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Verhandlungen mit den Vier Mächten | bpb.de

Informationen zur politischen Bildung Nr. 352/2022

Verhandlungen mit den Vier Mächten

Manfred Görtemaker

/ 25 Minuten zu lesen

Am 18. November 1989 treffen sich auf Einladung des französischen Präsidenten François Mitterand die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft (EG) im Élysée-Palast in Paris zu einem Sondergipfel, um über die jüngsten dramatischen Entwicklungen in Europa zu diskutieren. Frankreich hat die Präsidentschaft der EG inne (© picture-alliance, dpa | Michael_Jung)

Während die ökonomischen und innenpolitischen Aspekte der Wiedervereinigung im Wesentlichen von den Deutschen im Alleingang entschieden werden konnten, war für die Behandlung der außenpolitischen Fragen ein Verhandlungsrahmen notwendig, der nicht nur die beiden deutschen Staaten, sondern auch die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges einschloss.

Ein Grund dafür waren die schon genannten „Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in Bezug auf Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung“, wie es in den Pariser Verträgen zwischen der Bundesrepublik und den Westmächten vom 23. Oktober 1954 hieß. Zum anderen ergab sich die Notwendigkeit einer Beteiligung der Vier Mächte aber auch aus der politischen Entwicklung nach 1989. Denn eine deutsche Wiedervereinigung bedeutete weit mehr als die bloße Zusammenführung der beiden deutschen Teilstaaten. Die gesamte europäische Ordnung stand damit zur Disposition. Da die DDR den Eckpfeiler der sowjetischen Herrschaft in Osteuropa bildete, drohte ihr Verlust in Verbindung mit den Reformbewegungen in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei zum Zusammenbruch des gesamten sowjetischen Imperiums in Ost- und Ostmitteleuropa zu führen. Selbst Frankreich und Großbritannien betrachteten die sich abzeichnende Neuordnung in der Mitte Europas daher mit historisch begründeter Skepsis.

Uneinigkeit der Westmächte

Die Unsicherheit und Besorgnis unter den europäischen Nachbarn über die Perspektive einer Wiedervereinigung Deutschlands wurde bereits unmittelbar nach der Maueröffnung deutlich, als der französische Präsident François Mitterrand am 14. November 1989 ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der zwölf Länder der Europäischen Gemeinschaft forderte, um „die jüngsten Entwicklungen in Europa zu diskutieren“ und „eine gewisse Kontrolle über die Veränderungen zu gewinnen“. Nach der Vorlage des Zehn-Punkte-Plans von Bundeskanzler Kohl am 28. November teilte Mitterrand einer Gruppe französischer Journalisten mit, er halte eine deutsche Wiedervereinigung für eine „rechtliche und politische Unmöglichkeit“. Gegenüber Bundesaußenminister Genscher äußerte er, ein wiedervereinigtes Deutschland „als eine eigenständige Macht, unkontrolliert“, sei unerträglich für Europa; es dürfe niemals wieder eine Situation eintreten wie 1913, vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

QuellentextDer französische Staatspräsident François Mitterrand zur deutschen Einheit

François Mitterrand, Präsident Frankreichs von 1989 bis 1995, lehnt eine deutsche Wieder­vereinigung zunächst ab. (© ullstein bild - vario images)

Der demokratische Prozess ist kinderleicht: Die Ostdeutschen und die Westdeutschen werden wählen. Wenn sie gewählt haben, werden sie Abgeordnete haben. Unter diesen Abgeordneten werden sich Mehrheiten abzeichnen, aus diesen Mehrheiten werden Regierungen entstehen, die Programme haben, Botschaften. Wenn diese Botschaft auf beiden Seiten „sofortige Vereinigung“ heißt, wird sich das Problem demokratisch gestellt haben. Ich habe von Anfang an die Bedingung genannt – das war Anfang November, vor den Ereignissen vom 9. November, am 3. November in Bonn im Anschluss an die deutsch-französischen Konsultationen. Ich habe gesagt: „Der demokratische Weg und der friedliche Weg.“ Nun, der demokratische Weg wäre damit erfüllt. Was den friedlichen Weg angeht, so muss er festgelegt werden. 45 Jahre sind vergangen, und ich werde den Deutschen keine Lehren erteilen, das Recht gestehe ich mir nicht zu. Ich habe nicht die Absicht, sie zu bevormunden, Deutschland zu sagen: Wir werden uns Ihnen gegenüber so verhalten, als hätten wir gerade den Konflikt hinter uns, in dem wir Gegner waren. Das sind schon neue Generationen, das ist eine neue Seite der Geschichte, daher weigere ich mich persönlich, davon auszugehen, man könne die Deutschen behandeln, als stünden sie unter Vormundschaft.

Pressekonferenz am 22. Dezember 1989, in: Europa-Archiv, Folge 4/1990, S. D 97

Man muss sich jedesmal freuen, wenn ein demokratisch konsultiertes Volk sich für die Einheit entscheidet. Deswegen habe ich hier keine Vorbehalte. […] Die Konsequenzen (der deutschen) Einigung bestehen darin, dass die Deutschen sich für die Achtung der Grenzen in Europa einsetzen müssen. […] Zweitens muss Deutschland – und dazu ist es im Übrigen Kanzler Kohl zufolge auch vorbehaltlos bereit – sich in der Europäischen Gemeinschaft ganz klar für die politische Union und die Wirtschafts- und Währungsunion engagieren […]. Das deutsche Problem darf nicht an die Stelle des Gemeinschaftsproblems treten. […]

Als Westdeutschland […] in Bezug auf die Unantastbarkeit der polnischen Grenze, der Oder-Neiße-Linie, zögerte und sich […] mehr mit deutschen Problemen als mit die Gemeinschaft unmittelbar bewegenden Problemen befasste, habe ich ohne Unterlass und auf die Gefahr hin, einen Teil der Presse zu irritieren, weiterhin an meinem Ja zur Wiedervereinigung festgehalten. […] Ich denke, Westdeutschland, dessen Wirtschaft im Gegensatz zu der Ostdeutschlands floriert, wird sehr damit beschäftigt sein, die Währungsunion zwischen den beiden Ländern in Gang zu bringen, und dies lässt wirtschaftliche Spannungen erwarten, die die deutschen Wirtschaftsführer nicht so leicht werden überwinden können. […]

Wir sind mit der Geschichte vertraut. Seit 1000 Jahren schon sind wir die Nachbarn der Deutschen. Diese waren immer schon ein großes Volk, das manchmal vereinigt, meist aber geteilt war. […] Um das deutsche Problem in den Griff zu bekommen, muss man über das Problem des deutsch-französischen Paares hinausblicken – dabei muss man allerdings darauf achten, dass es zusammenhält – und sich mit dem Problem Gesamteuropas auseinandersetzen.

Rundfunkinterview vom 25. März 1990

QuellentextDie Skepsis der britischen Premierministerin Margaret Thatcher

Margaret Thatcher, britische Premierministerin von 1979 bis 1990, lehnt eine deutsche Wieder­vereinigung zunächst ab. (© picture-alliance/dpa)

Der wahre Ursprung der deutschen Angst (im Original deutsch; A. d. Ü.) ist die Qual der Selbsterkenntnis. Wie ich bereits erklärt habe, ist das einer der Gründe, warum so viele Deutsche aufrichtig – und wie ich meine, irrigerweise – Deutschland in ein föderatives Europa eingebettet wissen wollen. Es ist doch wahrscheinlich, dass Deutschland in einem solchen Gefüge die Führungsrolle einnehmen würde, denn ein wiedervereinigtes Deutschland ist schlichtweg viel zu groß und zu mächtig, als dass es nur einer von vielen Mitstreitern auf dem europäischen Spielfeld wäre. Überdies hat Deutschland sich immer auch nach Osten hin orientiert, nicht nur in Richtung Westen, obwohl die moderne Version solcher Tendenzen eher auf wirtschaftliche denn auf kriegerische territoriale Expansion abzielt. Daher ist Deutschland vom Wesen her eher eine destabilisierende als eine stabilisierende Kraft im europäischen Gefüge. Nur das militärische und politische Engagement der USA in Europa und die engen Beziehungen zwischen den beiden anderen starken, souveränen Staaten Europas, nämlich Großbritannien und Frankreich, können ein Gegengewicht zur Stärke der Deutschen bilden. In einem europäischen Superstaat wäre dergleichen niemals möglich.

Ein Hindernis auf dem Weg zu einem solchen Gleichgewicht der Kräfte war zu meiner Amtszeit die Weigerung des von Präsident Mitterrand regierten Frankreich, französischen Instinkten zu folgen und den deutschen Interessen den Kampf anzusagen. Denn das hätte bedeutet, die französisch-deutsche Achse aufzugeben, auf die Mitterrand sich stützte.

Margaret Thatcher, „Downing Street No. 10. Die Erinnerungen“, übers. von Heinz Tophinke, 2. Auflage, ECON-Verlag, Düsseldorf 1993, S. 1095 f.

Mitterrands langjähriger Vertrauter Régis Debray drohte sogar mit einer Wiederbelebung „der alten französisch-russischen Allianz“, falls ein wiedervereinigtes Deutschland zu sehr an Gewicht gewinnen sollte. Und der frühere französische Außenminister Jean François-Poncet brachte die Bedenken in Frankreich und anderen europäischen Ländern auf den Punkt, als er auf die Gefahr der „wirtschaftlichen und politischen Hegemonie einer Nation mit 80 Millionen Menschen, die den industriellen Koloss Europas bildet“, hinwies – eine Sorge, die von der britischen Premierministerin Margaret Thatcher geteilt wurde. In der Tradition klassischen britischen Gleichgewichtsdenkens hielt sie ein geeintes Deutschland für eine ernsthafte Herausforderung der seit dem Zweiten Weltkrieg erreichten Stabilität – nicht, wie früher, im militärischen Sinne, sondern aufgrund der Stärke der deutschen Wirtschaft, die durch die Einbindung in die Europäische Gemeinschaft noch vergrößert werde. Daher dürfe man die deutsche Wiedervereinigung „nicht übereilen“. Ähnlich sah es auch der italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti, der erklärte, der Zehn-Punkte-Plan des Bundeskanzlers komme „zum falschen Zeitpunkt“; eine deutsch-deutsche Konföderation oder gar eine Wiedervereinigung seien „nicht aktuell“.

Unterstützung aus den USA

In den USA wurde die Möglichkeit einer Wiedervereinigung dagegen begrüßt. Präsident Bush sen. und Außenminister Baker hoben lediglich die Notwendigkeit hervor, den Einigungsprozess mit der konstruktiven Entwicklung der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen in Einklang zu bringen. Außerdem müsse die Vereinigung der beiden deutschen Staaten sich innerhalb der Institutionen von NATO und Europäischer Gemeinschaft vollziehen und die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte berücksichtigen. Es gelte, „eine neue Architektur für ein neues Zeitalter“ zu entwickeln, bemerkte Außenminister Baker dazu am 12. Dezember 1989 in Berlin.

Dieser Auffassung schloss sich schließlich auch die französische Regierung an, als sie erkannte, dass die Wiedervereinigung nicht zu verhindern war. Diese müsse allerdings auf der gesicherten Einbindung Deutschlands in westliche Institutionen beruhen. So erklärte Mitterrand während eines inoffiziellen Treffens mit Bundeskanzler Kohl im Januar 1990 auf seinem Landsitz in Latché in der Gascogne, das größte Hindernis für eine deutsche Wiedervereinigung sei „die Gefahr einer Neutralisierung Deutschlands“, die als Ausweg aus der Mitgliedschaft der beiden deutschen Staaten in verschiedenen Militärbündnissen gesehen werden könnte. Daher müsse die deutsche Einigung mit einer Intensivierung der europäischen Integration einhergehen. Das Ergebnis war der Vertrag von Maastricht vom 7. Februar 1992, dessen Abschluss maßgeblich von Deutschland und Frankreich vorangetrieben worden war und in dem die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung und die Vertiefung der Integration im Rahmen einer „Europäischen Union“ vereinbart wurde. Frankreichs Zustimmung zur Wiedervereinigung Deutschlands wurde dadurch maßgeblich erleichtert. Großbritannien hingegen verharrte unter Premierministerin Thatcher bis zum Schluss in skeptischer Distanz. Die britische Regierungschefin hielt selbst die deutsche Einbindung in den Maastricht-Vertrag noch für ein Instrument, das der deutschen Nation die Erringung der Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent ermöglichen könnte.

Unterstützung aus den USA

In den USA wurde die Möglichkeit einer Wiedervereinigung dagegen begrüßt. Präsident Bush sen. und Außenminister Baker hoben lediglich die Notwendigkeit hervor, den Einigungsprozess mit der konstruktiven Entwicklung der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen in Einklang zu bringen. Außerdem müsse die Vereinigung der beiden deutschen Staaten sich innerhalb der Institutionen von NATO und Europäischer Gemeinschaft vollziehen und die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte berücksichtigen.

QuellentextUS-Präsident George H.W. Bush zum Vereinigungsprozess in Deutschland

George H.W. Bush, US-Präsident von 1989 bis 1993, befürwortet die deutsche Einheit. (© picture-alliance, CPA Media Co. Ltd)

[…] Ich teile die Sorge mancher europäischer Länder über ein wiedervereinigtes Deutschland nicht, weil ich glaube, dass Deutschlands Bindung an und Verständnis für die Wichtigkeit des (atlantischen) Bündnisses unerschütterlich ist. Und ich sehe nicht, was einige befürchten, dass Deutschland, um die Wiedervereinigung zu erlangen, einen neutralistischen Weg einschlägt, der es in Widerspruch oder potenziellen Widerspruch zu seinen NATO-Partnern bringt. […]

Trotzdem glaube ich nicht, dass wir den Begriff der Wiedervereinigung forcieren oder Fahrpläne aufstellen und über den Atlantik hinweg unsererseits eine Menge neuer Verlautbarungen zu diesem Thema machen sollten. Sie braucht Zeit. Sie benötigt eine vorsichtige Entwicklung. Sie verlangt Arbeit zwischen ihnen (den Deutschen) […] und Verständnis zwischen den Franzosen und Deutschen, den Engländern und Deutschen über alle diese (Fragen). Aber das Thema ist so viel wichtiger und zentraler geworden […] wegen der schnellen Veränderungen, welche in Ostdeutschland stattfinden. […]

Und wer weiß, wie sich Herr Krenz entwickeln wird? Wird er nur eine Verlängerung des Honeckerschen Standpunkts oder etwas anderes sein? Ich glaube nicht, dass er dem Wandel völlig widerstehen kann.

George H. W. Bush in: New York Times vom 25. Oktober 1989

Es gelte, „eine neue Architektur für ein neues Zeitalter“ zu entwickeln, bemerkte Außenminister Baker dazu am 12. Dezember 1989 in Berlin.

Dieser Auffassung schloss sich schließlich auch die französische Regierung an, als sie erkannte, dass die Wiedervereinigung nicht zu verhindern war. Diese müsse allerdings auf der gesicherten Einbindung Deutschlands in westliche Institutionen beruhen. So erklärte Mitterrand während eines inoffiziellen Treffens mit Bundeskanzler Kohl im Januar 1990 auf seinem Landsitz in Latché in der Gascogne, das größte Hindernis für eine deutsche Wiedervereinigung sei „die Gefahr einer Neutralisierung Deutschlands“, die als Ausweg aus der Mitgliedschaft der beiden deutschen Staaten in verschiedenen Militärbündnissen gesehen werden könnte. Daher müsse die deutsche Einigung mit einer Intensivierung der europäischen Integration einhergehen. Das Ergebnis war der Vertrag von Maastricht vom 7. Februar 1992, dessen Abschluss maßgeblich von Deutschland und Frankreich vorangetrieben worden war und in dem die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung und die Vertiefung der Integration im Rahmen einer „Europäischen Union“ vereinbart wurde. Frankreichs Zustimmung zur Wiedervereinigung Deutschlands wurde dadurch maßgeblich erleichtert. Großbritannien hingegen verharrte unter Premierministerin Thatcher bis zum Schluss in skeptischer Distanz. Die britische Regierungschefin hielt selbst die deutsche Einbindung in den Maastricht-Vertrag noch für ein Instrument, das der deutschen Nation die Erringung der Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent ermöglichen könnte.

Unsicherheit in der Sowjetunion

Sehr viel größer als in Großbritannien, Frankreich oder Italien war die Verunsicherung über die Entwicklung jedoch in der Sowjetunion. Hier war man nicht nur mit dem bevorstehenden Zusammenbruch der DDR und dem Verlust Polens, Ungarns und der Tschechoslowakei konfrontiert, sondern fürchtete auch um den Bestand des eigenen Landes. Eine vertrauliche Analyse, die Bundeskanzler Kohl am 16. Januar vorgelegt wurde, ließ erkennen, dass die UdSSR, wie die DDR, ökonomisch und sozial im Niedergang begriffen war. Zwischen 60 und 100 Millionen Sowjetbürger lebten am Rande – oder bereits unterhalb – des Existenzminimums. In den Unionsrepubliken flammten Nationalitätenkonflikte wieder auf. Und die Stimmung in der Armee und bei den Sicherheitskräften verschlechterte sich in gefährlichem Maße. Gorbatschows Bemerkung, im Falle einer deutschen Vereinigung werde es „eine Zwei-Zeilen-Meldung geben, dass ein Marschall meine Position übernommen hat“, war deshalb nicht gänzlich von der Hand zu weisen.

QuellentextDer sowjetische Präsident Michail Gorbatschow zur deutschen Wiedervereinigung

Michail Gorbatschow, General­sekretär des Zentralkomitees der KPdSU von 1985 bis 1991, steht einer deutschen Einheit skeptisch gegenüber. (© picture-alliance, Tim Brakemeier )

Mir scheint, es gibt sowohl bei den Deutschen in West und Ost als auch bei den Vertretern der vier Mächte ein gewisses Einverständnis darüber, dass die Vereinigung der Deutschen niemals und von niemandem prinzipiell in Zweifel gezogen wurde. Wir haben immer gesagt […], dass die Geschichte den Gang der Dinge beeinflusst. So wird es auch in Zukunft sein, wenn sich die deutsche Frage praktisch stellt. […]

In der europäischen wie in der Weltpolitik, ja wir alle in der DDR, in der BRD, in allen europäischen Hauptstädten, erst recht in denen der vier Mächte, müssen jetzt verantwortungsbewusst handeln. […]

Es geht hier um eine Frage, die sowohl das Schicksal der Deutschen in der DDR als auch der Deutschen in der BRD betrifft. Sie muss verantwortungsbewusst diskutiert werden. Auf der Straße ist sie nicht zu lösen. Für mich sind die Ausgangspunkte klar. […] Es gibt zwei deutsche Staaten, es gibt die vier Mächte, es gibt den europäischen Prozess, und der verläuft genauso stürmisch. All das muss in Einklang miteinander gebracht werden. Das liegt in unserem gemeinsamen Interesse. […]

Auf keinen Fall darf man die Interessen der Deutschen schmälern, denn ich bin für einen realistischen Prozess. Wenn wir sagen, die Geschichte wird die Dinge entscheiden, und ich habe das viele Male getan, dann wird das auch so sein, und ich glaube, dass sie bereits ihre Korrekturen einbringt.

Rundfunkinterview am 30. Januar 1990, in: Deutschland Archiv 3/1990, S. 468

Die schwierige Lage der sowjetischen Führung ermöglichte es auf der anderen Seite Bundeskanzler Kohl, im Umgang mit der UdSSR und den Westmächten zunehmend selbstbewusst aufzutreten. Er konnte sich dabei nicht nur auf den Einheitswillen der Ostdeutschen berufen, sondern wusste auch, dass es gegen die Wiedervereinigung kaum noch Widerstand geben konnte, nachdem die USA frühzeitig ihre Zustimmung signalisiert hatten und Frankreich durch Garantien für eine Vertiefung der europäischen Integration für die deutsche Sache gewonnen worden war. Unter Hinweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen verhinderte er so eine von der Sowjetunion vorgeschlagene Vier-Mächte-Konferenz über die Vereinigungsfrage und verlangte von den westlichen Verbündeten, mit der UdSSR über das Deutschland-Problem nur nach vorheriger Konsultation der Bundesregierung zu sprechen.

Zugleich bemühte sich der Kanzler, die Stimmung in der Sowjetunion positiv zu beeinflussen, indem er die Lieferung großer Mengen von Lebensmitteln veranlasste und Vorschläge für eine umfassende bilaterale Zusammenarbeit für die Zeit nach der Wiedervereinigung unterbreitete. Solches Entgegenkommen war umso wichtiger, als in der Sowjetunion „Realisten“, die sich mit der Entwicklung zur Wiedervereinigung zu arrangieren suchten, mit „Orthodoxen“ stritten, die das Rad der Geschichte aufhalten oder zurückdrehen wollten. Großzügige Gesten der Bundesrepublik, aber auch langfristige Hilfszusagen konnten in dieser Auseinandersetzung den Ausschlag geben.

Einigung in Ottawa

Nachdem bei den Westmächten und in der Sowjetunion somit spätestens zu Beginn des Jahres 1990 die Erkenntnis gewachsen war, dass sich die Wiedervereinigung nicht mehr vermeiden ließ, begannen am 28. Januar in den USA Gespräche über die Schaffung eines Rahmens zur außenpolitischen Absicherung der Wiedervereinigung. Der Politische Planungsstab im State Department, US-Außenministerium, entwickelte dazu in Anlehnung an die früheren Vier-Mächte-Gespräche zur Deutschlandfrage eine Idee, die sich dann als „Zwei-plus-Vier“-Konzept durchsetzte: Als erstes sollten die beiden deutschen Staaten die ökonomischen, politischen und rechtlichen Fragen der Einigung behandeln. Danach würden die USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion zusammen mit der Bundesrepublik und der DDR die außenpolitischen Aspekte des Einigungsprozesses klären, darunter die Frage der Souveränität, die Garantie der Grenzen, den Umfang der deutschen Armee, die Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands in Bündnissen und die Sicherheitsvorkehrungen für die Nachbarn.

Als Außenminister Baker das Konzept am folgenden Tag mit seinem britischen Amtskollegen Douglas Hurd besprach, stimmte Hurd prinzipiell zu, gab jedoch zu erkennen, dass seine Regierung eine „Vier-plus-Null“-Lösung – also Verhandlungen ohne deutsche Beteiligung – vorziehen würde. Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher beharrte demgegenüber darauf, dass die Deutschen bei den Entscheidungen über ihr Schicksal den ersten Platz einnehmen müssten. Wenn dieser Weg beschritten werde, seien die Bundesrepublik und die DDR aber bereit, „die deutsche Angelegenheit“ nach Ausarbeitung einer gemeinsamen Lösung auf einem für den Herbst 1990 geplanten Gipfeltreffen der KSZE zu präsentieren.

Mit diesem Ansatz, die deutsche Einigung nur von den beiden deutschen Staaten und den Vier Mächten aushandeln zu lassen, danach aber im Rahmen der KSZE alle anderen europäischen Staaten sowie Kanada in die Entscheidung einzubeziehen, suchte Genscher eine Isolierung Deutschlands, wie sie im Deutschen Reich nach 1890 eingetreten war, zu verhindern. Allen Sorgen, ein wiedervereinigtes Deutschland könne eines Tages zu einer Politik des Expansionismus und des Strebens nach Hegemonie zurückkehren, sollte damit von vornherein der Boden entzogen werden. Auf dem Weltwirtschaftsforum am 3. Februar in Davos erklärte Kohl dazu, die Bundesrepublik sei stets eine entschiedene Verfechterin der NATO, der europäischen Einigung und des KSZE-Prozesses gewesen und habe zudem die Abrüstung und Rüstungskontrolle unterstützt. Daran werde sich auch künftig nichts ändern. Das vereinte Deutschland werde „ein vertrauenswürdiger Partner“ beim Aufbau einer friedlichen Ordnung in Europa sein.

Die Zwei-plus-Vier-Formel, die schließlich auch vom französischen Außenminister Roland Dumas gebilligt wurde – ebenfalls mit dem einschränkenden Hinweis, Paris hätte ebenfalls eine „Vier-plus-Null“-Lösung vorgezogen –, stieß bei der Sowjetunion jedoch zunächst auf Ablehnung. Erst am Rande eines Treffens der Außenminister der NATO und des Warschauer Paktes am 13. Februar in Ottawa wurde hierüber Einverständnis erzielt. Inzwischen war der Prozess des Umdenkens in Moskau angesichts der Unumkehrbarkeit der Entwicklung in Deutschland offenbar so weit fortgeschritten, dass man sich entschlossen hatte, den lange hinausgezögerten letzten Schritt zu gehen. Die Außenminister der beiden deutschen Staaten und der Vier Mächte vereinbarten daher in Ottawa, dass sie sich in Kürze im Zwei-plus-Vier-Rahmen treffen würden, „um die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit, einschließlich der Fragen der Sicherheit der Nachbarstaaten, zu besprechen“.

Zwei-plus-Vier-Verhandlungen

Die Vorbereitungen für die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen begannen auf der Ebene der Politischen Direktoren der Außenministerien der beiden deutschen Staaten und der Vier Mächte mit zwei Treffen in Bonn und Berlin am 14. März und 16. April. Die Direktoren verständigten sich darauf, dass die Bündniszugehörigkeit des vereinigten Deutschlands, die Stärke der Bundeswehr und Sicherheitsgarantien für die Nachbarn Deutschlands, die endgültige Festlegung der polnischen Westgrenze, der Abzug der alliierten Streitkräfte, die Aufhebung der alliierten Vorbehaltsrechte sowie die Wiederherstellung der vollen völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands im Mittelpunkt der Verhandlungen stehen sollten. Die Sowjetunion versuchte, auch den Abschluss eines Friedensvertrages auf die Tagesordnung zu setzen, nahm davon jedoch auf Drängen des Leiters der Bonner Delegation, Dieter Kastrup, wieder Abstand, der darauf hinwies, dass in Gespräche über einen Friedensvertrag noch viele andere Staaten einbezogen werden müssten, mit denen das „Dritte Reich“ sich formell im Kriegszustand befunden hatte. Polen dagegen sollte zu der Konferenz hinzugezogen werden, wenn das Thema Oder-Neiße-Linie zu behandeln war.

Die Zwei-plus-Vier-Gespräche (© picture alliance/dpa/dpa-infografik GmbH, Globus 13 730; Quelle: Deutsches Historisches Museum)

Die ersten Verhandlungen auf Außenministerebene fanden am 5. Mai 1990 in Bonn statt. Danach traf man sich erneut im Juni in Berlin, im Juli gemeinsam mit polnischen Vertretern in Paris (wo es um die polnische Westgrenze ging) und ein letztes Mal Anfang September in Moskau. Dort wurde am 12. September 1990 auch der „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ unterzeichnet. Dieser kam einem Friedensvertrag gleich und klärte endlich die seit 1945 offene „Deutsche Frage“.

Neutralität oder NATO-Mitgliedschaft?

Ein zentraler inhaltlicher Punkt bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen war der künftige militärische Status Deutschlands. Darüber war bereits vor der Konferenz in Ottawa überaus intensiv gesprochen worden, wobei die US-Regierung ebenso wie Paris und London von Anfang an darauf bestanden hatten, dass sich der Wiedervereinigungsprozess „im Rahmen der fortbestehenden Verpflichtungen Deutschlands gegenüber der NATO“ bewegen müsse. Die sowjetische Führung hatte dagegen im Einklang mit Ministerpräsident Modrow dafür plädiert, dass ein „vereinigtes deutsches Vaterland“ neutral sein müsse und weder der NATO noch dem Warschauer Pakt angehören dürfe. Zwischen beiden Positionen hatte Bundesaußenminister Genscher zu vermitteln versucht, als er in einer Rede in der Evangelischen Akademie Tutzing am 31. Januar 1990 erklärt hatte, das vereinigte Deutschland müsse zwar Mitglied der NATO sein, NATO-Streitkräfte dürften aber nicht in Ostdeutschland stationiert werden, sodass der Westen aus einer deutschen Wiedervereinigung keinen militärischen Vorteil ziehen werde.

Nach dem Treffen der Außenminister von NATO und Warschauer Pakt in Ottawa wurde allerdings rasch deutlich, dass Moskau keine andere Möglichkeit mehr sah, als ein wiedervereinigtes Deutschland in der NATO zu akzeptieren. Bereits am 15. Februar verlautete aus sowjetischen Regierungskreisen, dass die Forderung nach entmilitarisierter Neutralität inoffiziell bereits aufgegeben sei. Denn, so ein hochrangiger Funktionär der KPdSU, die Sowjetunion habe ihre Fähigkeit eingebüßt, „auf die deutsche Innenpolitik Einfluss zu nehmen“. Da die Tschechoslowakei, Ungarn und Polen ebenfalls einen baldigen Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus ihren Ländern wünschten, wuchs der Druck auf Moskau, möglichst schnell eine Vereinbarung mit dem Westen abzuschließen, damit auf dieser Basis ein genereller Truppenrückzug zustande käme.

Überdies drohte inzwischen nicht nur der Zerfall des sowjetischen Imperiums in Osteuropa, sondern auch die Auflösung der Sowjetunion selbst. Nachdem das Zentralkomitee der KPdSU am 7. Februar 1990 durch Änderung des Artikels 6 der sowjetischen Verfassung das Machtmonopol der Partei beseitigt hatte, war die Kritik an den innersowjetischen Verhältnissen dramatisch gestiegen. Unkontrollierte Massendemonstrationen zogen durch Moskau. In Aserbaidschan, Tadschikistan und Armenien kam es bei ethnischen Auseinandersetzungen zu blutigen Kämpfen. Am 12. Februar teilte Gorbatschow deshalb dem DDR-Ministerpräsidenten telefonisch mit, dass es fraglich sei, ob die sowjetische Führung in der Lage sein werde, an der Forderung nach einem Verzicht des vereinigten Deutschlands auf eine NATO-Mitgliedschaft festzuhalten.

Grenze zu Polen

Eine zweite wichtige Frage war die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze. Sie spielte ebenfalls nicht erst im Rahmen der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen eine Rolle, sondern war bereits im Sommer 1989 zu einem Thema geworden, als die rechtsradikale Partei „Republikaner“ bei Kommunalwahlen in West-Berlin 7,5 Prozent und bei den Wahlen zum Europaparlament 7,1 Prozent erhalten hatte. Um weitere Erfolge der Rechten zu verhindern, hatten konservative Politiker in der Bundesrepublik daraufhin argumentiert, die Gebiete östlich der Oder und Neiße müssten einbezogen werden, wenn die Deutsche Frage wieder auf die Tagesordnung kommen sollte. Bundesaußenminister Genscher hatte sich dadurch veranlasst gesehen, in einer Rede vor der UNO am 27. September 1989 im Namen der Bundesregierung zu erklären, dass das Recht des polnischen Volkes, „in sicheren Grenzen zu leben, von uns Deutschen weder jetzt noch in Zukunft durch Gebietsansprüche infrage gestellt wird“. Der Bundestag hatte diese Stellungnahme am 8. November durch eine Resolution bekräftigt.

Dennoch wurde das Thema im November 1989 erneut zum Problem, als Bundeskanzler Kohl es bei seinem Besuch in Polen vermied, die Grenzgarantie zu wiederholen. Zwar war seine Absicht erkennbar, der Partei der Republikaner im Vorfeld der für den 2. Dezember 1990 geplanten Bundestagswahlen keine indirekte Schützenhilfe zu leisten. Aber in Polen sorgte sein Verhalten gleichwohl für Unruhe, die durch die Perspektive einer baldigen deutschen Wiedervereinigung noch zusätzlich geschürt wurde. Die polnische Regierung startete deshalb eine diplomatische Offensive, um einen Platz am Konferenztisch der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zu erhalten, sah sich daran jedoch wiederum vom Kanzler gehindert, der sich nicht nur weiterhin weigerte, ein klärendes Wort zu sprechen, sondern auch die Teilnahme Polens an den Verhandlungen ablehnte. So kam es lediglich zu einer weiteren Resolution des Bundestages zur Oder-Neiße-Frage, die am 8. März 1990 ohne Gegenstimme bei nur fünf Enthaltungen verabschiedet wurde.

Unterstützung erhielt Kohl in dieser Frage erneut von den USA. Als Präsident Bush dem Kanzler am 18. März zum Wahlsieg seiner Partei in Ostdeutschland gratulierte, fügte er hinzu, dass er dem polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki am folgenden Tag in Washington sagen werde, dass er der westdeutschen Regierung vertraue und dass Mazowiecki dies ebenfalls tun solle. Eine gleichberechtigte Teilnahme Polens an den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen war damit nicht mehr durchsetzbar. Der polnische Außenminister Krzysztof Skubiszewski erklärte deshalb am 26. März, dass die Oder-Neiße-Grenze eine deutsch-polnische Angelegenheit und ihre Behandlung durch die Vier Mächte daher unpassend sei. Zudem ließ Polen die Forderung fallen, dass ein Zwei-plus-Vier-Treffen in Warschau abgehalten werden solle.

Garantien innerhalb der NATO

Der überraschende Wahlsieg der Allianz für Deutschland führte aber auch bei den Regierungen in Paris und Moskau zu einer Beschleunigung ihrer Neuorientierung in der Deutschlandpolitik. So drang die französische Führung, die offensichtlich besorgt war, dass ein wiedervereinigtes Deutschland das Interesse an der Europäischen Gemeinschaft (EG) verlieren könnte, nun sogar darauf, dass die Bundesrepublik die DDR so schnell wie möglich integrieren möge. Außenminister Dumas erklärte, dass es am besten wäre, wenn „die ostdeutschen Provinzen“ einfach in die Bundesrepublik übernommen würden, um „den komplizierten Prozess der Aufnahme“ eines weiteren Staates in die EG zu vermeiden. Und Mitterrands außenpolitischer Berater Jacques Attali informierte Kohl, dass Paris jetzt „mit Hochdruck“ an einer EG-Initiative zur Errichtung einer Europäischen Union arbeite, um das vereinigte Deutschland fest in die europäische Integration einzubetten.

Auf der anderen Seite deutete Moskau am Tag nach der Volkskammerwahl offiziell an, dass es sich mit der Mitgliedschaft eines geeinten Deutschlands in der NATO abfinden wolle. Nikolai Portugalow meinte, dass dies zwar offiziell immer noch abgelehnt werde, es aber nur „die Ausgangsposition bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen“ sei. Wjatscheslaw Daschitschew, einer der führenden sowjetischen Deutschland- und Europaexperten, ging sogar noch einen Schritt weiter, als er am 20. März in einem Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“ die Ansicht vertrat, dass die UdSSR an einer deutschen NATO-Mitgliedschaft sogar interessiert sein müsse, da ein neutrales Deutschland nur schwer zu kontrollieren sei. Es gebe das Bild einer Kanone, so Daschitschew, die an Bord eines Schiffes nicht festgezurrt sei.

Auch in der Sowjetunion wurde nun also die Auffassung vertreten, dass ein in das westliche Bündnis eingebundenes Deutschland weniger gefährlich und daher eher zu befürworten sei als ein in der Mitte Europas „herumvagabundierendes Reich“.

Bei der Vorbereitung der ersten Zwei-plus-Vier-Konferenz am 5. Mai in Bonn fühlte sich der Kanzler deshalb stark genug, in der Frage der NATO-Mitgliedschaft zu fordern, dass die Schutzklauseln in Artikel 5 und 6 des NATO-Vertrages für ganz Deutschland gelten müssten,der Abzug der sowjetischen Truppen auf der Basis fester Zeitvereinbarungen erfolgen müsse und Bundeswehrstationierung und Wehrpflicht für Gesamtdeutschland zu gelten hätten.

Im Gegenzug sollte Moskau ein umfassender bilateraler Vertrag über Kooperation und Gewaltverzicht angeboten werden. Als Kohl die Idee am 23. April gegenüber dem sowjetischen Botschafter in Bonn, Julij Kwizinskij, darlegte und dabei bemerkte, er wolle gewissermaßen eine „Charta der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion im Sinne der großen geschichtlichen Tradition vereinbaren“, reagierte Kwizinskij beinahe euphorisch. Seit er nach Deutschland gekommen sei, sei es sein Traum gewesen, „zwischen Deutschland und der Sowjetunion etwas im Bismarckschen Sinne zu schaffen“. Ein Vertrag, wie ihn der Bundeskanzler vorschlage, sei im Sinne Gorbatschows. Bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen komme es Moskau vor allem darauf an, eine deutliche Verringerung der Stärke der Bundeswehr zu erreichen. Auch die Truppen der Vier Mächte sowie die Zahl der Kernwaffen auf deutschem Boden müssten reduziert werden. Über all dies ließe sich nach sowjetischer Auffassung jedoch Einvernehmen erzielen. Als wichtig erschien vor allem, dass der Kanzler mit seinem Angebot eines umfassenden bilateralen Vertrages einen Vorschlag unterbreitet hatte, der in Moskau die Vertrauensbasis für eine Regelung der Einzelfragen schuf. Kohls außenpolitischer Berater Horst Teltschik notierte deshalb am 23. April in sein Tagebuch, offenbar habe die sowjetische Führung nur auf einen derartigen „weiterführenden Vorschlag von uns gewartet“.

Treffen im Kaukasus

Mit dem Vorschlag vom 23. April begann ein deutsch-sowjetisches „Sonderverhältnis“, das den ganzen Sommer 1990 hindurch andauerte und mit dem Treffen zwischen Bundeskanzler Kohl und Präsident Gorbatschow in dessen Jagdhütte im Kaukasus am 15. und 16. Juli 1990 seinen Höhepunkt erreichte. Die prinzipielle Zustimmung zur Wiedervereinigung Deutschlands hatte Gorbatschow indessen bereits sechs Wochen zuvor, bei einer Begegnung mit US-Präsident George H. W. Bush im Weißen Haus am 31. Mai in Washington, gegeben, als er sich einverstanden erklärt hatte, dass „Deutschland selbst entscheiden dürfe, welchem Bündnis es sich anschließen wolle“, wie es im Gesprächsprotokoll heißt.

Allerdings spielte inzwischen auch Geld eine Rolle, denn die Sowjetunion suchte jetzt mit Hilfe des Westens aus ihrer tiefen ökonomischen und sozialen Krise herauszukommen. So äußerte Außenminister Schewardnadse am 4. und 5. Mai 1990 während der ersten Runde der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen in Bonn in Hintergrundgesprächen den Wunsch nach einem neuen deutschen Kredit für die UdSSR; ein Kompromiss in der Frage der deutschen NATO-Mitgliedschaft sei danach nicht ausgeschlossen. Nachdem umfangreiche Lebensmittellieferungen schon im Januar 1990 zur Verbesserung der deutsch-sowjetischen Beziehungen beigetragen hatten, die durch die Irritationen der Maueröffnung belastet gewesen waren, bot sich damit nun eine weitere Chance, das Verhältnis zu entspannen und in den schwierigen Fragen der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen Fortschritte zu erzielen.

Der sowjetische Kreditbedarf belief sich nach Auskunft von Botschafter Kwizinskij auf 20 Milliarden DM in fünf bis sieben Jahren. Da die ernsthafte Gefahr bestand, dass Gorbatschow auf dem im Juli 1990 bevorstehenden Parteitag der KPdSU gestürzt werden könnte, wenn die UdSSR nicht zusätzliche Finanzmittel aus dem Westen erhielt, war Kohl daher sogleich bereit, den sowjetischen Wünschen zu entsprechen. Schon am 13. Mai reiste Horst Teltschik zusammen mit den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank und der Dresdner Bank, Hilmar Kopper und Wolfgang Röller, in geheimer Mission nach Moskau, um den Kredit einzufädeln. Dort wurden sie von Ministerpräsident Ryschkow mit den konkreten sowjetischen Forderungen konfrontiert: Die UdSSR benötige kurzfristig einen ungebundenen Finanzkredit von 1,5 bis zwei Milliarden DM, um ihre Zahlungsfähigkeit zu sichern. Darüber hinaus sei ein langfristiger Kredit in Höhe von zehn bis 15 Milliarden DM zu Vorzugsbedingungen erforderlich, dessen Tilgungsfrist zehn bis 15 Jahre bei fünf Freijahren betragen solle.

Die Forderungen bewiesen, wie groß die sowjetischen Zahlungsprobleme waren und welches Gewicht die Moskauer Führung in diesem Zusammenhang den deutsch-sowjetischen Beziehungen beimaß. Kohl begründete deshalb in einem Gespräch mit Röller und Kopper am 21. Mai im Kanzleramt seine Bereitschaft zur Kredithilfe für Gorbatschow mit dem Bild des Bauern, „der vor einem heraufziehenden Gewitter seine Ernte rechtzeitig in die Scheune einbringen“ müsse. In einem Brief vom folgenden Tag bot der Kanzler der Sowjetunion einen ungebundenen Finanzkredit bis zur Höhe von fünf Milliarden DM an, verband damit allerdings die Erwartung, „dass die Regierung der UdSSR im Rahmen des Zwei-plus-Vier-Prozesses im gleichen Geiste alles unternimmt, um die erforderlichen Entscheidungen herbeizuführen, die eine konstruktive Lösung der anstehenden Fragen noch in diesem Jahr ermöglichen“.

Der Kreditvertrag wurde am 18. Juni in Moskau unterzeichnet und von der Bundesregierung Anfang Juli mit den erforderlichen Garantien versehen. Bereits am 13. Juli informierte Finanzminister Waigel den Kanzler, dass die fünf Milliarden in vollem Umfang ausgeschöpft worden seien. Im Gegenzug trug die Bonner Finanzhilfe für Moskau erwartungsgemäß dazu bei, die äußeren Aspekte des deutschen Wiedervereinigungsprozesses zu lösen. Wichtigster Punkt war dabei die Zustimmung des Kreml zur NATO-Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands. Die Bundesregierung bot dafür eine deutliche Reduzierung der Stärke der Bundeswehr an, wobei Außenminister Genscher gegenüber Schewardnadse von einer Gesamtzahl von 350 000 Mann sprach, während Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg eine Obergrenze von 370 000 Mann befürwortete.

„Nicht länger als Gegner betrachten“

Das Entgegenkommen gegenüber der Sowjetunion beschränkte sich aber nicht auf die Bundesrepublik allein, sondern bezog auch die NATO ein, die auf einer Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs ihrer Mitgliedstaaten am 5. und 6. Juli 1990 in London eine Erklärung verabschiedete, in der ein grundlegender Wandel der Atlantischen Allianz angekündigt wurde: NATO und Warschauer Pakt sollten sich „nicht länger als Gegner betrachten“. Die NATO werde ihre Streitkräftestruktur und Strategie den veränderten Bedingungen der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges anpassen. Die Zahl der Nuklearwaffen werde reduziert und die Strategie der „flexiblen Erwiderung" so umgestaltet, dass sie „eine verminderte Abstützung auf Nuklearwaffen“ widerspiegele. Damit wolle die Allianz dazu beitragen, „die Hinterlassenschaft von Jahrzehnten des Misstrauens zu überwinden“. Zusicherungen, das Gebiet der NATO nicht ostwärts über Deutschland hinaus zu erweitern, wurden allerdings nicht gegeben. Diese Frage wurde erst im weiteren Verlauf der 1990er-Jahre im Zuge der NATO-Osterweiterung erörtert, als man sich davon eine Erhöhung der politischen Stabilität in den Transformationsländern Osteuropas versprach – eine Erwartung, die nun auch von Russland geteilt wurde.

Jetzt, im Juli 1990, als sich die Staats- und Regierungschefs der NATO in London versammelten, fand in Moskau nahezu zeitgleich, vom 2. bis 13. Juli, der 28. Parteitag der KPdSU statt, auf dem über das Schicksal Gorbatschows und damit auch über die sowjetische Deutschlandpolitik entschieden wurde. Die „Londoner Erklärung“ mit ihrem versöhnlichen Ton kam deshalb der sowjetischen Führung ebenso gelegen wie der Milliardenkredit aus Bonn, der genau zu diesem Zeitpunkt von der UdSSR in Anspruch genommen werden konnte. Außenminister Schewardnadse bemerkte später in seinen Memoiren, die Erklärung der NATO habe möglicherweise seine Politik „gerettet“. Andernfalls wäre es für Gorbatschow und ihn unmöglich gewesen, sich innenpolitisch durchzusetzen. „Generale und Parteibürokraten, angeführt von Jegor Ligatschow“, so Schewardnadse 1991 in einem deutschen Nachrichtenmagazin, hätten vor allem die Deutschlandpolitik kritisiert und „gegen den Verlust der westlichen Bastion des sozialistischen Lagers erbittert Widerstand geleistet“.

Für Deutschland war die Tatsache, dass Gorbatschow am 10. Juli schließlich mit klarer Mehrheit in seinem Amt als Generalsekretär der KPdSU bestätigt wurde, mitentscheidend für den weiteren Verlauf des Wiedervereinigungsprozesses. So lud der dankbare Gorbatschow unmittelbar nach seiner Wiederwahl den Bundeskanzler vom 14. bis 16. Juli nach Moskau und in seinen Heimatort Stawropol im Kaukasus ein, wo er nun auch Kohl gegenüber zugestand, dass Deutschland weiterhin Mitglied der NATO bleiben könne. Die NATO müsse lediglich für eine Übergangsperiode berücksichtigen, dass ihr Geltungsbereich nicht auf das DDR-Territorium übertragen werde, solange dort noch sowjetische Truppen stationiert seien. Im Übrigen werde das Abschlussdokument der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen die Aufhebung der Vier-Mächte-Verantwortung für Deutschland ohne Übergangszeit feststellen. Es sei nur ein separater Vertrag über den Aufenthalt der sowjetischen Streitkräfte auf dem bisherigen DDR-Territorium für die Dauer von drei bis vier Jahren erforderlich.

Einigung

Damit waren die historischen Sätze gesprochen, die den Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands ebneten. Bei den formalen Verhandlungen, die am 16. Juli am Frühstückstisch des Jagdhauses von Gorbatschow im engen Flusstal des Selemtschuk im Kaukasus, oberhalb von Stawropol, begannen, wurde nur noch einmal bestätigt, was bereits feststand: Die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen sollten mit einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag abgeschlossen werden. Das geeinte Deutschland würde die Bundesrepublik, die DDR und Berlin umfassen und Mitglied der NATO sein können. Bedingung war lediglich der Verzicht auf ABC-Waffen und die Nichtausdehnung der militärischen Strukturen der NATO auf das Gebiet der bisherigen DDR, solange dort noch sowjetische Truppen standen.

Nachdem die Details der Vereinbarungen ausgehandelt waren, wobei man sich schließlich auf 370 000 Mann als Obergrenze für die Truppenstärke der Bundeswehr einigte, waren alle wesentlichen Hindernisse ausgeräumt, die einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten noch im Wege gestanden hatten. Aus deutscher Sicht waren die Ergebnisse sensationell: Deutschland würde wiedervereinigt. Es würde vollständig souverän sein. Es konnte Mitglied der NATO bleiben. Deutsche Streitkräfte würden in ganz Deutschland stationiert sein. Und die Sicherheitsgarantien der Artikel 5 und 6 des Nordatlantischen Vertrages würden unverzüglich für ganz Deutschland gelten, sobald das Schlussdokument der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen in Kraft getreten war.

Für die sowjetischen Partner waren der Verlauf und das Resultat der Gespräche im Kaukasus allerdings weniger erfreulich. Als Außenminister Schewardnadse von dort das Flugzeug nach Paris bestieg, wo am nächsten Tag eine weitere Runde der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen stattfinden sollte, sah er sich einem „hochnotpeinlichen Verhör“ mitreisender sowjetischer Journalisten ausgesetzt, die wissen wollten, warum alle Fragen so blitzschnell gelöst worden seien. Schewardnadse bestritt, dass übereilt gehandelt worden sei. Wie er in seinen Memoiren berichtet, erklärte er dabei zu den Motiven für das Handeln der sowjetischen Führung, man sei außerstande gewesen, Deutschlands Wiedervereinigung zu stoppen, es sei denn mit Gewalt. Doch das wäre einer Katastrophe gleichgekommen. Außerdem hätte die Sowjetunion selbst dabei vieles eingebüßt.

Tatsächlich gab es zu der Entscheidung, der Wiedervereinigung Deutschlands zu westlichen Bedingungen zuzustimmen, für die Sowjetunion kaum eine vernünftige Alternative. Nur eine erneute militärische Intervention wie am 17. Juni 1953 hätte den historischen Prozess der deutschen Vereinigung noch aufhalten können. Dazu aber war die sowjetische Führung um Gorbatschow und Schewardnadse nicht bereit. Im Interesse des Friedens in Europa und der Neuordnung der sowjetischen Beziehungen zum Westen – vor allem zur Bundesrepublik – wurde die DDR daher in die Wiedervereinigung entlassen. Dafür hoffte der Kreml auf eine großzügige Kooperation mit dem geeinten Deutschland, um die gewaltigen wirtschaftlichen und finanziellen Probleme der Sowjetunion zu lösen, die ohne westliche Hilfe nicht mehr beherrschbar schienen.
Zwei-plus-Vier-Vertrag

Der Abschluss der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen war nach der Einigung im Kaukasus nur noch Formsache. Am 17. Juli fand in Paris die dritte Runde der Außenministergespräche mit zeitweiliger polnischer Beteiligung statt. Es wurde festgelegt, die polnische Forderung nach einer endgültigen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als polnischer Westgrenze in das Zwei-plus-Vier-Abschlussdokument aufzunehmen, das völkerrechtlich verbindlich sein würde. Danach handelten die Bundesrepublik und die Sowjetunion die bilateralen Verträge aus, die im Rahmen des Zwei-plus-Vier-Prozesses vereinbart worden waren. Dies betraf vor allem den sogenannten Generalvertrag über eine umfassende Kooperation zwischen Deutschland und der Sowjetunion sowie den „Überleitungsvertrag“ über die Stationierung sowjetischer Truppen auf dem bisherigen Territorium der DDR für weitere drei bis vier Jahre und ihre anschließende Rückführung in die UdSSR. Trilaterale Gespräche zusammen mit der DDR-Regierung bezogen sich auf die Fortsetzung der Zusammenarbeit zwischen DDR-Unternehmen und sowjetischen Firmen.

Im August ergab sich noch einmal ein Problem, als Außenminister Schewardnadse seinen deutschen Amtskollegen brieflich darüber informierte, dass ein sowjetischer Truppenabzug nicht innerhalb von drei bis vier Jahren, sondern frühestens in fünf bis sieben Jahren möglich sei. Der Abzug hänge „vom Umfang der deutschen materiellen und finanziellen Unterstützung“ ab. Schewardnadses Brief folgte am 28. August ein Besuch von Julij Kwizinskij, nun in seiner Funktion als stellvertretender sowjetischer Außenminister, im Kanzleramt, bei dem dieser forderte, die Bundesrepublik solle sowohl für die Transportkosten des Truppenabzuges als auch für den Bau neuer Unterkünfte für die zurückkehrenden Soldaten in der Sowjetunion sowie für die notwendige Infrastruktur mit Kindergärten, Läden, Apotheken usw. aufkommen. Außerdem müsse Bonn den Aufenthalt der noch in der DDR verbleibenden Truppen bezahlen. Andernfalls, so Kwizinskij, werde es in der sowjetischen Armee zum Aufruhr kommen.

Wladislaw Terechow, seit Juni 1990 neuer sowjetischer Botschafter, bezifferte die finanziellen Forderungen der Sowjetunion am 5. September auf insgesamt 36 Milliarden DM, einschließlich 17,5 Milliarden DM für die Rückgabe der sowjetischen Immobilien in der DDR. Bundeskanzler Kohl, der mit Außenminister Genscher, Finanzminister Waigel und Wirtschaftsminister Haussmann übereingekommen war, auch in diesem Falle Entgegenkommen zu zeigen, bot Gorbatschow in einem Telefongespräch am 7. September einen Betrag von acht Milliarden DM an. Doch Gorbatschow schilderte seine Situation als sehr alarmierend und beharrte auf einer weit höheren Summe. Er habe „viele Kämpfe mit der Regierung, mit den Militär- und Finanzfachleuten ausgefochten“ und hoffe, dass man sich auf 15 bis 16 Milliarden einigen könne. Wenn dieses Ziel nicht zu erreichen sei, müsse „praktisch alles noch einmal von Anfang an erörtert werden“. Als der Kanzler danach zwölf Milliarden DM sowie einen zinslosen Kredit in Höhe von drei Milliarden DM anbot, war Gorbatschow offensichtlich erleichtert: So könne das Problem gelöst werden. Einige Stunden später rief Kwizinskij aus Moskau im Kanzleramt an und teilte der Bundesregierung mit, dass der Generalsekretär die Weisung erteilt habe, den Überleitungsvertrag mit der Bundesrepublik nunmehr abzuschließen.

Volle Souveränität

Der 2+4-Vertrag (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 58 310)

Zwei Tage darauf, am 12. September, endeten auch die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen der Außenminister mit einem Treffen in Moskau und der Unterzeichnung des „Vertrages über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“. Der Vertrag regelte in zehn Artikeln die außenpolitischen Aspekte der deutschen Vereinigung und kam damit einem Friedensvertrag zwischen Deutschland und den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges gleich, auch wenn der Begriff selbst vermieden wurde. Das Ergebnis war die Wiederherstellung der deutschen Einheit und die Wiedererlangung der „vollen Souveränität Deutschlands über seine inneren und äußeren Angelegenheiten“.

QuellentextZwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990

Die Bundesrepublik Deutschland, die Deutsche Demokratische Republik, die Französische Republik, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland und die Vereinigten Staaten von Amerika – [...] IN WÜRDIGUNG DESSEN, daß das deutsche Volk in freier Ausübung des Selbstbestimmungsrechts seinen Willen bekundet hat, die staatliche Einheit Deutschlands herzustellen, um als gleichberechtigtes und souveränes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, IN DER ÜBERZEUGUNG, daß die Vereinigung Deutschlands als Staat mit endgültigen Grenzen ein bedeutsamer Beitrag zu Frieden und Stabilität in Europa ist, MIT DEM ZIEL, die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland zu vereinbaren, [...] – sind wie folgt übereingekommen:

Artikel 1
(1) Das vereinte Deutschland wird die Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und ganz Berlins umfassen. Seine Außengrenzen werden die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik sein und werden am Tage des Inkrafttretens dieses Vertrags endgültig sein. [...]

(2) Das vereinte Deutschland und die Republik Polen bestätigen die zwischen ihnen bestehende Grenze in einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag.

(3) Das vereinte Deutschland hat keinerlei Gebietsansprüche gegen andere Staaten und wird solche auch nicht in Zukunft erheben. [...]

Artikel 2
Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihre Erklärungen, daß von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird. Nach der Verfassung des vereinten Deutschland sind Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, verfassungswidrig und strafbar. Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erklären, daß das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen.

Artikel 3
(1) Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihren Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen. Sie erklären, daß auch das vereinte Deutschland sich an diese Verpflichtungen halten wird. [...]

Artikel 4
(1) Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken erklären, daß das vereinte Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken in vertraglicher Form die Bedingungen und die Dauer des Aufenthalts der sowjetischen Streitkräfte auf dem Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik und Berlins sowie die Abwicklung des Abzugs dieser Streitkräfte regeln werden, der bis zum Ende des Jahres 1994 [...] vollzogen sein wird. [...]

Artikel 5
(1) Bis zum Abschluß des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik und Berlins in Übereinstimmung mit Artikel 4 dieses Vertrags werden auf diesem Gebiet als Streitkräfte des vereinten Deutschland ausschließlich deutsche Verbände der Territorialverteidigung stationiert sein, die nicht in die Bündnisstrukturen integriert sind, denen deutsche Streitkräfte auf dem übrigen deutschen Hoheitsgebiet zugeordnet sind. [...]

(3) Nach dem Abschluß des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik und Berlins können in diesem Teil Deutschlands auch deutsche Streitkräfteverbände stationiert werden, die in gleicher Weise militärischen Bündnisstrukturen zugeordnet sind wie diejenigen auf dem übrigen deutschen Hoheitsgebiet, allerdings ohne Kernwaffenträger. Darunter fallen nicht konventionelle Waffensysteme, die neben konventioneller andere Einsatzfähigkeiten haben können, die jedoch in diesem Teil Deutschlands für eine konventionelle Rolle ausgerüstet und nur dafür vorgesehen sind. [...]

Der Vertragstext ist online abrufbar unter Externer Link: https://www.auswaertiges-amt.de/

Da der Vertrag erst nach Hinterlegung der letzten Ratifikations- bzw. Annahmeurkunde in Kraft trat (als letzte Vertragspartei ratifizierte die UdSSR den Vertrag am 3. März 1991), wurden die Vorbehaltsrechte der Alliierten durch Erklärung der Außenminister der Vier Mächte bei ihrem Treffen in Moskau am 12. September 1990 vom Tag der Vereinigung Deutschlands bis zum Inkrafttreten des Vertrages ausgesetzt. Deutschland wurde daher schon am 3. Oktober 1990 ein souveräner Staat ohne Einschränkungen, nachdem am Vortag auch die Alliierte Kommandantur in Berlin ihre Arbeit beendet hatte und alle auf Besatzungsrecht beruhenden innerdeutschen Bestimmungen – etwa die Bindung des Flugverkehrs nach Berlin an Luftkorridore – entfallen waren.

Rechtlich betrachtet bedeutete die Wiedergewinnung der vollen Souveränität für Deutschland, dass es keines besonderen Friedensvertrages mehr bedurfte. Da bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen neben den beiden deutschen Staaten nur die vier Großmächte teilgenommen hatten, nicht jedoch die vielen anderen Staaten, die sich ebenfalls mit dem nationalsozialistischen Deutschland im Kriegszustand befunden hatten und deshalb auch zu Friedensverhandlungen hätten hinzugezogen werden müssen, wurde für einen gewissen Ausgleich gesorgt, indem die 35 Mitgliedstaaten der KSZE – wie von Bundesaußenminister Genscher vorgeschlagen – von den Vereinbarungen am 2. Oktober 1990 offiziell in Kenntnis gesetzt wurden. Die deutsche Einigung, die sich am 3. Oktober durch den Beitritt der fünf ostdeutschen Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes vollzog, kam daher nicht nur mit dem verbrieften Einverständnis der Vier Mächte, sondern auch mit Zustimmung aller in der KSZE vertretenen Staaten zustande. Die außenpolitische Isolierung, in die das Deutsche Reich nach 1871 geraten war, wurde damit diesmal von vornherein vermieden.