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Ich bin Israeli - Essay | 60 Jahre Israel | bpb.de

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Ich bin Israeli - Essay

Avram Kantor

/ 9 Minuten zu lesen

Es wäre mir nie in Sinn gekommen, dass ich schon allein durch mein Aussehen als Israeli identifiziert werden könnte.

Einleitung

Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass ich schon allein durch mein Aussehen als Israeli identifiziert werden könnte - bis zu dem Tag, als der Fahrer eines vorbeifahrenden Autos in Rom den Kopf aus dem Fenster steckte und mir auf Hebräisch zurief: "Aus welchem Kibbutz?" Er fragte nicht, ob ich Israeli sei oder ob ich Hebräisch spreche - das war für ihn offensichtlich. Ich war darüber sehr erstaunt, aber bevor ich antworten konnte, war er verschwunden. Ich stand mit offenem Mund auf der Straße. Wie zum Teufel konnte er wissen, dass ich Israeli bin?



Nach diesem Tag entdeckte ich, dass auch ich Israelis, besser: "uns", mühelos identifizieren kann. Ich habe ebenfalls herausgefunden, dass diese Fähigkeit vor allem eine israelische ist. Zwar können auch Menschen anderer Nationalität "uns" identifizieren, aber nicht so leicht und nicht auf derart hervorragende Weise.

Als ich einige Jahre später aus der Alten Pinakothek in München kam, bestand ein iranisch aussehender Typ darauf, mich auf Persisch anzusprechen. Als er endlich erkannte, dass ich ihn wirklich nicht verstand, fragte er mich mit den vermutlich einzigen deutschen Worten, die er kannte: "Wo ist Mosche?" Ich sagte ihm in klarem Deutsch, dass ich keinen Mosche kenne, und bat ihn, mich nicht weiter zu verfolgen, aber er fragte mich immer und immer wieder: "Wo ist Mosche?"

Als mein Gastgeber die Geschichte hörte, schüttete er sich aus vor Lachen. Er erklärte mir, dass der arme Mann offenbar nur eine Moschee gesucht habe. Weil ich dieses deutsche Wort noch nie zuvor benötigt hatte, wusste ich nicht, dass mosque auf Deutsch "Moschee" bedeutet und dass es ähnlich ausgesprochen wird wie der hebräische Vorname Moshe (Moses). Immerhin stand eines fest: Selbst als der Mann erkannt hatte, dass ich kein Iraner war, war er sich sicher, dass ich Moslem bin; er konnte es sich nicht vorstellen, dass ich Jude bin oder Israeli.

Bei einer anderen Gelegenheit erkannte ich dieselbe "Identitätsverwirrung". Ich war mitten auf einer lauten Kreuzung zwischen Darmstadt und Frankfurt mit meinem Auto liegengeblieben. Der Fahrer eines Lastwagens war gezwungen, die Straße zu verlassen, um passieren zu können, steckte seinen Kopf aus dem Fenster und schrie: "Dreckiger Türke!" Die Assoziationen, die diese Beleidigung seitens eines fetten, blonden Lastwagenfahrers in Deutschland in mir weckte, sind hier irrelevant. Er hatte mich als jemand mit semitischem Ursprung erkannt, nicht aber als Israeli.

Zwei Wochen später, zurück in Israel, gab es Spannungen an der Nordgrenze, und ich wurde zum Reservedienst bei der Armee eingezogen. Ich musste meine Einheit zu ihrem Stützpunkt führen. An einer Kreuzung fuhr ich mit meinem Jeep an den Straßenrand, um den Truppenteilen den Weg zu erklären. Wie an der Kreuzung bei Darmstadt schrie ein dunkelhäutiger Lastwagenfahrer in meine Richtung: "Dreckiger Kibbutznik!" Hinsichtlich des Rassismus gibt es keinen Unterschied zwischen dem Blonden und dem Dunkelhäutigen, aber Letzterer war "einer von uns", ein Israeli. Er erkannte mich als Kibbutznik, obwohl ich dieselbe Uniform wie alle anderen trug. Und wieder stellte ich mir die Frage: "Wie zum Teufel konnte er mich erkennen?"

Ich betrachtete mich im Spiegel und versuchte verzweifelt, die verborgenen Identitätshinweise zu entdecken, die anderen offenbar so auffielen. Im Gesicht sah ich keinerlei herausragende Züge, aber ich war erstaunt, wie tief sich mein israelischer Charakter in meine Haut und mein Fleisch eingegraben hat, und das nicht einmal in der sichtbarsten Weise. Je länger ich in den Spiegel schaute, desto mehr erkannte ich, wie die nationalen Ereignisse auf subtile, aber unmissverständliche Weise meinem Privatleben ihren Stempel aufgedrückt hatten.

Nur sehr dramatische historische Ereignisse können in das Privatleben vordringen, und wenn das geschieht, handelt es sich meist um eine sehr mächtige Kraft. Ich war tief beeindruckt davon, wie die Geschichte des Staates Israel nicht nur in mein privates Leben eingegriffen und sehr viel davon bestimmt hat, sondern wie sehr sie auch Spuren auf meinem Körper hinterlassen hat und zum Teil meiner Identifikation nach außen geworden ist. Weil die Male auf meiner Haut keine Daten tragen, werde ich sie nun gemäß ihres Fundortes aufzählen, und zwar vom Kopf bis zum Zeh.

Meine schwarzen Haare bedecken auf der rechten Seite meiner Stirn eine bleiche Linie, deren Ende nur bei einem Kurzhaarschnitt sichtbar ist. Diese Narbe ist das Überbleibsel von sechs Stichen, die eine Schnittwunde geschlossen haben. Eines Morgens im Juni 1967 gruben wir Schützengräben gegen Luftangriffe, als plötzlich ein riesiger irakischer Bomber über uns aufheulte und schwarze Rauchwolken ausstieß, bevor er auf dem Feld zerschellte. Mein Geschichtslehrer, der einige Schritte von mir entfernt arbeitete, riss seine Hacke vor Schreck hoch in die Luft und schnitt diese Narbe unabsichtlich in meine Stirn.

Nur wenige Zentimeter von diesem Mal entfernt dekoriert eine runde Narbe meine rechte Augenbraue - ein Andenken an die Tage, als die gesamte Oberfläche des neuen und sich rasch entwickelnden Staates mit Gräben für Bewässerungssysteme überzogen wurde. Wir Kinder entdeckten sehr rasch das Karbid, eine Chemikalie, die zum Schweißen von Wasserrohren genutzt wurde; sie hatte die Kraft, kleine Blechbüchsen in die Luft zu katapultieren, sobald sie mit Wasser in Berührung kamen. Eine kleine Büchse, die einfach nicht in die Luft gehen wollte, entschied sich dann doch dazu, just in dem Moment, als ich mich über sie beugte, um nachzusehen. So drückte sie die intensive Entwicklung des Landes als runde Form auf meine Stirn.

Auch meine linke Augenbraue ist nicht unangetastet geblieben. Eine kleine Delle über der Braue verstärkt meinen ernsten Gesichtsausdruck; sie ist der lebende Beweis für das Scheitern des syrischen Versuchs, mich und den gesamten Staat Israel im Oktober 1973 auszulöschen. Es war keine heldenhafte Geschichte des Krieges, eigentlich habe ich diese Narbe nicht verdient, denn man hat sie mir umsonst verliehen. Ich beobachtete ziemlich ruhig die Bewegungen der Kampfparteien im Tal unterhalb unseres Stützpunktes, als plötzlich die Welt zu explodieren schien. Der Schmerz kam erst lange, nachdem ich verstand, was geschehen war. Das Ereignis versah mich mit weiteren Narben, die sich unter meinem Bart verstecken, auf meiner Schläfe, auf meinem Hals und unter den silbrigen Haaren auf meiner Brust - Früchte der durchdringenden Metallsplitter, Souvenirs der syrischen Armee. Alle diese Zeichen sind bedeckt und fast gar nicht mehr sichtbar, aber ein Splitter hat ein Grübchen in meine linke Wange gedrückt, man sieht es nur, wenn ich lächele. Ironischerweise berechtigt mich dieses Grübchen, das sich mitten in meinem Gesicht festgesetzt hat, nicht zur Entschädigung durch das Verteidigungsministerium, weil der medizinische Ausschuss der Meinung war, es handele sich nicht um eine entstellende Narbe. Immerhin erhalte ich für sie viele Komplimente, und sie verleiht mir die besondere Gabe der Wettervorhersage, signalisiert sie mir doch jeden bevorstehenden Sturm.

Ein weiteres Zeichen ist ein granatapfelroter Fleck im Weiß meines rechten Auges. Er entstellt mich nicht und hat keinerlei Zauberkraft, er ist einfach nur rot. Er verweist auf einen winzigen Splitter einer Bazooka-Rakete, die an einem sehr hellen, schönen Winternachmittag in den 1970er Jahren von der anderen Seite des Jordan aus einem palästinensischen Hinterhalt auf uns abgefeuert wurde. Wir beobachteten die Vögel, wie sie im dicken Schilf am Flussufer brüteten; die Palästinenser beobachteten uns und warteten auf den besten Moment zum Zuschlagen.

Ich nehme an, dass die blumenartigen Narben auf meinen Schultern, die zahllose Impfungen in den 1950er Jahren hinterlassen haben, keinesfalls typisch israelisch sind. Doch bei uns war die Furcht vor schrecklichen Seuchen aus weit entfernten Ländern sehr real, denn viele Kinder aus der ganzen Welt kamen nach Israel, und "wer weiß, was sie alles einschleppen?" Wenn man allein nach der Anzahl der Impfnarben urteilt, könnte man glauben, dieses Ritual sei nicht allzu häufig geschehen. Aber die langen Schlangen von Kindern, die mit freier Schulter vor den alten britischen Kasernengebäuden mit den runden Blechdächern, die nun als Klassenzimmer dienten, warteten, um von der Schulkrankenschwester geimpft zu werden, ist ein Bild, das sich mir tief eingeprägt hat, so, als ob es ein wöchentliches Ritual gewesen ist.

Kleine, sehr glatte, weiße Hautflecken an meiner Kehle dokumentieren die Findigkeit eines Psychiaters, der als Reservearzt in einem Feldlazarett Dienst tat. Ich fiel mit gerissener Luftröhre auf dem Weg zur medizinischen Behandlung in einem Krankenhaus in seine Hände, verursacht durch die bereits erwähnte syrische Granate. Er behielt klaren Kopf und war umsichtig genug, mir einen alternativen Zugang zur Luftversorgung einzurichten. Innerhalb weniger Tage konnte ich wieder durch den Mund atmen, und die Notöffnung wurde entfernt, aber seine Spuren werden für immer meinen Halsansatz schmücken.

Ein rundes und ähnlich glattes Mal auf der Rückseite meiner rechten Hand bezeichnet einen Gruß, den mir ein ägyptischer Heckenschütze von der Westseite des Suezkanals am Ende der 1960er Jahre schickte - in jenen Tagen, als sich die beiden Armeen am Kanal gegenüberlagen und sich erfolglos darum bemühten, die Gegenseite zu erschöpfen. Glücklicherweise war die Kugel wohl erschöpfter als der Heckenschütze oder als ich, denn die Entfernung war zu groß, und so begnügte sie sich mit einem Kratzer auf meinem Handrücken.

Ein Finger meiner rechten Hand wurde durch einen Munitionsrest der israelischen Armee verkürzt. Ich wusste nicht, worum es sich dabei handelt, aber das Teil hatte eine hübsche Feder, die man leicht hineindrücken konnte und die ebenso leicht wieder heraustrat. Ich dachte mir, das könnte ein schönes Spielzeug sein, und wollte es meinem kleinen Cousin schenken. Gott sei Dank spielte ich weiter, und es gelang mir, fest genug zu drücken, um den Zünder zu betätigen.

Wer das Vergnügen hat, meinen Rücken zu betrachten, kann die lange rote Linie nicht verfehlen. Sie hat ein Ast eines Maulbeerbaumes hinterlassen, der meinen Sturz aus dem Baumwipfel aufhielt, als ich mich bemühte, süße, schwarze Maulbeeren zu pflücken und der dünne Zweig, auf dem ich stand, brach. Ich würde wohl heute noch auf diesem Zweig zwischen Himmel und Erde hängen, wenn sich unser Nachbar Hawaga Elias nicht beeilt hätte, eine Leiter zu holen, mich von dem Ast zu heben und meine zitternden Füße auf den Boden zu setzen. Ich schulde Hawaga Elias großen Dank, nicht nur, weil er mich wieder auf die Füße gestellt hat, sondern vielleicht noch mehr für die plötzliche Erkenntnis, dass ein Mensch gut sein kann, selbst wenn er Araber ist.

Jeder Metalldetektor auf allen Flughäfen dieser Welt schlägt Alarm, wenn ich ihn passiere. Denn metallene Souvenirs von fast allen Armeen des Nahen Ostens sind unter meine Haut gepflanzt. Das ist das gemeinsame Ergebnis aller Armeen, die Sprengstoff in Israel und den angrenzenden Gebieten benutzen.

Das wären die Besonderheiten meines Körpers. Ich erinnere mich an alle Ereignisse, die diese Male verursacht haben, aber die meisten würde ich viel lieber vergessen. Andere sehr dramatische Ereignisse, die ich nie vergessen werde, haben keine Zeichen auf meinem Körper hinterlassen, etwa die Friedensverträge mit Ägypten und Jordanien. Es scheint, als ob nur die hässliche Seite der Geschichte fähig ist, Male auf einem Körper zu hinterlassen.

Wie Sie sehen, hat keines dieser Zeichen den rassistischen Lastwagenfahrern dabei geholfen, mich zu identifizieren. Ich bin ein jüdischer Israeli, und wie ich es beschrieben habe, ist dieser Umstand eingebrannt in meinen Körper. Aber ich kann Ihnen noch immer nicht erklären, wie das andere Israelis so rasch, auf den ersten Blick, erkennen können.

Ich wurde fünf Jahre nach dem Ende Zweiten Weltkriegs geboren, und fast drei Jahre nach Gründung des Staates Israel. Meine Eltern nannten mich Avraham, nach meinem Großvater, Adolf. Als ich zwölf wurde, schnitt man mir das "h" aus dem Namen, als Zeichen der Abwendung von Gott, und ich wurde zu Avram. Das ist gut. Wer weiß, wie meine Reaktion auf die Frage des Iraners ausgefallen wäre, hätten meine Eltern mich Moshe genannt.

Übersetzung aus dem Englischen: Hans-Georg Golz, Bonn.

Geb. 1950; Verleger, Übersetzer und Autor; Hakibbutz Hameuchad, Sifriat Poalim Publishing Group, P.O. Box 1432, Bnei-Brak/Israel.