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Sicherheit in einer Welt im Umbruch | bpb.de

Informationen zur politischen Bildung Nr. 353/2022

Sicherheit in einer Welt im Umbruch

Sven Bernhard Gareis

/ 7 Minuten zu lesen

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 leitet eine Zeitenwende ein. Hunderttausende Menschen müssen ihre Heimat verlassen und aus der Ukraine fliehen, wie hier am 25. Februar 2022 an der polnischen Grenze. (© Getty Images/ The Washington Post / Wojciech Grzedzinski (Kontributor))

Die Weltordnung wandelt sich zu einer multipolaren Ordnung mit den USA und China als vermutlichen Hauptpolen. Sicherheit kann es dabei nur durch regelbasierte und pragmatische Kooperation geben.

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine fügt nicht nur dem Land und seiner Gesellschaft unermesslichen menschlichen, materiellen und wirtschaftlichen Schaden zu, sondern verändert überdies die europäische, wenn nicht sogar die globale Sicherheitsordnung grundlegend und langfristig. In der Absicht Russlands, durch die Unterwerfung souveräner Staaten eine weitreichende Macht- und Einflusssphäre zu schaffen, sehen EU und NATO gemeinsam mit ihren Partnern im postsowjetischen Raum existenzielle Bedrohungen ihrer Freiheit und territorialen Unversehrtheit. Diese Bedrohungen waren in ihren Konturen spätestens seit der russischen Aggression in der Ukraine 2014 erkennbar, als Russland mit dem Grundprinzip der europäischen Friedensordnung brach, dem tief im Völkerrecht verankerten Ausschluss gewaltsamer Grenzverschiebungen. Sie wurden in vielen westlichen Hauptstädten lange verdrängt. Der klassische Krieg, so schien es vielen, war neuen – und keineswegs ungefährlichen – Formen des Konfliktaustrags im Cyberraum oder durch Destabilisierung von Staaten und Gesellschaften mittels Desinformationskampagnen oder Wahlbeeinflussungen (hybride Kriegsführung) gewichen. Seit dem 24. Februar 2022 ist es nun eine unübersehbare Realität, dass der Eroberungskrieg nach Europa und somit in die Weltzurückgekehrt ist. Über diesem Kriegsgeschehen schwebt zudem erneut die Gefahr einer nuklearen Eskalation. Die mit dem Überfall auf die Ukraine einhergehenden internationalen Verwerfungen sind so tiefgreifend, dass eine baldige Rückkehr zu normalisierten Beziehungen zwischen der (westlichen) Staatengemeinschaft und Russland auch nach einem Waffenstillstand als kaum realistisch erscheint.

Großmächtekonflikte und der Niedergang des Multilateralismus

Russlands Vorgehen beschleunigt und verstärkt einige schon seit Längerem wirkende Trends in der Weltpolitik: Die internationale Ordnung befindet sich im Übergang von der globalen Dominanz der USA zu einer Art multipolarer Ordnung, deren genaue Gestalt noch nicht absehbar ist und deren Regeln erst noch entwickelt werden müssen. Prägend für diese Phase ist der Großmächtekonflikt zwischen den USA und der Volksrepublik China, der auch eine Trennlinie zwischen freiheitlichen Demokratien und autokratischen Staatsformen aufweist. ChinasAufstieg wird in Washington als Herausforderung der globalen Vormachtstellung der USA betrachtet und einzudämmen versucht. Die Volksrepublik China wiederum ist bemüht, sich mittels vor allem wirtschaftlicher Expansion und militärischer Aufrüstung gegen vermeintliche US-amerikanische Bestrebungen zur Begrenzung ihrer Entwicklung abzusichern.

Neben die Protagonisten dieses in den USA als great power competition bezeichneten "systemischen Weltkonflikts" (so der Politikwissenschaftler Peter Rudolf) treten weitere Akteure wie Indien, Brasilien, der Iran oder die Türkei mit jeweils eigenen globalen bzw. regionalen Ambitionen. Schon vor seiner Aggression in der Ukraine hat Russland in Syrien und auf dem afrikanischen Kontinent seinen Anspruch verdeutlicht, wieder als Weltmacht wahrgenommen zu werden.

In immer mehr Staaten verstärken sich nationalistische und populistische Tendenzen, welche internationale Kooperationen zunehmend erschweren. Dem "America First"-Mantra des früheren US-Präsidenten Donald Trump und seinen weiter zahlreichen Anhängerinnen und Anhängern entspricht der "Chinesische Traum" Xi Jinpings. In vielen Ländern Europas erstarken Parteien, die einfache nationale Lösungen für komplexe internationale Herausforderungen versprechen – und Vorteile aus der häufigen Überforderung von Regierungen mit dem gleichzeitigen Auftreten von Großkrisen wie Pandemien oder Kriegen und den damit einhergehenden innenpolitischen Folgen etwa bei Wirtschaft, Energie oder Inflation ziehen.

Der Rückgang der Bereitschaft zu verlässlicher Kooperation zwischen den Staaten macht sich vor allem in der Schwächung internationaler Organisationen und völkerrechtlicher Vertragswerke bemerkbar. Die Vereinten Nationen (VN) und vor allem ihr Sicherheitsrat stehen den Kriegen in der Ukraine, in Syrien und im Jemen weitgehend gelähmt gegenüber. In der Ende 2019 ausgebrochenen Coronavirus-Pandemie setzten vor allem in den ersten zwei Jahren zahlreiche Staaten auf nationale Lösungsansätze, während die Weltgesundheitsorganisation WHO phasenweise diskreditiert und beschädigt wurde. Die Europäische Union (EU) musste mit dem Brexit den Verlust eines bedeutenden Mitglieds hinnehmen und sieht sich in ihrem Markenkern von freiheitlicher Demokratie und Rechtstaatlichkeit vor allem von eigenen Mitgliedern wie Polen oder Ungarn herausgefordert. Rüstungskontrolle und Abrüstung weichen – wie im Fall des Vertrages über die Abschaffung von nuklearen Mittelstreckenwaffen (Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty, INF-Vertrag), dessen Nichtbeachtung durch Russland dann zur Aufkündigung durch die USA im Jahr 2019 führte – wieder weltweit zunehmenden Modernisierungen und Aufstockungen von Waffenarsenalen.

Im globalen Rahmen ist ein Niedergang des Multilateralismus zu beobachten. In diesem Prozess werden stabilisierende Effekte der Globalisierung wie gemeinsame Interessen und gegenseitige Abhängigkeit (Interdependenz) immer weiter zurückgedrängt und zweifellos vorhandene Risiken für die bestehenden Wirtschafts- und Sozialsysteme etwa durch Lohndumping oder Verlagerung von Arbeitsplätzen verstärkt. Daraus resultieren oft Abschottung und Protektionismus. Diese wiederum können rasch zu Handelskonflikten und -kriegen führen, die dann auch erhebliche Auswirkungen auf die internationalen Beziehungen haben. Der US-amerikanisch-chinesische Konflikt verdeutlicht dies sinnbildlich und hat mit den Diskussionen über eine Entflechtung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen (decoupling) einen möglichen Entwicklungspfad hin zu einer fragmentierten, in neue Lager bzw. Machtblöcke aufgeteilten Weltordnung aufgezeigt.

Globale Risiken und Gefahren für die Menschheit

Die oben skizzierten Trends zu mehr Nationalismus und Abschottung erscheinen indes umso mehr in die Irre gehend, als die Risiken und Gefahren für die internationale Sicherheit und das Überleben der Menschheit insgesamt immer umfassender und globaler werden – und ihre Überwindung mithin entsprechender Zusammenarbeit bedarf. Durch die Globalisierung ist die Welt zu einem global village (in Anlehnung an den vom kanadischen Medienwissenschaftler Marshall MacLuhan 1962 mit Blick auf die Digitalisierung geprägten Begriff) geworden, dessen Einwohnerinnen und Einwohner aber auch dann noch existenziell voneinander anhängig sind, wenn sie sich völlig zerstritten haben oder sich gar bekämpfen.

So verschlimmert Russlands Krieg in seinem Nachbarland Nahrungsmittelausfälle und mögliche Hungerkrisen in Afrika und Asien, weil die Getreideexporte aus der Ukraine deutlich zurückgehen. Die Folgen des Klimawandels und der Zerstörung natürlicher Lebensbedingungen machen vor keinen politischen und territorialen Grenzen halt. Umweltzerstörung ist längst zu einem immer wichtigeren Faktor für Flucht- und Migrationsbewegungen geworden – neben (Bürger-)Kriegen, fortbestehenden Entwicklungsdefiziten sowie anderen Formen sozio-ökonomisch, ethnisch oder religiös-kulturell begründeter Gewalt und Terrorismus.

Die Coronavirus-Pandemie hat gezeigt, wie schnell und massiv ein sich mittels globaler Verkehrsverbindungen ausbreitendes Virus Einfluss auf Politik, Wirtschaft und gesellschaftlichen Zusammenhalt nehmen kann. Vor allem wurde deutlich, dass es keine Sicherheit für einzelne Staaten gibt, sondern die Kontrolle der Krankheit enger internationaler Abstimmung bedarf. So hatte etwa Chinas Alleingang im Rahmen seiner No-Covid- und Abriegelungspolitik langfristige Auswirkungen auf die Weltwirtschaft, weil während der noch 2022 anhaltenden großflächigen Lockdowns viele für globale Lieferketten benötigte Produkte nicht hergestellt werden konnten oder Häfen für den weltweiten Handel nicht oder nur sehr eingeschränkt zur Verfügung standen.

Alle hier angeführten Beispiele stehen für eine bereits seit Längerem fortschreitende Erosion einzelstaatlicher Souveränität und Problemlösungsfähigkeit. Erforderlich wäre eine die gemeinsamen Weltgüter (global commons) und die Schaffung menschenwürdiger Lebensbedingungen verbindende nachhaltige Entwicklung entlang der 2015 von den VN verabschiedeten Sustainable Development Goals (SDG). Dies wäre ein vielversprechender Ansatz zur Gewährleistung eines Konzepts von "Menschlicher Sicherheit", welches das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme, UNDP) bereits 1994 vorstellte und das neben den Staaten vor allem Individuen und Gesellschaften in den Blick nimmt. Zu den hierzu erforderlichen gemeinsamen Anstrengungen will sich die Staatengemeinschaft derzeit aber nurbegrenzt aufraffen.

QuellentextSicherheit – ein komplexes Konzept

Sicherheit ist ein menschliches Urbedürfnis. Dieses im Rahmen einer umfassenden Sicherheitspolitik für seine Bevölkerung zu gewährleisten, ist eine Grundfunktion jedes modernen Staates. Dass sich die Erfüllung dieser Aufgabe zunehmend schwieriger gestaltet, liegt bereits am Begriff der Sicherheit selbst. Dieser beschreibt keinen fassbaren Gegenstand, sondern ein komplexes Konzept, welches individuell-persönliche wie auch kollektive Dimensionen (etwa auf der staatlichen bzw. gesellschaftlichen Ebene) aufweist.

Daher fällt eine Definition von Sicherheit schwer. Als Annäherung wird hier daher vorgeschlagen, Sicherheit als einen Zustand begreifen, in welchem Individuen, Gesellschaften oder Staaten meinen, die wichtigsten Risiken und Bedrohungen so existenzieller Güter wie Leben, Gesundheit, Wohlstand, Lebensform oder die politisch-kulturelle Ordnung wirksam kontrollieren bzw. abwehren zu können.

"Sicherheit" ist also kein statischer Zustand, sondern verändert sich dynamisch und bedarf zudem der fortwährenden Überprüfung. Diese beginnt bei der Frage nach den drängendsten Sicherheitsbedrohungen: sind es Gesundheitsgefahren, wirtschaftliche Probleme, Kriege wie Russlands Aggression gegen die Ukraine, die Pandemie, die globalen Disparitäten bezüglich der Chancen auf ein Leben in Würde, der Klimawandel, der transnationale Terrorismus oder vielleicht außer Kontrolle geratene Finanz- und Wirtschaftsstrukturen, welche die sozioökonomische Stabilität ganzer Gesellschaften in Frage stellen können? Jede Antwort beruht auf letztlich subjektiven Einschätzungen und Bewertungen, die je nach geografisch, politisch, sozial oder religiös-kulturell geprägter Sichtweise sehr unterschiedlich ausfallen können. Zugleich wird deutlich, dass es bei "Sicherheit" längst nicht mehr allein um die Staaten, sondern vor allem um die Menschen geht. Das 1994 von den Vereinten Nationen vorgestellte Konzept der "Menschlichen Sicherheit" verlangt von Staaten und Gesellschaften, ein differenziertes Instrumentarium vorzuhalten, um diesen immer komplexeren Herausforderungen zu begegnen.

Die kritische Auseinandersetzung mit Sicherheitsrisiken und deren Bewältigung ist deshalb so wichtig, weil die eingesetzten (Macht-)Instrumente ihre Wirkungen auf ganz unterschiedlichen Feldern und Ebenen entfalten: Wie kann Russland Einhalt geboten werden und gleichzeitig mit den Folgen für die deutsche und europäische Energiesicherheit umgegangen werden? Inwieweit dürfen im Zuge der Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie bürgerliche Rechte eingeschränkt werden, ohne dass die Prinzipien von Freiheit und Demokratie Schaden nehmen? Welche Kompromisse kann es geben in der Abwägung von ökonomischem Nutzen und Werten wie etwa Menschenrechten, Freiheit und Demokratie? Wie lässt sich nachhaltige Entwicklung für eine weiterwachsende Weltgesellschaft erreichen, ohne in den reicheren Staaten Proteste gegen Verzicht und Einschränkungen hervorzurufen?

Sicherheitsfragen führen zumeist zu Dilemma-Situationen, in denen es darauf ankommt, Risiken und zu schützende Güter abzuwägen, negative Nebenwirkungen möglichst zu minimieren und unter den beteiligten Akteuren einen größtmöglichen Konsens über das gemeinsame Vorgehen herzustellen. Eindeutige Antworten gibt es gerade in pluralistischen Gesellschaften nur äußerst selten. Umso wichtiger ist es, dauerhaft einen gesellschaftlichen Diskurs zu diesen Fragen aufrechtzuerhalten.

Sven Bernhard Gareis

Wege aus der Gefahr

Angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine und weiterer schwieriger Beziehungen zwischen großen und mittleren Mächten dürfte in der kurzen und mittleren Sicht die weitere Herausbildung bzw. Festigung politischer Lager das wahrscheinlichste Szenario sein. In ihrem am 29. Juni 2022 in Madrid verabschiedeten Strategischen Konzept benennt die NATO Russland als "die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum", gegen die es sich vor allem auf den Feldern von Verteidigung und Abschreckung zu wappnen gelte. Beschlossen wurde der Ausbau starker und schnell verfügbarer militärischer Kräfte; so sollen etwa die Eingreiftruppe NATO Response Force (NRF) von 40.000 auf 300.000 Soldatinnen und Soldaten erweitert, die Verteidigungsbudgets über das lang umstrittene Zwei-Prozent-Ziel (Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt) hinaus entwickelt werden. Mit Finnland und Schweden suchten zwei traditionell neutrale Staaten die Mitgliedschaft im Bündnis. Neben die weiterhin erforderlichen diplomatischen Bemühungen um Frieden und Sicherheit treten verstärkte militärische Anstrengungen zu deren Absicherung. Dies ist für den Schutz (potenziell) bedrohter Verbündeter ebenso erforderlich wie zur Unterstützung enger Partner wie der Ukraine oder Georgiens.

Allerdings kann sich die Arbeit an einer neuen Weltordnung nicht auf den Ausbau von Grenzen und Gräben beschränken. Die Mitgliedstaaten von EU und NATO fordern seit Jahren die Aufrechterhaltung einer rules-based international order, also einer auf Regeln beruhenden Ordnung. Allerdings übersehen sie dabei mitunter, dass diese bislang auf ihren eigenen Vorstellungen beruhende Ordnung zu einer dynamischen geworden ist, in deren Fortentwicklung um den Preis ihrer Akzeptanz auch andere Mächte einbezogen werden müssen. Vor allem aber übersehen sie, dass es die westlichen Staaten selbst waren, die in Reaktion auf die Anschläge des 11. September 2001 und unter Führung der USA genau diese Ordnung stark beschädigt haben. Der Krieg im Irak 2003, der Verlauf der Libyen-Intervention 2011 und das schließlich fulminante Scheitern des Einsatzes in Afghanistan 2021 kennzeichnen neben dem Rückzug insbesondere der USA aus zahlreichen internationalen Organisationen und Verträgen den Vorrang machtpolitischer ad-hoc-Entscheidungen vor dem Respekt vor gemeinsamen Regeln.

Bei der Arbeit an einer tragfähigen internationalen Ordnung für eine multipolare Welt wird es daher auch auf die Bereitschaft des politischen Westens ankommen, wieder echte Kooperationsangebote an die Staatenwelt auszusenden – und gleichzeitig Entschlossenheit gegen Regelbrecher wie Russland zu zeigen. Dabei sollte trotz aller systemischer Gegensätze eine Zusammenarbeit mit China in Feldern von gemeinsamen Interesse kein Tabu sein. Eine kooperative Rivalität bewahrt grundsätzlich noch Zugänge zueinander und würde gleichzeitig die Möglichkeit erhalten, strittige Themen wie Menschenrechte oder internationale Normen zu behandeln. So könnte China zudem eine Alternative zu seiner faktischen Komplizenschaft mit Russland angeboten werden.

Wie immer eine künftige multipolare Weltordnung aussieht – ihre fundamentalen Regeln sollten sein, willkürliche Kriege wie den Russlands in der Ukraine (und den der USA im Irak 2003) auszuschließen und die Bewahrung von Weltgütern wie Klima und Umwelt, aber auch einen Welthandel zu fairen Bedingungen zu sichern. Diese Orientierung sollte eine pragmatische Kooperation über systemische Gegensätze hinweg ermöglichen. Es geht schließlich um Sicherheit für alle Menschen.

Das konventionelle und das menschliche Konzept von Sicherheit im Vergleich

Traditionelle nationale Sicherheit Menschliche Sicherheit
Sicherheit für wen
(Referenzobjekt)
Vorrangig StaatenVorrangig Individuen
Werte, die auf dem Spiel stehen
(Sicherheit welcher Werte)
Territoriale Integrität und nationale UnabhängigkeitPersönliche Sicherheit und individuelle Freiheit
Sicherheit vor was
(Bedrohungen und Risiken)
Traditionelle Bedrohungen (militärische Bedrohungen, durch Staaten ausgeübte Gewalt)nicht traditionelle, aber auch traditionelle Bedrohungen
Sicherheit durch was
(Mittel)
(Militärische) Gewalt als vorrangiges Sicherheitsinstrument, unilateral von Staaten eingesetzt, um die eigene Sicherheit zu gewährleisten(Militärische) Gewalt als ein untergeordnetes Instrument, einzusetzen in Bündnissen und vorrangig für kosmopolitische Ziele; Sanktionen, menschliche Entwicklung und menschenwürdiges Regieren als Schlüsselinstrumente personenzentrierter Sicherheit
Einschätzung von MachtMachtgleichgewicht (balance of power) ist wichtig; Macht ist militärischem Potenzial gleichgestelltMachtgleichgewicht ist von eingeschränkter Nützlichkeit; weiche Macht (soft power) wird zunehmend wichtiger
Stellenwert von zwischenstaatlicher KooperationKooperation zwischen Staaten jenseits von Allianzen (die nicht der eigenen Position/Sicherheit dienen) ist gefährlichKooperation zwischen Staaten, internationalen Organisationen und NGOs kann effektiv und dauerhaft sein

Quellen: Iztok Prezelj 2008, Nachbildung: Thorsten Nieberg für Interner Link: bpb.de/164862

QuellentextSicherheit – ein komplexes Konzept

Sicherheit ist ein menschliches Urbedürfnis. Dieses im Rahmen einer umfassenden Sicherheitspolitik für seine Bevölkerung zu gewährleisten, ist eine Grundfunktion jedes modernen Staates. Dass sich die Erfüllung dieser Aufgabe zunehmend schwieriger gestaltet, liegt bereits am Begriff der Sicherheit selbst. Dieser beschreibt keinen fassbaren Gegenstand, sondern ein komplexes Konzept, welches individuell-persönliche wie auch kollektive Dimensionen (etwa auf der staatlichen bzw. gesellschaftlichen Ebene) aufweist.

Daher fällt eine Definition von Sicherheit schwer. Als Annäherung wird hier daher vorgeschlagen, Sicherheit als einen Zustand begreifen, in welchem Individuen, Gesellschaften oder Staaten meinen, die wichtigsten Risiken und Bedrohungen so existenzieller Güter wie Leben, Gesundheit, Wohlstand, Lebensform oder die politisch-kulturelle Ordnung wirksam kontrollieren bzw. abwehren zu können.

"Sicherheit" ist also kein statischer Zustand, sondern verändert sich dynamisch und bedarf zudem der fortwährenden Überprüfung. Diese beginnt bei der Frage nach den drängendsten Sicherheitsbedrohungen: sind es Gesundheitsgefahren, wirtschaftliche Probleme, Kriege wie Russlands Aggression gegen die Ukraine, die Pandemie, die globalen Disparitäten bezüglich der Chancen auf ein Leben in Würde, der Klimawandel, der transnationale Terrorismus oder vielleicht außer Kontrolle geratene Finanz- und Wirtschaftsstrukturen, welche die sozioökonomische Stabilität ganzer Gesellschaften in Frage stellen können? Jede Antwort beruht auf letztlich subjektiven Einschätzungen und Bewertungen, die je nach geografisch, politisch, sozial oder religiös-kulturell geprägter Sichtweise sehr unterschiedlich ausfallen können. Zugleich wird deutlich, dass es bei "Sicherheit" längst nicht mehr allein um die Staaten, sondern vor allem um die Menschen geht. Das 1994 von den Vereinten Nationen vorgestellte Konzept der "Menschlichen Sicherheit" verlangt von Staaten und Gesellschaften, ein differenziertes Instrumentarium vorzuhalten, um diesen immer komplexeren Herausforderungen zu begegnen.

Die kritische Auseinandersetzung mit Sicherheitsrisiken und deren Bewältigung ist deshalb so wichtig, weil die eingesetzten (Macht-)Instrumente ihre Wirkungen auf ganz unterschiedlichen Feldern und Ebenen entfalten: Wie kann Russland Einhalt geboten werden und gleichzeitig mit den Folgen für die deutsche und europäische Energiesicherheit umgegangen werden? Inwieweit dürfen im Zuge der Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie bürgerliche Rechte eingeschränkt werden, ohne dass die Prinzipien von Freiheit und Demokratie Schaden nehmen? Welche Kompromisse kann es geben in der Abwägung von ökonomischem Nutzen und Werten wie etwa Menschenrechten, Freiheit und Demokratie? Wie lässt sich nachhaltige Entwicklung für eine weiterwachsende Weltgesellschaft erreichen, ohne in den reicheren Staaten Proteste gegen Verzicht und Einschränkungen hervorzurufen?

Sicherheitsfragen führen zumeist zu Dilemma-Situationen, in denen es darauf ankommt, Risiken und zu schützende Güter abzuwägen, negative Nebenwirkungen möglichst zu minimieren und unter den beteiligten Akteuren einen größtmöglichen Konsens über das gemeinsame Vorgehen herzustellen. Eindeutige Antworten gibt es gerade in pluralistischen Gesellschaften nur äußerst selten. Umso wichtiger ist es, dauerhaft einen gesellschaftlichen Diskurs zu diesen Fragen aufrechtzuerhalten.

Sven Bernhard Gareis

Prof. Dr. Sven Bernhard Gareis lehrt Internationale Politik am Insti­tut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Seine Schwerpunkte sind Internationale Organisationen, deutsche und europäische Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Poli­tik Chinas. Er hat das vorliegende Heft konzipiert und seine Erstellung koordiniert.