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Werte, kollektive Identität und Protest: Die Mobilisierung der Occupy-Bewegung in den USA

Thomas Kern Sang-hui Nam

/ 13 Minuten zu lesen

Am 17. September 2011 besetzte eine Gruppe von etwa tausend Aktivistinnen und Aktivisten den Zuccotti Park an der Wall Street im Zentrum New Yorks. Ihr Slogan lautete: „We are the 99 percent!“ Mit ihrer Besetzungsaktion knüpften die Aktivisten an ähnliche Protestaktionen in Spanien, Großbritannien und Ägypten an. Ihr Unmut richtete sich vor allem gegen die zunehmende soziale und ökonomische Ungleichheit und den großen Einfluss von Konzernen und Lobbyisten auf die US-Regierung. Sie forderten eine Politik, die sich an den Interessen der breiten Bevölkerung ausrichtet, die unter der Wirtschafts- und Finanzkrise leidet. In wenigen Wochen schlossen sich Zehntausende Demonstranten in Hunderten von Städten in den USA und darüber hinaus den Protesten an. Die Besetzung öffentlicher Plätze und Straßen wurde schnell zum Markenzeichen der Aktivisten. Die sogenannte Occupy-Bewegung hat sich damit zu einem zentralen Impulsgeber für die öffentliche Diskussion über die Weltfinanzkrise entwickelt.

Wie lässt sich die starke öffentliche Resonanz der Occupy-Bewegung erklären? Viele Beobachter führen den Erfolg dieser Kampagne auf wachsende ökonomische und politische Unzufriedenheit vor allem in den USA zurück. Im Gegensatz dazu hat sich die US-amerikanische Protestforschung schon in den 1970er Jahren von theoretischen Erklärungen abgewendet, die Proteste auf extreme soziale Unzufriedenheit zurückführen. Die Kritik an diesen Ansätzen lautete, dass es in jeder Gesellschaft genug Unzufriedenheit für Proteste gebe. Die Bedeutung von Spannungen und Konflikten solle daher nicht überbewertet werden. Die erfolgreiche Mobilisierung von Protesten hänge weniger von konkreten Spannungen ab, als von politischen Gelegenheitsstrukturen und verfügbaren organisatorischen Ressourcen.

Obgleich diese Faktoren auch bei der Mobilisierung der Occupy-Bewegung mit Sicherheit eine wichtige Rolle gespielt haben, lässt dieser Erklärungsansatz offen, warum so viele Menschen die Proteste unterstützen. Auch der Verweis auf spezifische kollektive Interessen hilft nicht weiter, weil den Handelnden oft unklar ist, wo ihre Interessen genau liegen. Dies gilt besonders für ungewohnte oder neue Problemsituationen – wie es bei der Finanzkrise der Fall ist. Unter diesen Bedingungen müssen die Akteure ihrer Situation erst eine Bedeutung verleihen, bevor sie ihre kollektiven Handlungsziele definieren. Erst im Verlauf dieses Klärungsprozesses bilden sich Kategorien von Akteuren mit gemeinsamen Werten und Interessen als soziale Basis für kollektive Protesthandlungen heraus. Typische Beispiele sind Migrantinnen und Migranten, Arbeiterinnen und Arbeiter, Frauen, religiöse Minderheiten oder Opfer von Umweltverschmutzung. Voraussetzung für kollektive Handlungen ist mit anderen Worten ein minimales „Wir-Gefühl“ zwischen den Beteiligten.

Unter dem Stichwort „kollektive Identität“ hat sich in der Protestforschung ein eigenständiger Strang entwickelt, der die kognitiven und evaluativen Konstruktionsprozesse untersucht, die an der Entstehung eines Wir-Gefühls mitwirken: Die kognitive Dimension kollektiver Identitäten bezieht sich auf die Lokalisierung, Wahrnehmung und Identifikation der Ursachen und Wirkungen bestimmter Ereignisse. Im Rahmen des sogenannten Framing-Ansatzes wurden in der Protestforschung zahlreiche Studien vorgelegt und Konzepte entwickelt, die sich mit dieser Problematik beschäftigen. Der evaluativen Dimension – also der positiv oder negativ bewerteten Beziehung zwischen Akteuren und Objekten – wurde dagegen weniger systematisch Aufmerksamkeit geschenkt.

Werte, Diskurse und kollektive Identität

Werte sind Vorstellungen über das Wünschenswerte. Ihre Bedeutung besteht darin, dass sie dem Handeln eine Richtung geben, wenn es um die Abwägung von Alternativen geht. Werte sollten aber nicht mit Präferenzen verwechselt werden: „Werte sind nicht langfristige Präferenzen oder Präferenzen höherer Ordnung, sondern reflexive Standards zur Bewertung unserer Präferenzen, emotional besetzte Vorstellungen über das Wünschenswerte und nicht Wünsche.“ Soziale Bewegungen grenzen sich demnach von ihrer Umwelt durch bestimmte Ideen und Wertbindungen ab, auf deren Grundlage die Beteiligten ihre gemeinsamen Interessen und Ziele definieren. Der Begriff der Wertbindung ist dabei zentral: Werte bilden sich bei der Verarbeitung von Erfahrungen im Sozialisationsprozess oder in außeralltäglichen Situationen. Sie haben daher eine starke emotionale Qualität. Gerade in pluralistischen Gesellschaften – in denen Gruppen mit unterschiedlichen Wertmustern zusammenleben – kommt es regelmäßig zu Konflikten, weil sich einzelne Gruppen in ihren substanziellen Bindungen von anderen bedroht fühlen. Werte legitimieren Handlungen und sind ein wesentlicher Baustein der sozialen Ordnung. Trotzdem ist das Verhältnis zwischen dem kulturellen Wertmuster einer Gesellschaft und ihren Institutionen gespannt, weil auf der Grundlage von allgemeinen Werten stets unterschiedliche Gesellschaftsentwürfe denkbar sind. Es kann somit keine soziale Ordnung geben, die alle möglichen Beziehungen zwischen Werten und Normen realisiert. Die Legitimität einer gegebenen Ordnung lässt sich daher nicht zwingend aus bestimmten Werten ableiten. Sie ist vielmehr das Ergebnis von Aushandlungsprozessen im öffentlichen Raum.

Die meisten sozialwissenschaftlichen Theorien verbinden den Öffentlichkeitsbegriff mit positiven Werten wie Demokratie, Vertrauen, Inklusion, Anerkennung und Konsens. Wie der Soziologe Jeffrey Alexander deutlich macht, beinhaltet das Wünschbare jedoch stets Vorstellungen über das nicht Wünschbare. Jedem positiven Wert kann ein negativer Gegenwert zugeordnet werden. Die positive Seite bezeichnet wünschenswerte Eigenschaften, die für das Kollektiv und seine Mitglieder in Anspruch genommen werden. Typische Kategorien etwa des Wertekanons westlicher Demokratien sind Rationalität, Vernunft, Selbstkontrolle, Offenheit, Vertrauenswürdigkeit, Ehrlichkeit, Demokratie, Gleichheit und Freiheit. Die negative Seite bezieht sich auf unerwünschte Eigenschaften und definiert damit Ausschlusskriterien: Irrationalität, Unvernunft, Zwang, Intransparenz, Vertrauensunwürdigkeit, Unehrlichkeit, Autokratie, Ungleichheit und Unfreiheit.

Für den Verlauf öffentlicher Diskurse ist es konstitutiv, dass in jeder Gesellschaft beide Seiten nicht nur nebeneinander bestehen, sondern dass keine Seite ohne die andere auskommt. Die Objekte auf der negativen Seite werden als Quelle der Verunreinigung und als Bedrohung für die Gesellschaft angesehen. Wer dieser Quelle zu nahe kommt, dem wird der Anspruch auf volle Mitgliedschaft und Solidarität in der Gesellschaft zumeist abgesprochen. Werte stiften somit nicht nur gemeinschaftliche Bindungen, sie ziehen auch teilweise scharfe Grenzen nach innen und außen. Kollektive Identitäten formen sich somit auf der Grundlage moralischer Wertungen „im Wechselspiel von Selbst- und Fremdbildern, die sich im Verlauf anhaltender Interaktionen (…) stabilisieren“. Der Schlüssel dazu sind öffentliche Diskurse: Während die Akteure sich selbst und ihre Verbündeten zumeist mit positiven Bewertungen besetzen, etikettieren sie ihre Gegner, von denen sie annehmen, dass sie der Verwirklichung ihrer Werte im Weg stehen, mit den entsprechenden Gegenwerten. Im Verlauf der Konfrontation versuchen beide Lager, die Öffentlichkeit auf ihre Seite zu ziehen. Die Auseinandersetzungen sind oft von starken Skandalisierungen und einprägsamen Dramatisierungen geprägt, mit denen die Beteiligten ihre spezifischen moralischen Bindungen zum Ausdruck bringen.

An dieser Stelle kommen soziale Bewegungen ins Spiel. Ihre Bedeutung besteht darin, dass sie Bevölkerungsgruppen mobilisieren, „die sich öffentlich nicht hinreichend vertreten fühlen, und ihre Proteste dienen als Geräuschverstärker für die Themen und Beiträge, für die sie öffentliche Aufmerksamkeit und Zustimmung anstreben“. Das Spektrum kollektiv geteilter Fremd- und Selbstzuschreibungen reicht dabei von bloßer Verträglichkeit über Ähnlichkeiten, Parallelen und Überschneidungen bis zur Übereinstimmung von Relevanzen und Interessen. Soweit die kollektive Identität vom einen zum anderen Ende dieses Kontinuums an Konturen gewinnt, hängt die Handlungsfähigkeit sozialer Bewegungen entscheidend davon ab, inwiefern es ihnen gelingt, im Verlauf öffentlicher Diskurse ein relativ konsistentes Wir-Gefühl zu erzeugen. Erst auf dieser Grundlage wird das Kollektiv in die Lage versetzt, konkrete Sachverhalte in der sozialen Umwelt als ungerecht oder unmoralisch hervorzuheben sowie Ursachen und Verantwortliche zu identifizieren. Zwischen der kollektiven Identität sozialer Bewegungen und der Definition von Interessen im Mobilisierungsprozess besteht somit ein enger Zusammenhang.

Mobilisierung der Occupy-Bewegung

Am Beispiel der Occupy-Bewegung lässt sich zeigen, wie Wertbindungen bei der Definition von Zielen und Interessen im Mobilisierungsprozess wirksam werden. Der Impuls zur Entstehung der Occupy-Bewegung ging maßgeblich von der im kanadischen Vancouver angesiedelten Adbusters Media Foundation aus, die ein in Nordamerika weitverbreitetes gesellschaftskritisches Magazin herausgibt. Die Idee zur Occupy-Kampagne entstand im Frühjahr 2011 unter dem Eindruck der Demokratisierungsbewegungen in der arabischen Welt, Studierendenprotesten in Großbritannien und landesweiten Demonstrationen in Spanien. Mitte 2011 registrierten Mitarbeiter von Adbusters die Webseite „OccupyWallStreet.org“ und riefen für den 17. September zu friedlichen Protesten und zur Besetzung der Wall Street auf. In wenigen Wochen breiteten sich die Proteste von den USA ausgehend weltweit aus. Laut den Organisatoren verteilten sich dennoch über 90 Prozent der beteiligten Gruppen auf Nordamerika (78 Prozent) und Europa (15 Prozent).

Mit ihrer Kritik an den internationalen Konzernen und der Forderung nach einer Finanztransaktionsteuer knüpft die Occupy-Bewegung an die Globalisierungskritik der vergangenen Jahre an. Während sich die Proteste der globalisierungskritischen Bewegung in erster Linie gegen internationale Institutionen richtete, rückt die Occupy-Bewegung länder- und städtespezifische Probleme im Kontext einer globalen Wirtschaft und Politik in den Mittelpunkt. Die starke Betonung der lokalen Ebene drückt sich unter anderem in den Protesttaktiken der Kampagne aus: Im Zentrum steht die Herstellung öffentlicher Räume durch die kulturelle Umdeutung und Besetzung von Straßen und Plätzen mit hohem ökonomischem und politischem Symbolwert. Insofern die Akteure dabei im öffentlichen Raum neue gemeinschaftliche Lebensformen erproben, geht es ihnen nicht nur um Widerstand, sondern auch um die sichtbare Darstellung und Inszenierung alternativer Lebensformen.

Angesichts der herausgehobenen Bedeutung der Adbusters Foundation für die Occupy-Bewegung konzentriert sich die folgende empirische Analyse auf den ökologischen, konsum- und medienkritischen Diskurs, in dessen Zentrum diese Organisation seit ihrer Gründung im Jahre 1989 steht. Die quantitative und qualitative Inhaltsanalyse stützt sich auf zwei Quellen, welche unterschiedliche Diskurse abbilden: Bei der ersten Quelle handelt es sich um 413 Artikel des „Adbusters Magazine“ mit zeitdiagnostischen Essays und Analysen aus dem Zeitraum zwischen September 2007 und Januar 2012. Mit diesen Texten lässt sich der Horizont aus Werten und Gegenwerten rekonstruieren, aus dem die Occupy-Bewegung hervorgegangen ist. Bei der zweiten Quelle handelt es sich um 31 Protestaufrufe zur Teilnahme an der Occupy-Kampagne (einschließlich Nutzerkommentaren) aus dem Zeitraum zwischen Juli 2011 und Mai 2012. Im Unterschied zu den eher essayistischen Texten der ersten Quelle werden hier konkrete Forderungen erhoben und Handlungen angekündigt. Auf der Grundlage beider Quellen lässt sich vergleichend untersuchen, welchen Einfluss die allgemeinen Wertbindungen des Diskurses (im „Adbusters Magazine“) auf die Definition substanzieller Interessen (in den Protestaufrufen) ausgeübt haben.

Ein erstes Teilergebnis der Untersuchung ist in den Abbildungen 1 und 2 (s. PDF-Version) dargestellt: Auf der Seite der positiven Kategorien betonen beide Textquellen Werte, die kaum von den oben dargestellten typischen Wertmustern westlicher Demokratien abweichen: Gleichheit, Unabhängigkeit, Offenheit, Demokratie und Vertrauen. Diese Kategorien sind auf Objekte bezogen, mit denen sich die Aktivisten größtenteils selbst beschreiben: die Gemeinschaft zwischen den Textautoren und ihrem Publikum („wir“), die Menschheit, Medienaktivisten etc. Dabei sind die Unterschiede zwischen beiden Textquellen marginal: In den Magazinbeiträgen stehen vor allem Unabhängigkeit, Offenheit und Demokratie im Zentrum. Im Übergang zu den Protestaufrufen treten diese Kategorien leicht in den Hintergrund, während der Wert der Gleichheit an Bedeutung gewinnt. Insgesamt lässt sich festhalten: Die positiven Bewertungen und Objekte allein sagen kaum Spezifisches darüber aus, inwiefern Occupy sich etwa von anderen Bewegungen unterscheidet. Lediglich im Hinblick auf die Protesttaktik finden sich in den Quellen Hinweise auf einen Legitimationszusammenhang zwischen dem Wert der Unabhängigkeit und der Herstellung „unabhängiger“ öffentlicher Räume durch die Besetzung von Straßen und Plätzen.

Die Abbildungen 3 und 4 (s. PDF-Version) bieten einen Überblick über typische negative Bewertungen und Objekte. Die negativen Kategorien nehmen in beiden Quellen einen größeren Raum ein als die positiven: Von allen erfassten Bewertungen sind über zwei Drittel negativ. Die meisten Bewertungen kritisieren Gier, Korruption, Misstrauen, antidemokratisches Verhalten, Lüge, Geheimnisse, Autoritarismus und Ungleichheit. Dabei sind deutliche Unterschiede zwischen beiden Quellen erkennbar: In den Magazinbeiträgen ist das Spektrum an Bewertungen relativ breit. In den Protestaufrufen reduziert sich der Diskurs dagegen auf hauptsächlich zwei Kategorien: „Korruption“ und „Gier“. Beide Kategorien vereinigen auf sich mehr als die Hälfte aller Bewertungen in den Protestaufrufen. Der Übergang vom Diskurs im „Adbusters Magazine“ zu den Protestaufrufen ist somit durch eine starke Konzentration auf eine kleine Zahl negativer Wertkategorien charakterisiert. Ähnliches gilt für die negativ bewerteten Objekte: In beiden Textquellen beziehen sich die meisten Äußerungen auf Wirtschaft und Politik, insbesondere auf die Eliten. In den Protestaufrufen konzentriert sich die moralische Kritik somit fast ausschließlich auf „korrupte“ Beziehungsnetzwerke in Politik und Wirtschaft, wobei letztere im Zusammenhang mit der Finanzkrise unverkennbar an Bedeutung gewinnt.

Die dargestellten Ergebnisse deuten darauf hin, dass positive Werte für die kollektive Identität der Occupy-Bewegung von nachrangiger Bedeutung sind. Mit dem Slogan „We are the 99 percent!“ wird die Bewegung zudem anonym und breit definiert und hat daher keine klaren Konturen. Die Mobilisierung gewinnt erst durch die negative Abgrenzung von den politischen und wirtschaftlichen Eliten an Dynamik, die für die Wirtschafts- und Finanzkrise verantwortlich gemacht werden. Durch die Betonung von wenigen gefühlsbeladenen Werten wie „Korruption“ und „Gier“ werden dem Publikum die von der Occupy-Kampagne thematisierten moralischen Verstöße der Eliten drastisch vor Augen geführt. Durch diese Mobilisierung von emotionalen Wertbindungen lassen sich potenzielle Protestteilnehmende leichter motivieren, sich im Sinne eines „wertrationalen Handelns“ (Max Weber) der gemeinsamen Sache anzuschließen, ohne den spezifischen Nutzen oder die Kosten abzuwägen. In der Folge sprechen Protestbewegungen oft starke moralische Gefühle wie das Gerechtigkeitsempfinden an, um die Teilnahmebereitschaft an Protesten zu vergrößern. Öffentliche Skandalisierung und Empörung spielen dabei eine wichtige Rolle. Die Überzeugungskraft ihres Deutungsangebots ist daher maßgeblich von dessen Anschlussfähigkeit an etablierte Wertvorstellungen des Publikums abhängig.

Mit der Verdichtung auf wenige Werte werden auch die Objektbezüge konkretisiert – was im Rahmen dieses Artikels aber nur angedeutet werden kann: In den Protestaufrufen konzentriert sich die spezifische Kritik an den wirtschaftlichen Eliten auf Banken, Konzerne und die Wall Street. Die Kritik an den politischen Eliten richtet sich hauptsächlich gegen die US-Regierung und den Sicherheitsapparat. Auf dieser kognitiven und evaluativen Grundlage lassen sich die Interessen der Bewegung schließlich genauer fassen: Die Aktivisten fordern die Einführung einer Finanztransaktionssteuer, höhere Steuern für Wohlhabende sowie die institutionelle Entflechtung von Politik und Wirtschaft. Als „Weichensteller“ für die Definition substanzieller Interessen sind die etablierten Wertvorstellungen somit ein wesentliches Element in den kulturellen Gelegenheitsstrukturen sozialer Bewegungen. Soweit bestimmte Problemdeutungen nicht in jedem kulturellen Umfeld auf die gleiche Resonanz stoßen, setzen die kulturellen Rahmenbedingungen dem Mobilisierungserfolg sozialer Bewegungen teilweise enge Grenzen: Ihr Deutungsangebot gilt als umso überzeugender, je besser es ihnen gelingt, ihre Problemdeutungen mit diesem kulturellen Rahmen zu verbinden.

Fazit

Am Beispiel der Occupy-Bewegung wurde illustriert, wie kulturelle Wertvorstellungen vor dem Hintergrund der Weltfinanzkrise in spezifische Problemwahrnehmungen und Lösungsangebote übersetzt werden. In der Konfrontation mit spezifischen Problemen werden allgemeine Werte in einem Deutungsrahmen zusammengeführt, der konkrete Ursachen benennt, Verantwortliche identifiziert und auf potenzielle Lösungen hinweist. Die Mobilisierung von Protesten stützt sich dabei maßgeblich auf die Aktivierung von emotionalen Wertbindungen durch die öffentliche Skandalisierung von und Empörung über moralische Verstöße. Die kognitiven und evaluativen Kategorien ihres Publikums prägen somit die kollektive Identität, innerhalb derer soziale Bewegungen ihre Interessen definieren. Auf dieser Grundlage lässt sich die je nach gesellschaftlichem und historischem Kontext unterschiedliche Teilnahmebereitschaft an Protesten erklären.

Die positiven Werte der Occupy-Bewegung befinden sich weitgehend in Übereinstimmung mit dem etablierten Wertekanon westlicher Demokratien. In diesem Sinne steht die Bewegung auch nicht grundlegend im Widerspruch zur gesellschaftlichen Ordnung. Das Gegenteil ist der Fall: Indem sie den Verstoß gegen anerkannte moralische Vorstellungen in den Mittelpunkt rücken, machen die Aktivisten deutlich, dass sie mit ihren Gegnern grundsätzlich den gleichen kulturellen Bezugsrahmen teilen. Sie inszenieren sich dabei als Sprecher und Repräsentanten einer abstrakten und idealisierten Gemeinschaft, welche die institutionelle Einlösung ihrer Werte fordert. Hier verläuft eine zentrale Konfliktlinie, an der sich soziale Bewegungen in modernen Gesellschaften immer wieder entzünden. Die wesentliche Wirkung der Occupy-Kampagne liegt somit weniger im Angebot von konkreten Lösungen, sondern darin, dass sie die Finanzkrise aus einem engen technokratischen Kontext herausgelöst und zu einer öffentlichen Angelegenheit gemacht hat, die alle Gesellschaftsmitglieder betrifft.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Mayer N. Zald/John D. McCarthy, Resource Mobilization and Social Movements, in: The American Journal of Sociology, 82 (1977) 6, S. 1212–1241.

  2. Vgl. Thomas Kern, Soziale Bewegungen, Wiesbaden 2008.

  3. Vgl. Dieter Rucht, Kollektive Identität, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 8 (1995) 1, S. 9–23; Alberto Melucci, Challenging Codes, Cambridge, MA 1996; Francesca Polletta/James M. Jasper, Collective Identity And Social Movements, in: Annual Review of Sociology, 27 (2001), S. 283–305; Cristina Flesher Fominaya, Collective Identity in Social Movements, in: Sociology Compass, 4 (2010) 6, S. 393–404.

  4. Vgl. David A. Snow/Robert D. Benford, Framing Processes and Social Movements, in: Annual Review of Sociology, 26 (2000), S. 611–639.

  5. Vgl. Talcott Parsons, On the Concept of Value-Commitments, in: Sociological Inquiry, 38 (1968) 2, S. 136.

  6. Hans Joas, Werte und Religion, in: Liz Mohn (Hrsg.), Werte, Gütersloh 2006, S. 44.

  7. Soziale Bewegungen lassen sich als mobilisierte Netzwerke von Gruppen und Organisationen definieren, die über eine gewisse Dauer hinweg versuchen, „sozialen Wandel durch Protest herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen“. Friedhelm Neidhardt/Dieter Rucht, Auf dem Weg in die Bewegungsgesellschaft?, in: Soziale Welt, 44 (1993), S. 307.

  8. Vgl. Hans Joas/Wolfgang Knöbl, Sozialtheorie, Frankfurt/M. 2004, S. 721.

  9. Diese Konflikte halten sich jedoch in Grenzen, weil die pluralistische Gesellschaft durch Wertegeneralisierung einen Modus gefunden hat, der es ermöglicht, unterschiedliche Wertmuster zu integrieren. Vgl. Hans Joas, Die Sakralität der Person, Berlin 2011.

  10. Vgl. Jeffrey C. Alexander, Collective Action, Culture and Civil Society, in: Mario Diani/Jon Clarke (eds.), Alain Touraine, London 1996, S. 218.

  11. Jürgen Habermas definiert die Öffentlichkeit „als ein Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen, also von Meinungen“. Dabei werden „die Kommunikationsflüsse so gefiltert und synthetisiert, dass sie sich zu themenspezifisch gebündelten öffentlichen Meinungen verdichten“. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt/M. 1992, S. 436.

  12. Vgl. Jeffrey C. Alexander, Towards a Sociology of Evil, in: Maria Pia Lara (ed.), Rethinking Evil, Los Angeles 2001, S. 169.

  13. Der Begriff des Diskurses bezieht sich im weiten Sinn auf gesellschaftliche „Praktiken und Prozesse der kommunikativen Konstruktion, Stabilisierung und Transformation symbolischer Ordnungen sowie deren Folgen“. Reiner Keller, Diskursforschung, Wiesbaden 2011, S. 59.

  14. Vgl. J.C. Alexander (Anm. 12), S. 169.

  15. D. Rucht (Anm. 3), S. 13.

  16. Vgl. Alain Touraine, The Voice and the Eye, Cambridge, MA 1981; ders., An Introduction to the Study of Social Movements, in: Social Research, 52 (1985), S. 749–787.

  17. Friedhelm Neidhardt, Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen, in: Jürgen Friedrichs et al. (Hrsg.), Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen, Opladen 1994, S. 32.

  18. Vgl. Wolfgang Sofsky/Rainer Paris, Figurationen sozialer Macht, Frankfurt/M. 1994, S. 305.

  19. Vgl. Externer Link: www.directory.occupy.net (9.5.2012).

  20. Saskia Sassen bemerkt dazu: „We have entered a global era, the city is once again emerging as a strategic site for understanding some of the major new trends reconfiguring the social order.“ Saskia Sassen, Cities, in: European Educational Research Journal, 11 (2012) 1, S. 1.

  21. Vgl. Ron Eyerman, Performing Opposition or How Social Movements Move, in: Jeffrey C. Alexander et al. (Hrsg.), Social Performance, Cambridge, MA 2006, S. 193–217.

  22. Beide Quellen: www.adbusters.org (10.5.2012).

  23. Die englischsprachigen Originalbegriffe der positiven Wertzuschreibungen, nach denen die einzelnen Sätze aus den Textquellen herausgefiltert wurden, lauten: equal, independent/autonomous, democratic und trust.

  24. Bei den bewerteten Objekten wurden in jeder Kategorie zumeist mehrere Begriffe mit ähnlicher Bedeutung zusammengefasst. Die Kategorie „wir“ umfasst beispielsweise die englischsprachigen Originalbegriffe we, us und our. Unter die Kategorie „Politik & Eliten“ (s. Abbildung 4 der PDF-Version) fallen state, government, politicians, leaders, Obama, President, party etc.

  25. Die englischsprachigen Originalbegriffe der negativen Wertzuschreibungen lauten: corrupt, democratic (mit Negation), lie, trust (mit Negation), equal (mit Negation), greed, secret und authoritarian.

  26. Vgl. D. Rucht (Anm. 3), S. 13; A. Touraine 1985 (Anm. 16).

  27. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 19868, S. 252.

  28. Vgl. David A. Snow/Robert D. Benford, Ideology, Frame Resonance, and Participant Mobilization, in: Bert Klandermans et al. (eds.), International Social Movement Research, Greenwich 1988, S. 197–217.

  29. Dies ist ein zentraler Gedanke der „Sociology of Action“ von Alain Touraine. Vgl. A. Touraine 1981 (Anm. 16), S. 80.

  30. Vgl. J.C. Alexander (Anm. 12), S. 227.

Dr. phil.; Professor am Max-Weber-Institut für Soziologie der Universität Heidelberg, Bergheimer Straße 58, 69115 Heidelberg. thomas.kern@soziologie.uni-heidelberg.de

Dr. phil.; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Weber-Institut für Soziologie der Universität Heidelberg (s.o.). sang-hui.nam@soziologie.uni-heidelberg.de