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Aktuelle Herausforderungen | Das politische System der USA | bpb.de

Das politische System der USA Zu diesem Heft Die USA – eine Demokratie im Ringen um ihre Prinzipien Konkurrenz und Kontrolle: horizontale Gewaltenteilung Konkurrenz und Kontrolle: vertikale Gewaltenteilung Konkurrenz und Kontrolle: temporale Macht durch Wahlen Mittler zwischen Zivilgesellschaft und Politik Aktuelle Herausforderungen Glossar Karten Literatur und Onlineangebote Impressum

Aktuelle Herausforderungen

Josef Braml

/ 15 Minuten zu lesen

Die USA stehen vor großen Herausforderungen. Präsident Biden kann trotz Demokratischer Mehrheiten im Kongress innenpolitisch nicht "durchregieren", dafür hat er außenpolitisch mehr Handlungsspielraum.

Hallo, ich bin David! Wer bist du?! (© Klaus Stuttmann)

Nach seinem hart umkämpften Wahlsieg bei den US-Präsidentschaftswahlen hat der Demokrat Joe Biden Jr. am 20. Januar 2021 als 46. Präsident der Vereinigten Staaten die Amtsgeschäfte im Weißen Haus übernommen. Zuvor konnten die Demokraten neben der Mehrheit im Abgeordnetenhaus durch die beiden Siege in den Stichwahlen am 5. Januar 2021 im Bundesstaat Georgia schließlich auch noch die einfache Mehrheit im Senat erlangen. Damit haben die Demokraten zwar noch die Kontrolle in dieser zweiten Kammer des Kongresses gewonnen, aber die qualifizierte Mehrheit (von 60 Stimmen) verfehlt, die nötig ist, um Blockademanöver (filibuster) im normalen Gesetzgebungsverfahren abzuwenden.

Die Republikaner werden bis auf Weiteres in der Lage sein, die ehrgeizige legislative Agenda der Biden-Administration mit derselben Verweigerungsstrategie zu blockieren, mit der sie bereits die meisten Initiativen Barack Obamas verhinderten. Während viele sozial- und wirtschaftspolitische Prioritäten des neuen Präsidenten Biden – etwa die Verbesserung des Gesundheitswesens, der "Green Deal" und Steuererhöhungen – von den Republikanern im Kongress vereitelt werden können, besteht in den Vereinigten Staaten jedoch ein parteiübergreifender Konsens in der Außenpolitik gegenüber rivalisierenden Staaten. Die USA werden weiterhin vor allem wirtschaftliche Mittel für geostrategische Ziele nutzen – um insbesondere China einzudämmen. Amerikas Geo-Ökonomie wird auch seine Alliierten in Europa und Asien vor die Wahl stellen und zum geostrategischen Denken nötigen.

Weiterhin mögliche Politikblockade

Mit dem neuen Amtsinhaber im Weißen Haus verbinden viele politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger in Europa ihre Hoffnungen auf eine berechenbarere und für sie vorteilhaftere Innen- und Außenpolitik der Weltmacht. Doch die politische Lage in den Vereinigten Staaten wird weiterhin schwierig und instabil bleiben.

Die Demokraten haben zwar die Kontrolle über die erste Kongresskammer, das Repräsentantenhaus, beibehalten, bei den letzten Wahlen jedoch unerwartet viele Sitze verloren und werden somit künftig über eine kleinere Mehrheit verfügen. Mangels einer "blauen Welle", eines erhofften erdrutschartigen Sieges für die Demokraten (deren Farbe traditionell blau ist), konnten die Demokraten auch nicht die zweite Kongresskammer, den Senat, deutlich für sich entscheiden. Sie verloren ausschlaggebende Rennen in Maine, Iowa und anderen Bundesstaaten gegen die Republikaner, deren Symbolfarbe rot ist.

Doch in den Stichwahlen im Südstaat Georgia gelang es den Demokraten immerhin noch, beide Sitze zu gewinnen. Damit konnten sie die Kontrolle im Senat sichern. Denn bei dem nun gegebenen 50:50-Patt kann bei Abstimmungen, wenn nötig, jeweils die Vize-Präsidentin Kamala Harris mit ihrer "tie-breaking vote" die ausschlaggebende Stimme abgeben, nicht zuletzt, wenn Personalnominierungen des Präsidenten zu bestätigen sind.

Schwieriger wäre es jedoch, mit einfacher Mehrheit das filibuster und damit die Blockademöglichkeit der Republikaner in der normalen Gesetzgebung aufzuheben. Denn in den Reihen der Demokraten gibt es in dieser für das politische System grundlegenden Frage auch zurückhaltende Senatoren, etwa Joe Manchin III, der im Senat den Südstaat Virginia repräsentiert. Senator Manchin III befürchtet, dass seine bei vielen Themen den Republikanern nahestehenden Wählerinnen und Wähler ihn für einen derart radikalen Schritt, den die Republikaner als "nukleare Option" bezeichnen, bei den nächsten Wahlen abstrafen würden.

Wegen der fehlenden Parteidisziplin ist der Präsident häufig gezwungen, sogar Kongressmitglieder der eigenen Partei mit Hilfe von Zuwendungen an ihre Wahlkreise oder Einzelstaaten für seine Vorhaben zu gewinnen. Biden wird es als Präsident künftig schwerer haben, die Geschlossenheit seiner Demokratischen Partei aufrechtzuerhalten. Trotz der parteiübergreifenden Einsicht, dass viele Bereiche des US-Infrastruktursystems renoviert und erneuert werden müssen, legte die Auseinandersetzung über den Umfang und die Finanzierung des Infrastrukturgesetzes vor allem auch die parteiinternen Gräben zwischen progressiven und fiskal-konservativen Demokraten offen. Letzten Endes konnte im November 2021 der Infrastructure Investment and Jobs Act im Abgeordnetenhaus mangels eigener Geschlossenheit nur mithilfe von 13 Republikanischen Abgeordneten verabschiedet werden. Wegen ihrer Kompromissbereitschaft werden diese jedoch seitdem von ihren Parteifreunden angefeindet und müssen befürchten, nicht wieder gewählt zu werden.

Nach Trumps Abwahl aus dem Weißen Haus fehlt hingegen den Demokraten nun der externe "Feind", der noch im Wahlkampf half, die eigenen Reihen zu schließen. Es gibt insbesondere Spannungen zwischen Progressiven und Gemäßigten darüber, wer für die Verluste bei den Kongresswahlen verantwortlich ist – und dementsprechend auch Richtungsstreit über den künftigen Regierungskurs der Demokraten.

Es war daher wenig überraschend, dass Präsident Biden ein Kabinett zusammenstellte, das die verschiedenen Fraktionen seiner Koalition umfasst, einschließlich progressiver und gemäßigter Köpfe. Dank der Kontrolle der Demokraten im Senat konnten die wichtigen Personalentscheidungen des Präsidenten ohne Blockademöglichkeiten der Republikaner abgesegnet und damit auch das innerparteiliche Machtgleichgewicht der Demokraten aufrechterhalten werden.

Mangels einer qualifizierten Mehrheit der Demokraten im Senat (60 von 100 Stimmen) und der damit möglichen Blockademittel der Republikaner im normalen Gesetzgebungsverfahren sind die vor allem von progressiven Demokraten geforderten umfassenden Gesetze in den Bereichen Gesundheitswesen, Steuerreform oder Finanzmarktregulierung nicht zu erwarten.

Dass der künftige Präsident nicht "durchregieren" können würde, wurde von der Finanzwelt erleichtert aufgenommen. Mit Kursanstiegen reagierten die Aktienmärkte darauf, dass es keine von den Demokraten kontrollierte Einheitsregierung geben wird, die Unternehmen regulieren und Steuern erhöhen könnte.
Eine in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkte Regierung gibt aber auch Grund zur Sorge, weil die gravierenden sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Landes unbearbeitet bleiben. Zunächst wären legislative Maßnahmen dringend erforderlich, um die Coronavirus-Pandemie und deren wirtschaftliche Auswirkungen zu bewältigen.

Mangelnde Sozialpolitik

Die Coronavirus-Pandemie hat die gravierenden Ungleichheiten in der amerikanischen Gesellschaft gnadenlos offengelegt. "Die Pandemie und die damit verbundenen Arbeitsplatzverluste waren besonders verheerend für Schwarze Haushalte", erklärte das Economic Policy Institute im Juni 2020. Denn Schwarze Amerikanerinnen und Amerikaner sind durch die Coronavirus-Pandemie stärker betroffen, da sie bereits vor der Pandemie tendenziell eine höhere Arbeitslosenquote vorwiesen, niedrigere Löhne bezogen und auf weniger Ersparnisse zurückgreifen konnten als andere Gesellschaftsgruppen. Dies alles sind Nachwehen von Sklaverei, Segregation und des bis heute anhaltenden Rassismus.

Die vor allem für die sozial Schwächeren anhaltende Wirtschaftskrise wird die prekäre Lage insbesondere der Schwarzen Minderheit noch weiter verschärfen. Mit ihrem Job verlieren viele US-Bürgerinnen und -Bürger nicht nur ihre einzige Möglichkeit für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, sondern in der Regel auch ihren Krankenversicherungsschutz.

Viele Schwarze Amerikanerinnen und Amerikaner arbeiten im Dienstleistungssektor, in dem die Beschäftigung merklich dezimiert wurde. Während die Arbeitslosigkeit unter Weißen Arbeitskräften in den USA mittlerweile wieder deutlich zurückging, ist sie bei Schwarzen Arbeitskräften weiterhin hoch. Die offiziellen Statistiken geben keine Auskunft über die unzähligen anderen, die wegen längerer Arbeitslosigkeit keine Ansprüche aus der Arbeitslosenversicherung mehr haben, deshalb aus der Statistik fallen und diese damit beschönigen.

In den USA sind die Leistungen der Arbeitslosenversicherung in der Regel auf 26 Wochen begrenzt; einige Staaten im Süden bieten sogar noch weniger. Staaten wie Florida haben zudem bürokratische Hürden errichtet, um die Beantragung von Arbeitslosengeld zu erschweren. Andere Staaten, wiederum hauptsächlich im Süden, haben die Berechtigung staatlicher Krankenfürsorge (Medicaid) nicht auf Menschen mit niedrigem Einkommen ausgeweitet, wie es der Patient Protection and Affordable Care Act (Obamacare) vorsieht. Das ist umso problematischer, weil viele Hilfsbedürftige ihren Lebensunterhalt mit Hilfe von "Medicaid" bestreiten.

Laut einer Datenerhebung der Kaiser Family Foundation von 2019 ist der Anteil der arbeitsfähigen US-Bevölkerung ohne Krankenversicherung bei Schwarzen 1,5-mal höher als bei Weißen. Die Corona-Sterblichkeitsrate unter Schwarzen Amerikanerinnen und Amerikanern ist denn auch signifikant höher als bei Weißen Amerikanerinnen und Amerikanern. Angesichts dieser erdrückenden Fakten stellt sich die Frage, warum die USA keinen Sozialstaat haben, der diese Ungleichheit der Lebenschancen beheben könnte.

"Warum haben die USA keinen Sozialstaat wie die Europäer?", lautete auch die Forschungsfrage amerikanischer Ökonomen, die nicht gerade im Ruf stehen, sozialliberal zu sein. Alberto Alesina, Edward Glaeser und Bruce Sacerdote testeten in einer Studie von 2001 eine Reihe von Hypothesen und erkannten am Ende einen dominanten Faktor: Die Ausnahmestellung, die die USA in der zivilisierten Welt bei der Behandlung sozial Schwächerer einnehmen, kann mit Rassismus erklärt werden. Die Hautfarbe gibt den Ausschlag dafür, ob Amerikaner Sozialpolitik und den Ausbau des Sozialstaats unterstützen oder nicht. Die Sozialpolitik ist in den USA auch deswegen in Verruf geraten, weil, anders als in den 1960er-Jahren, als noch mehr Weiße von ihr profitierten, Sozialpolitik heute mit der Unterstützung der "Anderen", der Schwarzen, gleichgesetzt wird.

Bereits Mitte der 1990er-Jahre wurde durch den Bestseller "The Bell Curve" (der Titel bezieht sich auf die Glockenkurve der Intelligenztestwerte), den Charles Murray und Richard Herrnstein 1994 veröffentlichten, der vor allem bei konservativen Eliten in den USA immanente Rassismus offensichtlich: Schwarze seien genetisch bedingt weniger intelligent als Weiße. Wer Sozialpolitik betreibe, trage nur dazu bei, dass die Schwarzen sich noch stärker vermehrten und die USA noch mehr verdummten. So lautete im Kern die These des Buches.

Selbst- und Fremdwahrnehmungen, die von seriösen amerikanischen Soziologen erforscht wurden, verdeutlichen, wie tief rassistische Haltungen in der amerikanischen Gesellschaft verankert sind. Angesichts des Umstands, dass vier Fünftel der vergleichsweise kurzen amerikanischen Geschichte von Sklaverei geprägt waren, kann es nicht verwundern, dass seit über zwanzig Generationen verfestigte Verhaltensweisen auch heute noch gegenwärtig sind.

Die meisten Weißen denken, so Joe Feagin, einer der führenden Rassismus-Forscher in den USA, dass soziale Unterschiede vermeintliche Realitäten reflektieren: eine bessere Arbeitsethik, überlegene Intelligenz oder andere Fähigkeiten und Tugenden von Weißen, die Anerkennung verdienen. Schon von Kindesbeinen an werde der American Walk of Life trainiert. Kinder von Weißen und Schwarzen Eltern würden für unterschiedliche Jobs und gesellschaftliche Schichten sozialisiert. Kindern Weißer Amerikaner werde vermittelt, dass sie leistungsfähig und überlegen seien. Schwarzen Kindern hingegen werde von der dominierenden Weißen Gesellschaft schon in früher Kindheit ein Gefühl von Minderwertigkeit vermittelt.

QuellentextSoziale Unterschiede – systemisch bedingt?

[…] Schwarze Männer haben ein etwa zweieinhalbmal so hohes Risiko wie Weiße, von Polizeischüssen getroffen zu werden. Das freilich ist nur die Spitze des Eisbergs namens "racial profiling" […] Langzeitstudien belegen, dass schwarze Autofahrer häufiger angehalten werden als weiße. Liegt das womöglich daran, dass sie im Durchschnitt ärmer und deshalb mit nicht verkehrssicheren Autos unterwegs sind? Fahren sie gar öfter unter Alkohol- oder Drogeneinfluss? Nein, denn wenn es dunkel wird, werden Schwarze und Weiße gleich oft angehalten. Die einzige Erklärung: Nachts können die Polizisten die Hautfarbe nicht erkennen. Was im Hellen wie im Dunkeln gilt: Nachdem sie angehalten wurden, werden schwarze Autofahrer viel häufiger durchsucht als weiße. […]

Umgekehrt hat die Aufklärung von Verbrechen oft geringe Priorität, wenn Schwarze die Opfer sind. Oder die Polizei macht Opfer zu Tätern. Zum Beispiel die Frau aus Ferguson nahe St. Louis, die in einem Bericht der Obama-Regierung über die dortige Polizei vorkommt. Sie hatte die Polizei gerufen, weil ihr Freund sie verprügelte. Als die Streife eintraf, war er schon weg. Die Polizisten fragten, ob er in der Wohnung wohne. Die Frau bejahte – und wurde festgenommen. Denn der Name ihres Peinigers stand nicht in ihrem Mietvertrag.

[…] Jederzeit sitzen fast eine halbe Million Amerikaner nur deshalb hinter Gittern, weil sie die geforderte Kaution nicht aufbringen können. Denn die Summe wird meist ohne Rücksicht auf die finanziellen Möglichkeiten der Beschuldigten festgelegt. Während wohlhabende Amerikaner selbst dann in Freiheit auf ihr Verfahren warten können, wenn sie zum Beispiel der Beihilfe zum Mord verdächtig sind, sitzen Nacht für Nacht Abertausende Obdachlose in Gefängnissen, die wegen unerlaubten Bettelns festgenommen wurden. […]

[…] Nach einem Gefängnisaufenthalt bekommen viele Amerikaner kein Bein mehr auf den Boden. Nicht nur ihr Arbeitsplatz ist weg, sondern oft auch die Wohnung, denn viele Kommunen verbieten Straftätern das Betreten von Sozialsiedlungen. Für Vorbestrafte ist ein Job als Putzkraft oft schon wie ein Lottogewinn. Doch wer aus der Haft kommt, braucht nicht nur Geld zum Überleben. In aller Regel muss er Hunderte bis Tausende Dollar Schulden bei der Justiz abstottern: Geldbußen und Gebühren, deren Zahl sich immer weiter vergrößert. [...]

Für arme Amerikaner kann deshalb selbst ein Bagatelldelikt zu einer Art lebenslanger Strafe führen, denn sie geraten in einen Kreislauf aus Strafbefehlen und Mahngebühren. Oft wird der Führerschein eingezogen, wenn ein entlassener Häftling säumig ist. Fährt er dennoch Auto, weil er anders nicht zu seiner Arbeitsstelle kommt, droht ihm eine Festnahme wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis. Dann gibt es wieder Gefängnis, wieder Bußgeld, wieder Gebühren. […]

Nach Zahlen von 2016 ist das Reinvermögen einer weißen Familie mit 171.000 Dollar im Mittel zehnmal höher als das einer schwarzen. In schwierigen Zeiten wie der gegenwärtigen Rezession geht die Schere stets noch weiter auseinander. […] Die Vermögenskluft würde sich selbst dann kaum verringern, wenn sich die Einkommen von Schwarzen und Weißen anglichen. Selbst die wenigen Afroamerikaner, die es unter die amerikanischen Top-Verdiener geschafft haben, besitzen im Schnitt weniger als ein Fünftel des Vermögens der gleich gut verdienenden Weißen.

Denn entscheidend ist, was vererbt wird. Als Sklaven haben die Schwarzen aber über Jahrhunderte nur zum Aufbau weißer Vermögen beigetragen. Und nach dem Ende der Sklaverei wurden sie faktisch von den großen Sozialprogrammen ausgeschlossen. Beispielhaft dafür steht das "GI Bill": Nach dem Zweiten Weltkrieg bürgte der amerikanische Staat für Kredite, damit Veteranen ihrer Familie Häuser kaufen konnten. Für viele Millionen weiße Amerikaner war das der Weg in die Mittelklasse. Die 1,2 Millionen Schwarzen, die für ihr Land gekämpft hatten, fanden aber keine Banken, die ihnen einen Kredit gewährt hätten. Also entging ihnen auch die staatliche Unterstützung.

Das ist der Hintergrund, vor dem schwarze Aktivisten heute noch Reparationen für die Sklaverei verlangen. […]

Dass das amerikanische Justizwesen überfordert, ja "kaputt" sei, ist heute beinahe ein Gemeinplatz. Schon wegen der hohen Kosten stimmen dem auch Konservative zu. Viele Bürgerrechtler allerdings stören sich inzwischen an der Formulierung. Verfassungsrechtler [Alec] Karakatsanis sagte im vorigen November: "Wenn man bedenkt, dass der eigentliche Zweck des Systems darin liegt, bestimmte Bevölkerungsgruppen unter Kontrolle zu halten, gewisse Leute zu unterdrücken, die Hierarchien von Wohlstand und Macht zu bewahren, dann funktioniert es sogar sehr gut."

Selbst wer so denkt, erklärt damit nicht alle Polizisten, Staatsanwälte oder Richter zu Rassisten.[…] Die allermeisten Polizisten wollten der Gesellschaft dienen. Das Wesen des systemischen Rassismus sei es aber, dass auch gutwillige Leute ein ungerechtes System am Laufen hielten. […]

Je lauter Reformforderungen werden, desto schriller schüren die Lobbyisten dieser und anderer Branchen Ängste vor Kriminalität in der Bevölkerung. Doch es sind nicht nur Unternehmer, die sich vor einem Systemumbau fürchten. Solange Bußgelder und Gerichtsgebühren eingetrieben werden müssen, damit eine Staatsanwaltschaft ihre Stromrechnung bezahlen kann und die Rente der Richter sicher ist, so lange wird der Reformdruck auch von innen überschaubar bleiben. […]

Andreas Ross, "Im Würgegriff", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Juli 2020; © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv

Doch wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge sind die Ungleichheiten zwischen Schwarzen und Weißen Bürgern in den USA im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass Weiße zumeist über Generationen hinweg größere Chancen zur Erlangung von Grundbesitz, Geldvermögen oder "Sozialkapital" bekamen. Auch heute hat nach Einschätzung des Nobelpreis-Ökonomen Joseph Stiglitz (Der Preis der Ungleichheit, 2012) die Einkommens- und Vermögensverteilung wenig mit Leistung zu tun. "Soziale Fiktionen" von der vermeintlich arbeitsamen und überlegenen Weißen Rasse sollen vielmehr verdecken, dass, wie die Soziologin Nancy DiTomaso durch ihre Elitenforschung herausfand (The American Non-dilemma. Racial Inequality without Racism, 2013), die meisten Angehörigen der Weißen Elite ihre gut bezahlten Arbeitsplätze weniger ihrer Leistung wegen erhalten haben: Sie verdanken sie vielmehr den tradierten Familiennetzwerken, die häufig an privaten, für die meisten Normalsterblichen unerschwinglichen Eliteuniversitäten geknüpft und gepflegt werden.

Gute Schulbildung ist in den USA schon lange kein öffentliches Gut mehr, für das der Staat sorgt. Sie ist das private Privileg einer stetig schrumpfenden Oberschicht. In den USA gibt es eine Reihe herausragender Eliteuniversitäten, die auch international die Oberliga (Ivy League) dominieren. Doch die unverhältnismäßig angestiegenen Studiengebühren können sich – abgesehen von den wenigen Stipendiaten – nur noch einige wohlhabende Studierende leisten.

QuellentextDer Uni-Campus, ein elitäres Paralleluniversum?

[…] Die Mehrheit der Studierenden an amerikanischen Eliteuniversitäten stammen traditionell aus den wohlhabenden, alteingesessenen Familien der Ostküste. Um diesen historischen Makel wettzumachen, setzen die Unis mittlerweile viel daran, talentierte Schülerinnen und Schüler aus entfernteren Städten oder benachteiligten sozialen Schichten zu entdecken. Mitglieder einflussreicher Aufnahme-Komitees reisen durch das Land, um in sozialen Brennpunkten in San Diego oder in abgelegenen Indianer-Reservaten in North Dakota nach schlauen Siebzehnjährigen zu fahnden. Die ethnische und geografische Vielfalt des Landes ist auf dem Campus deshalb mittlerweile gut abgebildet. In den letzten Jahren fanden auch immer mehr Kinder aus armen Elternhäusern ihren Weg nach Princeton und Yale.

Doch mit der Nähe zum durchschnittlichen Amerika ist es nach der Immatrikulation schnell vorbei. Denn sobald die Studierenden auf dem Campus aufkreuzen, riegeln ihre Universitäten sie vom Rest der Gesellschaft ab. Sie wohnen auf dem Campus, studieren auf dem Campus, saufen auf dem Campus, musizieren auf dem Campus, treiben auf dem Campus Sport, verlieben sich auf dem Campus.

Die Orte, die diese Insel umgeben, kennen viele dagegen kaum. Als ich in Harvard promovierte, lud ich einen kleinen Kurs jüngerer Studierender einmal zu mir nach Hause ein. Meine Wohnung lag zu Fuß ein paar Minuten von der Universität entfernt; von der Speisehalle, in der die meisten Erstsemester täglich essen, war es zu mir ein gerader Weg. Und doch waren viele dieser hochintelligenten Studierenden ob des Abenteuers, meine Wohnung zu finden, hell aufgeregt. "Du lebst aber weit von der Uni weg", staunte einer. "So weit vom Campus war ich in meiner ganzen Zeit in Harvard noch nie", sagte ein Zweiter.

In Deutschland wohnen die meisten Entscheidungsträger von morgen in normalen Wohnhäusern. Sie jobben während des Studiums als Kellnerin oder Verkäufer, zusammen mit Menschen, die diesen Job auch in zehn oder zwanzig Jahren noch ausüben werden. Wenn sie Fußball oder Volleyball spielen, so tun sie dies zumeist in einem Sportverein, der allen sozialen Schichten offensteht. Und wenn zwei Kommilitonen miteinander Probleme haben, dann müssen sie diese, wie jeder andere Bürger auch, mithilfe des formalen Rechtssystems austragen.

In den USA dagegen bleibt man unter sich. Man jobbt (wenn überhaupt) als studentische Hilfskraft in der Uni-Bibliothek oder als Fremdenführerin an der eigenen Uni. Man spielt mit den Kommilitonen in einer Mannschaft, tritt am Wochenende gegen Studierende anderer renommierter Universitäten an. Und wenn es Streit gibt, dann entscheidet die Uni-Verwaltung über Recht und Unrecht. Selbst wenn es um ernste Vorwürfe geht, etwa sexuellen Missbrauch, ermittelt und richtet zumeist das sogenannte Title-IX-Büro der Universität anstatt der Polizei und der Justiz.

Die angelsächsische Campus-Uni, auf die viele Deutsche neidisch blicken, ist in Wahrheit eine Parallelgesellschaft. Und so wie andere in sich geschlossene Gruppen auch verlieren ihre Mitglieder den Bezug zum Rest der Gesellschaft – oder kündigen ihr gar die Solidarität auf. […]

Mitglieder der angelsächsischen Elite haben deshalb oft eine denkbar seltsame Sicht auf ihr eigenes Land. Von den vergleichsweise kleinen Ungerechtigkeiten an Edel-Unis oder in den Chefetagen von multinationalen Unternehmen zeigen sie sich zutiefst schockiert; vom Leben in sozialen Brennpunkten oder verarmten Kleinstädten haben sie derweil kaum eine Ahnung. "Unter 100.000 Dollar im Jahr", sagte mir einmal eine Kommilitonin, die sich selbst als Sozialistin bezeichnete, "kann in New York kein Mensch leben." (Die meisten New Yorker verdienen weit weniger.)

Meinungsumfragen zeigen immer wieder, wie wenig Amerikaner übereinander wissen. Gerade hochgebildete Linke, die an den Elite-Unis in der Mehrzahl sind, kennen ihr eigenes Land kaum. Sie schätzen Konservative als viel radikaler ein, als sie wirklich sind, stempeln diese oft pauschal als Sexisten und Rassisten ab. Gleichzeitig überschätzen sie, wie viele Menschen im Lande so leben wie sie selbst. So denken die meisten Amerikaner, die während der Pandemie im Homeoffice arbeiteten, dass fast die Hälfte aller Arbeitnehmer dasselbe taten – in Wirklichkeit war es gerade mal jeder siebte.

Dieses Unwissen über die sozialen Bedingungen außerhalb des eigenen akademischen Milieus schlägt auch in Ablehnung um. Über keine fremde Kultur äußern sich hochgebildete Briten oder Amerikaner so offen herablassend wie über die soziale Unterschicht im eigenen Land. Unter Professorinnen oder Unternehmensberatern lästert es sich befreit über Chads und Karens, über Rednecks, Hillbillies und Trailer-Trash. […]

Gesellschaftlich wie politisch sind die Konsequenzen schwerwiegend. Denn nichts nährt die Rage vieler Wählerinnen und Wähler so stark wie das – leider nicht abwegige – Gefühl, von "denen da oben" verabscheut zu werden. Als Hillary Clinton 2016 davon sprach, dass sich die halbe Wählerschaft Donald Trumps in einem "basket of deplorables" versammle (zu Deutsch etwa: in einem "Korb der Beklagenswerten"), schadete dies ihrer Kandidatur nicht etwa, weil ihr ein extremer verbaler Ausrutscher unterlaufen war. Sondern weil ihr Spruch akkurat die Weltsicht eines ganzen sozialen Milieus wiedergab.

Die Gefahr, dass sich eine kulturelle und wirtschaftliche Elite vom Rest des Landes abschottet, besteht auch in Deutschland. Auch hierzulande dreht sich die Politik zu oft um den richtigen Wortgebrauch. […]

Und doch sind diese Probleme in Deutschland bisher viel weniger eklatant als im angelsächsischen Raum. Die Mächtigen in diesem Land kultivieren häufig die Nähe zu ihrer Heimatstadt, zu gesellschaftlichen Einrichtungen wie Sportvereinen oder zu sozial weniger gut gestellten Mitbürgern. […]

Yascha Mounk, 39, ist Gründer des Debattenportals Persuasion und Professor für Politikwissenschaften an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore.
Yascha Mounk, "Sie bleiben unter sich", in: Die Zeit Nr. 43 vom 21. Oktober 2021

Für die sogenannten oberen Zehntausend lohnt sich diese Investition allerdings allemal, denn sie werden – nicht zuletzt aufgrund ihrer in den Elite-Einrichtungen geknüpften Kontakte zu künftigen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern – nach dem Studium ein Vielfaches dessen "verdienen", was ihre mit schlechteren Startchancen versehenen Mitbürgerinnen und Mitbürger zu erwarten haben. Ihr Einkommen wird auch nicht merklich durch Sozialabgaben oder Steuern geschmälert, mit denen der zunehmende Verfall der öffentlichen Infrastruktur (Parks, Straßen, Brücken, Eisenbahnlinien etc.) aufgehalten oder die prekäre Lage sowie der Bildungsgrad sozial Schwächerer verbessert werden könnten.

"Die Verbindung zwischen Geburt und Erfolg zu lockern, würde Amerika reicher machen – viel zu viel Talent verkümmert gegenwärtig", mahnte bereits zu Jahresbeginn 2015 die wirtschaftsliberale Zeitschrift The Economist in ihrem Bericht über "Amerikas neue Aristokratie". Der technologische Wandel wird zwar weiterhin Arbeit durch Kapital ersetzen, aber auch dafür sorgen, dass künftig mehr besser und weniger schlecht ausgebildete Arbeitskräfte benötigt werden.

Soziale Ungleichheit ist also nicht nur ein moralisches, sondern auch ein wirtschaftliches Problem – besonders in den USA: In einer Wirtschaft, die zu zwei Dritteln vom Konsum getrieben wird, müssen möglichst viele das nötige Einkommen besitzen, um überhaupt konsumieren zu können. Bislang haben viele Forschende unterschätzt, wie sehr sich in den vergangenen drei Jahrzehnten soziale Ungleichheit auf das Nachfrageverhalten ausgewirkt hat. Mittlerweile ist deutlich geworden, dass in den USA Einkommensungleichheit und Konsumungleichheit Hand in Hand gehen. Doch das hat Folgen: Wer weniger Geld hat, kann auch weniger ausgeben.

QuellentextWest Virginia wartet auf den Aufschwung

[…] Die Malocherstadt [Keyser] war früher eine Hochburg der Demokraten. Doch Jimmy Carter war in Mineral County, im Landkreis, dessen Sitz Keyser ist, der letzte Demokrat, der eine Mehrheit bekam. Vor fast fünfzig Jahren. Seither gewinnen Republikaner hier in der Regel Zweidrittelmehrheiten. Trump holte 2016 und 2020 fast 80 Prozent. Die einst gewerkschaftsgebundenen, weißen Arbeiter haben das Lager gewechselt. Die Gründe dafür sind bekannt: Die Demokraten haben sich aus ihrer Sicht mehr um gesellschaftspolitische Zeitgeistfragen der ethnisch bunten Großstädte gekümmert als um das sozialpolitische Kerngeschäft für "middle America". Joe Biden will diese – weiße, hauptsächlich männliche – Wählerschaft nicht verloren geben. "Middle Class Joe", wie er sich nennt, hat sich vorgenommen, wieder eine Politik für das Herzland zu machen. Er will in vernachlässigte Landstriche investieren, ein großes Infrastrukturprogramm aufsetzen und Familien unterstützen. Es ist der Versuch, mit sozialdemokratischen Mitteln, die eigentlich als unamerikanisch gelten, der weiteren Polarisierung des Landes entgegenzuwirken.

Bürgermeister [Damon] Tillman kann da nur müde lächeln. Er kommt aus einem Elternhaus, in dem stets Demokraten gewählt wurden. Sein Vater war Kesselschmied. […] Tillman hat früher auch schon mal für Demokraten gestimmt: für Bill Clinton etwa. Später auch für Barack Obama. 2008 war das. Da gefiel ihm noch, wie der junge Senator aus Illinois redete. 2012 hatte er längst mit dem Präsidenten abgeschlossen, allein schon wegen Obamacare, der Gesundheitsreform, die er für Sozialismus hält. 2016 war er von Anfang an für Trump. Einfach, wie er sagt, weil er keine Scheu habe, die Dinge beim Namen zu nennen, etwa dass das Land seit Jahrzehnten ausgenutzt worden sei, weshalb "America first" genau die richtige Antwort gewesen sei. Ob Bidens "America first" mit freundlichem Antlitz Erfolg haben könne? "Nicht zu meinen Lebzeiten", sagt Tillman. […] Jedes dritte Geschäft in der kleinen Mainstreet steht leer – und zwar nicht erst seit der Pandemie. Auch das Kino ist seit Jahren geschlossen. Am Ende der Straße steht ein großes Gebäude mit Portikus auf einem Hügel. Es ist die ehemalige Highschool des Ortes. Die Schule ist jetzt vor die Tore der Stadt gezogen. […]

Als das [Restaurant] "Royal" öffnete, war der Ort ein Verkehrsknotenpunkt für den Kohlebergbau im Grenzland zwischen West Virginia und Cumberland im nördlichen Maryland. […] Textil- und Papierfabriken wurden gegründet – und Arbeiter, zumeist aus Italien und Irland, kamen in die Region. Die Bevölkerungszahl verdreifachte sich zwischen 1890 und 1970 auf 6500 Einwohner.

Seither ging es bergab. Mit der Kohlekrise ging die Deindustrialisierung einher: Anderswo, im Ausland, wurde billiger produziert. In den Neunzigerjahren – nach dem Freihandelsabkommen NAFTA mit Kanada und Mexiko – beschleunigte sich die Entwicklung in West Virginia. Junge Leute ohne Perspektive verließen den Bundesstaat. Die Bevölkerung schrumpfte von zwei auf weniger als 1,8 Millionen. Politisch bedeutet das: Bis 1963 hatte der Bundesstaat sechs Kongressbezirke. Von 2022 an werden es nur noch zwei sein. Da andere Gegenden wie Texas wachsen, verlieren Bundesstaaten wie West Virginia Bezirke – die Zahl der Sitze im Repräsentantenhaus ist in der Verfassung auf 435 festgelegt. In Keyser spiegelt sich das. Die Bevölkerungszahl ist auf 4900 zurückgegangen. […]

"Ich würde gerne wissen, was Biden für Keyser machen will", sagt er. In der Pandemie habe er eine Linie vertreten, die seinem Ort nur geschadet habe. Kleine Geschäfte und Restaurants hätten schließen müssen; die großen Ketten nicht. Viele hätten nicht überlebt. Und jetzt komme der Präsident mit seinen Sozialprogrammen: Gelder für die Kinderbetreuung, Familienpflegezeit, eine Ausweitung der Krankenversicherungspflicht: "Was will er denn? Die Leute abhängig machen vom Staat? Die Leute wollen aber keine Transfers, sie wollen arbeiten", sagt er. Und dann fragt er: Glaube Biden wirklich, dass der "Green New Deal" West Virginia helfe? Tillman redet nun immer schneller, sein Kopf wird rot. […] Biden werde von Linksradikalen getrieben. Er wolle alles revidieren, was Trump gemacht habe. Dessen Politik sei aber gut für die Stadt gewesen. Der Aufschwung sei in Keyser angekommen. […] Tillman benutzt all die Stichworte, die ihm täglich auf "Fox News" geboten werden – bis hin zur Verschwörungstheorie, hinter der Erstürmung des Kapitols am 6. Januar stecke das FBI. Wenn man Tillman so reden hört, kann man nicht glauben, was er nach seiner Wahl 2018 als Erstes tat: Er machte einen Demokraten zum Verwaltungschef.

Als er sein Büro im Rathaus bezog, sei keiner da gewesen, der ihn eingewiesen habe. Der bisherige Amtsinhaber – ebenfalls ein früherer Demokrat, der zum Republikaner geworden war – habe ihm das Leben schwer machen wollen. Es ging nicht um Ideologie, sondern um konkurrierende Netzwerke. Das heißt: Tillman hatte gar keines. Also holte er sich seinen alten Freund Robert Eagle ins Rathaus.

[Robert] Eagle […] ist ein großer, älterer Herr. Er hat sein Berufsleben im Hochschulmanagement verbracht. Zuletzt war er Verwaltungschef des örtlichen Community College. Als er pensioniert wurde, rief ihn Tillman an: Ob er nicht die Verwaltung von Keyser leiten wolle? Er brauche eine Person, der er vertrauen könne. Den bisherigen City-Manager hatte er entlassen, den Polizeichef auch. Es war ein echter Neuanfang. Für ein Jahr ließ sich Eagle darauf ein. Nachdem der Anfang geschafft war, holte der Bürgermeister sich jemand anderen.

Tillman und Eagle haben eines dieser Verhältnisse, das es im Amerika dieser Tage nur noch selten gibt. Über praktische Dinge sind sie schnell einer Meinung. Wenn es um die große Politik geht, könnten ihre Ansichten nicht konträrer sein. Über Trump reden die beiden Männer nicht. Eagle hat sein ganzes Leben in Keyser verbracht. Die Familie lebt dort in der dritten Generation. Der Vater war Eisenbahner, der Großvater auch. Eine urdemokratische Familie. […]

Eagle hält Biden für den richtigen Mann, die Spaltung Amerikas zu überwinden. Die Mittelschicht sei ins Rutschen geraten, sagt er. Reiche würden reicher, Arme ärmer. Der Präsident habe ausgesprochen, dass Reagans "Trickle-down Economics" nicht funktioniere. Wenn man ihn darauf anspricht, dass der Bürgermeister sage, unter Trump habe die Stadt einen Aufschwung erlebt, lächelt er nur milde: Er habe keinen Aufschwung gesehen.

Eagle deutet auf den Fluss vor ihm, den Potomac. Er fließt von hier aus Richtung Hauptstadt. Washington habe sich grundlegend verändert, sagt er: Früher sei der Senat eine Kompromissmaschine gewesen. Heute wollten die Republikaner keine Kompromisse, weil sie darin einen Erfolg der Demokraten sähen. […]

Majid Sattar, "Ohne Perspektive", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. Juli 2021; © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv

QuellentextKaliforniens Erfolgsgeschichte offenbart ihre Schattenseiten

[…] Tesla-Chef Elon Musk […] kündigte an, mit seiner Firmenzentrale das Valley in Richtung Texas zu verlassen. Mit der Firmenzentrale aus dem coolen, aber teuren Palo Alto in Kalifornien nach Austin, Texas – Musk macht es nun wie viele andere, wie Oracle, HP und Toyota, die ebenfalls den Bundesstaat im Westen der USA verlassen haben. Für die Branche hat Texas eindeutige Standortvorteile: Die Löhne sind niedriger, die Vorschriften weniger, die Immobilien billiger. […]

Eine Studie der National Low Income Housing Coalition ergab, dass man in der Bay Area pro Stunde 39 Dollar verdienen muss, um sich eine Zwei-Zimmer-Wohnung leisten zu können; mehr als 6200 Dollar im Monat – netto wohlgemerkt. Die Non-Profit-Organisation, die sich seit knapp 50 Jahren gegen diese Wohnraumkrise einsetzt, hat auch errechnet, dass jemand, der den kalifornischen Mindestlohn kriegt, also 14 Dollar die Stunde, pro Woche 112 Stunden arbeiten müsste, um die Miete für die beschriebene Wohnung zahlen zu können.

Es gibt einen Spruch, witzig und todtraurig zugleich: Wer in dieser Gegend zwischen San Francisco und San José einen Stein wirft, trifft entweder einen Millionär oder einen Obdachlosen. […]

[…] Sehr vorsichtigen Schätzungen zufolge leben derzeit mehr als 200.000 Obdachlose in Kalifornien, mehr als die Hälfte aller Obdachlosen in den USA, obwohl hier nur zwölf Prozent der amerikanischen Bevölkerung leben.

[…] Wissenschaftler sind sich einig, dass der Hauptgrund für die Obdachlosigkeit im unfassbaren Anstieg der Mieten und Kaufpreise zu suchen ist, in einem Kommentar zum Thema in der New York Times stand gar: "Die strukturellen Elemente, die die Demokratie in den USA gefährden, haben direkt zur Obdachlosigkeit in Kalifornien beigetragen."

Wer wissen will, was das konkret bedeutet, der sollte nach Berkeley fahren, im Osten der San Francisco Bay. Berkeley gilt als die liberalste aller liberalen Filterblasen, ein Motor des Fortschritts, dem Rest Amerikas immer einen Schritt voraus, bei rollstuhlgerechten Gehwegen (1972), bei Hundeparks (1979) und freilich beim Recht auf freie Meinungsäußerung – seit Studenten im Jahr 1964 das Free Speech Movement bildeten. Das gilt als der Moment, als die Jugend Amerikas aus einem langen Schlaf erwachte und loszog mit dem Ziel, die Welt zu verändern.

Nun, Berkeley war wohl auch die Geburtsstätte von "Single-family Zoning" – ein Gesetz, das besagt, dass auf bestimmten Grundstücken nur Einfamilienhäuser und keine Wohnsilos gebaut werden dürfen. Man könnte meinen, dass es vor mehr als 100 Jahren, als es eingeführt wurde, darum ging, Familien davor zu schützen, dass ihnen jemand Monsterbauten in die Straße stellte. Das stimmt, der Hintergrund jedoch, wie Studien belegen: struktureller Rassismus. Es sollte verhindert werden, dass People of Color, die damals im Schnitt deutlich weniger verdienten, in diese Gegenden zogen.

Single-family Zoning wird in Berkeley gerade abgeschafft, andere Gesetze bleiben indes bestehen. Artikel 34 im kalifornischen Grundgesetz besagt, dass die Einwohner einer Gemeinde abstimmen können, ob bei ihnen Wohnraum für Niedrigverdiener geschaffen wird. Die New York Times nennt das Gesetz "Vetokratie"– also die Möglichkeit, über diese Abstimmung ein Veto einzulegen, und genau das hört man, wenn man mit Hausbesitzern in wohlhabenderen Gegenden redet. […] Sie fürchten, dass Immobilien an Wert verlieren, wenn auf dem Gehsteig Obdachlose zu sehen sind oder in Laufweite Niedrigverdiener leben.

"Not in my Backyard" nennen sie das in den USA, also: Die Regierung soll gefälligst was gegen die Obdachlosigkeit tun, aber bitteschön nicht in meiner Gegend – da soll sich die Regierung gefälligst raushalten und den Markt das regeln lassen.

[…] [Gouverneur Gavin Newsom] unterzeichnete kürzlich Gesetze gegen Obdachlosigkeit [um] dieses Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage zu verändern.

Konkret: 10,3 Milliarden Dollar für bezahlbaren Wohnraum in den kommenden zwei Jahren, dazu zwölf Milliarden Dollar in Obdach für die, die sich keines leisten können – und zwar als Hilfsmittel für Entwickler. "Wir werfen nicht mehr Geld um uns, sondern bieten Anreize", sagt Newsom. Das Programm "Homekey" zum Beispiel soll leer stehende Hotels und Motels zu bezahlbaren Wohnungen umbauen, 44.000 Einheiten sollen so innerhalb von zwei Jahren entstehen: "Wir müssen mehr tun, und wir müssen effizienter werden."

Die Zeit drängt, pro 100 Haushalte mit niedrigem Einkommen gibt es in Kalifornien derzeit gerade mal 65 bezahlbare Wohnungen, in der Bay Area fehlen 160.000 Wohneinheiten. Nicht nur Tesla zieht weg, gerade der Weggang von Hewlett Packard Enterprise ist symbolisch, gilt die Firmengründung von Hewlett Packard im Jahr 1939 […] doch heute als Geburtsstätte des Silicon Valley. Es gibt freilich auch Konzerne, die bleiben; Google zum Beispiel plant allein im Silicon Valley den Bau von 40.000 Wohneinheiten. Scheint ganz so, als wären die wichtigsten Annehmlichkeiten für Mitarbeiter nicht mehr Gratis-Verpflegung, Kinderbetreuung oder Akupunktur. Sondern einfach eine bezahlbare Wohnung.

Jürgen Schmieder, "Ausgeträumt", in: Süddeutsche Zeitung vom 9. Oktober 2021

Hohe Staatsverschuldung

Schulden der USA (© Office of Management and Budget, White House)

Auch die öffentliche Hand kann künftig noch weniger ausgeben. Denn die Gesamtverschuldung des amerikanischen Staates läuft schon seit Längerem aus dem Ruder. Sie hat sich seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/08 auf derzeit (2020) 21 Billionen Dollar vervierfacht (die Verschuldung der Einzelstaaten und Kommunen noch nicht mitgerechnet). Allein die auf den Finanzmärkten durch Staatsanleihen finanzierte Staatsverschuldung des Bundes ("debt held by the public") übertrifft heute (2020) mit 100,1 Prozent bereits die Wirtschaftsleistung des Landes (Bruttoinlandsprodukt, BIP). Im historischen Vergleich – etwa zum Durchschnitt (von etwa 40 Prozent) der vergangenen 50 Jahre – war sie bereits vor fünf Jahren mit drei Vierteln (74 Prozent) der Wirtschaftsleistung besorgniserregend, warnte die Kongressbehörde Congressional Budget Office (CBO).

US-Haushaltsdefizite und -überschüsse 1980-2020 (© Congressional Budget Office (CBO) 2021, eigene Darstellung)

Nach den nunmehr um die Auswirkungen der Trump-Ära und der Coronavirus-Pandemie aktualisierten Berechnungen der CBO wird voraussichtlich schon 2031 die im Zweiten Weltkrieg erreichte historische Höchstmarke von 106 Prozent des BIP übertroffen und danach in schnellem Tempo umso schwindelerregendere Höhen erreichen: 2051 würde eine weitere Verdoppelung allein der öffentlich, sprich über die Finanzmärkte finanzierten Schuldenlast auf 200 Prozent (!) eintreten, wenn Amerikas bisheriger haushaltspolitischer Schulden-Kurs weitergeführt und nicht durch Steuererhöhungen oder Einsparungen gebremst wird.

Die überparteiliche, den amerikanischen Kongress in Haushaltsfragen beratende Behörde CBO warnt schon seit Längerem, dass die Schuldenlast "substanzielle Risiken" für das Land berge, ein Finanzkollaps drohe und nicht zuletzt auch die Handlungsfähigkeit des Staates lahmlegen könne. Seitdem die Coronavirus- Pandemie und deren Bekämpfung die Steuereinnahmen ebenso massiv kürzten wie sie auf der anderen Seite die Ausgaben drastisch erhöhten, ist der öffentlich über die Märkte finanzierte Schuldenberg weiter dramatisch angewachsen. In ihrem Bericht vom März 2021 warnt die Behörde bereits vor dem Schlimmsten: "Eine wachsende Schuldenlast könnte das Risiko einer Finanzkrise und einer höheren Inflation steigern und das Vertrauen in den US-Dollar untergraben, was die Finanzierung öffentlicher und privater Aktivitäten auf den internationalen Märkten kostspieliger macht."

Obschon US-Präsident Biden ursprünglich ein Infrastrukturgesetz plante, dessen Staatsausgaben durch Steuern, also Staatseinnahmen, gegenfinanziert würden, wird das 1200 Milliarden Dollar schwere Paket, der Infrastructure Investment and Jobs Act, den Staatshaushalt weiter belasten. Nach Berechnungen der CBO wird damit die Gesamtverschuldung in der nächsten Dekade um 256 Milliarden Dollar in die Höhe getrieben.

Amerikas Verschuldung ist so lange kein größeres Problem, wie das Ausland bereit ist oder dazu genötigt werden kann, auf eigenen Konsum und Investitionen zu verzichten und das Risiko in Kauf zu nehmen, den USA weiterhin Kredite zu geben. Allen voran finanzieren laut Angaben des amerikanischen Finanzministeriums derzeit Japan und China mit 1,3 bzw. 1,1 Billionen Dollar – aber auch eine Reihe europäischer Länder – den amerikanischen Traum vom unbegrenzten Konsum sowie Rüsten auf Pump und erwerben amerikanische Staatsanleihen.

Amerikas mangelnde Sparquote und seine hohe Verschuldung werden auch dazu führen, dass die USA auf absehbare Zeit ein Handelsdefizit behalten. Solange die Vereinigten Staaten über ihre Verhältnisse leben, werden sie auf andere produktions- und exportstarke Länder angewiesen sein und diese weiterhin dazu nötigen, ihre aus den Exportgeschäften erwirtschafteten Währungsreserven den USA als Kredite zur Finanzierung ihrer Schulden zu geben.

Protektionistische Handelspolitik und Lastenteilung

Europas Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft haben mittlerweile den Ernst der prekären Lage in den USA und deren Auswirkungen erkannt: Wegen ihrer durch die Pandemie verschärften wirtschaftlichen Notlage und enormen Verschuldung werden die USA unter der Regierung Joe Bidens umso mehr versuchen, aus der ökonomischen und insbesondere militärischen Abhängigkeit ihrer Verbündeten in Europa und Asien Kapital zu schlagen.

Die europäischen Verbündeten könnten sich auch vergegenwärtigen, dass Trump bestehende transatlantische Konflikte in der Sicherheits- und Handelspolitik "nur" verschärft hat. Bereits in der Zeit der Obama/Biden-Regierung übten die USA Druck auf die europäischen Staaten aus, damit diese mehr Lasten übernehmen und, wie auf dem NATO-Gipfel in Wales 2014 vereinbart, künftig "zwei Prozent" ihrer Wirtschaftsleistung für Rüstung ausgeben. Um dieses Ziel zu erfüllen, wird Deutschland auch weiterhin von der Biden/Harris-Regierung angehalten werden, amerikanische Rüstungsgüter zu kaufen, damit technologisch abhängig zu bleiben und nicht zuletzt auch das Handelsdefizit zu verringern.

Schon in der Amtszeit Obamas kritisierten die USA Deutschland und China wegen ihrer Exportstärke. Auf dem G20-Gipfel in Südkorea im November 2010 scheiterten sie mit ihrem Vorstoß, exportlastige Volkswirtschaften wie China und Deutschland unter Druck zu setzen und Begrenzungen der Leistungsbilanzüberschüsse (auf 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, BIP) festzulegen. Dies parierte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel durch Diplomatie, den Schulterschluss mit Peking und den Hinweis, dass es das Finanzgebaren der USA war, das die globale Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/2008 ausgelöst hatte.

Ideelle Grundorientierungen US-amerikanischer Außenpolitik (© Josef Braml)

Geo-ökonomische und -politische Rivalität mit China

Im zunehmenden Ringen mit der Volksrepublik China um technopolitische Einflusssphären, bei dem es auch um die künftige wirtschaftliche und militärische Vorherrschaft geht, wird Washington voraussichtlich den Druck auf Drittländer wie Deutschland und deren Unternehmen erhöhen und sie vor die Wahl stellen, entweder Geschäfte mit China oder den USA preiszugeben. Eine in chinesische und amerikanische Standards und Systeme zweigeteilte Welt könnte die Folge sein.

Nach dem parteiübergreifenden Ansinnen Washingtons darf dem strategischen Rivalen China künftig auch nicht mehr durch wirtschaftlichen Austausch geholfen werden, ökonomisch und technologisch aufzusteigen. Vielmehr soll mit allen Mitteln verhindert werden, dass China die USA in den technologischen Schlüsselbereichen überholt. Chinas entsprechende Fähigkeiten und "Big Data" lösen heute in Washington einen ähnlichen Schock aus wie seinerzeit der Start des ersten künstlichen Erdsatelliten Sputnik 1 im Herbst 1957 durch die Sowjetunion. Um Chinas ökonomische und militärische Modernisierung zu drosseln, forcieren die Vereinigten Staaten anstelle der bisherigen Politik der Einbindung und Integration eine Strategie der wirtschaftlichen "Entkoppelung" (decoupling).

In dem ständig dominanter werdenden geo-ökonomischen Denken der Weltmächte sind wirtschaftliche Verflechtung und weltweite Arbeitsteilung nicht mehr notwendigerweise Garanten für Wohlstand und Frieden. Stattdessen werden sie zu Risiken, da Ungleichgewichte in der gegenseitigen Abhängigkeit ausgenutzt werden können. Wertschöpfungsketten und Handelsbeziehungen sind "weaponizeable" (zu potenziellen zweischneidigen Waffen) geworden: Sie werden zum Objekt geostrategischer Ambitionen.

Steigende chinesisch-amerikanische Spannungen werden nicht nur spaltende Wirkung auf multilaterale Organisationen und regionale Handelsvereinbarungen, sondern auch erhebliche Auswirkungen auf "Dual-Options"-Länder wie Deutschland haben, die starke nationale Sicherheitsbeziehungen zu den USA unterhalten, aber ebenso umfangreiche wirtschaftliche Beziehungen mit den USA und China pflegen. Die Kosten dieser Doppel-Strategie werden in Zukunft steigen, wie dies bereits im Technologiesektor deutlich wird.

Der transatlantische Streit um die 5G-Technologie des chinesischen Anbieters Huawei ist nur die Spitze des Eisbergs grundlegender Rivalitäten im Bereich Geo-Technologie. "Big Data" und die Fähigkeit, große Datenmengen mit künstlicher Intelligenz (KI) für wirtschaftliche Entwicklung sowie politische und militärische Macht nutzbar zu machen, sind die eigentlichen "Game Changer". Denn sie werden den Ausschlag darüber geben, wer im künftigen wirtschaftlichen und militärischen Wettbewerb führen und dann auch die Spielregeln, die Welt(wirtschafts)ordnung, in seinem Interesse bestimmen wird.

Washington will – jetzt wieder im Verbund mit seinen Alliierten – in jedem Fall verhindern, dass ein möglicher Rivale den USA die See- oder Lufthoheit im eurasischen Raum – dem bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich interessantesten Gebiet dieser Erde – streitig macht und wirtschaftliche Aktivitäten der USA unterbindet oder ihnen den Zugang zu Ressourcen verwehrt. Obwohl dies selten offen ausgesprochen worden ist, haben die Militäroperationen und diplomatischen Aktivitäten der USA in den vergangenen Dekaden genau dieses zentrale Ziel verfolgt – so lautet die Analyse des Congressional Research Service, des überparteilichen wissenschaftlichen Dienstes des Kongresses.

Die USA und China manövrieren sich immer mehr in ein Sicherheitsdilemma: Das individuelle Streben der beiden Protagonisten nach mehr Sicherheit erzeugt am Ende mehr Unsicherheit auf beiden Seiten. Die schon seit Längerem gehegte Befürchtung amerikanischer Sicherheitsstrategen, China wolle in Ostasien eine exklusive Einflusssphäre etablieren, wird durch Chinas zunehmenden Expansionsdrang genährt: seine ständig aggressiver werdenden Aktivitäten, eine Sicherheitszone zu errichten und die amerikanische Interventionsfähigkeit zu unterminieren.

Um die für Chinas Wirtschaft – und seine politische Stabilität – überlebenswichtigen indopazifischen Seewege abzusichern (90 Prozent der chinesischen Handelsgüter sowie 40 Prozent des nach China eingeführten Erdöls werden auf See befördert), baut Peking seine sogenannte blue-water navy auf. Das sind hochseetaugliche Marine-Einheiten, die über die Küstenverteidigung hinaus auch eine globale Machtentfaltung zur See ermöglichen sollen. Im Zuge dieser "aktiven Verteidigung" soll zunächst der Raum innerhalb der "ersten Inselkette" kontrolliert werden, der das durch Korea und Japan begrenzte Gelbe Meer, den westlichen Teil des Ostchinesischen Meeres mit Taiwan und das Südchinesische Meer umfasst. Der erweiterte Raum, die "zweite Inselkette", erstreckt sich weiter östlich von den Kurilen über Japan und südostwärts über die Bonin-Inseln und die Marianen bis zu den Karolinen-Inseln.

Chinas raumgreifende Aktivitäten beunruhigen vor allem seine regionalen Nachbarn und drängen diese zur Zusammenarbeit in der indopazifischen Region – und nicht zuletzt auch mit der Schutzmacht USA. Chinas aggressiveres Auftreten in der Region hat bereits dazu geführt, dass der Quadrilaterale Sicherheitsdialog (QUAD) zwischen Australien, Indien, Japan und den USA reaktiviert wurde – ein bislang informeller Sicherheitsdialog, der eingerichtet wurde, um dem wachsenden chinesischen Einfluss im Indischen und Pazifischen Ozean entgegenzuwirken.

Während die USA schon seit Längerem engere Sicherheitsbeziehungen mit Japan und Australien pflegen, war Indien bislang um gleich großen Abstand zu den beiden Großmächten USA und China bemüht, um seine Unabhängigkeit zu wahren und seine Beziehungen zu China nicht zu belasten. Doch die jüngsten Spannungen zwischen China und Indien haben die "größte Demokratie" der Welt, Indien, bewogen, sich der "ältesten Demokratie", den USA, wirtschaftlich und militärisch anzunähern. In ihrer Außenpolitik werden die USA weiterhin die Systemrivalität zwischen dem demokratischen "Westen" und autokratischen Regimen wie China ins Feld führen – sollten dabei aber auch daran interessiert sein, dass die eigene Demokratie wieder mehr Vorbildcharakter gewinnt.

QuellentextGesellschaft der Stagnation?

[…] Die modernen Gesellschaften betrachten sich seit der Aufklärung bevorzugt im Rahmen eines Musters der strukturellen Steigerung zum Besseren, ob quantitativ oder qualitativ. Die soziologische Grundannahme lautet, dass sich die Moderne – im Gegensatz zur statischen Vormoderne – durch ein hohes Maß an Dynamik auszeichnet, durch sozialen Wandel in Permanenz. Das Zeitregime der Moderne ist zukunftsorientiert, die Zukunft erscheint als ein Horizont offener Möglichkeiten, sodass fortwährend das überholte Alte durch das Neue abgelöst wird – von der Technik über die Wirtschaft bis zur Politik.

Dieses Modell der Dynamik gehört zum Gründungsmythos der USA: Hier wurde ein Staat von Migranten neu gegründet, welche die Alte Welt der beschränkten Möglichkeiten verließen und sich anschickten, eine neue, sich selbst regierende Gesellschaft zu errichten. Schon Hegel sah in den USA "das Land der Zukunft". Und noch Barack Obama glaubte: "The best is yet to come."

[…] Doch ist die Vorstellung einer linearen Modernisierung in den letzten Jahren mehr als brüchig geworden. Ein anderes Beschreibungsmuster hat an Bedeutung gewonnen: das der Regression. […] Niedergang und Verfall sind hier der zentrale Topos. […]

Konjunktur. Die Vorstellung der Neuen Rechten, dass die USA mit der Globalisierung und moralischen Permissivität der Post-68er einen unheilvollen Niedergang erlebt hätten, brachte Donald Trump an die Macht. Hingegen sehen manche Linke den Neoliberalismus und die Herrschaft der Tech-Giganten als Sündenfall, nach dem es mit den USA abwärtsgegangen sei. Beide Niedergangsszenarios imaginieren die Möglichkeit, dass auf den Abstieg ein neuer Aufstieg folgt: Dem Scheitern soll die Läuterung folgen, eine Umkehr in der Geschichte, die allerdings der jeweiligen politischen Gegenseite nur als ein weiterer Baustein des Niedergangs erscheint.

[…] Vieles spricht dafür, dass die USA mittlerweile tatsächlich den Prototyp einer Gesellschaft der Stagnation darstellen. Stagnation heißt: Die Gesellschaft hat Strukturen ausgebildet, die problematisch erscheinen, diese Probleme werden jedoch nicht aufgelöst, vielmehr bleiben die Strukturen über Jahrzehnte stabil. Keineswegs muss eine Gesellschaft der Stagnation also kollabieren. Es geht in ihr weder aufwärts noch abwärts, es geht schlichtweg "immer weiter". Vieles funktioniert in ihr leidlich gut, und beträchtliche soziale Gruppen sind zufrieden […]. Zugleich läuft jedoch eine Endlosschleife der immer gleichen Probleme, über die beständig debattiert wird, deren Grundstrukturen aber mehr oder minder unverändert bleiben. […]

Die Merkmale der Gesellschaft der Stagnation sind mittlerweile wohlbekannt. Das Kernproblem besteht in der asymmetrischen Sozialstruktur, in der die Gewinner und die Verlierer der Postindustrialisierung der Ökonomie und der Lebenswelten, die seit den 1970er-Jahren die amerikanische Gesellschaft umgepflügt hat, einander wie Parallelgesellschaften gegenüberstehen. An die Stelle jener von manchen fast mythisch überhöhten, sozial recht egalitären und kulturell homogenen middle class der Nachkriegszeit ist ein Paternoster von Auf- und Abstiegsprozessen getreten. In der Kabine nach oben sitzt die neue, liberale Mittelklasse der Akademikerinnen und Akademiker, vor allem in den Metropolregionen lebend, in der Wissensökonomie beschäftigt und die Früchte des kulturellen Kapitalismus erntend. An der Spitze stehen jene, die sich aus den Eliteuniversitäten rekrutieren und bis in die Oberklasse hineinreichen, welche von ihrem exorbitanten Vermögen leben kann.

In der Kabine nach unten befindet sich die prekäre service class der sogenannten einfachen Dienstleistungen, eine neue working class ohne den Nimbus der Industriearbeit. Mit in der Kabine sitzt jedoch auch die geschrumpfte alte, kleinstädtische Mittelklasse, die sich teilweise trotzig behauptet, teilweise den sozialen Abstieg fürchtet. Das kulturelle Kapital des vorhandenen oder nicht vorhandenen College-Abschlusses ist das Asset, das in den postindustriellen USA über die Lebenschancen entscheidet. Und die räumliche Diskrepanz zwischen prosperierenden Regionen und solchen im ökonomischen Abstieg – zwischen denen übrigens die räumliche Mobilität so gering ist wie nie zuvor – ist erheblich. […]

Die USA leiden an einem Meritokratie-Problem, wie es 1958 der britische Soziologe Michael Young hellsichtig prophezeit hat und wie es im Rahmen einer postindustriellen Gesellschaft vollends prägend wird: Diese Gesellschaft prämiert im Übermaß Bildung und kognitive Kompetenz, sofern diese sich in marktgängiger Leistung und Erfolg niederschlagen, während viele andere außerhalb der Wissensökonomie und außerhalb der prosperierenden Regionen über einen Mangel an Anerkennung klagen, der sich häufig über die Generationen vererbt.

Eine Schere tut sich auf in der US-Gesellschaft, die nicht nur die erhebliche materielle Ungleichheit betrifft, sondern ebenso die Asymmetrie der empfundenen Wertschätzung. Auch ökonomisch befinden sich die USA in einer Stagnation: Der Beginn der letzten großen technologischen Revolution, der Digitalisierung, liegt mehrere Jahrzehnte zurück. Da die USA an der Spitze ihrer Vermögensstruktur zu einer Gesellschaft von Rentiers geworden sind, wird mittlerweile so wenig wie nie in neue Unternehmen und riskante Innovationen investiert: Das Geld der Vermögenden steckt eher in den "sicheren Anlagen".

Die Probleme sind somit bekannt, aber eine einfache Lösung ist nicht in Sicht. Dies wird durch eine zweite Ebene der Stagnation verstärkt: die immanente Blockade innerhalb des politischen Systems der USA. Dieses basiert auf einer Vielzahl von Checks and Balances – zwischen Exekutive, Legislative und Judikative, zwischen Bund und Ländern – und setzt so die Fähigkeit zu Kompromissen zwischen den politischen Lagern voraus. Diese ist allerdings seit den Neunzigerjahren einem unendlichen Konflikt gewichen, der durch eine entsprechende politisch-kulturelle Polarisierung in der Bevölkerung, mittlerweile angeheizt durch die Parallelöffentlichkeiten in den digitalen Medien, immer weiter auf Dauer gestellt wird. […]

Die sozialen und politischen Problemstrukturen bestärken sich so gegenseitig. Die USA haben damit schon lange Züge einer "blockierten Gesellschaft" (Michel Crozier) angenommen. […] Es ist nicht ausgeschlossen, dass man doch wieder ins Gleis der Fortschrittserzählung wird überwechseln können. Realistischer erscheint es gegenwärtig, dass die bekannten Problemstrukturen sich reproduzieren. […]

Andreas Reckwitz ist Professor für Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Andreas Reckwitz, "Ende Gelände", in: Die Zeit Nr. 8 vom 18. Februar 2021

Der Versöhner... (© Klaus Stuttmann)

Dr. Josef Braml ist seit Januar 2020 Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Trilateralen Kommission – einer einflussreichen globalen Plattform für den Dialog eines exklusiven Kreises politischer und wirtschaftlicher Entscheider/innen Amerikas, Europas und Asiens zur kooperativen Lösung geopolitischer, wirtschaftlicher und sozialer Probleme.

Zuvor war er von 2006 bis 2020 bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) als Geschäftsführender Herausgeber und Redakteur des „Jahrbuch Internationale Politik“ und Leiter des Amerika- Programms tätig. Davor war er von 2002–2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Projektleiter des Aspen Institute Berlin (2001), Visiting Scholar am German-American Center (2000), Consultant der Weltbank (1999), Guest Scholar der Brookings Institution (1998–1999), Congressional Fellow der American Political Science Association (APSA) und legislativer Berater im US-Abgeordnetenhaus (1997–1998).

Josef Braml veröffentlichte zahlreiche Monographien, Aufsätze in Sammelbänden und Fachzeitschriften sowie publizistische Beiträge: Externer Link: https://usaexperte.com/analysen/.

Interessierte können seinem Blog Externer Link: www.usaexperte.com folgen, über den er aktuelle Analysen und Medienbeiträge anbietet. Seine E-Mail-Adresse: E-Mail Link: josef.braml@usaexperte.com