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Die Mitarbeit der Schule im Kampf gegen den Massengeist | APuZ 6/1955 | bpb.de

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APuZ 6/1955 Die Sonne und der Nordwind Deutschland und Frankreich Die Mitarbeit der Schule im Kampf gegen den Massengeist

Die Mitarbeit der Schule im Kampf gegen den Massengeist

Walter Ehrenstein

„Freie Seelen, starke Charaktere — das tut heute der Welt ant meisten not! Auf den verschiedensten Wegen kehren wir zur Form des Herdenlebens zurück. Nun scheint es, als ob seine (des abendländisdten Menschen) tausendjährige Anstrengung erschöpft sei, und er läßt sich wieder in das Weiche zurücksinken. Die Massenseele schluckt ihn auf, der entnervende Atem der Tiefe reißt ihn mit sich .... Jeder Mensch muß, so er ein wahrer Mensch ist, lernen, allein innerhalb aller zu stehen, allein für alle zu denken — wenn es nottut, sogar audt gegen alle!“ Romain Rolland in „Clerambault“.

Der Kampf gegen den Massengeist — ein elementares Anliegen der Gegenwart Es gibt kaum eine andere Forderung unserer Zeit, in bezug auf die unter politischen und weltanschaulichen Parteien — mit Ausnahme der Kommunisten — solche Einmütigkeit herrscht wie der von allen Seiten und aus allen Lagern als notwendig proklamierte Kampf gegen den Massengeist. Die Kirchen beider Konfessionen haben die absolute Vordringlichkeit dieses Problems Nr. 1 wiederholt verkündet. Aber auch alle politischen Parteien, von der DP bis hin zur SPD, wetteifern — wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten — in dem Bestreben, den Menschen unserer Zeit vor den Gefahren der Vermassung zu retten. Auch hört man von dem Problem nicht erst seit heute und gestern; schon seit der Katastrophe von 1945, die mit eine Folge des im deutschen Volke herrschenden Massenwahns war, hat es nicht mehr aufgehört, die Gedanken aller Verantwortlichen zu beschäftigen und Thema öffentlicher Diskussionen zu sein. Es ist wie eine noch zu bannende, noch nicht überwundene Gefahr seither immer Gegenstand eines besorgten Interesses geblieben. In der Tat handelt es sich bei diesem Problem um ein Grundproblem des modernen Daseins überhaupt. Es handelt sich bestimmt nicht um eine bloße theoretische Spekulation, wie es z. B. die „Untergang des Abendlandes“ -Problematik war, die nach dem 1. Weltkrieg die Gemüter erregte, es handelt sich auch nicht um eine von vielen vorübergehenden philosophischen Moden, sondern um ein elementares Anliegen, bei dem jeder das Gefühl haben muß: „Tua res agitur!". Das Bewußtsein, daß Aufklärung über die vom Massengeist her drohenden Gefahren notwendig ist, daß die LImnebelung, Berauschung und Betäubung, die in nicht zu lange zurückliegender Zeit uns zum Verhängnis wurden, sich nicht noch einmal wiederholen sollen, daß unser Volk auf die von hier drohenden Gefahren, wenn sie wiederkehren sollten, besser vorbereitet sein muß, wird in weitesten Kreisen deutlicher oder undeutlicher gefühlt und eine entsprechende Abwehr gefordert.

Die Aufgabe der Schule in diesem Kampf Bei dieser Sachlage kann die Schule das Problem nicht ignorieren, und sie kann im Kampf gegen den Massengeist nicht abseits stehen wollen. Liber die ihr zufallende Aufgabe und über Möglichkeiten, sie zu lösen, wollen wir uns im folgenden Klarheit zu verschaffen suchen.

Der Weg zur Bekämpfung des Massengeistes wird von der Psychologie gewiesen. Gemäß den von der modernen Massenpsychologie gewonnenen Einsichten gilt es vor allem, die massenpsychologischen Vorgänge aus dem Dunkel des Halb-und Unterbewußten auf eine Stufe klarer Bewußtheit zu erheben. Denn im hellen Licht klarer Bewußtheit gedeiht der Massenwahn nicht. Er braucht dafür notwendig das Halbdunkel des Unterbewußten. Das helle Licht wissenschaftlicher Beobachtung zerstreut ihn wie die Sonne den Nebel, und dadurch, daß wir auf ihn vorbereitet sind und mit seinem Auftreten rechnen, wird bereits eine Art Immunisierung geschaffen, die es für ihn wesentlich schwerer macht, überhaupt erst Wurzel zu schlagen.

Die Schule hat immer die Erziehung des einzelnen zu intellektueller und sittlicher Selbständigkeit als ihre Hauptaufgabe betrachtet. Das macht eine gute Schulbildung als solche bereits zu einem Gegengewicht gegen die Gefahren des Massengeistes. Je größer die Zahl der intellektuell selbständigen Menschen ist, die ein Volk besitzt, desto stärkerer Widerstand wird in Zeiten der Gefahr den im Volke Platz greifenden pandemischen Massensuggestionen entgegengesetzt. Aber diese zum Massen-geist antagonistischen Auswirkungen der Schulerziehung sind, wenn auch keine zufälligen, so doch mehr oder weniger nur deren Nebenprodukt. Eine direkt auf das Studium massenpsychologischer Vorgänge abzielende Themenstellung wie z. B. die Frage: „Welche Handlungen bzw. Ereignisse sind massenpsychologisch zu erklären?“ dürfte in der Schule bisher nur ausnahmsweise vorgekommen sein. Es ist daher ein pädagogisches Gebot der Stunde, die Möglichkeiten einer direkten Auseinandersetzung mit dem Geist der Masse im Schulunterricht zu prüfen sowie Beispiele von Unterrichtsstoffen aufzuzeigen, die für diesen Zweck geeignet scheinen.

Daß für die Erörterung massenpsychologischer Probleme in erster Linie die Geisteswissenschaften und unter diesen wiederum vorzugsweise die Geschichte in Betracht kommen, ergibt sich aus der psychischen Natur der hier in Frage stehenden Prozesse. Von besonderer Bedeutung ist die Massenpsychologie für die Staatsbürgerkunde, die Gelegenheit bietet, die gewonnenen Einsichten praktisch anzuwenden. Auch im Religionsunterricht spielen massenpsychologische Fragen eine hervorragende Rolle. Im Sprachunterricht ergibt sich in vielen Fällen im Anschluß an die Lektüre Gelegenheit, auf massenpsychologische Fragen einzugehen. Von den Naturwissenschaften hat die Biologie und innerhalb ihrer die Tiersoziologie die meisten Berührungspunkte mit dem massenpsychologischen Problemkreis. Beispiele aus dem Geschichtsunterricht Die Reihe der Beispiele, an denen das Vorstehende nunmehr genauer aufgezeigt werden soll, eröffnen wir mit solchen aus dem Geschichtsunterricht. Nach Karl Lamprecht ist die Geschichte „nur insoweit Wissenschaft, als sie angewandte Psychologie ist“. Ganz abgesehen davon, ob und in welchem LImfang man diesen Satz anerkennen will, steht fest, daß die Geschichte ein wichtiges Beobachtungsfeld der Psychologie und vor allem der Massenpsychologie ist. „Was der Mensch ist, erfährt man aus der Geschichte“ war der Standpunkt Wilhelm Diltheys. Man erfährt es jedenfalls auch aus der Geschichte, soviel kann als allgemein zugestanden gelten. Es gilt nur, Ernst zu machen mit der Ableitung von Erkenntnissen über das Wesen des Menschen aus der Geschichte. Mehr und mehr müssen psychologische Fragestellungen berücksichtigt werden, zu ihrer Beantwortung müssen Querschnittsbetrachtungen, bei denen Beispiele aus verschiedenen Perioden herangezogen werden können, durchgeführt werden.

So kann etwa die Frage gestellt werden: „Wie entscheiden sich die Massen, wenn sie vor die Wahl gestellt werden zwischen Freiheit und Unsicherheit der Existenz einerseits und politischer Knechtschaft verbunden mit wirtschaftlicher Sicherheit andererseits? Zur Beantwortung können Beispiele aus der alten Geschichte so gut herangezogen werden wie solche aus der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart.

Die erste große Krise in der Geschichte Athens Beispiel: Es war diese Alternative, die die erste große Krise in der Geschichte Athens herbeiführte und die frühesten Beobachtungen zur Massenpsychologie veranlaßte, die von Solon stammen. Er mußte erleben, wie die Massen die von ihm eingeführte gemäßigt demokratische Verfassung leichtfertig preisgaben und ihr die Tyrannis vorzogen. Seine kritischen Beobachtungen des Massenverhaltens faßte Solon zusammen in den Versen:

„Jeder von Eudt handelt einzeln mit aller Schläue des Fudtses. In Eurer Gesamtheit (als Masse) zeigt Ihr nur wenig Verstand“ 1). sowie:

„Nur die Zunge findet Beachtung, die gleißende Rede, das Werk und die Leistung dagegen, keiner von Euch, der sie prüft!“ 1).

In diesen Versen sind von ihm zwei in der Folgezeit von vielen Beobachtern immer wieder bestätigte Tatsachen festgeh'alten worden, nämlich die Nivellierung des Intellektes auf das Mittelmaß und die große Macht der Phrase bzw.der Verbalsuggestionen im Leben der Massen.

Er erkannte ferner richtig:

„Religion und gute Gesetze sind machtlos, wenn sie nicht unterstützt werden durch führende Männer, weld'ie sich auf die Kunst der Massenbeeinflussung verstehen“

Solons Beobachtungen beweisen die Invarianz der massenpsychologisehen Erscheinungen durch die Jahrtausende hindurch und bestätigen ihren Charakter als echter Naturtatsachen des Seelenlebens, die unterschieden werden müssen von zeitbedingten Einflüssen. Solons Reform scheiterte an der Unzufriedenheit der ärmeren Bevölkerungsschichten, der Hirten, Kohlenbrenner und Winzer und des Tagelöhnerproletariats in der Stadt, die ihre Erwartungen weniger auf politische Freiheit als auf reale Vorteile, auf Güterverteilung und Ausgleichung des Grundbesitzes gerichtet hatten. Wie wiederholt in der späteren Geschichte, zeigt sich bei diesem frühesten Präzedenzfall, daß die Massen, wenn sie die Wahl haben zwischen — wirklichen oder imaginären — ökonomischen Vorteilen auf der einen Seite und politischer Freiheit auf der anderen, unbedenklich den ersteren den Vorzug geben. Wir lesen bei Herodot, daß das „Volk in den Vorstädten lieber einen Herrn haben wollte als die Freiheit“. Wer fragte in der Hitlerzeit viel nach der verlorenen Freiheit, als es gelungen war, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen und die wirtschaftliche Krise zu beenden? Das Freiheitsbedürfnis der Massen hat als geschichtsbildender Faktor von jeher nur geringe Bedeutung gehabt, das Bedürfnis nach Befreiung von wirtschaftlichem Druck oder von dem Stachel des Neides, den das Gedeihen der Nebenmenschen angesichts des eigenen sozialen Scheiterns wachruft, um so größere. „Knechtschaft und Freiheit sind in gleichem Maße bedeutungslos für das Maß der Lust“, so lehrten die alten Hedonisten So denken auch die in den westlichen Demokratien lebenden Kommunisten unserer Tage. Obwohl sie die allgemeine Knechtschaft in der kommunistischen Welt vor Augen haben, streben sie dennoch nach der Herstellung ähnlicher Zustände auch in der westlichen Welt, weil sie sich davon eine Verbesserung ihrer Lage oder wenigstens eine den Neid beschwichtigende allgemeine Nivellierung der Besitz-verhältnisse versprechen.

Das Zeitalter der Aufklärung 2. Beispiel: Keine andere Geschichtsperiode hat so enge Beziehungen zu dem Problem, das uns hier beschäftigt, als das Zeitalter der Aufklärung. Sein Wahlspruch: „Sapere aude!“ bezeichnet eine Forderung, die keineswegs mit dem Ablauf des 18. Jahrhunderts gegenstandslos geworden ist. Denn geistige Unselbständigkeit und Verantwortungsscheu gibt es in allen Schichten der Bevölkerung heute so gut wie zu Lebzeiten Rousseaus, Lessings und Kants. -Bei der Behandlung des Zeitalters der Aufklärung im Geschichtsunterricht muß unterschieden werden zwischen 1.der Aufklärung als Bezeichnung für jene im einzelnen sehr vielgestaltigen historischen Bestrebungen, die im 18. Jahrhundert die bis dahin in geistiger und politischer Beziehung herrschende dumpfe Unfreiheit des Menschen ablösen wollten durch eine größere Selbständigkeit im Denken und Wollen; Bestrebungen, für die gleichzeitig charakteristisch ist, daß sie getragen waren von einem großen Vertrauen in die Vernunft als einer zuverlässigen Führerin im Leben — von einem größeren noch als wir heute darein setzen würden. 2. Aufklärung im Sinne einer zeitlosen Forderung, die zwar mit Beginn des Aufklärungszeitalters zum ersten Male Einfluß gewann, aber heute und in Zukunft so gut wie damals ihr Recht und ihre Bedeutung behalten hat und behalten wird.

Viele Illusionen der Aufklärer, z. B. die auf eine rational zu konstruierende Vernunftreligion gerichteten oder die alles von der ästhetischen Erziehung abhängig machenden (Shaftesbury) sind durch die historische Entwicklung selbst bereits als ein nicht tragfähiges Fundament des Lebens und der Kultur erwiesen worden. Sie entsprechen nicht den ursprünglichen Gegebenheiten der Menschennatur. Die Forderung des „Sapere aude!“ gehört jedoch nicht zu diesen Illusionen. Sie ist auch nicht zeitgebunden, sondern sie gilt solange als es Menschen gibt, die es vorziehen, sich vom Massengeist treiben zu lassen, anstatt ihre eigenen geistigen Kräfte einzusetzen. „Der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, um mit Kant zu reden, ist noch lange nicht erfolgt, hinter den Hindernissen, die diesen Ausgang zu Kants Zeiten versperrten, war der politische Despotismus gewiß eins der größten. Es waren aber die politischen Verhältnisse nicht das einzige Hindernis, es waren vielmehr Eigenschaften, die in der Natur des Menschen selbst lagen, die das „Sapere aude!“ erschwerten; das war ebenfalls schon von Kant klar gesehen und ausgesprochen worden: „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen, dennoch gern zeitlebens unmündig bleiben und warum es andern so leicht fällt, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein, ich habe nicht nötig zu denken . . . andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen“.

Mit diesen Einsichten in die in der Natur des Menschen selbst liegenden Widerstände gegen sein Mündigwerden beweist Kant einen weit größeren Realismus in der Beurteilung der Natur des Menschen als ihm andere Aufklärer oder „Zurück zur Natur.'“ -Apostel der damaligen Zeit besaßen. Aus Kants Einsicht ergab sich die Forderung: Es genügt nicht die äußeren Verhältnisse zu ändern, sondern an der inneren Befreiung des Menschen muß gearbeitet werden, „Die Knechtschaft ist in ihnen selbst“, urteilte auch Heinrich Heine von den Deutschen seiner Zeit. Auch er forderte: „Man muß die Deutschen von innen befreien, von außen hilft nichts.“ ,

An Hand der Erkenntnisse, welche die Massenpsychologie uns inzwischen zur Verfügung gestellt hat, sind wir in der Lage, die in der Menschennatur liegenden Widerstände gegen die Verwirklichung des Sapere aude! etwas genauer zu bezeichnen als mit „Faulheit“ und „Feigheit“, wie wir bei Kant lesen. Da ist z. B. die Tatsache des Infantilismus zu nennen, den wir bei der überwiegenden Mehrzahl aller Menschen antreffen, die, wenn sie physisch erwachsen sind, deshalb noch nicht charakterlich und intellektuell selbständige Persönlichkeiten geworden sind. Die Massen sind auch im 20. Jahrhundert in ihrem Seelenleben infantil geblieben und werden in ihrer Haltung gegenüber ihren Beherr-schern geleitef von einem starken kindlichen Instinkt, der Vertrauen und Gehorsam darbringt und Autorität, Führung und Fürsorge sucht. Demgemäß gibt es viele Parallelen zwischen der Psychologie der Massen auf der einen Seite und der Psychologie des Kindes auf der anderen Seite. Dies im einrelnen auszuführen ist an dieser Stelle nicht möglich. Ein elementares Streben nach Freiheit und Selbstbestimmung bei den breiten Massen vorauszusetzen, findet in den Feststellungen der Massenpsychologie keine Ermutigung. Es läßt sich im Gegenteil fast immer zeigen, daß das Freiheitsstreben, wo es geschichtsbildende Kraft erlangte, von einer dünnen Oberschicht ausgeht. Diese Oberschicht wird gebildet von den mit Selbständigkeit des Denkens und Wollens begabten Individuen, die dadurch berufen sind, die Rolle der politischen Elite zu übernehmen. Je zahlreicher die Eliten sind, desto besser steht es um die Sicherung der Freiheit, je dünner sie sind, desto mehr ist diese in Zeiten der Krise in Gefahr. Wer daher die Freiheit gegen ihre Feinde für die Zukunft sichern will, muß dafür eintreten, daß möglichst viele Bürger zur Selbständigkeit im politischen Denken und Wollen erzogen werden.

Für den Zustand, den Kant mit „Faulheit“ bezeichnet, ist weiterhin charakteristisch und massenpsychologisch von größter Bedeutung die bequeme Übernahme von Überzeugungen auf Grund von Verbalsuggestionen, d. h.der unmittelbaren Suggestivkraft der Worte und nicht auf Grund von eigenen Beobachtungen oder anderweitigen zuverlässigen Urteilsgrundlagen. „Man könnte allein aus den Knochen der Menschen, die der Macht der Worte (den Verbalsuggestionen) zum Opfer gefallen sind, eine Pyramide, höher als diejenige des Cheops errichten“ — so schildert auf drastische Weise Le Bon den Einfluß dieses Faktors in der Geschichte der Menschheit. Die Bekämpfung der bequemen Ülberzeugungsbildung durch Verbalsuggestionen gehört zu den Aufgaben der Schule.

Noch in einer anderen Hinsicht läßt sich der Zustand der „Faulheit“, den Kant im Auge hat, etwas genauer charakterisieren: Jeder Zustand persönlicher Verantwortung, bei dem das eigene Denken sich anstrengen muß, um richtige Entscheidungen, von denen viel abhängt, zu treffen, stellt einen Zustand relativ größeren Energieverbrauchs dar und ist als solcher relativ unlustbetonter als ein Zustand, bei dem das eigene Nachdenken nicht in Anspruch genommen wird. Das Untertauchen im Massenbewußtsein, das Aufnehmen und unbesehene Anerkennen von Gedanken, die von anderen vorgedacht worden sind, das Befolgen von Werthaltungen, die gang und gäbe sind, bedeutet meistens ein Sich-Ausruhen auf einer Stufe geringeren Energieverbrauchs. Es bedeutet eine in der Regel lustbetonte Entlastung der eigenen Gehirntätigkeit, wenn der einzelne sich vom Massengeist treiben lassen kann. „Die Ruhe in der Faulheit“, so lesen wir bei La Rochefoucauld, „ist ein heimliches Glück der Seele ... sie darf jeden Zwang der Entscheidung von sich weisen“. Der Zustand individueller Verantwortung mit dem Zwang zur Stellungnahme und persönlichen Entscheidung — wie wenig auch seine höhere ethische Bewertung bestritten werden kann — ist für die Massen meistens entschieden unlustbetonter als der Zustand der Verantwortungslosigkeit in autoritären Systemen. 3. Beispiel: Eine in der Geschichte immer wieder zu machende Beobachtung ist die Suche nach dem Schuldigen oder einem Ersatz für diesen, wenn schwere Katastrophen, deren natürliche Ursachen verborgen sind oder in höherer Gewalt bestehen, ein Volk heimsuchen. Als in den Jahren 1348 bis 13 5 3 die Pest, damals der Schwarze Tod genannt, in Deutschland wütete, wurden die Juden beschuldigt, die Brunnen vergiftet zu haben, und furchtbar verfolgt. Am Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft und der sie begleitenden furchtbaren Arbeitslosigkeit vor 193 3 sollten auch die Juden schuld gewesen sein. Auch dies eine massenwahnbedingte Suche nach dem Sündenbock, von der ausgehend der Antisemitismus im Unterricht behandelt werden kann. Jahrhundertelang wurden Hexen für Krankheiten, Epidemien, Mißwachs, Unwetter und andere Notstände verantwortlich gemacht, ein Wahn, der viele Millionen Opfer verschlungen hat. Nach einem verlorenen Krieg läßt es die nationale Eitelkeit sehr oft nicht zu, daß die Überlegenheit des Gegners anerkannt wird, sondern es entsteht der „Verräter“ -Komplex. Verräter waren am Werk, die den Sieg sabotiert haben. Nach der Niederlage von 1870/71 war der Glaube an Verräter in Frankreich allgemein. Noch die spätere Dreyfuß-Affäre ist Die Suche nach dem Sündenbock ein Ausdruck dieses Wahns. Nach der Niederlage von 1918 wurde in Deutschland die Dolchstoßlegende erfunden. Auch in der Gegenwart gibt es Unbelehrbare, die ähnliches in bezug auf den Ausgang des letzten Krieges behaupten. Der Glaube an Verräter ist ein bei allen enttäuschten Massen ganz gesetzmäßig sich einstellendes Phänomen. Er ist nichts anderes als eine Variante des Bedürfnisses nach dem Sündenbock. „Es liegt in der Natur des Pöbels, sich über das Böse zu freuen“ Beispiel: Als ein weiteres Beispiel massenpsychologischer Interpretation im Geschichtsunterricht sei noch ein Vorgang aus der jüngsten Geschichte besprochen, in der ja wie nur in wenigen früheren Zeitabschnitten massenpsychologische Faktoren den Ausschlag gegeben haben.

Im Jahre 1934 ließ Hitler Hunderte von Menschen, darunter viele, auf deren Schultern er selbst zur Macht emporgestiegen war, ohne Verhör innerhalb weniger Tage erschießen. Was damals geschah, war der Ausdrude solcher Wildheit, Roheit, Gesetzesverachtung und Undankbarkeit, daß man einen Schrei des Entsetzens in allen Kreisen des deutschen Volkes und darüber hinaus in der ganzen Welt, wo immer ein Gefühl für Recht und Kultur wachgeblieben war, zu vernehmen meinte. Welches aber war die Wirkung dieses aus Wahn, Angst und Minderwertigkeitsgefühl geborenen Verbrechens auf die Massen? Ein Aufmarsch vor einigen Hundert-tausenden in Berlin, an dem sich auch Frauen sehr zahlreich beteiligten, klatschten und schrien dem „Führer“ endlosen Beifall zu, als dieser sich einige Tage nach dem Blutbad auf dem Balkon eines Hotelzimmers zeigte.

Machiavell würde hierzu bemerkt haben: „Es liegt in der Natur des Pöbels, sich über das Böse zu freuen“.

Die Massenpsychologie muß hierin bestätigt finden, daß schreckenerregende Grausamkeit in dem Gefühlsakkord, der die Massen an ihren Führer bindet, ein notwendiges Ingrediens darstellt. Die Massen verlangen in ihren Gefühlsbeziehungen zu ihren Führern nach einer Erregungskomponente, die wir im Anschluß an die religionspsychologischen Untersuchungen von Rudolf Otto als „Tremendum“ bezeichnen. Sie wollen Sensationen erleben, am liebsten solche von der stärksten Sorte: Staunen, Spannung, Grauen und Schaudern suchen sie nicht nur in Märchen, Indianergeschichten, greuelreichen Geschichtsperioden (z. B. römische Kaiserzeit, Französische Revolution, Rußland der Gegenwart), Gerichtsverhandlungen, Kriminalgeschichten und Kriegsromanen, sondern auch im wirklichen Geschehen der zeitgenössischen Geschichte darf dieser Einschlag nicht fehlen, wenn die Massen innerlich stärker beteiligt sein sollen. Erst R. Ottos berühmte Analyse des numinosen Erlebens, d. h.des Er-lebens gegenüber dem Heiligen in seiner ursprünglichen Form, wenn es noch nicht ethisiert und rationalisiert worden ist, hat uns instandgesetzt, die rätelhafte Bindung der Massen an ihren Herrscher, die wegen ihrer Irrationalität dem Psychologen unlösbare Probleme aufzugeben schien, zu verstehen. Diese Bindung ist nämlich wesentlich numinoser Art, d. h. an ihr sind die meisten Komponenten beteiligt, die im numinosen Erleben eine Rolle spielen, nämlich: 1. Das Tremendum — Gefühl des Erschrekkens, des Schauderns und der Scheu, des Erzitterns und Verstummens, das wir gegenüber dem unheimlichen Geheimnis hinter den Dingen empfinden, 2. das Mirum, das Verwunderung, Erstaunen, Neugierde bedeutet, 3. das Fascinosum als Erlebnis des Anziehenden, Bestrickenden, Hinreißenden, Entzückenden, 4. das Energicum, welches Lebendigkeit, Leidenschaft, Willenskraft, Bewegung ist, 5. die M a j e s t a s als Erlebnis der ungeheuren Macht und Hoheit, das zugleich unsere eigene Nichtigkeit und Demut uns fühlen läßt, 6. das Sanctum oder Augustum, das den Eindruck des Unvergleichlichen, Respektheischenden, durch die Anerkennung aller Bestätigten bezeichnet.

Diese Erlebniskategorien, die ursprünglich aus Erscheinungen des religiösen Bereichs abgeleitet wurden, lassen sich bis in sehr tiefe und banale Bezirke des Lebens hinein verfolgen 4): Der Anreißer vor der Jahrmarktbude bedient sich ihrer ebenfalls, um sein Publikum zu beeindrucken. Er macht Gebrauch vom drängenden zwingenden Energicum: Treten Sie näher, meine Herrschaften!, — von der Majestas: Das übertrifft alles, was Sie jemals gesehen haben!, — vomFascinans: Es ist IhrGeld weit, ich versichere Ihnen, es wird Ihnen gefallen!, — vom Mirum: Wer das nicht mit seinen eigenen Augen gesehen hat, glaubt nicht, daß es so etwas geben kann!, — vom Tremdenum: Da können Sie das Gruseln lernen! Da kriegen Sie eine Gänsehaut!, — vom Sanctum (dem von allen Anerkannten): Viele Besucher haben unsere Schau schon dreimal gesehen.

Die angeführten Erlebniskomponenten haben auch das Meiste dazu beigetragen, daß Hitler Einfluß gewann bei den Massen, die ihm schließlich numinos verhaftet waren und es auch bis zum bitteren Ende blieben. Denn daß dieser gewalttätige, unberechenbare, seltsame, durch Erfolge, Versprechungen und lockende Reden anziehende, in großer Pose erhaben auftretende, des Beifalls der Meisten sich erfreuende, durch wilde Energie alle mit sich fortreißende Herrscher von den Massen numinos erlebt wurde, ist der Schlüssel zum Verständnis seines Einflusses.

Der zuletzt erwähnte Stoff verbindet bereits den Geschichtsunterricht mit der Religionsstunde, sofern diese auf der Oberstufe die Ottoschen Untersuchungen berücksichtigt, ferner auch zum Deutschunterricht, in welchem Parallelen zu Goethes Begriff des dämonischen Menschen aufgezeigt werden können.

Die Massenpsychologie im Deutschunterricht Unter den von deutschen Dichtern gelieferten Beiträgen ist sachlich von großer Bedeutung die Beschreibung des dämonischen Menschen von Goethe, die wir in Dichtung und Wahrheit (Buch 20), und in den Gesprächen mit Eckermann (25. Februar 1824) finden. Sie ist als Ausgangspunkt einer Besprechung der numinosen Wirkung vieler Gewaltherrscher gut geeignet, da Goethes Begriff des Dämonischen sith mit dem, was Otto das Numinose nennt, eng berührt (worauf schon Otto in seinem Buch hingewiesen hatte). Auch die von den Massen handelnden Stellen im 2. Teil des Faust (4. Akt) sind höchst beachtenswert und können, ergänzt durch einzelne diesem Gegenstand gewidmete Epigramme, den Ausgangspunkt einer Behandlung des Massenproblems im deutschen Aufsatz bilden.

Von sonstigen Klassikern wurde Herder durch seine psychologisch tiefen, auf das Gesetzlich-Allgemeine gerichteten Forschungen zur Geschichtsphilosophie mit Notwendigkeit auf massenpsychologische Probleme geführt. Seine Psychologie des Nationalbewußtseins in den „Briefen zur Beförderung der Humanität“, IV, 46, ist vom wissenschaftlich psychologischen Standpunkt noch heute unübertroffen und bietet einen sehr geeigneten Ausgangspunkt für die Behandlung des Themas im Deutschunterricht.

Massenpsychologisches in der fremdsprachlichen Lektüre 1. In der griechischen Literatur enthalten die Bacchantinnen des Euripides eine Darstellung des Massenwahns dionysosberauschter Frauen, die sich inhaltlich aus eigenen Beobachtungen des Dichters und aus überlieferten Mythen zusammensetzt. Das Drama zeigt uns, daß wir den Gott Dionysos als Gott des Massenwahns aufzufassen haben, der als solcher Gegenspieler des Apollon ist, des Gottes des Maßes, der Klarheit und Besonnenheit.

In der griechischen philosophischen Prosa sind in größerer Zahl Äußerungen zur Psychologie der Massen von den Sophisten, sowie von Platon und Aristoteles vorhanden. Platons Staatsphilosophie wurzelt unmittelbar in massenpsychologischen Erwägungen, die ihrerseits zurückgehen auf die abstoßenden Eindrücke, die der Philosoph von der athenischen Volksversammlung empfing. Sein „Staat“ ist in allen Punkten eine Reaktion auf diese Eindrücke, insofern er das kompensatorische Ideal darstellt, das der Philosoph der enttäuschenden Wirklichkeit entgegensetzt (Quellenstellen sind in meinem Buch: „Entpersönlichung", 1952, zitiert.), 2. Von lateinischen Autoren ist vor allem Seneca zu nennen, der in seiner Schrift: „De vita beata“ bemerkenswerte Erkenntnisse zur Massenpsychologie mitteilt. Von ihm stammt u. a.der Vergleich des Verhaltens der Masse mit der Herde, der später in Gestalt des Begriffes „Herdentrieb“ in Umlauf kam. 3. In der französischen Literatur hat Maupassant in seiner Erzählung „Sur 1‘eau“ (1888) eine psychologisch zutreffende Schilderung jenes Vorgangs gegeben, den man als Zentralphänomen aller Wissenschaft vom Massenverhalten bezeichnen kann: der enormen Veränderung im Seelenleben des Einzelnen infolge seiner ganzheitlichen Bestimmtheit durch die Masse. Maupassants Ausführungen zu diesem grundlegenden Tatbestand gehören zu den frühesten ihrer Art. — Soweit wissenschaftliche Autoren für die Lektüre mit herangezogen werden, kommt in erster Linie das in klarem Französisch geschriebene/klassische Werk: „Psychologie des foules“ (1895) des geistreichen Le Bon in Betracht. — Der im Jahre 1915 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Dichter Romain Rolland hat in seinem Roman: „Clerambault“ das „Versinken der Einzelseele im Abgrund der Massenseele“ (nach den im Vorwort vom Autor selbst gemachten Angaben) geschildert. Viele massenseelisdien Vorgänge sind in diesem, autobiographischen Charakter aufweisenden, Roman mit unübertrefflicher Feinheit erfaßt und festgehalten. Abgesehen von seiner pazifistischen Tendenz kann diese Arbeit unbedenklich zu den StandardWerken der Massenpsychologie gezählt werden. Manche Abschnitte sind, wenn kurze Erläuterungen über den Zusammenhang der (sehr einfachen) Handlung gegeben werden, für sich verständlich und können vom wissenschaftlichen Standpunkt als Einführung empfohlen werden. 4. Von englischen Autoren sei Aldous Huxley erwähnt, der sich in seinem Buch: „Crome Yellow“ mit dem Massenproblem, genauer: mit dem Problem, wie die Massen geführt werden können, auseinander-setzt. Er empfiehlt für die Leitung des Staates eine Zusammenarbeit zwischen einer Art von wissenschaftlichen Politikern, die wissen, was sachlich das Beste ist und was die Lage eines Volkes sachlich erfordert, die aber nicht notwendig über die Gabe zu verfügen brauchen, ihre Erkentnisse dem Volk plausibel und schmackhaft zu machen, und solchen demagogisch befähigten, auf die Kunst der Massenbeeinflussung sich verstehenden Propagandisten, die jene sachlichen Ideen beim Volk populär zu machen verstehen.

Die Massenpsychologie im Biologieunterricht Auch die Biologie kann zum Verständnis massenpsychologischer Erscheinungen beitragen. Sie beobachtet, wie in den Insektenstaaten der Bienen, Ameisen, Termiten das Leben dieser Tiere streng angepaßt ist an und spezialisiert ist für ihre Funktion im Ganzen (als Geschlechtstier, Arbeiter, Soldat). Das einzelne Tier ist nur im Ganzen des Staates, aber nicht für sich allein lebensfähig.

Andererseits kennt man bei höheren Tieren Formen der Vergesellschaftung, die die Selbständigkeit des einzelnen Individuums unberührt lassen. Zu ihnen gehören die Rudel der Wölfe, die Herden der Huftiere und Elefanten, die Wanderzüge der Lemminge, die treu zusammenhaltenden Gesellschaften der Papageien. In der Regel hat in diesen Tier-gesellschaften ein älteres starkes Männchen die Führung, auch besteht gewöhnlich eine meist recht komplizierte Rangordnung zwischen den einzelnen Mitgliedern der Herde. Obwohl Ansätze zu einer gewissen Arbeitsteilung nicht fehlen, behält das einzelne Tier doch seine Selbständigkeit und bleibt für sich allein lebensfähig.

Wenn man mit diesen Tiergemeinschaften die Möglichkeiten vergleicht, die der homo sapiens verwirklicht hat oder die ihm noch offen stehen, so behaupte man nicht von vorneherein, daß es sich dabei nur um vage Analogien handeln könne, daß aber keine innere Verwandtschaft den Erscheinungen zu Grunde liegen könne. Der Mensch ist durch zwei Tatsachen am meisten gekennzeichnet: er ist Sozialwesen und zugleich dasjenige Wesen, das viele Möglichkeiten offen hat, u. a. auch diejenige einer Entwicklung oder besser gesagt Rückentwicklung zum unselbständigen Glied in einem streng übergeordneten Ganzen, innerhalb dessen er gewisse Spezialfunktionen zu erfüllen hat, wobei ihn zuletzt ausschließlich seine Spezialfunktion, nicht aber die Sinngebung, die das soziale Ganze rechtfertigt, etwas angehen. Der Gedanke käme dem zu einem hochspezialisierten Gliedwesen innerhalb eines streng zentralisierten, archistischen Systems entwickelten Zukunftsmenschen nicht mehr in den Sinn, daß er selbst berufen sein könnte, an der Regierung und an der Zweckbestimmung des Ganzen mitzuwirken. Die Ausübung von Glied-funktionen im Ganzen gibt dem Menschen schon jetzt ein eigentümliches Lustgefühl, das glauben läßt, daß wirkliche Möglichkeiten der instinktiven Anpassung in der Richtung auf ein völlig abhängiges und unselb-ständiges Dasein im Ganzen bestehen. Die Beobachtungen an zentralisierten und völlig durchsozialisierten Despotien der Gegenwart beweisen, daß der Mensch anlagemäßig durchaus geschaffen ist für eine Daseinsform, bei der er ohne freie Selbstbestimmung eine hochspezialisierte Glied-funktion in einem umfassenden Ganzen übernimmt, während andere Anlagen allmählich verkümmern.

Andererseits beweist die Geschichte eindeutig, daß der Mensch nicht einseitig in dieser Richtung festgelegt ist, daß er wiederholt eine andere Form der Gesellschaftsbildung verwirklicht hat, die einen freiwilligen Zusammenschluß möglichst selbständiger Individuen anstrebt. Auf das Ganze des Geschichtsverlaufs gesehen erscheint die letztere Form menschlicher Gemeinschaft als die spätere, seltenere und stärker gefährdete. Es scheint, daß die Menschheit zwischen dieser und der Alternativform einer organischen Gebundenheit und funktionalen Reduktion auf besondere Gliedfunktionen innerhalb eines streng übergeordneten Ganzen jetzt am Scheidewege steht.

Die Massenpsychologie im Religionsunterricht und in der philosophischen Propädeutik Die Beziehungen der Massenpsychologie zum Religionsunterricht ergeben sich aus der Tatsache, daß mit dem Untertauchen im Massengeist die Selbstverantwortung und das Handeln gemäß der eigenen Vernunft und dem eigenen Gewissen aufhören. Dadurch wird der Massengeist in einem entscheidenden Punkt zum Todfeind der Religion, da diese eine Weckung des Gefühls der persönlichen Verantwortung bzw. eine Weckung des Gewissens fordert.

Die Aufzeigung der massenpsychologischen Tatsachen als solcher kann an Hand einer Besprechung von Apg. 19 erfolgen. Die Massen von Ephesus waren im Theater (das 56 000 Menschen gefaßt haben soll) zusammengeströmt, wobei „die meisten nicht wußten, weshalb sie zusammengekommen waren“, (V. 32). Sie waren also einer kollektiv gesteuerten Herdenr oktion erlegen, bei der das eigene Wollen und die Verantwortung für das eigene Tun völlig ausgeschaltet waren. Das „zwei Stunden lang“ fortgesetzte Gebrüll der Menge: „Groß ist die Diana der Epheser!“ aber stellt eine iterative Stereotypie dar, die auch an anderen Massen oft beobachtet worden ist. Schließlich erweist das vom Stadtschreiber angewandte Mittel, die Massen auseinanderzubringen, diesen Beamten als guten Massenpsychologen. Er appelliert nicht an die Vernunft der Menge und weist sie nicht hin auf das Törichte ihres Tuns, sondern er stimmt ihnen im Gegenteil zu und betont, daß das, was sie seit zwei Stunden rufen, eine allgemein anerkannte Wahrheit sei. Dann aber macht er ihnen Angst vor der römischen Besatzungsmacht, die eine Zusammenrottung von so vielen Menschen als Aufruhr auffassen könnte, zu dessen Entschuldigung sie nichts würden vorbringen können. Daß er nicht verstandesmäßige Argumente, sondern ein Gefühl und zwar der Angst, das in diesem Falle wirksamste, benutzt, um der Masse Herr zu werden, steht in vollem Einklang mit den Gesetzen der Massenpsychologie.

Im Anschluß an eine Besprechung dieser Massenszene — es ist nicht die einzige im Neuen Testament — ergeben sich Anknüpfungspunkte an Verhältnisse während der Notzeit der Hitlerherrschaft. Viele Millionen von Männern und Frauen haben es damals für ihre Pflicht gehalten, Befehle auszuführen, ohne die Frage, ob die von ihnen geforderten Handlungen sittlich gerechtfertigt oder auch nur vor der Vernunft vertretbar waren, geprüft zu haben. Falls der Gedanke der eigenen höchst persönlichen Verantwortung auch für das auftragsgemäße Tun und Lassen bei Einzelnen doch dämmerte, dürfte er durch Überlegungen wie der folgenden beschwichtigt worden sein. Warum sollte ausgerechnet er, der Herr X, sich Gedanken machen über das, was er auf Geheiß des Staates tun mußte, da er in seiner ganzen Bekanntschaft niemanden kannte, der solchen Skrupeln nachhing? Was alle taten, das mußte doch wohl in Ordnung sein. D. h. man suchte das Gewissen zu beschwichtigen durch Untertauchen in der Masse, durch die Flucht in das Man, durch das Verkriechen hinter den anderen.

Die Aufrechterhaltung der selbständigen Individualität als solcher ist bereits eine wichtige sittliche Forderung. „Wolle selbst!“, so formulierte der Philosoph Chr. Fr. Krause den kategorischen Imperativ. Das ist kein inhaltsleerer Satz und keine Plattheit und Selbstverständlichkeit, sondern ein unter gewissen Bedingungen des totalen Terror-und Propaganda-staates gar nicht einmal leicht zu erfüllendes sittliches Gebot. Für die zur Führung des Volkes bestimmte Elite rangiert diese Forderung an erster Stelle, während sie nicht in gleicher Weise den breiten Massen zugemutet werden kann. So wünschenswert es bleibt, daß auch die breiten Bevölkerungsschichten zu politischer Urteilsfähigkeit erzogen werden, so ist doch eine völlig autonome Sittlichkeit und politische Mündigkeit im Sinne Kants und Fichtes für die breiten Massen nicht erreichbar. Pflicht und Sittlichkeit und das politische Wollen der Massen werden stets mehr oder weniger auf Autorität beruhen müssen. In bezug auf das, was Pflicht sein soll, bleiben die Massen daher immer von Führern abhängig. Die Rolle der Führer aber fällt den mit staatlicher, politischer und moralischer Autorität bekleideten Personen zu, die allerdings nur dann legitime Führer sind, wenn sie nicht den Massen nach dem Munde reden, sich nicht nach ihren Irrtümern, Begehrlichkeiten, Launen und kurzsichtigen Willenszielen richten, wozu in einer schlecht funktionierenden Demokratie die Versuchung groß sein kann. Die zur Führung berufene Elite muß sich vielmehr aus sittlich verantwortungsbewußten Persönlichkeiten zusammensetzen und nicht aus Demagogen, denen es um persönliche Macht um jeden Preis zu tun ist.

Damit ist von der Massenpsychologie her die Notwendigkeit der moralischen und politischen Führerelite erwiesen und diese Elite als lebenswichtiges Organ des Staates gefordert. Auch die Schule ist berufen, an der Herausbildung dieser Elite mitzuwirken.

Anmerkung:

George F. Kennan, Berufsdiplomat, ehern. Botschafter in Moskau (1952), mußte seinen Posten aber sehr bald auf sowjetischen Druck hin verlassen, einige Sätze, die er auf dem Flugplatz Berlin-Tempelhof gegenüber einem AP-Korrespondenten über die Undurchdringlichkeit der Moskauer politischen Atmosphäre äußerte, wurden zum Anlaß genommen, ihn zur persona non grata zu erklären. Seitdem hat sich George F. Kennan als Mitglied des Institute oi Advanced Study an der Universität Princeton theoretisch mit Fragen der amerikanischen Außenpolitik beschäftigt. Das Buch „Realities oi American Foreign Policy" (Princeton University Press, 1954), dem der hier veröffentlichte Beitrag entnommen ist und das eine in Princeton gehaltene Vorlesungsreihe wiedergibt, ist eines der Ergebnisse dieser Periode akademischer Zurückgezogenheit des Staatsmannes.

Schmid, Dr. Carlo, O. Universitätsprofessor, Vizepräsident des Deutschen Bundestages, geb. 3. Dezember 1896 in Perpignan (Frankreich). Nach den juristischen Staatsprüfungen Rechtsanwalt, Richter, später Referent am Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches öfentliches Recht und Völkerrecht in Berlin. 1929 Habilitation an der juristischen Fakultät der Universität Tübingen. Nach Kriegsende erster Regierungschef, Kultus-und Justizminister des Landes Württemberg-Hohenzollern, 1946 Präsident des Staatssekretariats und Staatssekretär für Justiz, 1947 Justizminister und stellvertretender Staatspräsident. 1945 Landesvorsitzender der SPD in Süd-Württemberg. 1948/49 Mitglied des Parlamentarischen Rates, Fraktionsvorsitzender, Vorsitzender des Hauptausschusses. 1949 Mitglied des Parteivorstandes der SPD.

Ehrenstein, Walter, Dr. phil. nat. habil., Prof., geb. am 10. 10. 1899 in Altenkirchen/Rheinland. Arbeitsgebiet: Wahrnehmen (bes, Sehen), Typenlehre, Intelligenz, Sozialpsychologie, Theoret. Psychologie.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Poetae lyrici Graeci, Bergk

  2. Unechter, aber wirkliche Gedanken Solons wiedergebender Brief Solons an Epimenides

  3. Diogenes Laertius, II, 8, 94 (103)

  4. Lange-Eichbaum, Genie, Irrsinn und Ruhm 1928

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