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Schwierige Erinnerung | Kulturrevolution | bpb.de

Kulturrevolution Editorial Kulturrevolution in China: Ursachen, Verlauf und Folgen Schwierige Erinnerung: 40 Jahre Ringen um gesellschaftlichen Konsens Zur Plakatpropaganda der Kulturrevolution Spuren der Kulturrevolution im heutigen China Die Kulturrevolution und die weltpolitische Dreiecksbeziehung Beijing, Moskau, Washington Die westeuropäische Neue Linke und die chinesische Kulturrevolution

Schwierige Erinnerung 40 Jahre Ringen um gesellschaftlichen Konsens

Susanne Weigelin-Schwiedrzik

/ 16 Minuten zu lesen

Auch 40 Jahre nach dem Ende der Kulturrevolution hat die chinesische Gesellschaft noch keinen Konsens zur Erinnerung an diese Phase gefunden. Empathie für die Opfer ist keineswegs selbstverständlich.

Außerhalb der Volksrepublik (VR) China scheint weitgehend Konsens darüber zu bestehen, dass es der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) gelungen sei, eine Diskussion über die Kulturrevolution, die nach offizieller Periodisierung 1966 begann und 1976 endete, zu unterdrücken und diese Phase der chinesischen Zeitgeschichte der Vergessenheit anheim zu geben. Ein genauer Blick auf die Verhältnisse zeigt jedoch, dass diese Auffassung auf einem Vorurteil beruht. Nicht nur ist die Kulturrevolution für alle, die an ihr beteiligt waren, von herausragender Bedeutung, weshalb in allen gesellschaftlichen Bereichen spätestens seit 1976 beziehungsweise seit der Entmachtung der sogenannten Viererbande um die Mao-Witwe Jiang Qing genauso viel diskutiert und erinnert wird wie unter den Heimkehrern aus dem Zweiten Weltkrieg in Europa. Auch die KPCh hat versucht, die Bevölkerung in eine von ihr dominierte Aufarbeitung der Kulturrevolution einzubeziehen und ihr in diesem Zusammenhang einen offiziellen Blick auf die "Zehn Jahre des Chaos" vorzuschreiben.

Bücher und Artikel über die Kulturrevolution, die in chinesischer Sprache seit 1976 erschienen sind, füllen Regale in Bibliotheken wie der des berühmten John K. Fairbank Centers for Chinese Studies an der Harvard University. In den vergangenen Jahren findet man zudem unzählige Stellungnahmen zur Kulturrevolution im chinesischsprachigen Internet, und nicht wenige literarische Werke sowie Filme aus der VR China beschäftigen sich direkt oder indirekt mit den Ereignissen der Zeit zwischen 1966 und 1976. Je mehr die Kulturrevolution in der chinesischen Gesellschaft diskutiert wird, umso mehr muss die Führung der KPCh erkennen, dass es ihr nicht gelungen ist, die Erinnerung zu dominieren. So greift sie zum Mittel der Tabuisierung und kann auch diese nicht durchsetzen. 40 Jahre nach dem Ende der Kulturrevolution hat die Gesellschaft in der VR China noch keinen Konsens zur Erinnerung an diese Phase gefunden. Stattdessen ist die Erinnerung fragmentiert und geprägt von einander gegenseitig bekämpfenden Fraktionen. Empathie oder Respekt für die Opfer ist keineswegs selbstverständlich, die Bestrafung der Täterinnen und Täter wurde nicht flächendeckend vorgenommen. Versöhnung ist so kaum möglich. Der chinesische Philosoph und Kulturrevolutionsforscher Xu Youyu hat schon vor vielen Jahren die Frage gestellt, wie es möglich sein kann, dass die Aktivisten der damaligen Zeit so wenig Empathie für ihre Opfer zeigen und es nicht wagen, der Vergangenheit ins Auge zu sehen.

Dabei ist zwischen offiziellem und inoffiziellem Diskurs zu unterscheiden, wobei zwischen beiden ein scharfer Wettbewerb um die Diskurshoheit besteht. Daneben muss man jedoch auch erkennen, dass öffentlicher und privater Diskurs koexistieren, manchmal in der Erinnerung ein und derselben Person. Nach derartigen bürgerkriegsähnlichen Ereignissen hat es auch außerhalb der VR China unter anderen politischen Systemen lange gedauert, bis ein gesellschaftlicher Konsens gefunden werden konnte. Die Tatsache, dass die Kulturrevolution in der Erinnerung derjenigen, die an ihr teilnahmen, lebendig ist und immer mehr junge Menschen Interesse an dieser Diskussion finden, sollte als Zeichen einer gesellschaftlichen Dynamik gewertet werden, die sich dem Blick von außen auf die Verhältnisse in der VR China zu selten öffnet. Wenn wir uns also genauer mit der Erinnerung an die Kulturrevolution in der VR China auseinandersetzen, erkennen wir plötzlich, was viele für unmöglich erachten: die Existenz einer starken und selbstbewussten, wenn auch zerrissenen Gesellschaft sowie eines Staates, der trotz seines Glaubens an die Allmacht der Propaganda die Gedanken der Bevölkerung nicht zu beherrschen vermag.

"Zehn Jahre des Chaos": Parteioffizielle Geschichtsschreibung

Am 1. Juli 1981, fünf Jahre nach dem Tod Mao Zedongs, veröffentlichte das Parteiorgan der KPCh den "Beschluss über einige Fragen der Geschichte der KPCh seit Gründung der VR China". In ihm wurde ein Resümee der Geschichte seit 1949 gezogen und insbesondere eine Bewertung der Kulturrevolution und der Rolle, die Mao in ihr spielte, vorgenommen. Zusammenfassend spricht man heute von der "totalen Negierung" der Kulturrevolution und bezieht sich dabei auf das Diktum der Resolution von 1981, wonach die Kulturrevolution als "links-opportunistischer Fehler" zu kritisieren sei. Dabei wird zwar hervorgehoben, dass Mao mit seinen Theorien zur Weiterführung des Klassenkampfes im Sozialismus und zur ununterbrochenen Revolution die theoretische Grundlage für diesen Fehler gelegt habe. Zugleich wird aber auch darauf verwiesen, dass im Mai 1966 das Zentralkomitee einstimmig dem Vorschlag gefolgt sei, die Kulturrevolution einzuleiten. Im weiteren Verlauf habe die "Viererbande" die Vorstellungen Mao Zedongs jedoch missinterpretiert und einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass die Massenbewegung chaotische Züge annahm. Hierbei habe eine Rolle gespielt, dass große Teile der Bevölkerung an der Bewegung teilgenommen und die Machenschaften der Bande um Maos Frau nicht durchschaut hätten.

Die Resolution vermeidet eine eindeutige Benennung von Tätern und Opfern. Stattdessen werden alle für verantwortlich erklärt; Bedauern gegenüber den Opfern wird genauso wenig zum Ausdruck gebracht wie eine eindeutige Ablehnung der menschenverachtenden Gewalt. Dabei wurde der Beschluss zu einem Zeitpunkt gefällt, da Deng Xiaoping – eines der prominentesten Opfer der Kulturrevolution – die Partei de facto bereits führte und mit ihm viele der während der Kulturrevolution ausgeschalteten Politiker wieder in die höchsten Gremien der Partei eingerückt waren. Es wäre ihnen, so könnte man meinen, ein Leichtes gewesen, Opfer und Täter beim Namen zu nennen.

Dass sie dies nicht taten, hat mindestens zwei Gründe. Mao hatte einmal gesagt, die Kulturrevolution sei eine von zwei großen Errungenschaften seines Lebens. Wäre die "totale Negierung" so weit gegangen, die Kulturrevolution nicht nur als einen "links-opportunistischen Fehler", sondern gar als ein Verbrechen zu qualifizieren, hätte dies bedeutet, dass die Partei von ihrem "großen Steuermann" gänzlich hätte abrücken müssen. Das aber wollte niemand zum damaligen Zeitpunkt. Die Opfer an der Spitze der KPCh waren ehemalige Kampfgenossen Mao Zedongs. Sie hatten ihn zum unangefochtenen Parteiführer gemacht, den Personenkult zugelassen und sich seinen theoretischen Eskapaden nie widersetzt. Sie fühlten sich ihm auf Gedeih und Verderb verbunden und wagten es nicht, dem Beispiel der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion zu folgen und sich von Mao so radikal loszusagen, wie dies Chruschtschow 1956 gegenüber Stalin getan hatte. Schließlich stand er für den Sieg der chinesischen Revolution, und dieser war und ist die Grundlage für den Monopolanspruch der KPCh.

Der zweite Grund ist komplexer. Er bezieht sich auf die sogenannten Rotgardisten, die in Beijing zu Beginn der Kulturrevolution die Chance sahen, sich als "Fortsetzer der revolutionären Sache" zu profilieren. Die Gräuel, die das Bild dieser Massenbewegung allenthalben prägen, waren Gewaltexzesse, zu denen es im Zuge der Bildung von Organisationen der Rotgardisten in der zweiten Hälfte des Jahres 1966 kam. Die Söhne und Töchter führender Kader der KPCh bemächtigten sich der Bewegung und setzten sich an die Spitze der Hauptstadtjugend im Kampf gegen Professoren, Lehrerinnen, Künstler, Schriftstellerinnen und andere Intellektuelle, die entsprechend ihres niederen Rangs in der gesellschaftlichen Rangskala der Kulturrevolutionäre als die "stinkende Nummer 9" bezeichnet wurden. Ihnen unterstellten die Rotgardisten kleinbürgerliches Verhalten, Verrat an der Partei und die Neigung, China wieder zurück auf den Weg zum Kapitalismus führen zu wollen. Rotgardist konnte nur werden, wer "revolutionäre" Eltern hatte. Alle Jugendlichen, deren Eltern nicht in der Partei waren oder deren Vorfahren als "Konterrevolutionäre" abgestempelt, enteignet und vom gesellschaftlichen Geschehen ausgeschlossen worden waren, durften an der Bewegung nicht teilnehmen. Solange die Rotgardisten in Beijing das Geschehen beherrschten, tobte ein Mob aus Jugendlichen durch die Straßen, die man zuvor mit rotem Halstuch, weißer Bluse und blauer Hose als wohlerzogen, angepasst und privilegiert wahrgenommen hatte. Wer hätte gedacht, dass die braven Söhne und Töchter sich über Nacht derart wandeln würden? In den ersten sechs Monaten nach Beginn der Kulturrevolution starben allein in Beijing 1700 Menschen als Folge von Gewalt, die von den Rotgardisten ausging.

All das steht aber nicht in der Resolution von 1981, hätte doch eine unumwundene Ablehnung dieser Gewaltexzesse zur Folge gehabt, dass die gerade wieder an die Macht zurückgekehrten Parteioberen ihre eigenen Kinder ans Messer lieferten. Eine Verurteilung der Machenschaften der Rotgardisten hätte bedeutet, dass keiner von ihnen je wieder in die Führung der Partei hätte vordringen können. Das konnten die alten Herren an der Parteispitze nicht wollen, und so mussten die schwer gedemütigten Opfer der Kulturrevolution darauf verzichten, die Täter und deren Machenschaften zu benennen. Damit dies jedoch nicht allzu stark auffiel, wurden kurzerhand die gesamte Partei und die gesamte Bevölkerung zu Mitverantwortlichen und Komplizen erklärt.

Inzwischen stellt sich die Frage, ob es nicht noch einen weiteren Grund für das Schweigen über die Gewalt der Rotgardisten gibt. Es gibt – allerdings nicht offen ausgesprochen – die Auffassung, die späteren Opfer Mao Zedongs aus den Reihen der Parteiführung hätten ihre Kinder vorgeschickt. Durch die Rotgardistenorganisationen hätten sie sich der Bewegung bemächtigen und für eine rasche Beendigung der Kulturrevolution sorgen sollen. Gewalt sei dabei ein geeignetes Mittel gewesen, um mit dem Argument, die Bewegung geriete aus dem Ruder, deren sofortige Beendigung zu bewirken.

Unbeantwortete Fragen

Mit der Resolution von 1981 hatte die damalige Parteiführung zwar vielleicht einen parteiinternen Konsens herstellen können. Gesellschaftlich hat sie sich aber nie durchgesetzt, die großen Fragen blieben alle unbeantwortet. Nicht nur fehlte es an einer Verurteilung der Machenschaften der Rotgardisten, auch deren Hauptgegner und Rivalen, die sogenannten Rebellen, auf die Mao sich stützte, sobald er die eigene Partei und nicht mehr die Intellektuellen zum Hauptgegenstand der Kritik erhob, wurden mit keinem Wort erwähnt. Sie waren im Zuge der Kulturrevolution Maos Aufruf gefolgt und hatten sich an die Spitze einer gegen die Parteibürokratie gerichteten Bewegung gesetzt. Sie hatten die Rotgardisten entlarvt und den Kampf gegen deren Eltern aufgenommen. Warum wurden sie nicht rehabilitiert? Freilich lag es nahe, dass eine Parteiführung, die sich nach dem Tode Maos zu einem erheblichen Teil aus Opfern der Kulturrevolution zusammensetzte, diejenigen nicht würde ins Recht setzen können, die sie malträtiert hatte. Doch im Sinne der oben angesprochenen Kontinuität der Anerkennung Maos als Führer der chinesischen Revolution hätte man das Wirken der sogenannten Rebellen positiv beurteilen müssen, auch wenn deren Eintritt in die Kulturrevolution die Gewalt noch vermehrt hatte und in der Auseinandersetzung zwischen Rotgardisten und Rebellen noch mehr Blut geflossen war als zuvor. Stattdessen hatten die Rebellen schon während der Kulturrevolution erfahren müssen, dass sie, die keinen "roten" Familienhintergrund nachweisen konnten, letztlich auch marginalisiert, verfolgt und bekämpft wurden. Umso misstrauischer schauten sie 1981 auf den Beschluss der Partei, nur um herauszufinden, dass sie darin nicht vorkommen.

Ab 1968 waren die Jugendlichen aus der Stadt aufs Land verschickt worden. Auf diese Weise wurde das gewaltaffine Protestpotenzial über ganz China verteilt. Die Jugendlichen, die sich durch ihre aktive Teilnahme an der Kulturrevolution als zukünftige Führer hatten qualifizieren wollen, mussten ihre Hoffnungen auf eine Teilhabe an der Elite nun fahren lassen – stattdessen wurde ihnen der Schwur abgenommen, ein Leben lang auf dem Lande zu leben und auf diesem Wege der Nation zu dienen. Hatte Mao Zedong sie verraten, missbraucht oder hinters Licht geführt? Auch darauf hatte die Resolution von 1981 keine Antwort parat.

Und wie steht es mit dem Militär? Mao hatte es 1968 aufgefordert, in das Geschehen einzugreifen, weil er keine andere Möglichkeit mehr sah, dem Bürgerkrieg Einhalt zu gebieten. Musste das Militär nicht dafür gelobt werden, dass es Ruhe und Ordnung wiederhergestellt hatte? Oder sollte man, wie die Rebellen es sich wohl gewünscht hätten, das Militär dafür verantwortlich machen, dass plötzlich mit Panzern und Gewehren aufeinander geschossen worden war und im Kampf noch mehr Menschen ihr Leben gelassen hatten? Die Resolution nimmt hier den Mittelweg, lobt das Militär und kritisiert es zugleich.

Heute wissen wir, dass etwa 1,7 Millionen Menschen während der Kulturrevolution ums Leben kamen. Wie sollen die Familien und Freunde dieser Opfer mit dem Verlust fertig werden, wenn die Ereignisse, die den Tod herbeiführten, in einer solchen Parteiresolution, die unter den gegebenen Umständen als einzige mit der Autorität ausgestattet war, über Recht und Unrecht zu urteilen, noch nicht einmal erwähnt werden?

Gesellschaftliche Reaktionen

Mit der Verabschiedung der Resolution erklärte Deng Xiaoping die bis dahin erstaunlicherweise relativ offen und öffentlich geführte Diskussion über die Kulturrevolution für beendet. Ebenso sollte nun die Phase der Rehabilitierung von Personen, die während der Kulturrevolution öffentlich an den Pranger gestellt worden waren, enden. Untersuchungskommissionen, die noch in den späten 1970er Jahren versucht hatten, die Gründe für Mord und Selbstmord aufzuklären, wurden aufgelöst. Es setzte nun die offizielle Tabuisierung des gesamten Themas ein, womit die Familien der Opfer am schlechtesten leben konnten. Sie versuchten, zumindest im privaten Rahmen ihrer verstorbenen Angehörigen zu gedenken, wurden dabei aber immer wieder von der Polizei behindert.

Andere begrüßten die Möglichkeit, die Grauen der Kulturrevolution vergessen zu können. Dies galt insbesondere für Überlebende, die oft an der Seite ihrer ehemaligen Peiniger ihren Beruf ausübten. Sie sahen keine Möglichkeit, sich mit den Tätern zu versöhnen, und die Täter sahen oft keine Notwendigkeit, sich bei ihren Opfern zu entschuldigen, begriffen sie sich doch selbst als Opfer, auch dann, wenn sie in einer bestimmten Phase der Bewegung aktiv an Gewaltexzessen beteiligt gewesen waren. All jene, die als Mitläufer teilgenommen hatten, waren froh, nun ein Leben in größerer Sicherheit und mit der Perspektive auf wachsenden Wohlstand leben zu können. Auch sie hatten nichts dagegen einzuwenden, dass die Kulturrevolution nicht mehr Gegenstand öffentlicher Erörterung war.

Privat wurde und wird jedoch weiter über die Erinnerungen an die Jahre 1966 bis 1976 gesprochen. Eine große Rolle spielt dabei die gemeinsame Erfahrung als landverschickte Jugendliche. Auch wenn die politisch aktiven Teile der Betroffenen diese Maßnahme als Verrat empfanden, war das Leben auf dem Land für viele der jungen Menschen ein großes, wenn auch mit vielen Schwierigkeiten verbundenes Abenteuer. Sie hatten sich in dieser Phase von ihren Eltern unabhängig machen können, hatten Aspekte des Lebens in ihrer Heimat kennengelernt, von denen sie zuvor nichts gehört hatten, und eine Jugend erlebt, die gemessen an den Traditionen des Landes als ungebunden zu bezeichnen ist. Inzwischen gibt es sogar große Versammlungen der ehemals landverschickten Jugendlichen und entsprechende Literatur. Auf diese Weise erfährt die Kulturrevolution unter der Hand bisweilen eine gewisse Verklärung.

Die Erinnerungsgemeinschaften, die in diesem Zusammenhang entstehen, tauschen ihre Erfahrungen nur unter Menschen aus, die selbst an der Kulturrevolution beteiligt waren. Die nachgeborene Generation ist von dieser Kommunikation weitgehend abgeschnitten. Für sie ist die Kulturrevolution ein weißer Fleck, etwas, über das sie, wenn überhaupt, nur Schlechtes hören, ohne genau zu wissen, worum es eigentlich ging. Auch im Schulunterricht ist die Kulturrevolution kein Thema. So beginnen einige, sich ihr eigenes Bild von den damaligen Ereignissen zu machen und sich online darüber auszutauschen. Da der Ausgangspunkt für derartige Imaginationen häufig die Unzufriedenheit mit der eigenen Gegenwart ist, gerät die Kulturrevolution hier oftmals zu einem positiv verzerrten Gegenbild der heutigen Zeit. Die soziale Ungleichheit, die große Kluft zwischen Arm und Reich, die im heutigen China von vielen als ungerecht empfunden wird, steht der Gleichheit in Armut entgegen, die für das Leben während der Kulturrevolution typisch war. Der Abwendung von allem Politischen in der heutigen Zeit wird die allgemeine Politisierung der Gesellschaft in den Jahren zwischen 1966 und 1976 entgegengesetzt. Das verbreitete Gefühl, dass ständig andere über einen bestimmen, steht der damaligen Möglichkeit zu umfassender Partizipation gegenüber, woraus manche Blogger fälschlicherweise folgern, die Kulturrevolution sei demokratisch gewesen.

Seit dem großen "Erinnerungsjahr" 2006 haben derartige Stimmen deutlich zugenommen. Sie erhalten dabei Unterstützung von einer politischen Gruppierung, die sich mit öffentlichen Äußerungen lange zurückgehalten hat. Dies sind die sogenannten Alt-Maoisten, die nun offen gegen die damalige Machtübernahme durch Deng Xiaoping argumentieren und die heutigen Zustände in der VR China im Sinne Mao Zedongs als "Restauration des Kapitalismus" bezeichnen. Diese Gruppe hält daran fest, dass Maos Theorie über den Klassenkampf im Sozialismus richtig sei. Der von Mao abgesetzte Staatspräsident Liu Shaoqi und Deng Xiaoping seien von Mao zu Recht als "Machthaber auf dem kapitalistischen Weg" an den Pranger gestellt worden. Die Gewalt, die allseits mit der Kulturrevolution in Zusammenhang gebracht werde, sei nicht Teil der Strategie Maos gewesen, sondern von denjenigen Führern der Partei, die Mao alsbald als seine Feinde erkannte, bewusst mithilfe der Rotgardisten entfacht worden, um Maos Projekt ad absurdum zu führen. Obwohl die Propagandaabteilung des Zentralkomitees der KPCh auch für das Jahr 2016 wieder entschieden hat, dass es keine öffentliche Diskussion zur Kulturrevolution geben darf, werden derartige Einträge aus dem Internet nicht gelöscht.

Viele der ehemaligen Rebellen sind im Zuge der Ereignisse auf dem Tian’anmen-Platz im Frühsommer 1989 ins Exil gegangen. Über das Internet tauschen sie ihre Meinungen zur Kulturrevolution aus und schreiben Artikel zum Thema. Auch wenn die Autoren inzwischen zu Vorkämpfern für Menschenrechte in China geworden sind, bedienen sie in einigen Beiträgen erstaunlicherweise immer noch die Diktion der Kulturrevolution. Obwohl manche von ihnen in der Kulturrevolution aktiv waren und dabei anderen Menschen Schaden zugefügt haben, halten sie es offenbar nicht für notwendig, diese Taten als Fehler einzugestehen, um sich glaubwürdig für Menschenrechte einsetzen zu können.

Manche, die sich von Mao verraten sehen, gestehen ihm zwar zu, dass er mit der Kulturrevolution lautere Ziele verfolgt habe. Zugleich sind sie aber der Auffassung, dass sein Aufruf an die Armee, die Lage im Lande zu beruhigen, eine Abkehr von den ursprünglichen Zielen dargestellt habe. Erst dies habe die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass das bürokratische System, das man habe abschaffen wollen, wieder installiert werden konnte. Die ehemaligen, im Ausland lebenden Rebellen haben die Kulturrevolution als Phase der großen Partizipation in Erinnerung und fragen sich bis heute, warum aus dieser Bewegung nichts Positives entstanden ist. Sie sehen sich als Avantgarde für ein soziales und demokratisches China und leiden darunter, dass sie von der Elite, die nach der Kulturrevolution wieder an die Macht gekommen ist, marginalisiert und letztlich aus dem Lande verstoßen worden sind.

Aus der Geschichte lernen?

Der auch in Deutschland bekannte chinesische Schriftsteller Wang Meng veröffentlichte erst kürzlich in der Zeitschrift "Yanhuang Chunqiu", in der oft Vertreter der alten Generation zu Wort kommen, die in der Mao-Ära Verfolgungen ausgesetzt waren, einen Artikel zur Frage des Umgangs mit der Kulturrevolution. Er stellt fest, dass inzwischen viele Quellen zur Kulturrevolution gesammelt und Details aus dem Geschehen erforscht werden. Die Frage, warum es überhaupt zur Kulturrevolution habe kommen können, sei jedoch bis heute unbeantwortet geblieben. Diese Frage angemessen zu beantworten, sei aber eine Verantwortung, die man für China und die ganze Welt zu übernehmen habe.

Er ist nicht der einzige, der dazu aufruft, die Erfahrungen der Kulturrevolution aufzuarbeiten, um daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen. Die Überlebenden der Kulturrevolution, insbesondere diejenigen, die sich als Opfer der bürgerkriegsähnlichen Zustände jener Zeit betrachten, beobachten mit Schrecken, dass die "totale Negierung" der von Mao Zedong entfachten Massenbewegung gesellschaftlich immer weniger akzeptiert wird. Die Verklärung der Massenbewegung als Massenpartizipation, die in jüngster Zeit immer mehr Befürworter findet, schürt die Angst vor einem erneuten Ausbruch gesellschaftlicher Gewalt als Mittel im Kampf gegen Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Unfreiheit.

In diesem Kontext sind auch die Versuche einiger ehemaliger Rotgardisten zu sehen, sich für die Gewalt in der Frühphase der Kulturrevolution öffentlich zu entschuldigen. Der heute 70-jährige Chen Xiaolu, Sohn des lang gedienten chinesischen Außenministers Chen Yi, war 2013 der Erste, der sich öffentlich dafür entschuldigte, seine Lehrer an der Beijinger Mittelschule malträtiert und in den Tod getrieben zu haben: "Meine Entschuldigung kommt zu spät. Doch die Säuberung meiner Seele, der Fortschritt der Gesellschaft und die Zukunft der Nation verlangen nach dieser Entschuldigung."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Xu Youyu, Women gan bu gan zhimian lishi? (Wagen wir es, der Geschichte ins Auge zu sehen?), o.D., Externer Link: http://blog.boxun.com/hero/xuyy/36_1.shtml (6.4.2016).

  2. Zur Situation vor zehn Jahren vgl. Susanne Weigelin-Schwiedrzik, In Search of a Master Narrative for 20th Century Chinese History, in: The China Quarterly, (2006) 188, S. 1070–1091; zur Situation der 1990er Jahre vgl. Gao Mobo, Debating the Cultural Revolution: Do We Only Know What We Believe?, in: Critical Asian Studies, 34 (2002) 3, 2002, S. 419–434.

  3. Guanyu jianguo yilai dang de ruogan lishi wenti de jueyi, in: Renmin Ribao (Volkszeitung) vom 1.7.1981, S. 1–7.

  4. Vgl. Woju Xiyu (jap.), Mao Zedong yi sheng ke gaikuo wei san jian da shi (Das Leben Mao Zedongs kann in drei großen Ereignissen zusammengefasst werden), 9.3.2006, Externer Link: http://theory.people.com.cn/GB/49157/49163/4181901.html (6.4.2016). Der Autor selbst macht drei Ereignisse geltend, verweist aber auf Mao Zedong, der sich angeblich auf die zwei genannten Ereignisse bezog.

  5. Für eine ausführliche Analyse dieser Bewegung vgl. Andrew Walder, Fractured Rebellion: The Beijing Red Guard Movement, Cambridge MA 2009.

  6. Die ausführlichste, wenn auch nicht immer korrekteste Darstellung dieser Vorgänge findet sich in: Wang Youqing, Wenge shounan zhe (Opfer der Kulturrevolution), Hongkong 2004, Externer Link: http://www.edubridge.com/erxiantang/l2/victim_ebook_070505.pdf (6.4.2016).

  7. Diese Version wird inzwischen als Gegenerzählung zu der parteioffiziellen Darstellung auf Blogs diskutiert. Vgl. zum Beispiel Shidai Jianbing, Wang Jingyao jujue daoqian de mudi shi yingshe Mao Zedong, (Wenn Wang Jingyao die Entschuldigung nicht annimmt, so tut er das mit dem Ziel, auf Mao anzuspielen), o.D., Externer Link: http://www.wyzxwk.com/Article/zatan/2014/02/313478.html (7.4.2016).

  8. Vgl. Susanne Weigelin-Schwiedrzik/Cui Jinke, Whodunnit? Memory and Politics Before the 50th Anniversary of the Cultural Revolution, in: The China Quarterly, (2016) (i.E.).

  9. Vgl. Nora Sausmikat, Resisting Current Stereotypes: Private Narrative Strategies in the Autobiographies of Former Rusticated Women, in: Woei Lien Chong (Hrsg.), China’s Great Proletarian Cultural Revolution: Master-Narratives and Post-Mao Counternarratives, Lanham 2002, S. 255–283.

  10. Vgl. Jin Chunming, Wenhua da geming shigao (Abriss einer historischen Darstellung der Großen Kulturrevolution), Chengdu 1995, S. 503.

  11. Vgl. Agnes Schick-Chen/Astrid Lipinsky (Hrsg.), Justice Restored? Between Rehabilitation and Reconciliation in China and Taiwan, Frankfurt/M. 2012; Sue Trevaskes, People’s Justice and Injustice: Courts and the Redressing of Cultural Revolution Cases, in: China Information, 16 (2002) 2, S. 1–26.

  12. Vgl. Mary G. Mazur, Public Space for Memory in Contemporary Civil Society: Freedom to Learn From the Mirror of the Past?, in: The China Quarterly, (1999) 160, S. 1019–1035.

  13. Vgl. hierzu auch Xu Youyu (Anm. 1).

  14. Vgl. Liu Xiaomeng, Zhongguo zhiqing koushushi (Oral history der aufs Land geschickten Jugendlichen), Beijing 2004.

  15. Vgl. C.F. Gao Mobo, The Battle for China’s Past: Mao and the Cultural Revolution, London–Ann Arbor 2008.

  16. Vgl. S. Weigelin-Schwiedrzik/Cui Jinke (Anm. 8).

  17. Vgl. S. Weigelin-Schwiedrzik (Anm. 2).

  18. Der im deutschen Sprachraum wohl bekannteste Roman von Wang Meng ist "Rare Gabe Torheit" (1994).

  19. Vgl. Wang Meng, Fansi wenge ze wu pang dai (Die Verantwortung für die Auseinandersetzung mit der Kulturrevolution kann nicht abgegeben werden), in: Yanhuang Chunqiu, (2016) 3, S. 1–5.

  20. Zit. nach: Jane Perlez, A Leader in Mao’s Cultural Revolution Faces His Past, in: The New York Times vom 6.12.2013, Externer Link: http://www.nytimes.com/2013/12/07/world/asia/a-student-leader-in-maos-cultural-revolution.html (6.4.2016).

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Dr. phil., geb. 1955; Professorin für Sinologie am Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien, Spitalgasse 2, 1090 Wien/Österreich. E-Mail Link: susanne.weigelin-schwiedrzik@univie.ac.at