbeit, München 1996.
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