Verbotene Bilder
Filmaufnahmen vom 17. Juni 1953 in Halle
Alexander K. Ammer
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Meine Eltern filmten den Aufstand am 17. Juni in Halle, das veränderte unser Leben. Gedanken von Alexander K. Ammer.
Der 17. Juni 1953 sollte in einer Reihe mit den großen europäischen Freiheitsbewegungen stehen. Die Welt wurde an diesem Tag für immer verändert. Für mich bildet der 17. Juni auch ein einmaliges Datum. Es ist der Tag, an dem meine Eltern, der Kameramann Albert Ammer und die Fotografie-Meisterin Jutta-Regina (damals) Lau die historischen Externer Link: Ereignisse in Halle an der Saale professionell mit einer ARRI-Filmkamera in Szene setzten. Damit wurden Lebenswege ganz neu geschrieben.
Irgendwann im Jahre 2001 blickte ich erstmals auf eine Stasi-Fotografie, die meine Eltern bei den Dreharbeiten am 17. Juni auf dem Marktplatz zeigt. Dieses Bild war ein wieder entdecktes Beweismittel der Stasi vor dem DDR-Gericht 1953. Kameramann und Filmassistentin stehen hoch auf dem Dach eines mit jungen Menschen besetzten LKW auf dem Marktplatz in Halle und filmen. Erst um den 50. Jahrestag 2003 erhielt meine Mutter erstmals Kopien von Einzelbildern, die zeigten, was sie damals als Filmassistentin mitgeholfen hatte auf Film zu bannen. Ein emotionaler Tsunami erfasste sie, weil lang vergessene Erinnerungen wieder präsent wurden. Die gemeinsamen Filmaufnahmen hatte ihr späterer Mann mit drei Jahren DDR-Gefängnis bezahlt. Die Stasi-Aufnahme, die ihr Handeln bewies, betrachtete meine Mutter stets als ein Instrument der „Täter“. Sie verachtete jenes Bild. Daher wird es für diesen Artikel nicht reproduziert, sondern nur beschrieben. Das Filmmaterial meiner Eltern ist bis heute verschollen, denn die Stasi zerschnitt den Film und erstellte Bildabzüge von Einzelbildern, um damit demonstrierende Bürgerinnen und Bürger zu identifizieren und als Beweismittel für deren Verrat gegen die DDR einzusetzen.
Ich habe die erhaltenen Einzelbilder meiner Eltern jahrelang studiert und analysiert. Viele Forscher:innen halfen mit anhand jener Aufnahmen und mit damaligen Stasi-Ermittlungsakten, die Ereignisse in Halle minutiös zu rekonstruieren. Für mich sprechen aus den Bildern vor allem bisher unbekannte Menschen. Ihre Gesichter und ihre Aktionen erzählen ganz eigene und zum Teil unerwartete und bisher eher wenig bekannte Geschichten zum 17. Juni 1953 in Halle. Mit dem Krieg in der Ukraine und dem Kampf einer europäischen Nation für ihre Freiheit und gegen feindliche Panzer hat für mich der Aufstand vom 17. Juni 1953 neue Aktualität.
Albert Ammer und Jutta-Regina Lau zogen ohne einen Drehauftrag mit ihrer Ausrüstung los und filmten an vier Drehorten in Halle: am berüchtigten Gefängnis Roter Ochse, entlang der Straßen Richtung Innenstadt, auf dem Marktplatz und die Gefängnisbefreiung in der Kleinen Steinstraße. Ihre auf Film festgehaltenen Aufnahmen konservieren für immer einmalige Stimmungen der Bürger:innen und zeitlose Botschaften der Menschen vom 17. Juni 1953.
Oft frage ich mich: Was kümmern mich heute alte, schwarz-weiße Aufnahmen, auf denen ich niemanden kenne? Doch die Gesichter der Menschen haben eine andauernde Anziehungskraft auf mich. Es ist kein Zufall, denn auf den Bildern blicken die Menschen direkt in die Filmkamera von Albert Ammer. Ich frage mich, was es über eine Staatsmacht aussagt, wenn sie diese Aufnahmen von Demonstrant:innen auf drakonische Weise unter Verschluss nahm. Auch heute, 70 Jahre nach den Filmaufnahmen sehe ich auf den erhaltenen Bildern Belege für großartigen Mut der Menschen aus der Region Halle. Viele zeigen offen Ihre Unterstützung für Freiheit und Demokratie. Die Bilder entfalten Wirkmacht und offenbaren Menschlichkeit. Unter Unrechtsregimen werden Beweise für unbewaffnetes und friedliches Aufbegehren zu psychologischem Sprengstoff, der verboten werden muss. Vielleicht sind diese Bilder gerade deswegen in der DDR unter Verschluss geraten und führten den Kameramann ins Gefängnis, denn die Bilder sprechen von Freude, Heiterkeit und Freiheitswillen.
Mutige Menschen vor und hinter der Kamera
Im Juni 1953 gab es im gesamten Regierungsbezirk Halle, vielleicht sogar in ganz Sachsen-Anhalt, lediglich zwei professionellen Standards genügende Filmkameras. Eine davon war die von Albert Ammer. Diese Filmkamera bestand aus massivem Stahl. Stativ und Kamera waren groß und schwer. Ohne Filmassistent:innen waren Dreharbeiten nicht möglich. Ein Filmteam zog die Blicke der Menschen auf sich. Dreharbeiten bildeten damals eine besondere Attraktion.
Der Kameramann Albert Ammer stammte aus einfachen Verhältnissen und hegte ein Leben lang Sympathien für die „Menschen des Alltags“. Er hatte ein Auge dafür die Sensation im Alltäglichen aufzuspüren. Am 17. Juni verwandelte er mit seiner Kamera Menschen zu Held:innen unserer Geschichte.
Das Besondere an den Aufnahmen des Drehteams Ammer und Lau bilden die Menschen, die sie dokumentieren. Es brauchte damals Mut, sich den Demonstrant:innen anzuschließen. Vor dem berüchtigten Gefängnis Roter Ochse demonstrierten Angehörige und Student:innen für die Freilassung der Inhaftierten. Für mich sind insbesondere die zahlreichen Kinder und Jugendliche auf den Bildern von Bedeutung. Mutig werfen sie sich dem Wachpersonal entgegen und trotzen dem Wasserstrahl aus dem Inneren des Gefängnisses. In den Vordergrund einer Szene setzt Albert Ammer ein junges Paar, die Frau legt ihren Arm um ihre Begleitung. Kurzum, die Ereignisse in Halle trieben massenhaft junge Menschen zum Protest und auf die Straße. Wer sich damals vor einem Gefängnis versammelte und in Sprechchören gegen die DDR-Regierung schrie, verspürte großen Zorn gegen die DDR-Regierung.
Ich frage mich, ob ich den Mut gehabt hätte, auf eigene Faust von dem exponierten und gut sichtbaren Standort des LKW aus, jenes dramatische Geschehen zu filmen. Ein gezielter Schuss auf den Kameramann hätte genügt, um die Dreharbeiten zu beenden. Mein Vater besaß eine Courage, die ich vielleicht nicht gehabt hätte. Er brannte für die Filmarbeit. Bereits im Zweiten Weltkrieg hatte er Bomben und Kugelhagel an der Seite der Filmkamera überlebt. Noch vor meinem Studium an der Filmhochschule berichtete er mir stets, dass es die oberste Pflicht eines Berichterstatters sei, so nah wie möglich am Geschehen und immer in vorderster Reihe zu filmen. Der Mut des Drehteams und der Demonstrant:innen spricht aus den Bildern. Nur wenige Minuten später starben am Roten Ochsen Studenten durch Kugeln der Sicherheitskräfte des Gefängnisses. Auch wenn die Bilder diese Gegengewalt der DDR nicht dokumentieren: Gefahr, Verzweiflung und der Mut der Bürger:innen sind in den Aufnahmen präsent.
Am Morgen des 18. Juni 1953 verschwand der Kameramann Albert Ammer, verhaftet von der Stasi, in einer Kellerzelle genau jenes Roten Ochsen. Wäre ich bereit, mein Leben für Filmaufnahmen zu riskieren? Wer wäre bereit für Angehörige oder Insassen hinter Gittern sein Leben auf’s Spiel zu setzen?
Die Menschen lächelten in Albert Ammers Filmkamera, selbst wenn die politischen und gesellschaftlichen Umstände eher Anlass zu Verzweiflung boten. Die Interner Link: Versorgungslage 1953 war mies. Die Repressionen des SED-Regimes z.B. durch die Einführung von Genossenschaften führten dazu, dass Selbstständige, Bauern und Geschäftsleute schnell wegen „Vergehen“ in Haft landeten. Aufgestauter Unmut trieb am 17. Juni die Menschen in die Hallenser Innenstadt. Dort filmte das Drehteam große Demonstrationszüge: Frauen, Männer, Arbeiter:innen, Beamt:innen, Student:innen und andere Streikende. Auf dem Marktplatz Halle versammelten sich am Nachmittag mehrere zehntausende von Demonstrant:innen. Vom erhöhten Drehort des LKW filmte Ammers Kamera einzigartige Ausblicke auf die versammelten Bürger:innen. Das Bild mit dem fröhlich winkenden Streikführer Herbert Gohlke wurde inzwischen zu einer Art Bildikone des Hallenser Aufstandes. Doch für mich erzählen die Filmbilder, die nur wenige Sekunden später eingefangen wurden, noch eindringlichere und fesselnde Geschichten. Die Belegschaft eines Krankenhauses, mehrere Dutzend Frauen in weißer Kleidung lachen und winken vielleicht meiner Mutter zu, die dicht neben der Kamera, auf dem LKW-Dach als Filmassistentin agierte.
Jutta-Regina war damals eine junge und ambitionierte Frau, die erst tags zuvor ihre Meisterausbildung zur Fotografin erfolgreich abgeschlossen hatte. Sie hegte Sympathie für die Frauen, die sich nach mehr Freiheit und Glück im Leben sehnten. Diese positive Hoffnung fröhlicher Demonstrant:innen ist auf vielen Bildern für immer eingefangen.
Ein Tag der Frauen in Halle
Auf zahlreichen Bildern von Ammer und Lau stehen Interner Link: Frauen im Mittelpunkt. Ich habe Fachbücher über 1953 gewälzt. Es wird vom „Aufstand der Fabrikarbeiter“ berichtet. Wer in die Gesichter der Gefilmten in Halle sieht, der erkennt allerdings auch Frauen jeden Alters, die ihre Unterstützung für die Proteste vor der Kamera zeigen. Zumindest in Halle war der 17. Juni 1953 auch ein Tag der Frauen.
Die zum Streik motivierten Krankenhaus-Mitarbeiter:innen belegen die riesige gesellschaftliche und soziale Unterstützung des Generalstreiks am 17. Juni 1953 in Halle. Ich habe Mienen und Gesten der gefilmten Frauen auf mich wirken lassen. Ich bin überzeugt, dass erst die Tatsache, dass es den Filmbildern gelang, gerade die Unterstützung von Frauen einzufangen, die Staatsmacht der DDR aktiv werden ließ. Im Nachgang des 17. Juni 1953 folgte eine DDR-weite Verhaftungs- und Verurteilungswelle der DDR Organe.
In Halle und auf Albert Ammers Bildern zeigt sich, dass die DDR-Regierung das Vertrauen vieler Bürger:innen verloren hatte. Im Bezirk Halle demonstrierten mehrere hunderttausend Menschen am 17. Juni 1953. Junge Frauen wie Jutta-Regina Ammer schlossen sich den Demonstrationszügen an, denn sie träumten von mehr Freiheit und Selbstbestimmung ihrer Zukunft. Die Gesichter der Frauen erzählen von persönlichen Hoffnungen und Erwartungen eines Wandels.
Ein historischer Moment: Die Gefängnisbefreiung
Meine Eltern verdrehten, wie aus den Stasi-Prozessakten hervorgeht und mein Vater mir erzählte, genau drei 35mm-Filmrollen. Der größte Teil der bis heute aufgetauchten Aufnahmen zeigt die dramatische Befreiung von ca. 245 inhaftierten Frauen aus dem Gefängnis an der Kleinen Steinstraße. Die Bilder von dort sind historisch einzigartig und emotional aufwühlend. Mehrere gerade aus der Haftanstalt befreite Insassinnen blickten ungläubig, aber auch freudestrahlend in Albert Ammers Kamera. Vielleicht lächeln einige sogar der jungen Filmassistentin Jutta-Regina Lau zu, die direkt neben dem Kameraobjektiv stand. Es entstanden eindringliche Mini-Filmporträts von Frauen unterschiedlichen Alters.
Meine Mutter berichtete mir, wie erschüttert sie bei den Dreharbeiten auf das Gefilmte vor der Frauenhaftanstalt reagierte. Sie fragte sich, was dies für eine DDR-Regierung sein könne, die scheinbar lebensfrohe Zwanzigjährige, aber auch gestandene Frauen oder Mütter oder gebrechliche „Omas“ ins Gefängnis sperrte.
Als befreite Frauen vor dem Tor der Haftanstalt vor Erschöpfung zusammenbrachen, erschrak sie. Sie erinnerte sich an ihre eigene, im Jahre 1951 nach dem Krieg verhungerte Großmutter. Die Kamera bannte das Glück der glücklich geretteten Frauen auf Film. Es hätten spektakuläre und bewegende Kinonachrichten werden können. Verzweiflung und Freude liegen oft nah beieinander. Die Gesichter jener befreiten Frauen bilden für mich schockierende Dokumente des Unrechts der DDR. Albert Ammer und Jutta-Regina Lau schufen auch diesen Frauen von 1953 ein filmisches Denkmal.
Bilder als Mittel gegen DDR-Propaganda
Die Filmnachrichten der Deutschen Film AG (DEFA) liefen wöchentlich nur im Kino (ja, Fernsehen gab es damals noch nicht). Wer und was dort auf der Leinwand in schwarz-weiß flackerte, wurde zum Stadtgespräch. Der Kameramann Ammer hatte die DDR-Kinonachrichten „Der Augenzeuge“ in Thüringen und Sachsen-Anhalt mit geprägt. Sein Gespür ließ ihn den Aufstand am 17. Juni 1953 mit seiner Filmkamera und ohne Drehauftrag filmen. Mein Vater sagte als geradezu besessener Kameramann und Fotograf: „Ein Filmbild sagt mehr als tausend Worte“. Ich glaube, dass ihm am 17. Juni 1953 ein Meisterstück gelang. Seine Filmbilder dokumentierten, was sich wirklich auf den Straßen von Halle an jenem Tag abspielte und welche Menschenmassen sich die Proteste und die Streiks unterstützten. Die Propaganda der DDR hätte diesen Filmaufnahmen nichts entgegen zu setzen gehabt. Jene mächtigen Bilder der Realität hätten die DDR-Regierung in noch größeres Wanken bringen können.
Das Drehteam hatte die Demonstrationen dokumentieren wollen, die Stasi kehrte diese Idee ins Gegenteil um und versuchte, mit den Bildern Verschwörungen zu erfinden und Hochverrat zu unterstellen. Albert Ammers Filmaufnahmen vom 17. Juni hatten die Proteste aus der Menschenmenge heraus umfassend, unwiderlegbar und unbestreitbar eingefangen. Sie wurden von der DDR-Staatssicherheit als derart gefährlich eingestuft, dass die Filmbilder von Albert Ammer und Jutta-Regina Lau ausgelöscht werden mussten. Ebenso musste der Urheber der für die DDR-Oberen ungeheuerlichen Nachrichten von der Bildfläche verschwinden. Albert Ammer wurde per DDR-Unrechts-Urteil 1953 eingesperrt. Er wurde mit seinen Filmbildern zum Staatsfeind der DDR gestempelt. Neben Terror, Folter und Gefängnis, die er aushalten musste, verlor er die DDR-Bürgerrechte und wurde mit Berufsverbot belegt.
Umso verwunderlicher bleibt es, dass die Standbilder aus Albert Ammers Film bis heute nicht in den Standardwerken zum 17. Juni 1953 umfassend dokumentiert und mit modernem Blick bewertet werden. Wäre es 70 Jahre später nicht Zeit, neue Perspektiven zum Aufstand 1953 einzunehmen und moderne Blicke auf die gefilmten Menschen zu wagen? Auf den erhaltenen Einzelbildern sprechen die Gesichter von zahlreichen Jugendlichen und Frauen. Sind deren Geschichten schon ausreichend beleuchtet oder gewürdigt worden? Die Aufnahmen von Albert Ammer und Jutta-Regina Lau zeugen von Menschlichkeit und Neugier. Das überschwängliche Freiheitsgefühl der damaligen jungen Generation wirkt auf mich äußerst lebendig und ansteckend. Aus anderen Aufnahmen treten die Qualen in den Gefängnissen so stark hervor, dass ich etwas von dem Unmut und dem Furor zu erkennen glaube, der vielleicht auch eben die Frauen gegen die DDR-Regierung trieb. Mich lassen die feiernden Demonstrant:innen und die befreiten Frauen nicht los. Die Personen im Mittelpunkt jener Einzelbilder erinnern mich an elementare und zentrale Gefühle menschlicher Existenz. Glück, Freude, Erleichterung, Schmerz und die Sehnsucht nach Freiheit scheinen viele Menschen von damals zu einen.
Die Bilder vom Filmteam Ammer und Lau verleihen den Verstummten laute Stimmen gegen eine verbotene oder vergessene Vergangenheit. In dreijähriger DDR-Haft weigerte sich der Kameramann Albert Ammer, sich in irgendeiner Weise schuldig zu bekennen. Er hatte menschliche und großartige Nachrichten des 17. Juni gefilmt: Protestierende, für mehr Freiheit kämpfende, jubelnde und befreite Jugendliche, Männer und Frauen.
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Der Autor wurde 1968 in München geboren und absolvierte die Münchner Filmhochschule. Sein Roman „Alberts Bilder bleiben“ erschien 2023 und schildert den abenteuerlichen Lebensweg des Kameramanns Albert Ammer von den frühen 1930er Jahren bis hinein in den Aufstand von 1953. Alexander K. Ammer hat als Filmemacher in den 1990er Jahren zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Er arbeitete über zwanzig Jahre als Strategieberater für internationale Firmen und als Personalleiter bevor er sich als Autor und Publizist neu ausrichtete. Er lebte u.a. in den USA, Kanada und Indien.
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