Wider den Muff von 1000 Jahren
Die 68er Bewegung und der Nationalsozialismus
Katrin Hammerstein
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Welche Bedeutung hatte der Nationalsozialismus für die 68er Bewegung? Die einen betrachten die 68er als logische Konsequenz der damals noch nicht aufgearbeiteten NS-Zeit. Andere werfen ihnen vor, die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ignoriert zu haben.
Im Jahr 2001 bemerkte der damalige Außenminister Joschka Fischer bei seiner Aussage während des Prozesses gegen die mutmaßlichen Terroristen Hans-Joachim Klein und Rudolf Schindler wegen ihrer Beteiligung am Überfall auf die OPEC-Konferenz in Wien 1975: "Hätte Richard von Weizsäcker seine berühmte Rede von 1985 bereits 1965 gehalten, dann säßen wir uns heute hier nicht gegenüber."Der Bundespräsident hatte anlässlich des 40. Jahrestages des Kriegsendes den 8. Mai zum "Tag der Befreiung", und nicht mehr der Niederlage und des Zusammenbruchs, erklärt. Fischers Äußerung impliziert also einen engen kausalen Zusammenhang zwischen der NS-Vergangenheit und der 68er Bewegung – um mit Daniel Cohn-Bendit, einem anderen prominenten 'Alt-68er', zu sprechen: "Für uns war Auschwitz eine Folie, die unsere Gedanken quälte."
Beitrag zur 'Vergangenheitsbewältigung'?
Welche Bedeutung allerdings der Protestbewegung im Blick auf die Aufarbeitung des nationalsozialistischen Erbes beizumessen ist, darüber finden sich verschiedene und teilweise diametral entgegengesetzte Urteile. Pointiert stehen sich die Positionen bei Norbert Frei und Kurt Sontheimer gegenüber, die sich Anfang 2001 in der "Zeit" zu Wort meldeten. So sieht Frei die 68er "in einem hohen Maße als Nachgeschichte des Nationalsozialismus" und spricht von "ertrotzte[r] Aufklärung". Sontheimer hält dagegen: "[A]n einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Vergangenheit waren sie nicht interessiert und haben dafür auch nichts geleistet." Auch als Motiv des Generationenkonflikts selbst wird die NS-Vergangenheit unterschiedlich bewertet.
Während Hermann Lübbe gegen den 'Mythos' argumentiert, die Studentenbewegung sei eine "Antwort auf die Unbereitschaft der Vätergeneration gewesen, sich ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit zu stellen", spricht Heinz Bude von einer "lähmenden Fixierung auf die Geschichte ihrer Eltern". Dadurch wurde die Bundesrepublik zum ersten Mal, so Lothar Baier, "von innen her gezwungen, sich politisch, moralisch und theoretisch mit ihrer Herkunft aus dem nationalsozialistischen Deutschland auseinanderzusetzen, zum ersten Mal sahen sich [...] Täter nicht 'vom Ausland', sondern von ihren Kindern, ihren Studenten, ihren Untergebenen ihrer Taten wegen zur Rede gestellt."
Diesen Zäsurcharakter hat die Geschichtswissenschaft inzwischen allerdings deutlich abgeschwächt. Die Kompromissformeln reichen von der Einordnung der NS-Vergangenheit als "ein wesentliches, wenn auch nicht das alleinige Antriebselement für die westdeutsche Protestbewegung von 1968" über die Bezeichnung der 68er als "symbolischer Kulminationspunkt eines kulturevolutionären Prozesses" bis hin zu Formulierungen wie einer Teilinitiierung der Debatte, deren Intensivierung, Forcierung, Radikalisierung oder Emotionalisierung. Verstärkt wird der Blick auf die so genannte '45er'-Generation gelenkt – auch als 'skeptische' oder 'Flakhelfer-Generation' bezeichnet –, die den eigentlichen Anstoß für die Kritik an der Vergangenheitspolitik der fünfziger Jahre geliefert habe. In diesem Kontext erscheinen die 68er "eher [...] als fellow travellers der Flakhelfer-Generation, deren Ansätze sie weiterführten und von der sie sich durch Radikalisierung der Kritik zu emanzipieren versuchten". Somit hatten sie in erster Linie katalytische Wirkung auf den sich bereits seit Ende der fünfziger Jahre wandelnden Umgang mit dem Nationalsozialismus.
Insbesondere der Ulmer Einsatzgruppenprozess von 1958, in dessen Gefolge die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg eingerichtet wurde, und mehrere antisemitische Vorfälle, so z. B. die Schmierereien an der Kölner Synagoge zu Weihnachten 1959, gelten als Auslöser für eine intensivere und offenere Auseinandersetzung mit dem 'Dritten Reich'. Diese fand auf mehreren Ebenen statt. So erregten in juristischer Hinsicht die zahlreichen NS-Prozesse der sechziger Jahre Aufmerksamkeit. Vor allem der 1961 in Jerusalem stattfindende Prozess gegen Adolf Eichmann sowie die Frankfurter Auschwitzprozesse 1963–1965 entwickelten sich zu Medienereignissen und konfrontierten die Bevölkerung mit den NS-Verbrechen. Literatur, Theater und Film griffen die Thematik auf. So verarbeitete Peter Weiss die Protokolle des ersten Auschwitz-Prozesses in seinem Dokumentardrama "Die Ermittlung. Oratorium in elf Gesängen" (1965). Wolfgang Staudtes Spielfilm "Rosen für den Staatsanwalt" (1959) befasste sich wiederum mit den personellen Hinterlassenschaften der NS-Justiz, während Rolf Hochhuths Theaterstück "Der Stellvertreter" (1963) mit dem Verhalten der katholischen Kirche in der NS-Zeit kritisch ins Gericht ging. Auf politischer Ebene sorgten vor allem die Verjährungsdebatten des Bundestages 1965 und 1969 sowie die Skandale um Politiker mit 'brauner Vergangenheit' wie z. B. Hans Globke oder Theodor Oberländer für die Präsenz der NS-Zeit in der Öffentlichkeit.
Nachholende Entnazifizierung
Gerade die personellen Kontinuitäten vom 'Dritten Reich' zur Bundesrepublik waren ein wesentlicher Kritikpunkt der Studentenbewegung. Es herrschte der Eindruck vor, so Joschka Fischer rückblickend, "daß nahezu alle westdeutschen Eliten durchwebt waren von den Mitläufern und Mittätern des Adolf Hitler". Bereits 1959 wurde innerhalb des SDS diese Thematik auf die Agenda gesetzt mit der von Reinhard Strecker initiierten Wanderausstellung "Ungesühnte Nazijustiz", die insofern als Initialzündung für die Auseinandersetzung der Studenten mit der NS-Vergangenheit gelten kann. Der Blick wurde auch auf die Universitäten gelenkt. Nicht zuletzt nimmt einer der bekanntesten Slogans der 68er Bewegung Bezug auf die Verstrickung zahlreicher Professoren in das NS-Regime: 'Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren'. Seit Mitte der sechziger Jahre beschäftigten sich unter anderem Ringvorlesungen an verschiedenen Hochschulen und Schriften wie Rolf Seeligers "Braune Universität" mit deren Geschichte während der NS-Zeit. Die Motivation hierfür entsprang "nicht der Lust an einer aktenschnüffelnden 'Vergangenheitsbewältigung', sondern der Sorge um unsere demokratische Gegenwart und Zukunft". Eine SDS-Flugschrift vom Januar 1969 bezog diese Befürchtungen auf die universitären Strukturen: "Die Transformation von der autoritären zur totalitären Hochschule [...] entspricht dem Übergang vom Liberalismus zum Faschismus [...] um 1933. Die Hochschulen befinden sich bereits im Prozeße [sic!] einer schleichenden Faschisierung."
Weiterhin waren die teilweise fragwürdigen Vergangenheiten von Politikern von zentraler Bedeutung für die 68er Bewegung. Der Bundeskanzler der Großen Koalition, Kurt Georg Kiesinger, und der damalige Bundespräsident Heinrich Lübke sind hier anschauliche Beispiele. So protestierte der SDS 1966 gegen die Ernennung Lübkes, der während des 'Dritten Reiches' als Bauleiter auch für das Reichsministerium für Rüstung Aufträge durchgeführt hatte, zum Ehrensenator der Universität Bonn: "Das Rektorat hat sich mit seinem Vorgehen offen mit KZ-Baumeistern als Ehrensenatoren solidarisiert. Daß es diese Solidarität gegen Anträge auf Diskussion mit dem Einsatz von Schlägertrupps verteidigen läßt, bedeutet ein offenes Bekenntnis des Rektorats zum Faschismus."
Kiesinger wiederum stand aufgrund seiner NSDAP-Mitgliedschaft und seiner Tätigkeit im Reichsaußenministerium in der Kritik. In diesem Zusammenhang spielte vor allem die Journalistin Beate Klarsfeld eine wichtige Rolle. Sie trieb die Diskussion um den Kanzler mit mehreren Dokumentationen zum Nachweis seiner Verstrickung in das NS-Regime und verschiedenen Aktionen immer wieder voran. Berühmtheit erlangte die Ohrfeige, die sie Kiesinger auf dem Bundesparteitag der CDU in Berlin am 7. November 1967 gab – "ein deutscher Erinnerungsort", wie sie selbst rückblickend konstatiert. Auch wenn Klarsfeld der Studentenbewegung nicht angehörte, "war die Ohrfeige ganz aus dem Geist von 1968. Sie war gutes politisches Theater, medial kommunizierbarer, wirkungsvoll inszenierter Protest." So konstatierte ein SDS-Mitglied, dass "eine Ohrfeige mehr transparent zu machen vermöge als zwei Grass-Reden". Klarsfeld begründete ihre Tat damit, dass sie "der öffentlichen Meinung in der ganzen Welt beweisen wollte, daß ein Teil des deutschen Volkes, ganz besonders aber seine Jugen [sic!], sich dagegen auflehnt, dass ein Nazi an der Spitze der Bundesregierung steht, der stellvertretender Abteilungsleiter der Hitlerpropaganda für das Ausland war." Ein Flugblatt der Studenten forderte denn auch voll Empörung "endlich eine richtige Ent- Nazifizierung": "Wir haben sogar einen ehemaligen Nazipropagandisten als Bundeskanzler! [...] Machen wir Schluß damit, daß nazistische Rassenhetzer, daß die Juden-Mörder, die Slawen-Killer, die Sozialisten-Schlächter, daß die ganze Nazi-Scheiße von gestern weiterhin ihren Gestank über unsere Generation bringt. Holen wir nach, was 1945 versäumt wurde: Treiben wir die Nazi-Pest zur Stadt hinaus. [...] Nazi-Richter, Nazi-Staatsanwälte, Nazi-Gesetzgeber aller Coleur [sic!], Nazi- Polizisten, Nazi-Beamte, Nazi-Verfassungsschützer, Nazi-Lehrer, Nazi-Professoren, Nazi-Pfaffen, Nazi-Journalisten, Nazi-Propagandisten, Nazi-Bundeskanzler, und nicht zuletzt gegen Nazi-Kriegsgewinnler, Nazi-Fabrikanten, Nazi-Finanziers. Verweigern wir uns total den Nazis. [...] Damit legen wir den gesamten Apparat dieser miesen Gesellschaft lahm, denn er besteht – bezeichnenderweise! zu einem lebenswichtigen Teil aus den alten Nazis."
'Faschismus' – Begriff und Vorwurf
Entsprang der Faschismusvorwurf dabei durchaus echter Entrüstung und einem ernsthaften Anliegen, deutet sich in der Zuordnung des Attributs 'Nazi-' an alle nur möglichen Institutionen und Personen dennoch bereits sein zunehmend inflationärer Gebrauch und die Funktionalisierung der NS-Zeit als Chiffre für die Gegenwart an. Im Laufe der Zeit sollte er zur universell einsetzbaren Kritikformel avancieren.
In seiner theoretischen Fundierung folgte der Faschismusbegriff der 68er Bewegung zunächst der marxistischen Terminologie. Der Nationalsozialismus wurde dementsprechend vor allem auf ökonomische Aspekte reduziert. Max Horkheimers Diktum "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen." wurde ein viel zitiertes Motto. "Die neue Form des Faschismus", so der Wortführer der Protestbewegung Rudi Dutschke 1968, "ist nicht mehr in einer Partei oder in einer Person zu finden, sie ist vielmehr in allen Institutionen des Spätkapitalismus vorhanden". Eine wesentliche Voraussetzung dafür machten die Studenten in den autoritären gesellschaftlichen Strukturen aus. Diese Definition des Faschismus bedeutete letztlich eine Enthistorisierung und Entdifferenzierung sowie Ausblendung der konkreten NS-Verbrechen: "Die sich ausbreitende Vorstellung vom NS-Regime war [...] durch Faschismustheorien und politische Systemanalysen gekennzeichnet, und es entstand ein abstraktes und synthetisches Bild vom Nationalsozialismus ohne benennbare Täter und Opfer, ohne Orte und ohne Zeit, in dem das NS-Regime und die Bundesrepublik einander immer ähnlicher wurden."
Letzteres wird besonders deutlich beim Protest gegen die Notstandsgesetze. Mit Vorliebe kürzten die Studenten diese auch als 'NS-Gesetze' ab, um so pointiert auf die Folgen hinzuweisen, die sie in ihren Augen implizierten: die Gefahr einer erneuten (NS-)Diktatur. "Kein zweites 1933" – diese Aufschrift trug beispielsweise ein mit Hakenkreuzen versehenes Transparent, das bei einer Demonstration gegen die Gesetze im Mai 1968 vom Siegestor in München herabgelassen wurde. Eine neue 'Machtergreifung' schien bevorzustehen: "Wer das Ermächtigungsgesetz von 1933 am eigenen Leibe erfahren will als zweite vermehrte und verbesserte Auflage 1968, der darf weiterhin darauf vertrauen, dass wir gerecht und gut verwaltet und regiert werden. Wer aber gegen Faschismus und Polizeistaat ist, der nimmt teil am Sternmarsch auf Bonn". In diesem Aufruf wird besonders deutlich, wie sehr die 68er mit – aus der Rückschau allerdings schiefen – Geschichtsanalogien argumentierten. In Anspielung auf den "Völkischen Beobachter" trug ein Flugblatt die Kopfzeile "Christlich-demokratischer Beobachter". Auch die Methoden der Polizei wurden mit denjenigen der Nationalsozialisten gleichgesetzt. Ein beliebtes Protestmittel bei Demonstrationen war daher das Grüßen der Polizei mit dem Hitlergruß. Ein Plakat prangerte überdies die "Sonderbehandlung politischer Gefangener" an. Das Erstarken der neonazistischen NPD, die 1969 nur knapp den Einzug in den Bundestag verpasst hatte, schien die Befürchtungen einer Wiederholung des Nationalsozialismus zusätzlich zu bestätigen. Einer der Sprechchöre bei den Demonstrationen warnte: "NPD und CDU bringen Faschismus uns im Nu."
Auch nach außen wurde der Faschismusvorwurf angewandt und z. B. auf zeitgenössische Diktaturen ausgeweitet. "Spanien, Bonn und Griechenland – Faschisten reichen sich die Hand", skandierten die Studenten und schrieben z. B. "Helass" mit einem Doppel-S in Runenschrift auf ihre Transparente. In globaler Dimension schließlich galt es, den Faschismus in Form des kapitalistischen Imperialismus zu bekämpfen, was sich besonders massiv im Blick auf den amerikanischen Vietnamkrieg äußerte. Parallelen zwischen den Vereinigten Staaten und NS-Deutschland ("USA = SA = SS") waren dabei ebenso gängiges Repertoire der Rhetorik wie die Bezeichnung von Vietnam als das "Auschwitz von Amerika". Wilfried Mausbach bezeichnet diesen Zusammenhang treffend als "Opfer-Rochade von Juden und Vietnamesen". Ein Flugblatt warnte: "Alle Bürger, die schweigen, tolerieren im Stillen den US-Krieg und machen sich genauso mitschuldig wie diejenigen, die bei den Verbrechen Hitlers schwiegen."
Hier passt sich auch die Selbstdeutung der Bewegung – und insbesondere dann der RAF – als nachholender Widerstand ein. Entsprechend sahen sich die 68er in der Rolle der Opfer und stilisierten sich zu "langhaarigen Ersatzjuden" oder "'Juden' des Antikommunismus". Die Springer-Presse, hieß es, erzeuge eine "Pogromstimmung" und hetze zum "Studentenmord" – so wie Julius Streicher im "Stürmer" zum Judenmord gehetzt habe. In der Szene-Zeitschrift "Agit 883" wurde gefragt: "Wann werden die ersten KZ´s wieder eröffnet? Wann werden die ersten Öfen wieder brennen, damit die Pigs versuchen, uns zu beseitigen?", und ein Plakat kündigte das Teach-In "Die Endlösung der Studentenfrage steht bevor" an. "Die studentische Linke", so Wilfried Mausbach, "bemächtigte sich nun selber der Leerstelle, die der bisherige Erinnerungsdiskurs offen gelassen hatte. Als 'konkrete Juden' und aktive Widerstandskämpfer definierte die Protest- und Provokationselite sich aus der Täternation hinaus." Die Analogien zur NS-Vergangenheit, die auf einen Faschismus im Innern bzw. erneute Kriegsverbrechen im Ausland verwiesen, schienen schließlich eine zunehmende Gewaltbereitschaft als letztes Mittel zur Überwindung der Unterdrückungsverhältnisse zu legitimieren. Dies könnte zumindest partiell die zunehmende Radikalisierung und Militanz der 68er Bewegung und schließlich das Auftreten der terroristischen Gruppen der siebziger Jahre zu erklären helfen.
Linksfaschismus und Tradierung von NS-Ideologie
Die 68er wurden ihrerseits allerdings ebenfalls mit einem Faschismusvorwurf konfrontiert – dem des 'roten' oder 'Linksfaschismus'. So wurden vor allem ihre Protestaktivitäten mit faschistischen Methoden verglichen. Beispielsweise kommentierte die Bild-Zeitung die Demonstration gegen den Schah von Persien am 2. Juni 1967 in Berlin mit dem Satz: "Wir haben etwas gegen die SA-Methoden. Die Deutschen wollen keine rote und keine braune SA." Aber auch einer der intellektuellen Vordenker der Bewegung, der Frankfurter Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas, äußerte Bedenken und führte den Begriff des Linksfaschismus in die Debatte ein, als er Rudi Dutschkes Ausführungen zu weiteren Demonstrationen auf dem nach der Beerdigung Benno Ohnesorgs stattfindenden Kongress in Hannover als "voluntaristische Ideologie" bezeichnete, die man "linken Faschismus nennen muß". Die BZ ging sogar so weit, den Studenten-'Führer' Rudi Dutschke in Hitlerpose zu karikieren. Der Linksfaschismusvorwurf fand rasche Verbreitung und gipfelte gewissermaßen in der Bezeichnung der RAF als "Hitlers Kinder".
Eine weitere Dimension des Linksfaschismusvorwurfes betrifft die angebliche Tradierung nationalsozialistischen Gedankenguts durch die 68er. Wolfgang Kraushaar konstatiert z.B. eine "ungebrochene Wirksamkeit eines antisemitischen Latenzzusammenhangs". Eher waren die zum Teil tatsächlich an Versatzstücke der NS-Ideologie erinnernden Argumente der Protestbewegung aber "bestürzendes Resultat eines irrlichternden Vergangenheitsbewältigungstrips". Dieser bereitete im Zuge der schiefen Geschichtsanalogien und der damit einhergehenden Entdifferenzierung der NS-Zeit den Boden für eine gewisse Anfälligkeit für antisemitische Ressentiments. Dies machte sich z.B. während des Frankfurter Häuserkampfes um 1970 bemerkbar, bei dem die Studenten mit Schlagwörtern wie 'jüdisches Kapital' oder 'jüdische Spekulanten' gegen die Grundstücksspekulationen im Frankfurter Westend protestierten.
Hinzu kam ein mit antiimperialistischen Einstellungen verknüpfter Antizionismus, vor allem im Rahmen des Sechs-Tage-Kriegs 1967 bzw. des Palästinakonfliktes. Für die Studenten wandelten sich die einstigen NS-Opfer dabei zu faschistischen Tätern. In Anspielung auf Hitlers Kriegsführung war die Rede vom "israelische[n] Blitzkrieg und Blitzsieg". Welch groteske Ausmaße der Protest gegen "Nazisrael" annehmen konnte, zeigt der fehlgeschlagene Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in Westberlin am 9. November 1969.
In dem Bekennerschreiben, dem "Schalom + Napalm"-Flugblatt, heißt es: "Das bisherige Verharren der Linken in theoretischer Lähmung bei der Bearbeitung des Nahostkonflikts ist Produkt des deutschen Schuldbewußtseins: 'Wir haben eben Juden vergast und müssen die Juden vor einem neuen Völkermord bewahren.' Die neurotisch-historizistische Aufarbeitung der geschichtlichen Nichtberechtigung eines israelischen Staates überwindet nicht diesen hilflosen Antifaschismus. Der wahre Antifaschismus ist die klare und einfache Solidarisierung mit den kämpfenden Feddayin." Dieter Kunzelmann bezeichnete den kritisierten Zusammenhang abschätzig als "Judenknax". Der Antizionismus der Linksterroristen konnte sogar so weit gehen, dass das palästinensische Attentat auf die israelische Mannschaft bei den Olympischen Spielen in München 1972 von der RAF als "gleichzeitig antifaschistisch, antiimperialistisch und internationalistisch" begrüßt und bei der Flugzeugentführung in Entebbe 1976 die jüdischen Passagiere selektiert wurden.
Resümee
"Wären wir ohne die 68er politisch-moralisch mehr oder weniger unerweckt durchs Leben gegangen, unfähig zu trauern, [...] ohne Scham?" Diese Frage, die Günter Gaus im Jahr 2001 stellte, ist mit Sicherheit nicht pauschal zu bejahen, aber die Protestbewegung hatte elementaren Anteil am Aufbrechen des "kommunikativen Beschweigens" (Hermann Lübbe) der NS-Vergangenheit. Denn durch den für ihre Protestaktivitäten zentralen Faschismusvorwurf hielt sie das Thema im politischen Diskurs präsent. Dabei ging allerdings die Schere zwischen der ursprünglichen Intention – der Anklage der 'Täterväter' sowie der Verhinderung einer möglichen Wiederholung – und der Funktionalisierung der NS-Vergangenheit als "Mobilisierungsressource" (Edgar Wolfrum) für die Gegenwart immer weiter auf. Mit zunehmender Radikalisierung der 68er geriet der Nationalsozialismus als historisches Ereignis aus dem Blick, 'Faschismus' wurde zum allgegenwärtigen Modewort, wodurch sie einer angemessenen Aufarbeitung der NS-Diktatur zum Teil im Weg standen und gar für eine Art "zweite Verdrängung" sorgten. Letztlich hatten sie sich "in den Fallstricken eben der Vergangenheit" verfangen, "die sie doch ablehnten". Gerade daher ist Joschka Fischers anfangs zitierter Sentenz aber zuzustimmen: Ohne die Vorgeschichte der unbewältigten NS-Vergangenheit und deren – wenn auch problematischer – Aneignung wäre die 68er Bewegung anders verlaufen.
M.A., geb. 1977; Doktorandin im Graduiertenkolleg "Diktaturüberwindung und Zivilgesellschaft in Europa", Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften (ZEGK)/ Historisches Seminar der Universität Heidelberg, Postfach 10 57 60, 69047 Heidelberg. E-Mail: E-Mail Link: Katrin.Hammerstein@urz.uni-heidelberg.de
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