Ein frauenhistorischer Blick auf den 17. Juni 1953
Einleitung
Andrea BahrMichèle Matetschk
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Es lohnt sich, immer wieder neu auf den Volksaufstand und insbesondere auf die Beteiligten zu blicken. Wir tun dies und sind auf viele Geschichten von Frauen gestoßen, die bis heute in den Erzählungen über den Volksaufstand weitgehend unbekannt und unerzählt sind.
Der Volksaufstand am 17. Juni 1953 jährt sich dieses Jahr zum 70. Mal. Lange Zeit war der Aufstand ein zentrales Thema der Interner Link: DDR-Forschung. Seine Ursachen, sein Verlauf, seine Niederschlagung und seine Folgen sind heute bekannt. Wir wissen, dass die Aufständischen nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale und politische Forderungen stellten. Es ging nicht nur darum, die erhöhten Normen und die damit verbundenen faktischen Lohnsenkungen zu verhindern, sondern es entlud sich Unmut, der sich schon lange aufgestaut hatte: über die mangelnde Versorgung, über fehlende demokratische Rechte – wie freie Wahlen – und über die Teilung Deutschlands. Darüber hinaus wissen wir heute, dass es eben kein reiner Arbeiter*innenaufstand war. Alle Schichten der DDR-Bevölkerung beteiligten sich, der Aufstand fand sowohl in den urbanen Räumen wie Ost-Berlin oder Leipzig, als auch Externer Link: auf dem Land statt. Das Ende des Volksaufstandes und seine Interner Link: Folgen sind uns ebenfalls bekannt: Sowjetische Truppen und Sicherheitskräfte des SED-Regimes schlugen die Demonstrationen blutig nieder. Es gab Externer Link: Tote und Verletzte. Das SED-Regime verhaftete viele Menschen und es folgte eine Welle von Repressionen.
Dennoch lohnt es sich, immer wieder neu auf den Volksaufstand und insbesondere auf die Beteiligten zu blicken. Wir haben dies unter der Frage „Ist der 17. Juni 1953 männlich?“ getan und sind auf viele Geschichten von Frauen gestoßen, die bis heute in den Erzählungen über den Volksaufstand weitgehend unbekannt und unerzählt sind. Dieser Blick auf die weibliche Seite des Volksaufstandes wird nicht dazu führen, dass wir die Geschichte des 17. Juni 1953 in der DDR neu schreiben oder die bisher geltenden Deutungen der Ereignisse auf den Kopf stellen müssen. Der Blick auf die Rolle der Frauen soll den Blickwinkel auch nicht künstlich verengen und feministisch-aktivistische Kriterien vor das Desiderat einer ausgewogenen Forschung und Wissensvermittlung stellen. Aber: die genauere Betrachtung der Geschichten der Frauen eröffnet eine neue Perspektive. So wie bei anderen intersektionalen Forschungsansätzen auch, lassen sich Beobachtungen über ganz spezifische Handlungs- und Erfahrungsräume machen. Die Frauen werden zurück in die Geschichte geholt, an der sie Teil hatten und die sie mitgeschrieben haben. Frauen erlebten den 17. Juni 1953 nicht einfach, sondern agierten in unterschiedlichen Rollen und beeinflussten mit ihren Handlungsentscheidungen die Ereignisse.
Ein erster Blick auf die ikonischen Fotos des 17. Juni 1953 zeigt, dass unsere Frage „Ist der 17. Juni 1953 männlich?“ eher rhetorisch ist. Auf vielen Bildern sind Frauen zu sehen – sei es beim berühmten Marsch der Beschäftigten Hennigsdorfer Betriebe oder unter den Verhafteten. Frauen waren genauso wie Männer von den Forderungen bzw. den damit adressierten Defiziten des SED-Regimes betroffen und so waren sie auch unter den Demonstrierenden.
Ein Blick in schriftliche Quellen zum 17. Juni 1953 offenbart, dass Frauen sehr vielfältige Rollen einnahmen, denen wir in diesem Beitrag nachgehen wollen. Beispielhaft dafür stehen einige kurze Notizen des Ministeriums für Staatssicherheit, die es über inhaftierte Frauen des Volksaufstandes anfertigte: Die 21-jährige Heidemarie „war beteiligt beim Plündern von HO-Geschäften [Handels-Organisation, Anm. d. Autorinnen] in der Umgebung des HdM [Haus der Ministerien, Anm. d. Autorinnen]“. Katrin „hatte die Steine noch in der Tasche als sie festgenommen wurde“ und die 17-jährige Irmgard hatte „Angehörigen der Volkspolizei (Sperrkette) ins Gesicht gespuckt“. Gerda (55 Jahre) „beteiligte sich beim Zerstören von HO-Geschäften“ und Eva (17 Jahre) hat „Flugblätter verteilt“. Genauso wie ihre männlichen Pendants streikten die Frauen, führten den Streik an, animierten andere Menschen, sich anzuschließen. Frauen standen aber auch auf Seiten des Regimes. Und: Genauso wie Männer übten sie Gewalt aus oder nutzten die Situation für eigene Zwecke.
Eine von der Staatssicherheit rund um den 17. Juni 1953 verhaftete Frau. Dem Foto konnte bisher kein Name zugeordnet werden.
Frauenpolitik in der DDR
Die Interner Link: Rolle der Frauen in der DDR war am Anfang der Interner Link: 1950er-Jahre im Umbruch. Das Interner Link: Frauenwahlrecht war knapp dreißig Jahre zuvor erkämpft worden, doch die Zeit des Nationalsozialismus und die ideologische Vorstellungswelt der NSDAP brachte eine Rückbesinnung auf traditionelle Werte und Geschlechterrollen: Die Frau wurde bei den Kindern und am heimischen Herd verortet und nicht am Arbeitsplatz. Schon während des Zweiten Weltkrieges wurden die Grenzen dieses starren Rollenbildes deutlich: Viele Männer fielen im Krieg oder wurden verwundet und Frauen wurden gebraucht, um die heimische Kriegswirtschaft am Laufen zu halten. Dies änderte sich nur wenig nach Kriegsende, noch immer waren viele Frauen Alleinversorgerinnen für ihre Familie. In der Sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR wurden Frauen als Arbeitskräfte gebraucht, um die ambitionierten Pläne des SED-Regimes erfüllen zu können. Die aus dem Krieg zurückgekehrten arbeitsfähigen Männer konnten nicht alleine das Land nach sozialistischem Vorbild umgestalten. Neben dieser wirtschaftlichen Notwendigkeit formulierte die SED außerdem einen ideologischen Anspruch: die Interner Link: Emanzipation der Frau. Mit der propagierten Gleichstellung von Mann und Frau wollten sich die DDR-Machthaber außerdem vom bundesdeutschen Nachbarstaat und der dort vorherrschenden gesellschaftlichen Stellung der Frau abgrenzen. Das SED-Regime entwarf ein sozialistisches Frauenbild: Statt zu arbeiten, weil es notwendig war, sollten Frauen berufstätig sein, um selbst ihre Gleichberechtigung zu verwirklichen. Bezahlte Arbeit sollte es den ostdeutschen Frauen ermöglichen, wirtschaftlich und gesellschaftlich unabhängig zu sein.
In den 1950er-Jahren war diese Entwicklung in weiten Teilen der ostdeutschen Gesellschaft angekommen: Etwas mehr als die Hälfte der Frauen in der DDR arbeitete in Erwerbsberufen. Die andere Hälfte ging keiner bezahlten Arbeit nach, sondern kümmerte sich als Hausfrau um die Familie. Letzteres war der SED ein Dorn im Auge. Sie sah darin ein Relikt veralteter Gesellschaftsbilder, die es zu überwinden galt. In den 1950er-Jahren versuchte die SED deswegen, Hausfrauen in sogenannten Hausfrauenbrigaden an die Erwerbsarbeit heranzuführen.
Wie war die Situation der Frauen im Jahr 1953?
Anders als in den Jahren zuvor waren 1953 Frauen nicht mehr nur im sozialen Bereich oder der Verwaltung tätig, sondern auch in der Industrie und der Landwirtschaft. Sie verrichteten zum Teil körperlich schwere Arbeit. Hinzu kam in den meisten Fällen die erwerbslose Arbeit, also die Betreuung der Kinder und das Verrichten der Hausarbeit. Diese Doppelbelastung war der Grund, warum Frauen von einigen Entwicklungen, die zum 17. Juni 1953 führten, sehr viel unmittelbarer betroffen waren als viele Männer. Dazu zählte v. a. die schlechte Versorgungslage, auf die Parolen des Volksaufstandes wie „Die HO macht uns k.o.“ oder „Die Preise der HO sind unser Ruin“ aufmerksam machten. Frauen waren es mehrheitlich, die sich an Geschäften anstellten und täglich nach den – teils noch rationierten – Produkten Ausschau hielten. Sie waren es, die Versorgungsengpässe schnell spürten und Wege finden mussten, diese auszugleichen. Auch von Seiten der SED wurde ihnen diese Aufgabe zugeschrieben: Programme zur Verbesserung der Versorgung beschrieb das Regime als Maßnahmen, den arbeitenden Frauen das Leben leichter zu machen. Anders als in der Bundesrepublik, wo schon 1950 die Rationierung beendet worden war, waren in der DDR noch bis 1958 bestimmte Produkte nur mit Berechtigungskarten zu erhalten. Im Frühjahr 1953 sammelten deshalb einige Frauen in Ost-Berlin Unterschriften gegen Preiserhöhungen und drohten sogar öffentliche Proteste am 1. Mai an.
Doch warum spielen Frauen bisher in der Geschichtsschreibung zum 17. Juni 1953 nur eine marginale Rolle? Warum wird der Volksaufstand bisher weitgehend männlich erzählt und erinnert? Im Jahr 2019 konstatierten die Historikerinnen Karen Hagemann, Donna Harsch und Friederike Brühöfener, dass Geschichtsschreibung zur DDR und zur Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten weitgehend ohne geschlechter- und frauengeschichtliche Fragestellungen ausgekommen ist. Die Geschichte des 17. Juni 1953 ist somit keine Ausnahme. Der Volksaufstand erscheint in der Erinnerung und auch in der wissenschaftlichen Forschung als Männerdomäne. Frauen verschwinden hinter den männlich konnotierten Rollen, die noch immer die Erzählungen vom Volksaufstand dominieren: Es geht um Bauarbeiter, die Protestresolutionen verfassen und zum Streik aufrufen, um Stahlarbeiter, die sich von Hennigsdorf auf den Weg nach Ost-Berlin machen, und um Streikführer, die mutig vorangehen und dafür auch ihr Leben riskieren. Diesen Personen werden Kampfgeist, Mut, Aggressivität und Durchsetzungsstärke zugeschrieben. Eigenschaften, die – unbewusst oder bewusst – nur selten mit Akteurinnen in Verbindung gebracht werden. Hinzu kommt, dass sich nur wenige Historikerinnen mit dem Volksaufstand beschäftigt haben. Eine Ausnahme ist Heidi Roth, die den bisher einzigen wissenschaftlichen Text zur Rolle von Frauen am 17. Juni 1953 vorgelegt hat. Die dominanten Narrative stammen somit von Autoren. Sie blicken aus einer männlichen Perspektive auf die Ereignisse, reproduzieren damit meist zeitgenössische Rollenbilder und hinterfragen tradierte Genderkonnotationen nur unzureichend. Unsere Arbeit kann nur ein erster Schritt zu einer weiteren und tiefergehenden gendersensiblen Beschäftigung mit dem Volksaufstand sein. Unser Fokus liegt größtenteils auf Beispielen aus Berlin, aber auch an anderen Orten waren Frauen Akteurinnen am 17. Juni 1953.
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Andrea Bahr, Jahrgang 1981, ist promovierte Historikerin und Referentin für historisch-politische Bildung beim Externer Link: Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Sie hat u.a. zu den Kreisleitungen der SED und zur Einflussnahme der Staatssicherheit auf die Partei „Die Grünen“ publiziert.
Michèle Matetschk, Jahrgang 1997, ist seit 2018 Mitarbeiterin in der Abteilung historisch-politische Bildung des Externer Link: Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Sie studierte Anglistik und Geschichte an der Humboldt-Universität in Berlin. In ihrer Masterarbeit beschäftigte sie sich mit der Identität US-amerikanischer Astronautinnen im späten 20. Jahrhundert.