Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Deutschland und Frankreich | APuZ 6/1955 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 6/1955 Die Sonne und der Nordwind Deutschland und Frankreich Die Mitarbeit der Schule im Kampf gegen den Massengeist

Deutschland und Frankreich

Carlo Schmid

als Abschreckungsmittel zu betrachten, je schneller wir von dem Prinzip abgehen, daß es letztlich nur darauf ankomme, wer zuerst mit diesen Waffen zuschlägt, und je früher wir uns mit dem Gedanken vertraut machen, daß die militärische Sicherheit keineswegs davon abhängt, wieviel Menschen man mit dem Abwurf einer Bombe töten kann, desto schneller werden wir zu einer vernünftigen und angemessenen Einschätzung der allgemeinen Lage kommen.

Das Problem der Eindämmung

Damit will ich mich von den mit der „Befreiung“, dem Präventivkrieg und der Verwendung der Atombombe verbundenen Problemen abwenden und mich der vertrauten Aufgabe zuwenden, die in dem Begriff „Eindämmung“ zusammengefaßt ist. Besonders seit dem Korea-Krieg wird von verschiedenen Seiten die Ansicht vorgebracht, es gehe bei der „Eindämmung“ nur darum, die kommunistischen Armeen von einer Aggression abzuhalten. Mir scheint diese Ansicht wenig begründet zu sein. In Wirklichkeit ist es wohl unsere vordringlichste Aufgabe, zu verhindern, daß infolge einer verhängnisvollen Naivität in bestimmten Ländern politische Elemente an die Macht kommen, die unmittelbar von Moskau kontrolliert werden. Es geht in diesem Zusammenhang nicht so sehr um die sowjetische Politik, als um die Innenpolitik der betreffenden nichtkommunistischen Nationen.

Ich bin mir sehr wohl bewußt, daß ich damit tm Gegensatz zu der Ansicht stehe, daß Moskau auch juristisch für die kommunistische Aktivität überall in der Welt verantwortlich und für jeden Aufstand einer kommunistischen Minorität haftbar gemacht werden sollte. Hier liegen die Dinge doch wohl nicht so einfach. Ich habe schon weiter oben darauf aufmerksam zu machen gesucht, daß die kommunistische Durchdringung der nichtkommunistischen Welt nicht allein auf die sowjetische Initiative und Hilfe zurückzuführen ist, sondern sich weitgehend auch aus den Schwächen der betreffenden Gemeinschaften erklärt. Die Vertreter des sowjetischen Außenministeriums haben oft mit Recht darauf hingewiesen, daß sie noch nie in irgendeiner Form zu intervenieren versucht hätten, wenn man im Ausland mit radikalen Methoden gegen die kommunistischen Minderheiten vorgegangen sei. Die buchstäbliche Ausrottung der Kommunistischen Partei Deutschlands in den dreißiger Jahren wurde in Moskau keineswegs zum Anlaß eines diplomatischen Eingreifens genommen, sondern wurde ganz im Gegenteil von sowjetischen Versuchen begleitet, mit Hitler politisch ins Gespräch zu kommen — was schließlich zum Abschluß des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts führte. Man kann jedoch nicht von den sowjetischen Machthabern verlangen, daß sie propagandistisch nichts unternehmen, um ihre politischen Anschauungen anderen Völkern nahezubringen.

Andererseits soll keineswegs verkannt werden, daß jenseits des Eisernen Vorhangs tatsächlich Agentenschulen existieren und daß die kommunistische Verschwörung mehr als nur eine phantastische Erfindung ist. Voraussetzung jeder kommunistischen Betätigung ist jedoch allein die Schwäche und Verletzbarkeit gewisser Gebiete des nichtkommunistischen Teils der Welt.

Die Lösung des Problems der Eindämmung ist letztlich abhängig von den Reaktionen der Völker im freien Teil der Welt. Natürlich müssen wir jederzeit an die Bereitstellung der notwendigen Verteidigungsmittel denken, um Mißverständnissen vorzubeugen und um unsere schwachen und zaghafteren Verbündeten zu ermutigen. Haben wir jedoch in dieser Richtung einmal alles Notwendige unternommen, so bleibt uns in dem Bemühen, eine weitere Ausdehnung der Sowjetmacht zu unterbinden, nichts anderes übrig, als unsere Beziehungen zu den anderen Völkern der nichtkommunistischen Welt zu verbessern. Jeder Schritt, jede politische Maßnahme, die das Selbstvertrauen und den Mut der nichtkommunistischen Völker stärken, werden auch die Menschen unter dem sowjetischen Joch positiv beeinflussen und die sowjetischen Machthaber zu größerer Vorsicht und Kompromißbereitschaft veranlassen.

Die größte Gefahr des sowjetischen Verhaltens uns gegenüber ist immer noch der Versuch, sowohl unsere Bündnissysteme wie unsere eigenen Volkskörper in selbstmörderischer Spaltung auseinanderzutreiben. Ihr können wir aber sowohl durch eine hochstehende politische Führung wie durch das gesunde Klima unseres eigen-staatlichen Lebens entgegenwirken. Wenn diese beiden Faktoren so sind, wie sie sein sollten, werden sie über die ganze Welt hin ausstrahlen; und die Wärme dieser Ausstrahlung wäre nicht nur das beste Mittel, die Absicht jeder weiteren sowjetischen Expansion zu hintertreiben, sondern auch der beste Weg, den Völkern hinter dem Eisernen Vorhang bei der Wiedererlangung ihrer Freiheit zu helfen.

Man wird sich der Fabel des Äsop erinnern, worin die Sonne und der Nordwind miteinander streiten, wer von ihnen den Wanderer zuerst seines Mantels entledigt. Für den Wanderer steht hier das Phänomen der sowjetischen Macht, für seinen Mantel jene zusätzliche Einflußzone in Osteuropa und anderswo, mit der sie ihr Kerngebiet abzuschirmen versucht hat. Und bekanntlich war es nicht das Blasen des Nordwindes, sondern das sanfte Strahlen der Sonne, das den eigensinnigen Wanderer schließlich dazu zwang, seinen Rode auszuziehen.

Der folgende Artikel wurde mit Genehmigung der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart dem Buche „DEUTSCHLAND-FRANKREICH" (1954) entnommen.

Seit tausend Jahren bestimmt das Thema Deutschland — Frankreich das Schicksal Europas und hat es zumeist in einer höchst tragischen Weise bestimmt. Systola und Diastola seines Herzschlages regierten Anziehung und Abstoßung, Umarmung und Würgegriff dieser beiden Völker — die sich nie trennen können, die sich immer Aug in Aug gegenüberstehen, sowohl in dem großen Sinn des Sich-im-Blick-aneinander-Festsaugens, wie auch — in den schlimmen Zeiten — in dem bösen und dürftigen Sinne, der in der Parabel des Evangeliums vom Splitter und Balken im Auge des Bruders zum Ausdruck kommt. Das gilt im geistigen Bereich so gut wie im Bereich des Politischen. Wie wäre überhaupt bei Völkern, die so schicksalsbeschwert sind, eine Trennung zwischen dem Geistigen und dem Politischen zu machen? Ist denn das eine nicht das andere im jeweiligen Zustande seines „AndersSeins“? Seltsam: oft war das befruchtende geistige Überströmen dann am stärksten, wenn der eine dem anderen politisch als Widersacher schlechthin galt — und oft ist er es auch gewesen. Ich brauche nicht Namen wie Goethe, T a i n e und Renan zu nennen. Ich brauche hier nicht Friedrich und Voltaire zu zitieren und nicht von Rousseau und der deutschen Romantik zu sprechen. Es ist so, als ob in solchen Zeiten die eine Schale der Waage jeweils mit der anderen Schale in der Verbindung kommunizierender Gefäße gestanden hätte, um ein Gleichgewicht zu erhalten, das die Bewegung der Zeit zu bedrohen schien. Dieses sich gegenseitige Erfassen, dieses Gegenseitig-voneinander-Besessensein geht oft bis in das Elementare des Bewußtseins von der Landschaft „drüben“ und von den Lebensströmen, die sie ausatmet und ausstrahlt.

Warum leben diese Völker wohl so lange schon in diesem wirklich heillosen Verstrickt-sein? Alle Völker betrachten sich im Spiegel des Vorurteils, eines Vorurteils, das nicht immer ein Vorurteil der Vernunft ist — le coeur a des raisons que la raison ne connait pas... — Aber niemals verhüllten Völker sich die Wirklichkeit des „anderen“ so hartnäckig mit dem Rand-schleier des Vorurteils als dort, wo es sich um uns Deutsche und Franzosen handelt. Es ist, als ob diese beiden Völker sich davor fürchteten, daß ein Blick in die wahre Wirklichkeit des anderen ihnen den Krampf lösen könnte, aus dem sie glaubten beziehen zu müssen, was man die „nationalen Energien“ nennt. Ich erinnere an das Frankreichbild der deutschen Nationalbewegung, das mit Kleists „Hermannsschlacht“ anhebt und über die Lyrik der Befreiungskriege zur populären Vorstellung von der „welschen Tücke“ geführt hat. lind ich erinnere mich auf der anderen Seite einer Notiz in den Tagebuch-blättern von Maurice B a r r e s : er stand mit seinem kleinen Sohn an der Grenze. „Dort wohnen die Deutschen“, sagte er. „Haben die auch eine Seele?“ fragte der Kleine zurück. „Nein“, antwortete der Vater und notiert dazu in seinem Tagebuch: „Ich wußte wohl, daß es eine Idiotie war, aber solche Idiotien erzeugen Energien ..."

Und oft ist dieses Vorurteil nichts anderes als ein Tabu, das den Völkern das Vorbeigehen am anderen „im Gewissen“ erlaubt — indem es sie „kanonisch“ dazu verpflichtet und damit die Rektifikation des Maßstabes verbietet, an dem man sich selber messen muß. Denn unsere beiden Völker haben sich immer aneinander gemessen. In jenem großen Sinne sowohl, daß sie sich steigerten, um vor dem anderen, groß geschauten bestehen zu können, als auch in dem kleinen Sinne, daß sie — in ihren Stunden der Schwäche und des Kleinmuts — den anderen verkleinerten, um sich die Illusion eigener Größe zu schaffen. Jedes hat immer seine Bestätigung im Blicke des anderen gesehen. Und was es dem anderen nachsagte, war oft nichts anderes als der Bodensatz, den es auf dem Grunde seiner eigenen Seele fand. Und was es dem anderen nachrühmte, war oft nichts anderes als der lichte Schaum der Träume, von denen aus der eine nach seinem Kythere segelte, das er für das zugeborene Land des anderen hielt — und der andere nach seinen Märchenwäldern, Wunderbergen und Nibelungenschauern (und seinem Sparta ...) aufbrach, von denen er nicht wußte, wie sehr sie sein waren, und die er für das erworbene Erbe des anderen hielt.

Mut zur Hoffnungslosigkeit

Darum ist in den Bereichen des Geistes und des Seelischen dem Problem des deutsch-französischen Verhältnisses nicht so beizukommen, wie man dem Verhältnis zu anderen Völkern bei-kommen kann, denn es geht um viel mehr als um den Streit eifersüchtiger Nachbarn, um mehr als um Bereinigung von Mißverständnissen — es geht darum, daß diese Völker so lange miteinander ringen werden, als sie nicht ineinander aufgegangen sind, in etwas, das sie beide faßt wie der Ring das Juwel, oder daß sie untergegangen sind. Ich denke manchmal, wenn ich an uns Deutsche und Franzosen denke, an die letzte Strophe des Gedichts von Baudelaire „L’Homme et la Mer“:

Et cependant voilä des siecles innombrables Que vous vous combattez sans pitie ni remords — Tellement vous aimez le carnage et la mort, O lutteurs ternels, ö freres implacables!

Vor diesem Hintergrund ist das Politische zu sehen. Dieses Politische lebte ja noch weniger als der Mensch vom Brot allein. Wegen dieses Hintergrundes ist alles wechselbezogene Deutsche und Französische im Bereich des Politischen immer so ungleich anders und immer so ungleich mehr, als wenn es sich um andere Völker handelt.

Man könnte fragen; Warum muß das alles bei zwei Völkern so sein, die sich geistig, und auch was die Güter dieser Welt anbetrifft, in so wunderbarer Weise ergänzen; man könnte fragen: Warum muß das alles so sein, wo doch gerade hier im Grunde alles auf das vortrefflichste korrespondiert?

Nun, um es klar zu sagen: All das ist so, wie es ist, weil, politisch betrachtet, das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich seit Generationen heillos verdorben ist. Es ist eine schlimme Sache, daß alles, was im Bereich des Geistigen befruchtende Spannung sein kann und dort, wo es Auseinandersetzung ist, wie die Katharsis der Tragödie neues Leben zur Entfaltung zu bringen vermag, im Bereich des Politischen allzu leicht lähmendes Gift und verwüstende Katastrophe wird, die nichts reinigt, sondern nur mit Trümmern verschüttet, was sich an Leben hätte regen können.

Man muß das klar erkennen und einsehen, warum das alles so heillos ist. Man darf nicht nach Mittelchen suchen und glauben, mit diesen Mitteln könne man heilen; nein, man muß die ganze Schwere der Krankheit und die ganze Hoffnungslosigkeit der bisherigen Therapie erkennen, wenn wirklich geholfen werden soll. Dazu ist nichts mehr vonnöten als die klarste Erkenntnis des Tatbestandes, in den unsere Wirklichkeit einbegriffen ist. Die Erkenntnis dieses Tatbestandes ist genau so wichtig wie die Erforschung der Ursachen, „warum es so gekommen ist“. Vielleicht haben wir Deutschen und Franzosen uns immer ein wenig zu sehr darum bemüht, nach Ursachen von irgend etwas, das unser Wunschbild trübte, zu suchen, und haben darüber vergessen, die jeweilige Gegenwartswirklichkeit zu erfassen und anzufassen. Vielleicht wird uns erst der Schauer von der Schwärze der Wand, vor der wir stehen, den Mut geben, sie zu überspringen. Wir kommen aus dem bösen Zauberkreis der Ursachenreihen nicht heraus, wenn wir in den alten Bahnen verbleiben. Wir müssen eine neue Ursachenreihe anlegen, und vielleicht gibt uns der Mut zur Hoffnungslosigkeit die Kraft, das Verhängnis der Kausalitäten zu brechen.

Wir werden unter seinem Antrieb zu neuen Ufern aufbrechen müssen — vielleicht gemäß dem Worte Cromwells, daß niemand so weit gelangt, als wer nicht weiß, wohin er geht; vielleicht nach cartesianischer Weise aus der Analyse unserer Erfahrungswelt im Lichte des lumen naturale das Ziel entwerfend, zu dem uns der neue Weg führen soll.

Der Mythos der Schuld

Mancher wird sagen: Es könnte doch ganz einfach gehen, wenn die Völker vergäßen, was war; dann würde es möglich sein, neu zu beginnen. Aber — und hier spreche ich zu uns Deutschen — die Franzosen werden erst dann vergessen können, wenn sie genau wissen, daß wir Deutschen nicht vergessen, warum es so kommen konnte! Wie es aber mit dem Nicht-vergessen der Völker bestellt ist, dafür haben wir viele betrübliche Zeugnisse.

Warum ist, wenn wir auf der gegenwärtigen Ebene verbleiben, alles so aussichtslos? Weil auf beiden Seiten ein Mythos der Schuld besteht, der jeweils nicht das eigene Opfer, sondern das des anderen fordert! Für die Deutschen stellt sich dieser Mythos so dar: Frankreich ist ein Volk, das ihnen, den Deutschen, das Heilige Reich zerstört hat und das später uns das weltliche Reich neidete und sich immer quer auf unserem Wege befand, wenn wir zu uns selbst suchten. Für Frankreich blieben die Deutschen die Eindringlinge, jene, die immer „vor den Toren“ stehen, die Limes-Sprenger; jene, deren ewiges Werden das ruhige Sein im Glücke Hesperiens in Frage stellt — kurzum jene, die immer wieder zertrümmern, was sich anschickte Dauer zu sein. Dieser Mythos wirkt sich politisch-geschichtlich wie ein ungeheures Hauptbuch aus, das beide Völker führen, mit Blättern für Soll und Haben, und es ist schrecklich, daß beide Völker die Seiten des Hauptbuches immer wieder vertauschen möchten und darüber hinaus in den Spalten, die „der andere“ geführt hat, die Posten bestreiten. Spricht man über diese Dinge, so hebt ein Streiten an, und der eine rechnet dem anderen vor, was er verschuldet habe und nach welchen Maßen man zu messen habe. Immer aber wird der Saldo dem anderen zur Last geschrieben und in den Bereich des Moralischen gehoben und damit auf beiden Seiten zu einer Sache des Affekts gemacht. Und das ist es, was die ganze Situation so heillos macht: trotz viel Vernunft auf beiden Seiten und trotz viel guten Willens zwischen beiden Völkern — immer der Affekt. Affekte aber haben die schreckliche Eigenschaft, daß sie nicht durch Gründe ausgeräumt werden können, sondern sich nur durch andere Affekte vertreiben oder überlagern lassen.

Nehmen wir ein Beispiel aus unseren Tagen: Die Deutschen haben das Gefühl, als ob die Franzosen alles tun, um den Weg der Deutschen zu einer Neuformung ihrer nationalen Existenz zu verbauen. Daraus resultiert bei uns viel Empörung und Bitterkeit; wenn wir sie äußern, dann gibt man uns zur Antwort, daß die Franzosen so handelten, nicht weil sie uns übel wollten, sondern weil es nötig sei um ihrer Sicherheit willen. -Wer könnte den Franzosen bestreiten, daß sie gute Gründe haben, um ihre Sicherheit besorgt zu sein? — Die Geschichte lehre sie, so sagen sie uns, daß Deutschland als einheitlich geführter Staat ein gefährlicher Nachbar sei, dem sie mehrmals schon fast erlegen wären. Darauf antworten wir Deutschen: Ihr Franzosen habt zu der Zeit, als sich die europäischen Völker zu Nationalstaaten bildeten, alles getan, um uns mit List und Gewalt daran zu hindern, ein Nationalstaat zu werden. Darum mußte alles so kommen, wie es gekommen ist. Darauf folgen dann wieder Einwendungen der Franzosen, und so geht dieses böse Spiel unendlich weiter.

So geht es nicht. Keiner will hören und keiner will verstehen, jeder erwartet das Schuld-bekenntnis des anderen. Bestenfalls noch, daß man zugibt, daß es auch „das andere Deutschland“ oder „das andere Frankreich" gäbe. Doch alsbald kommt man aus irgendeinem Hintergrund mit dem Hinweis, daß in Zeiten der Krise das „ewige Deutschland“ und das „ewige Frankreich“ immer wieder hervorbrächen und das „andere Deutschland“, das „andere Frankreich“ aus dem Felde schlügen.

Versuche zur Überbrückung der Gegensätze

Wie soll man sich angesichts dieser Dinge verhalten? Seit alters hat man Versuche gemacht, „durch Überbrückung der Gegensätze“ Abhilfe zu schaffen. Diese Versuche haben gelegentlich ein wenig geholfen, aber an den Grundtatsachen haben sie nichts geändert.

Es gibt Menschen, die glauben, es könne wirksam geholfen werden, wenn die kulturellen Beziehungen zwischen beiden Völkern aktiviert würden. Solche Aktivierung ist wunderschön; aber leider hat die Geschichte gezeigt, daß in den Dingen, um die es hier geht, auch die intensivste kulturelle Berührung nichts Entscheidendes auszurichten vermag. Wie eng war diese Berührung vor 1914 und vor 193 3 — und wie dumm haben sich dann in der Krise hüben und drüben Menschen aufgeführt, die sehr tief in diesen kulturellen Beziehungen gestanden haben! Und: kulturelle Beziehungen müssen, wenn sie wirklich kulturelle Beziehungen sein sollen, zweck-frei sein, also ohne politische Absicht geführt werden. In dem Augenblick, in dem eine politische Absicht einströmt, werden sie zu Veranstaltungen der Propaganda, und was diese, im Sinne der Tiefenwirkung, taugt und was sie nicht taugt, das haben wir erleben können . . . Man soll die kulturellen Beziehungen um der Formung des Menschen und um der Steigerung des Reichtums des Lebens willen fördern und immer wieder fördern — aber man erwarte davon keine unmittelbare und in die tieferen Schichten der Völkerseele und der Völkerschicksale dringende Wirkung. Manche meinen, in ferner Zukunft werde es sich schon auswirken. Gewiß — aber wir haben nicht mehr sehr viel Zeit! Wir können nicht warten, bis die übernächste Generation endlich so weit ist! Wenn wir das Verhängnis nicht in den Jahren, die uns noch gegeben sind, ausräumen — dann wird es in Europa bald nichts mehr in Ordnung zu bringen geben!

Wenngleich der Versuch, das Fremde in seiner Wesenhaftigkeit durch den Umgang mit den Werken seines Geistes zu suchen und zu finden — sich darin zu finden —, ein großes Abenteuer ist, zu dem immer nur der einzelne aufbricht — oft ohne zu wissen, wohin er geht -, so möchte ich doch den Wert von Einrichtungen, die sich um die Steigerung der kulturellen Beziehungen unserer Völker bemühen, besonders betonen. Ich möchte aber davor warnen, zu glauben, mit dem Wirken im Bereiche seines Aufgabenkreises seien wir der Verpflichtung enthoben, uns um die konkreten politischen Aufgaben zu bemühen, die uns die Zeit je und je stellt!

Andere glauben wiederum, alles könne zum Guten geändert werden, wenn über die Grenzen hinweg die persönlichen Beziehungen vertieft werden. Doch wie dicht sind diese persönlichen Beziehungen schon gewesen und wie wenig haben sie eingebracht! Jedesmal, wenn durch die Zeitläufte die Gruppenaffekte hochgeschwemmt wurden, schwand immer wieder alles dahin — vielleicht mit der einen Ausnahme, daß jeder jeweils seinen Franzosen oder seinen Deutschen vom Gesamturteil ausgenommen hat. . .

Immerhin: Die Pflege und Vertiefung persönlicher Beziehungen ist eine gute Sache — es ist ja schon etwas, wenn ein Volk nicht mehr von dem anderen glaubt, daß dort alle rothaarig seien ...

Viele glauben, man könne durch geschickte politische Abmachungen etwa im Sinne des Locarno-Vertrages Wesentliches ändern. Nun, man hat gesehen, was der Locarno-Vertrag wert gewesen ist. Keiner soll zweifeln, daß er ehrlich gemeint war und daß man berechtigt war, Hoffnungen darauf zu setzen. Aber es zeigte sich, daß vor dem Elementaren in der Tragik des deutsch-französischen Verhältnisses auch die geschicktesten Konstruktionen nicht halfen. Lind wer möchte ihnen nach dem Geschehen der letzten zwanzig Jahre heute noch Kredit geben?

Andere wieder glauben, man könne diese Dinge durch eine Verdichtung der wirtschaftlichen Beziehungen gefahrlos stellen. Gewiß, wirtschaftliche Abmachungen können über vieles hinweghelfen — aber hatten wir solche wirtschaftlichen Verflechtungen nicht schon längst? Waren die Abkommen der Schwerindustrie — Stahl-und Kohlenabkommen — nicht so eng, wie sie in unserem Wirtschaftssystem nur sein können? Doch welchen Nutzen brachten sie letzten Endes unseren politischen Verhältnissen? Sie konnten weder 1933 noch 1939 verhindern. Trotzdem auch diese Dinge sind gut, und man muß sie fördern. Aber man darf bei aller Wahrnehmung ihres Nutzens nicht glauben, es sei damit allein Entscheidendes und Grundstürzendes geschehen. Vor den echten, aus dem Grunde kommenden Krisen in den Beziehungen der Völker haben darartige Dinge keinen Bestand.

Auf dem Floß der Meduse

Aber was soll man dann nur tun? Soll man müde die Waffen strecken und sich in die Abseitigkeit zurückziehen, in den Garten Epikurs oder in den Zynismus, jene Fluchtbewegungen derer, die sich vor der Zeit fürchten? Nein, man sollte das nicht tun. Man sollte an die Dinge herangehen in Nüchternheit und mit der klaren Erkenntnis all dessen, was unserem guten Willen entgegensteht. Dann wird man erkennen, daß wir den Affekt, der zwischen uns steht, überwinden können, wenn wir uns an eine gemeinsame Aufgabe machen und dabei im Geiste Walt Whitmans zu einer „quipe" oder — wie die Angelsachsen sagen — zu einem team werden, zu einer Gemeinschaft von Menschen also, die diese Gemeinschaft nicht aus der Gefühlhaftigkeit suchten, sondern zu einem Gespann werden mußten, weil der Karren, auf dem ihr Schicksal fährt, nur gemeinsam aus dem Schlamm gezogen werden kann. Wie viele Affekte haben sich nicht schon durch den Zusammenschluß einzelner zu einer quipe lösen lassen! Wirklichkeit und Geist der quipe würden auch bei unseren Völkern die Affekte überwinden, und sollte es so schwer sein, sich zusammenzuspannen, wo doch jeder einzelne spürt, daß wir alle miteinander nur Schiffbrüchige auf dem Floß der Meduse sind? Wenn wir bisher im Dschungel und daher nach dem Gesetz des Dschungels lebten, warum machen wir uns dann nicht daran, diesen Dschungel gemeinsam zu lichten und an Stelle des Dschungelgesetzes das Gesetz des Menschen zu stellen? Dazu wird es einer Reihe politischer Verträge bedürfen, und man sollte mit allen Kräften und mit allem guten Willen darangehen, solche Verträge auszuhandeln. Je nüchterner man dabei verfahren wird, .desto besser wird es sein, denn nichts trägt mehr dazu bei, die Atmosphäre zwischen Völkern zu vergiften, als enttäuschte Hoffnungen und im Feuer der Realitäten verdampfte Illusionen.

Fussnoten

Weitere Inhalte