Denkmodelle der 68er
I. Die radikaldemokratische Kritik in der Inkubationszeit (1961-1967)
Schon lange vor dem Ende der Adenauer-Ära hatte die SPD mit ihrem Godesberger Programm von 1959 eine Kurskorrektur vorgenommen. Aus einer Arbeiter- war eine Volkspartei geworden. Zwar hatte man die marxistische Weltanschauung nicht vollends aufgegeben, ihr jedoch die antikapitalistische Spitze nehmen wollen. Eine der Folgen bestand in dem nach jahrelangen Konflikten 1961 herbeigeführten Unvereinbarkeitsbeschluss mit dem SDS [12]. Der Studentenbund, der anderthalb Jahrzehnte lang Rekrutierungsfeld für sozialdemokratische Spitzenfunktionäre war, wurde in eine Unabhängigkeit ohne materiellen Rückhalt und mit einem ungewissen politischen Ausgang entlassen. Für den SDS war die Trennung von der Mutterpartei SPD jedoch zugleich die Chance zu einer programmatischen Neuorientierung. Der Hochschulbund konnte unbefangener als zuvor jene Anregungen aufgreifen, die von neomarxistischen Theoretikern in den USA und in Großbritannien unter dem Anspruch einer "new left" diskutiert wurden [13]. Das von C. Wright Mills, Perry Anderson, E.P. Thompson u. a. entwickelte Konzept verstand sich als Reaktualisierung des Sozialismus in einer doppelten Frontstellung: Eine Neue Linke sollte weder den Weg des Sowjetkommunismus, der seine Ideale 1956 mit der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes ein weiteres Mal verraten zu haben schien, einschlagen noch den der Sozialdemokratie, die sich von einer Interessenvertretung der Arbeiterschaft und dem Modell des Klassenkampfes offenbar endgültig verabschiedet hatte.
1. Kritik der Ordinarienuniversität
Es war nahe liegend, dass eine Bewegung, die in ihrem Kern eine studentische war, ihren Ursprung in der Auseinandersetzung mit den Ausbildungsdefiziten der Massenuniversität hatte. Insbesondere die Schwierigkeit, im Rahmen der althergebrachten Ordinarienuniversität Schritte zu einer längst überfälligen Studienreform durchzusetzen, schärfte unter den Studierenden das Bewusstsein vom Zusammenhang zwischen Hochschulreform und Demokratisierung.

Bereits im Jahr zuvor hatte der SDS eine Denkschrift mit dem programmatischen Titel "Hochschule in der Demokratie" herausgegeben. Darin wurde der Versuch unternommen, die Universität ihrer bildungsbürgerlichen Ideologie zu entkleiden und gesellschaftlich neu zu definieren. Ziel war es, Forderungen für eine Reformierung des Studiums zu entwickeln. Dabei wurde die Humboldt'sche Reformidee als Leitbild zwar kritisiert, weil sie im Laufe der industriellen Revolution ihre Wirkungskraft mehr und mehr eingebüßt habe, jedoch zugleich an wesentliche Prinzipien des preußischen Reformers, wie die Einheit von Forschung und Lehre, die Freiheit des akademischen Studiums und die Autonomie der Universität, angeknüpft. Der ideologische Schein der Universitätsautonomie müsse einerseits aufgelöst werden, um die gesellschaftliche Funktion des Wissens in den Blick zu bekommen, andererseits aber müsse die Autonomie neu begründet werden, um Freiheit von gesellschaftlicher Instrumentalisierung zu gewinnen. Die Hochschulentwicklung wurde nun unter Produktivitätsgesichtspunkten interpretiert und - im Sinne einer Entlohnung für die im Studium geleistete Arbeit - die Forderung nach Einführung eines "Studienhonorars"[15] erhoben.
Als 1964 nach einer Artikelserie des evangelischen Theologen Georg Picht das Schlagwort vom Bildungsnotstand die Runde machte [16], besaß der SDS einen bemerkenswerten Reflexionsvorsprung [17]. Im Jahr darauf wandte sich der Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz (WRK), Rudolf Sieverts, in einem Rundschreiben an die Rektoren aller bundesdeutscher Universitäten und forderte sie auf, sich an einer "Aktion 1. Juli" zu beteiligen und die Studenten in ihren Bemühungen für eine bessere Bildungspolitik zu unterstützen. Und in der Tat, aus Sorge um den wachsenden Bildungsnotstand in der Bundesrepublik zogen am 1. Juli 1965 Tausende von Studenten demonstrierend durch die Städte. Ihr Motto lautete "Bildung sichert die Zukunft". Sprecher erklärten, dass Bildung nicht das Privileg einer auserlesenen Schicht bleiben dürfe, sondern zum integrierenden Faktor der Gesellschaft werden müsse. Insbesondere das soziale Ungleichgewicht in der Zusammensetzung der Studierenden wurde hervorgehoben. Nur fünf Prozent von ihnen, hieß es, kämen aus Arbeiterfamilien. Dies sei nicht etwa Ausdruck mangelnder Intelligenz, sondern Indiz für die Unfähigkeit des Bildungswesens, Begabte ausreichend zu fördern. Damit war ein Zeichen gesetzt, dem sich auch Parteien und Parlamente nicht mehr entziehen konnten.
2. Kritik der Öffentlichkeit
Eine funktionierende Öffentlichkeit wurde nicht nur von der linken Intelligenz als Instanz demokratischer Kontrolle gegenüber der politischen Herrschaft aufgefasst. Politische Eingriffe in die Pressefreiheit, so die Überzeugung, rührten zugleich auch an den Nerv der Demokratie. Als exemplarischer Fall für einen solchen Vorstoß galt die "Spiegel"-Affäre. Es war daher kein Zufall, dass gerade der politische Konflikt um das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" im Herbst 1962 eine kleinere Welle studentischer Proteste auslöste, die als Auftakt zur späteren Studentenrevolte gesehen werden kann. Die Verhaftung des Verlegers Rudolf Augstein und des stellvertretenden Chefredakteurs Conrad Ahlers wegen des dringenden Verdachts, mit der Veröffentlichung des Artikels "Bedingt abwehrbereit", der sich mit den Ergebnissen des NATO-Herbstmanövers "Fallex 62" befasste, Militärgeheimnisse verraten und deshalb Landesverrat begangen zu haben, löste eine monatelange Affäre aus, die schließlich zum Rücktritt von Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß führte, der als der politisch Verantwortliche der Strafverfolgungsaktion angesehen wurde.
Nur wenige Monate zuvor war unter dem Titel "Strukturwandel der Öffentlichkeit" die Habilitationsschrift von Jürgen Habermas erschienen, eine Analyse, die in mancher Hinsicht wie ein Interpretationsrahmen des Konflikts begriffen werden konnte [18]. Darin wurde die Entwicklung des für den bürgerlichen Verfassungsstaat zentralen Begriffs der Öffentlichkeit zu einer Instanz demokratischer Kontrolle gegenüber der politischen Herrschaft in seinen einzelnen Stationen nachgezeichnet. Da das Öffentlichkeitsprinzip, das historisch bis in die Parlamente und in die Gerichte vorgedrungen sei, nicht auch auf die Verwaltung ausgedehnt werden könne, argumentierte Habermas, bliebe eine für das staatliche Handeln entscheidende Sphäre der Kritik entzogen. Die Exekutive könne unter dem Vorwand eines für sie reservierten Sachverstandes ihre Entscheidungen abschotten und gegen die politisch artikulierten Interessen der Bevölkerung durchsetzen. Aus dieser Strukturschwäche heraus entstünden die entscheidenden Defizite der Öffentlichkeit in der modernen Gesellschaft. Sie könnten auch durch Presseorgane nicht mehr kompensiert werden.
Was Habermas herausgearbeitet hatte, das wurde von keiner anderen Hochschulgruppe so ernst genommen wie dem SDS. Für die politisierten Studenten rückte eine Forderung ins Zentrum ihrer Aktivitäten - die nach Öffentlichkeit und Diskussion. Es existierte die Vorstellung einer ursprünglichen Einheit von Demokratie und Öffentlichkeit. Ohne eine funktionierende Öffentlichkeit, so die Überzeugung, könne auch keine funktionsfähige Demokratie zu erwarten sein. Deshalb war die studentische Bewegung zunächst von nichts anderem so sehr geprägt wie dem Versuch, Öffentlichkeitsformen zu erringen, durchzusetzen und dauerhaft zu etablieren [19]. Bevor irgendein politisches Ziel geäußert werden konnte, ging es zunächst einmal darum, sich des öffentlichen Raums zu versichern. Die Demonstration wurde so zur maßgeblichen Form der politischen Willensartikulation. Von ihrem jeweiligen Verlauf war abhängig, welche Resonanz die jeweiligen Forderungen in den Medien und der Öffentlichkeit gewannen. Auch die aus den USA übernommene Form des Teach-ins war integraler Bestandteil einer solchen Öffentlichkeitsstrategie [20]. Oft diente sie dazu, vor Beginn einer Demonstration oder Kampagne die Interessierten über Hintergründe zu informieren und zugleich die Möglichkeit anzubieten, sich kontrovers darüber auszutauschen. Dieser aufklärerische Grundimpuls, Zusammenhänge sichtbar zu machen, Transparenz herzustellen und dabei mitunter Dinge ans Tageslicht zu zerren, die unerwünscht waren, spielte auch in einem anderen Zusammenhang eine maßgebliche Rolle.
3. Kritik der unaufgearbeiteten NS-Vergangenheit
Nicht weniger als anderthalb Jahrzehnte mussten vergehen, bis in Westdeutschland eine ernst zu nehmende Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit begann [21]. Erst in den Reaktionen auf die antisemitische Welle um die Jahreswende 1959/60 machte sich eine gewisse Veränderung bemerkbar. Insbesondere seitdem das Westberliner SDS-Mitglied Reinhard Strecker zur selben Zeit begann, in verschiedenen Städten die Ausstellung "Ungesühnte Nazijustiz" zu zeigen [22], um gegen die Verjährung von NS-Verbrechen zu protestieren, gehörte die Forderung nach einer gezielten Strafverfolgung von NS-Tätern zu den Selbstverständlichkeiten im SDS [23]. Der Versuch, die Vergangenheit der eigenen Professoren zu erforschen, führte zu Beginn der sechziger Jahre an einer Reihe von Universitäten zu Konflikten. Eine ignorant-abwehrende Haltung wie die des Hamburger Psychologen Peter R. Hofstätter, der 1963 die Überzeugung geäußert hatte, dass die von den Deutschen geforderte "Vergangenheitsbewältigung" prinzipiell unlösbar sei [24], führte zu Monate andauernden Konflikten [25]. Häufig waren Artikel in Studentenzeitungen wie den Tübinger "Notizen", in denen "braune Flecken" in der akademischen Karriere von Hochschullehrern nachgewiesen wurden, der Anlass für restriktive Maßnahmen [26].
Eine der Antworten bestand darin, dass liberale und konservative Ordinarien damit begannen, in Vorlesungen das Verhältnis bestimmter Fakultäten zum Nationalsozialismus herauszuarbeiten. So wurde z. B. an der Universität Tübingen im Wintersemester 1964/65 auf den Druck von Studenten eine Ringvorlesung aller Fakultäten durchgeführt [27]. Für den Herausgeber der Zeitschrift "Das Argument", Wolfgang Fritz Haug, boten diese und andere Vorlesungen einen willkommenen Anlass, um bereits an den Sprachgewohnheiten eines Teils der Professorenschaft die Unfähigkeit zu einer angemessenen Auseinandersetzung nachzuweisen [28].
In welcher Weise die NS-Verbrechen zum Thema werden konnten, zeigte sich auch daran, dass in der ersten Ausgabe des von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen "Kursbuchs", das sich wie keine zweite Zeitschrift zu einem Sprachrohr der Neuen Linken entwickelte, ein Dossier über den Auschwitz-Prozess erschien. Insbesondere Martin Walsers Überlegungen "Unser Auschwitz" besaßen programmatischen Charakter [29]. Im Gegensatz zu jener Generation, die als Wehrmachtsoldaten an den Verbrechen beteiligt war, schien die der Flakhelfer die Herausforderung allmählich anzunehmen. Sie machte den Weg für eine intensivere Beschäftigung mit diesem Thema frei. Nun konnte auch eine sozialpsychologisch fundierte Auseinandersetzung mit der emotionalen Apathie der Deutschen gegenüber den NS-Verbrechen, ihren Blockierungen und der Funktionsweise ihrer Abwehrmechanismen einsetzen.
Die Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich untersuchten in ihrem Werk "Die Unfähigkeit zu trauern" jene kollektiven Prozesse, die zur Schuldverweigerung und zu einer demonstrativen Abkehr von der Vergangenheit geführt hatten [30]. Sie stießen damit insbesondere bei den politisierten Studenten auf ein starkes Interesse.
Eine nicht unbedeutende Rolle für die sich in der studentischen Linken mehr und mehr herausschälende antifaschistische Haltung spielte die Tatsache, dass der Verdacht gegenüber führenden westdeutschen Politikern von der SED mit der Präsentation neuer Dokumente ständig genährt wurde, um auf diesem Weg die Bundesrepublik diskreditieren zu können [31]. Exemplarisch für diese Skandalisierung aus propagandistischen Gründen war das "Braunbuch" [32], dessen Erscheinen auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober 1967 die Staatsanwaltschaft auf den Plan rief und eine öffentliche Kontroverse auslöste.