Politische Partizipation und kommunale Politik Strukturen, Bestimmungsfaktoren und Folgen kommunalpolitischer Partizipation
Oscar W. Gabriel
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Zusammenfassung
Mit Blick auf die lange Tradition bürgerschaftlicher Beteiligung an der Regelung kommunaler Angelegenheiten bezeichnet man die Kommunalpolitik häufig als Schule der Demokratie. Sie gilt als derjenige Bereich des politischen Lebens, in dem sich eine unmittelbare Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungen am besten verwirklichen läßt. Das Grundgesetz legt in diesem Sinne die politische Organisation der lokalen Politik auf demokratische Grundsätze fest. Allerdings dominieren in der politischen Praxis der Gemeinden die Elemente repräsentativer Demokratie. Das Zentrum des lokalpolitischen Willensbildungsprozesses bildet die Wahl der Kommunalvertretung, an der, mit Abweichungen in den einzelnen Bundesländern, etwa drei Viertel der Wahlberechtigten teilnehmen. Möglichkeiten zur Einflußnahme auf Sachentscheidungen wurden in den meisten Bundesländern in der Phase der inneren Reformen eingeführt. Zu nennen sind hier vor allem der Bürgerentscheid und das Bürgerbegehren. Neben den institutionell geregelten Wegen politischer Einflußnahme bildeten sich im Laufe der Zeit zahlreiche nichtverfaßte Beteiligungsformen heraus, insbesondere die Mobilisierung von Ad-hoc-Gruppen zur Durchsetzung politischer Ziele. Dennoch stellt auch nach dem Abschluß der „partizipatorischen Revolution“ die aktive Beteiligung an der nationalen und lokalen Politik ein Minderheitenphänomen dar. Vor allem Angehörige der oberen Mittelschicht tendieren dazu, ihre politischen Ziele durch konventionelle, wähl-und parteibezogene Aktivitäten und auf unkonventionellem Wege durchzusetzen. Zwar erfüllten sich nicht alle mit der „partizipatorischen Revolution“ verbundenen Hoffnungen, doch ergeben sich andererseits aus den vorliegenden Ergebnissen der empirischen Forschung keine Anhaltspunkte dafür, daß die Zunahme der Beteiligungsbereitschaft die Funktionsfähigkeit der lokalen Demokratie gefährdet.
I. Politische Beteiligung in der Demokratie — Bedeutung und Begriff
Bei der Organisation politischer Beteiligungsverfahren kann man von zwei gegensätzlichen Prinzipien ausgehen. In Anlehnung an die „realistische Demokratietheorie“ kann man unterstellen, daß sich Menschen nur begrenzt für politische Probleme interessieren, daß sie nur über lückenhafte politisehe Informationen verfügen und sich nur dann politisch betätigen, wenn ihnen daraus persönliche, insbesondere wirtschaftliche Vorteile entstehen. Nach den vorliegenden Ergebnissen der empirischen Forschung erscheinen jedoch nicht allein Zweifel an der mangelnden Bereitschaft des Durchschnittsbürgers zur politischen Aktivität angebracht. Es drängt sich darüber hinaus die Frage auf, ob nicht das in der Bevölkerung festgestellte Unverständnis für demokratische Werte und Normen eine Ausweitung der politischen Beteiligung zu einem Risiko für den Bestand einer funktionsfähigen Demokratie werden läßt. Insofern könnte die politische Passivität des Normalbürgers die Stabilität demokratischer Systeme durchaus fördern.
Im Gegensatz dazu betrachtet die „partizipative Demokratietheorie“ den Menschen als vernünftiges, an politischer Selbstbestimmung interessiertes Wesen, das in erster Linie ungünstige politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen daran hindern, in Gemeinschaft mit anderen eine vernunft-bestimmte Politik zu verfolgen. Vertreter dieses Ansatzes bestreiten zwar nicht die Existenz egoistischen, auf wirtschaftliche Nutzenmaximierung ausgerichteten Handelns, sie führen dies aber hauptsächlich auf die Prägung des Menschen durch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Wettbewerbsgesellschaft zurück. Erst deren Überwindung setzt ihrer Auffassung nach menschliche Gestaltungspotentiale frei, die ein vernünftiges, selbstbestimmtes menschliches Zusammenleben ermöglichen
Da keine dieser beiden Konzeptionen die tatsächlichen politischen Handlungsmotive des Menschen völlig korrekt beschreibt, basiert die Organisation westlicher Demokratien weder ausschließlich auf den Grundsätzen der repräsentativen noch auf denen der partizipativen Demokratie. Zwar räumt die Verfassung der Bundesrepublik dem Repräsentativprinzip den Vorrang vor der direkten Selbstregierung des Volkes ein, doch kennt die Verfassungspraxis zahlreiche unmittelbare bürgerschaftliche Einflußmöglichkeiten auf die Entscheidungen der repräsentativen Organe. Insbesondere auf der kommunalen Ebene schließen Repräsentation und Partizipation einander nicht aus, sondern sie ergänzen einander.
Am Beginn einer Untersuchung der kommunalen Beteiligungspraxis ist zu klären, was unter politischer Beteiligung verstanden wird und in welchen Formen sie sich vollzieht. Die amerikanischen Politikwissenschaftler Sidney Verba und Norman Nie legten 1972 eine Begriffsbestimmung vor, die sich auch als Grundlage für die Beschreibung der Strukturen kommunalpolitischer Beteiligung in der Bundesrepublik eignet. Als politische Partizipation bezeichnen sie „diejenigen legalen Handlungen von Privatpersonen, die mehr oder weniger ausdrücklich dem Zweck dienen, die Auswahl des politischen Führungspersonals oder dessen Aktivitäten zu beeinflussen“
Nach dieser Konzeption dient die politische Beteiligung dem Zweck, durch die Stimmabgabe bei
Die in diesem Beitrag ausgewerteten Daten wurden überwiegend vom Zentralarchivfür empirische Sozialforschung der Universität zu Köln zur Verfügung gestellt. Sie wurden von verschiedenen Forschergruppen erhoben und vom Zentralarchiv für die Analyse aufbereitet. Weder die Primärforscher noch das Zentralarchiv tragen irgendeine Verantwortung für die Interpretation der Daten in diesem Beitrag. Wahlen an der Besetzung politischer Entscheidungspositionen mitzuwirken, durch die Teilnahme an Abstimmungen Sachentscheidungen im politischen System zu regeln oder in anderer Form mittelbar oder unmittelbar auf politische Vorgänge Einfluß auszuüben. Abweichend von Verba und Nie wird der Begriff der politischen Partizipation nachfolgend nicht auf legale Handlungen begrenzt. sondern es werden auch solche Aktivitäten berücksichtigt, die gesetzlich nicht eindeutig geregelt sind oder im Grenzfalle gegen gesetzliche Vorschriften verstoßen. Diese Erweiterung des Partizipationsbegriffs erscheint in einer empirischen Untersuchung zweckmäßig, weil die Bedeutung unkonventioneller Beteiligungsformen in der letzten Zeit stark zugenommen hat.
Abbildung 2
b) Entwicklung der Teilnahme an Kommunalwahlen, 1946— 1984
b) Entwicklung der Teilnahme an Kommunalwahlen, 1946— 1984
II. Die institutioneilen Grundlagen kommunalpolitischer Beteiligung in der Bundesrepublik Deutschland und ihre Bedeutung in der politischen Praxis
Abbildung 3
Tabelle 1: Kommunalpolitisches Kompetenzbewußtsein in der Bundesrepublik Deutschland von 1959 bis 1980 in Prozent. Quelle: The Civic Culture, ZA-Nr. 624; Politische Ideologie I, ZA-Nr. 757; Politische Ideologie II. ZA-Nr. 1190.
Tabelle 1: Kommunalpolitisches Kompetenzbewußtsein in der Bundesrepublik Deutschland von 1959 bis 1980 in Prozent. Quelle: The Civic Culture, ZA-Nr. 624; Politische Ideologie I, ZA-Nr. 757; Politische Ideologie II. ZA-Nr. 1190.
In der bundesstaatlichen Aufgabenteilung gehört das Kommunalrecht traditionell zum Kompetenzbereich der Bundesländer, Dementsprechend enthält das Grundgesetz praktisch keine Regelungen über die Beteiligung der Bürger an der kommunal-politischen Willensbildung und an der Entscheidung über kommunale Probleme. Art. 28, Abs. 1 GG gibt lediglich einen allgemeinen Rahmen für die von den Ländern auszugestaltende Kommunal-verfassung vor. Demnach muß die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern „den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen“ (Homogenitätsklausel) Diese Vorschrift begründet die Verbindlichkeit des Demokratieverständnisses des Grundgesetzes für die kommunale Ebene und läßt auch Elemente unmittelbarer politischer Willensbildung des Volkes zu 1. Die Beteiligung an Kommunalwahlen In einer repräsentativen Demokratie wie der Bundesrepublik bildet die Beteiligung der Bevölkerung an der Wahl der Parlamente normativ wie faktisch das Kernstück des Partizipationssystems. Dies verdeutlicht Artikel 28, Absatz 1 GG, der die demokratische Wahl einer Volksvertretung in den Gemeinden und Kreisen vorschreibt. Die Landesverfassungen bestätigen die im Grundgesetz enthaltene Regelung und unterstreichen damit die hervorgehobene Bedeutung der Wahlen in der Partizipationsstruktur der Kommunen (vgl. z. B. Art. 50 LVerf RP). Die Kommunalwahlgesetze regeln innerhalb dieses verfassungsmäßig abgesteckten Rahmens die Ausübung des Stimmrechts bei Kommunalwahlen genauer. Die Gemeindeordnungen von Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen räumen den Wählern einen wesentlich größeren Einfluß auf die personelle Zusammensetzung der
Kommunalvertretungen ein, als dies bei Bundestags-und Landtagswahlen der Fall ist, indem sie die Möglichkeit des Kumulierens (Stimmenhäufung auf einen Bewerber) und des Panaschierens (Wahl von Kandidaten aus konkurrierenden Vorschlagslisten) vorsehen. In Rheinland-Pfalz wurde das Kumulieren 1984 eingeführt, das Panaschieren wird erstmals bei der nächsten Kommunalwahl möglich sein. In Bayern und Baden-Württemberg wählt die Bevölkerung neben der kommunalen Vertretungskörperschaft den leitenden Verwaltungsbeamten direkt Die Wahlen bilden auch auf der lokalen Ebene das institutioneile Zentrum des politischen Willensbildungsprozesses. Durch die Stimmabgabe entscheidet die Bevölkerung über die Gewichtsverteilung in den politischen Entscheidungsgremien der Kommunen und legt damit — zumindest in einem gewissen Umfange — die Richtung der Politik fest.
Nach Arzberger spiegelt sich die hervorgehobene Bedeutung der Wahlen im tatsächlichen politischen Verhalten der Bürger wider: „Die Beteiligung an Wahlen ist gleichzeitig auch das Basiselement für diejenigen, die Erfahrungen mit mehreren Partizipationsformen haben. Für den einzelnen gibt es also offenbar so etwas wie eine Hierarchie der Partizipationsformen, in der grundlegende Aktivitäten erst einmal erfolgt sein müssen, bevor weitere in Angriff genommen werden.“
Je nach Bundesland und nach den Besonderheiten der politischen Entscheidungssituation beteiligen sich zwischen 65 Prozent und 85 Prozent der Wahlberechtigten an den Kreistags-, Stadt-und Gemeinderatswahlen. In Baden-Württemberg ist die Wahlbeteiligung durchweg niedriger, im Saarland und in Rheinland-Pfalz fällt sie etwas höher aus als in den übrigen Bundesländern Wie ein Vergleich der Beteiligung der Bürger dreier Bundesländer an Bundestags-, Landtags-und Kommunalwahlen zeigt, erreicht die Teilnahmerate bei Kommunalwahlen normalerweise nicht das Niveau der Bundestagswahlen, liegt aber in etwa in dem Bereich, der auch bei Landtagswahlen erreicht wird. Ein einheitlicher, langfristiger Entwicklungstrend der Beteiligung an Kommunalwahlen ist nicht zu erkennen, vielmehr scheint die Höhe der Wahlbeteiligung in erster Linie von der konkreten politischen Situation abzuhängen. Der auffällige Anstieg der Wahlbeteiligung, der 1975 in Nordrhein-Westfalen auftrat, ist durch die Zusammenlegung des Kommunal-und des Landtagswahltermins bedingt (vgl. Abbildung 1b). 2. Die Einflußnahme auf Sachentscheidungen — Bürgerentscheid und Bürgerbegehren Bei der Ausgestaltung der Zuständigkeiten für Sachentscheidungen folgt auch das Kommunalverfassungssystem der Bundesrepublik im großen und ganzen den Grundsätzen repräsentativer Demokratie. Abweichend davon enthalten die Gemeinde-ordnungen von Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen die Einrichtung der Gemeindeversammlung, die verbindlich über kommunale Selbstverwaltungsangelegenheiten entscheidet. Nach dem Abschluß der kommunalen Gebietsreform spielt diese Regelung jedoch in der politischen Praxis keine Rolle mehr. Weder das Grundgesetz noch die Länderverfassungen sehen ausdrücklich weitere kommunalpolitische Beteiligungsrechte vor. Allerdings gelten die in den Verfassungen enthaltenen Grundrechtskataloge (Art. 1 — 19 GG) auch für die kommunale Willensbildung. Zu den in der kommunalpolitischen Praxis bedeutsamsten Beteiligungsrechten gehört die Mitwirkung der Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes (Art. 21 GG), denn die Aktivitäten der Parteimitglieder konzentrieren sich auf die Orts-und Kreisverbände
Nicht alle politischen Einflußmöglichkeiten sind in der Bundesrepublik verfassungsrechtlich geregelt. Insbesondere in der Phase innenpolitischer Reformen — etwa zwischen 1966 und 1974 — wurden die Gemeindeordnungen und einzelne Fachgesetze des Bundes und der Länder um zahlreiche Beteiligungsklauseln ergänzt, die Kühne zutreffend als pragmatische Auffangmechanismen für zunehmende Bürgeraktivitäten beschreibt Bei einer strikten Begrenzung des Beteiligungsbegriffs auf unmittelbare bürgerschaftliche Entscheidungsrechte über politische und administrative Fragen stellt der Bürger-entscheid nach § 21 der Gemeindeordnung von Baden-Württemberg das einzige Element direkter Demokratie in der deutschen Selbstverwaltungsorganisation dar. Er überträgt den Bürgern bei wichtigen kommunalen Angelegenheiten wie der Errichtung, der Erweiterung und der Aufhebung öffentlicher Einrichtungen oder der Änderung der Gemeindegrenzen ein Mitspracherecht. Ein Negativ-katalog entzieht die staatlichen Auftragsangelegenheiten und die laufenden Verwaltungsaufgaben, die innere Organisation der Gemeindeverwaltung sowie die kommunale Haushaltssatzung und Abgabenwirtschaft dem Volksentscheid. Die Gemeinde-ordnung legt das Verfahren bei Bürgerentscheiden detailliert fest. Er kann durch einen mit Zwei-Drittel-Mehrheit gefaßten Gemeinderatsbeschluß oder durch ein erfolgreiches Bürgerbegehren eingeleitet werden. Ein Vorschlag ist angenommen, wenn er die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen auf sich vereinigt und wenn sich mindestens 30 Prozent der Stimmberechtigten an der Abstimmung beteiligen. Unter diesen Bedingungen ersetzt der Bürgerentscheid einen Gemeinderatsbeschluß Unter verschiedenen Bezeichnungen räumen die Gemeindeordnungen von Hessen (§ 8b), Niedersachsen (§ 22 a), Rheinland-Pfalz (§ 17) und des Saarlandes (§ 20a) der Bevölkerung das Recht ein, bestimmte Themen in den kommunalen Entscheidungsprozeß einzubringen und auf diese Weise auf die politische Willensbildung einzuwirken. Das Entscheidungsrecht bleibt allerdings bei der Gemeindevertretung. Auch in Baden-Württemberg gibt es zusätzlich zum Bürgerentscheid den Bürger-antrag (§ 20 GOBW), der im Unterschied zu den übrigen Bundesländern in einen Bürgerentscheid einmünden kann. Die Gemeindeordnung von Nordrhein-Westfalen kennt zwar das Institut des Bürgerbegehrens nicht, sie gibt aber jedem Bürger das Recht, dem Gemeinderat Beschwerden oder Anregungen vorzutragen (§ 6). In Bayern und Baden-Württemberg kann die Bürgerversammlung dem Rat Empfehlungen unterbreiten (Art. 18, Abs. 4 GOBay, § 20a GOBW). Als einziger Flächenstaat sieht Schleswig-Holstein in seiner Gemeindeordnung keinerlei gesetzlich geregelte Initiativ-und Entscheidungsrechte für die Bürger vor -
Die Brauchbarkeit des Bürgerbegehrens als Beteiligungsinstrument hängt unter anderem von seiner konkreten institutioneilen Ausgestaltung ab Dabei spielen vor allem vier Merkmale eine Rohe:
1. die zulässigen Gegenstände des Begehrens, 2.der Kreis der Antragsberechtigten, 3.der mit dem Begehren verbundene Aufwand und 4. die Bedeutung des Begehrens für die Entscheidungspraxis der Kommunalvertretung.
Den geringsten inhaltlichen Einschränkungen unterliegt das Bürgerbegehren hessischer Prägung, das sich auf alle kommunalen Angelegenheiten erstrecken kann. Die Gemeindeordnungen der übrigen Bundesländer beschränken das Bürgerbegehren auf Selbstverwaltungsangelegenheiten bzw. fassen seinen Anwendungsbereich noch enger. Tatsächlich dürfte sich die hessische Praxisjedoch nicht von der der anderen Bundesländer unterscheiden, da nur bei Selbstverwaltungsaufgaben der für eine sinnvolle Anwendung des Bürgerbegehrens erforderliche kommunale Entscheidungsspielraum vorhanden ist. Aufgaben der laufenden Verwaltung oder verwaltungsorganisatorische Fragen erreichen zudem kaum die für ein Bürgerbegehren erforderliche Mobilisierung der Öffentlichkeit.
Im Hinblick auf den möglichen Partizipantenkreis heben sich Regelungen in Niedersachsen und Rheinland-Pfalz von denen der übrigen Bundesländer ab, da sie das Mitwirkungsrecht nicht ausdrücklich mit dem Bürgerstatus verknüpfen. Praktische Bedeutung kommt dieser Unterscheidung vor allem für die in einer Gemeinde lebenden Ausländer zu, die zwar den Status von Einwohnern, aber kein Bürgerrecht besitzen. Die großzügigere Regelung in Rheinland-Pfalz und Niedersachsen kann die Aufnahmefähigkeit des kommunalen Entscheidungssystems erhöhen, indem sie Personen, die im übrigen über keinen gesetzlich geregelten Zugang zum politischen System verfügen, eine Möglichkeit gibt, ihre Anliegen gegenüber den lokalen Entscheidungsträgern in einem förmlich geregelten Verfahren geltend zu machen. Verfassungspolitisch erscheint dies unproblematisch, da sich mit dem Bürgerbegehren keine Entscheidungskompetenzen verbinden.
Die Motivation zur Einleitung eines Bürgerbegehrens dürfte von den in der Gemeindeordnung vorgesehenen Erfolgsbedingungen abhängen. Das Petitionsrecht der nordrhein-westfälischen Gemeindeordnung und das Initiativrecht der Bürgerversammlung in Bayern und Baden-Württemberg sind verhältnismäßig unaufwendig konzipiert. Das Bürgerbegehren im engeren Sinne muß dagegen einige formelle Hürden nehmen, bevor das betreffende Anliegen vom zuständigen Organ zu beraten ist. Generell sehen die Gemeindeordnungen eine schriftliche Formulierung und Begründung des geforderten Anliegens vor. In Rheinland-Pfalz und in Niedersachsen gibt es für die Antragsteller zusätzlich die Auflage, einen Finanzierungsvorschlag zu unterbreiten. Mit Ausnahme des Saarlandes sehen alle Gemeindeordnungen für den Erfolg des Bürgerbegehrens eine nach der Gemeindegröße gestaffelte Mindestzahl von Unterschriften vor. Über die Zulässigkeit eines Bürgerbegehrens entscheidet im Saarland der Bürgermeister, in den anderen Bundesländern der Gemeinderat. Da die beiden Länder mit den niedrigsten Beteiligungsquoren, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen, mit der Vorlage eines Finanzierungsplanes eine anspruchsvolle Forderung an die Initiatoren eines Bürgerbegehrens stellen, ist es schwierig, die Partizipationsfreundlichkeit der Regelungen in den einzelnen Bundesländern vergleichend zu beurteilen.
Was die Bedeutsamkeit eines erfolgreichen Bürgerbegehrens für die Entscheidungspraxis des Rates betrifft, so muß man zwischen mehreren Aspekten unterscheiden: Ein Entscheidungszwang, wie er in Hessen und Rheinland-Pfalz vorgesehen ist. bindet den Rat stärker als die in den übrigen Bundesländern bestehende* Beratungspflicht. Der Verzicht auf eine Entscheidungspflicht gibt dem Rat die Möglichkeit, eine Forderung durch Nichtentscheidung zu unterlaufen. Hat er dagegen eine Entscheidung zu treffen, dann setzt er sich stärker der Kontrolle und Kritik durch die Initiatoren des Bürgerbegehrens aus. Darüber hinaus dürfte die Bindung des Rates durch ein erfolgreiches Bürgerbegehren umso nachhaltiger ausfallen, je kürzer der zeitliche Abstand zwischen dem Bürgerbegehren und dem Ratsentscheid ist. Der lange Zeitraum von sechs Monaten, den die hessische Gemeindeordnung für die Beratung und den Beschluß über ein Bürgerbegehren ansetzt, eröffnet für die Entscheidungsträger gleichfalls die Möglichkeit, die betreffende Angelegenheit so lange zu verschleppen, bis die erste politische Mobilisierung abgeebbt ist.
Durch das Bürgerbegehren ist die Gemeindebevölkerung nicht in der Lage, eine bestimmte Entscheidung der Kommunalvertretung zu erzwingen. Sie legt deren Handlungsmöglichkeiten nicht verbindlich fest, sondern läßt ihr die endgültige Entscheidung. Dennoch erscheint es sinnvoll, diese Einrichtung als politische Partizipation anzusehen, weil sie der Öffentlichkeit einen Einfluß auf die kommunale Entscheidungsthematik einräumt. Anliegen, die von einem relativ großen Personenkreis in einem förmlich geregelten Verfahren in den kommunalen Entscheidungsprozeß eingebracht und in der Regel öffentlich beraten werden, können von den Entscheidungsträgern nicht ohne weiteres verworfen werden, auch wenn sie formal das Recht dazu haben. Auf den ersten Blick scheinen die vereinfachten Initiativrechte wie das nordrhein-westfälische Petitionsrecht oder das Antragsrecht der bayerischen und der baden-württembergischen Bürger-versammlung bei geringerem Aufwand einen ähnlichen Effekt zu erzielen wie das Bürgerbegehren. Diese Annahme trifft jedoch vermutlich nicht zu: Das Bürgerbegehren bezieht seine besondere politische Durchschlagskraft gerade aus seinen institutioneilen Eigenarten.
Die vorliegenden Studien über die Teilnahme der Bevölkerung an der Gemeindepolitik führen eine Reihe weiterer Einrichtungen auf, die im Sinne der eingangs vorgelegten Definition keine politische Partizipation darstellen, weil sie eher der Information der Öffentlichkeit als der Einflußnahme auf die lokalen Entscheidungsträgerdienen. Hierzu gehört unter anderem die Bürgerversammlung, die in ihrem tatsächlichen Ablauf vornehmlich als Informations-und Selbstdarstellungsinstrument der Verwaltung dient. Eher informative als partizipative Funktionen erfüllen wohl auch die Anhörung sachkundiger Bürger im Rahmen der Ausschußarbeit, die Bürgerfragestunde und die verschiedenen Formen der Bürgerbeteiligung an der kommunalen Planung Von politischer Partizipation im Sinne unserer Definition ist schließlich auch die Mitarbeit in der Kommunalvertretung oder in ihren Ausschüssen zu unterscheiden; denn die damit verbundenen Einflußmöglichkeiten ergeben sich aus der Wahl in ein öffentliches Amt, nicht aus dem Bürgerstatus. Aus diesem Grunde sind sie als qualitativ eigenständige Formen politischer Betätigung anzusehen. Der begrenzte Rahmen, innerhalb dessen sich in den bundesdeutschen Gemeinden Elemente direkter Demokratie erhalten bzw. durchsetzen konnten. ist bislang empirisch kaum erforscht. Insbesondere liegen praktisch keine systematischen Informationen über die Nutzung der institutionell verfügbaren Einflußmöglichkeiten durch die Bevölkerung bzw. einzelne Gruppen vor.
Von dieser Feststellung muß man lediglich das Bürgerbegehren und den Bürgerentscheid in Baden-Württemberg ausnehmen. Diese Einrichtungen waren Gegenstand mehrerer empirischer Studien, die einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren abdecken und insofern einigermaßen verläßliche Aussagen über die praktische Bedeutsamkeit dieser direktdemokratischen Verfahren zulassen. Ergänzend hierzu können einige Erfahrungsdaten über die rheinland-pfälzische Bürgerinitiative herangezogen werden.
Zwischen 1956 und 1978 fanden in Baden-Württemberg 151 Bürgerbegehren und Bürgerentscheide* statt. In 29 Fällen führte das Bürgerbegehren nicht zu einem Bürgerentscheid. Aufgrund eines Bürgerbegehrens kamen 30 Bürgerentscheide zustande. Die verbleibenden 92 Antragsverfahren betrafen das Problem der Kreisreform. In 41 weiteren Fällen initiierte der Gemeinderat einen Bürgerentscheid. Der von den einzelnen Entscheiden ausgehende Mobilisierungseffekt war sehr unterschiedlich. An einem 1956 über die Verfassungsform durchgeführten Bürgerentscheid in der Stadt Achern beteiligten sich lediglich 9, 6 Prozent der Stimmberechtigten. Dagegen wurde die höchste Beteiligungsrate bei einem Entscheid über die Einrichtung einer Schule erzielt (93, 9 Prozent)
In Rheinland-Pfalz wurde das Institut der Bürgerinitiative erst 1973 geschaffen. Kropshofer stellte in der Phase nach seiner Einführung zunächst eine gewisse Zurückhaltung der Bevölkerung gegenüber dem neuen Beteiligungsinstrument fest In der Folgezeit nahm allerdings die Akzeptanz der Bürgerinitiative in der Öffentlichkeit zu. In 49 kreis-und verbandsfreien Gemeinden des Landes wurden zwischen 1976 und 1986 insgesamt 34 Bürgerinitiativen durchgeführt, davon allerdings zehn in den Universitätsstädten Mainz und Trier.
Anders als in der Literatur gelegentlich behauptet wird, trägt weder das Unterschriftenquorum noch das Erfordernis des Finanzierungsvorschlages wesentlich zum Scheitern direktdemokratischer Beteiligungsverfahren bei In Rheinland-Pfalz gelang es lediglich in drei von 34 Fällen nicht, die gesetzlich vorgeschriebene Unterstützung zu mobilisieren, in Baden-Württemberg wurde das Unterschriftenquorum nur in vier Prozent aller Fälle nicht erreicht, acht Prozent der Bürgerentscheide kamen wegen eines fehlenden Finanzierungsvorschlages nicht zustande. Wesentlich häufiger war der Mißerfolg von Bürgerbegehren auf eine restriktive Auslegung ihrer Zulässigkeit durch die Kommunalvertretung zurückzuführen. So wiesen die baden-württembergischen Vertretungskörperschaften 56 Prozent der Bürgerbegehren mit der Begründung zurück, es handele sich nicht um eine wichtige Gemeindeangelegenheit. Sieben Prozent wurden als unzulässig deklariert, weil das Begehren nicht auf eine öffentliche Einrichtung zielte Teilnahme-hemmend könnten das Quorum und das Erfordernis, einen Finanzierungsvorschlag zu unterbreiten, allenfalls insoweit wirken, als sie potentielle Initiatoren möglicherweise davon abhalten, ein Bürger-begehren oder eine Bürgerinitiative einzuleiten.
Aus dem in der baden-württembergischen Gemeindeordnung enthaltenen Positiv-und Negativkatalog resultiert mit einer gewissen Zwangsläufigkeit eine bestimmte thematische Ausrichtung der Referenden. Nach Beilharz spielten die Gebietsreform (26 Prozent) und die Wahl der kommunalen Verfassungsform (25 Prozent) in den Forderungskatalogen der Initiativen die wichtigste Rolle Mit deutlichem Abstand folgten die Themenfelder Schulen (13 Prozent), Wasserversorgung (12 Prozent) und Bauleitplanung einschließlich Sanierungsmaßnahmen (10 Prozent). Auf der Basis eines anders angelegten Beschreibungsrasters legen Ardelt und Seeger Ergebnisse vor, die von den Befunden Beilharz’ erheblich abweichen. Nach ihren Angaben entfielen mehr als die Hälfte aller Fälle auf die kommunale Gebietsreform, die kommunalen Einrichtungen lagen mit 23 Prozent noch deutlich vor den Bürgerbegehren zur kommunalen Verfassungsform (17 Prozent) Mit dem divergierenden Untersuchungszeitraum lassen sich diese Unterschiede nicht erklären. Sie haben wohl auch damit zu tun, daß Beilharz bei der Auswertung der Themenschwerpunkte die Kreisreform ausgeklammert zu haben scheint.
Da die rheinland-pfälzische Gemeindeordnung den Gegenstandsbereich der Bürgerinitiative weiter faßt als dies beim baden-württembergischen Bürgerbegehren der Fall ist, lassen sich in dieser Hinsicht die für die beiden Bundesländer vorliegenden Ergebnisse kaum miteinander vergleichen. Die größte Bedeutung unter den Aktionsbereichen der Bürgerinitiativen nach § 17 GORP kam den Themen Verkehr (12) und Umweltschutz (9) zu. Zwei Antragsverfahren zielten darauf, die betreffende Stadt zur atomwaffenfreien Zone zu erklären.
Angaben über die erfolgreiche Durchsetzung der Anliegen der Bürgerentscheide sind in der Untersuchung von Beilharz und in der rheinland-pfälzischen Erhebung nicht enthalten. Nach den Angaben von Ardelt und Seeger kamen drei Viertel der 120 zwischen 1956 und 1976 initiierten Bürgerentscheide, nämlich 89, zustande. Erfolgreich war etwa jedes zweite Bürgerbegehren. Mit einer Erfolgsquote von 80 Prozent setzten sich die durch einen Gemeinderatsbeschluß eingeleiteten Entscheide aber wesentlich häufiger durch. Die Chancen eines erfolgreichen Abschlusses des Verfahrens waren ebenfalls bedeutend größer, wenn der Bürgerentscheid auf einen Gemeinderatsbeschluß zurückging (43 Prozent gegenüber 33 Prozent beim Bürgerbegehren) Dies deckt sich mit der Feststellung von Beilharz, daß der Erfolg von Bürgerbegehren und die Annahme der durch einen Bürgerentscheid artikulierten Forderung vor allem von der Mobilisierung offizieller Unterstützung abhängen
Trotz einiger Weiterentwicklungen der Elemente direkter Demokratie blieben die in den meisten Bundesländern durchgeführten Reformen des Kommunalverfassungsrechts weit hinter den in Baden-Württemberg geltenden Regelungen zurück. Auch im internationalen Vergleich — besonders mit der Schweiz und den USA — gibt es in der Bundesrepublik nur bescheidene institutioneile Möglichkeiten für eine direkte Einflußnahme der Bürger auf Sachentscheidungen. Vernünftige Gründe für diese Zurückhaltung gegenüber den direktdemokratischen Beteiligungsmöglichkeiten lassen sich auf Anhieb nur schwer erkennen. Der Verweis auf das Scheitern der plebiszitären Einrichtungen in der Weimarer Verfassung überzeugt heute kaum noch, da sich die politischen und kulturellen Rahmenbedingungen der Bundesrepublik erheblich von denen der Weimarer Republik unterscheiden. Im Lichte der Ergebnisse der international vergleichenden Partizipations-und Einstellungsforschung erscheint das verständliche Mißtrauen der Verfassungsväter gegenüber dem demokratischen Bewußtsein der Bundesbürger nicht mehr gerechtfertigt. Mit Ausnahme des Wahlrechts werden die institutionell geregelten Formen der Beteiligung der Öffentlichkeit an kommunalen Entscheidungen in der Praxis nicht intensiv genutzt, und sie scheinen vornehmlich Angehörigen der oberen Mittelschicht als Instrumente politischer Einflußnahme zu dienen
HL Strukturen kommunalpolitischer Partizipation in der empirisch-verhaltenswissenschaftlichen Forschung
Abbildung 4
Tabelle 2: Konventionelles und unkonventionelles politisches Verhalten in der Bundesrepublik von 1974 bis 1980 (Angaben in Prozent) Quellen: Politische Ideologie I, ZA-Nr. 757; Politische Ideologie II, ZA-Nr. 1190. ) Die Angaben in der ersten Zeile betreffen die realisierten Aktivitäten, die eingeklammerten Werte in der zweiten Zeile die Verhaltensabsichten. Beim konventionellen politischen Verhalten sind alle Befragten berücksichtigt, die die betreffenden Aktivitäten oft oder manchmal ausführen; beim unkoݙ9
Tabelle 2: Konventionelles und unkonventionelles politisches Verhalten in der Bundesrepublik von 1974 bis 1980 (Angaben in Prozent) Quellen: Politische Ideologie I, ZA-Nr. 757; Politische Ideologie II, ZA-Nr. 1190. ) Die Angaben in der ersten Zeile betreffen die realisierten Aktivitäten, die eingeklammerten Werte in der zweiten Zeile die Verhaltensabsichten. Beim konventionellen politischen Verhalten sind alle Befragten berücksichtigt, die die betreffenden Aktivitäten oft oder manchmal ausführen; beim unkoݙ9
Die Beteiligung der Öffentlichkeit an kommunalen und nationalen Entscheidungen läßt sich nicht lükkenlos durch die Verfassung und die Gesetze regulieren. Zu einem großen Teil vollzieht sich das politische Engagement in institutionell ungeregelter Form und kann mit einer rein formal-institutionellen Untersuchungsstrategie nicht erfaßt werden. Deshalb ist die bisher vorgelegte institutionell ausgerichtete Analyse durch eine am verhaltenstheoretischen Ansatz orientierte Betrachtung zu ergänzen. Dabei bietet es sich an. einige bundesweite Partizipationsstudien unter dem Gesichtspunkt ihrer kommunalpolitischen Relevanz auszuwerten. 1. Die lokalpolitische Kompetenz Die politische Partizipation erfüllt definitionsgemäß den Zweck, der Bevölkerung Einfluß auf die Entscheidungen über öffentliche Angelegenheiten zu eröffnen. Diese Feststellung will den symbolisch-expressiven Wert politischer Beteiligung nicht bestreiten, aber auf die Dauer führt eine ausschließlich symbolische, nicht durch effektive Einflußchancen abgesicherte Mitwirkung vermutlich eher zur Frustation als zum Erwerb partizipativer Kompetenz. Eine aktive Beteiligung an der Politik ist vor allem dann zu erwarten, wenn in der Öffentlichkeit das Bewußtsein vorherrscht, man könne durch politisches Engagement seine Vorstellungen und Interessen durchsetzen.
In Deutschland bietet die Kommunalpolitik besonders günstige Voraussetzungen für den Erwerb partizipativer Normen und Fertigkeiten. Während die Beteiligung an der nationalen Politik erst nach der Gründung der Bundesrepublik dauerhaft als Verhaltensnorm institutionalisiert wurde, gibt es eine bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition der Bürgerbeteiligung an der Erfüllung kommunaler Aufgaben Aus diesem Grunde ist es nicht weiter verwunderlich, daß Almond und Verba noch in den fünfziger Jahren ein starkes Gefälle zwischen der Wahrnehmung von Einflußmöglichkeiten auf lokale und nationale politische Entschei-düngen feststellten. In einer 1959 durchgeführten Erhebung erklärten 62 Prozent der Befragten, sie fühlten sich in der Lage, etwas gegen ungerechtfertigte Vorhaben der Kommunalverwaltung zu unternehmen. Vergleichbare Einflußchancen in der nationalen Politik sahen dagegen nur 38 Prozent. Der Unterschied zwischen der lokalen und der nationalen Kompetenz war in der Bundesrepublik damals erheblich größer als in den traditionsreichen Demokratien (USA und Großbritannien)
Die Studie von Almond und Verba lag zeitlich vor dem Beginn einer Entwicklungsperiode, die man in der Literatur als „partizipatorische Revolution“ beschreibt und in deren Verlauf sich ein deutlicher Anstieg der Beteiligungsbereitschaft einstellte. In der Bundesrepublik kann man diese Entwicklung aus heutiger Sicht nicht zuletzt auf die Zunahme des politischen Kompetenzbewußtseins, vor allem in bezug auf die nationale Politik, zurückführen. Seit 1959 schwächte sich das Gefälle zwischen der subjektiven Kompetenz in lokalen und nationalen Angelegenheiten deutlich ab. Im Jahre 1980 gaben 76 Prozent der befragten Bundesbürger an, sie würden sich im Bedarfsfälle gegen unerwünschte Maßnahmen der Kommunalverwaltung zur Wehr setzen. Entsprechende Reaktionen auf nachteilige Gesetzesinitiativen des Bundestages kündigten 61 Prozent an.
Mindestens so großes Interesse wie der generelle Anstieg der subjektiven politischen Kompetenz verdient die Frage, ob sich die von den Bürgern präferierten Formen der Einflußnahme verändert haben. Der Vergleich der hierzu aus den Jahren 1959, 1974 und 1980 vorliegenden Daten wirft gewisse Probleme auf. weil die Angaben in diesen Studien nicht nach einem einheitlichen Schema ausgewertet wurden. Dieser Umstand erschwert zwar die Interpretation der eingetretenen Veränderungen. macht aber Aussagen über einen Wandel der politischen Verhaltensabsichten nicht unmöglich. Nach einer weitverbreiteten Vorstellung ist die Beziehung der Deutschen zum Staat vor allem über die Exekutive vermittelt. Dies belegt die Erhebung aus dem Jahre 1959, in der fast jeder dritte Befragte angab, er würde sich persönlich an die zuständige Verwaltungsbehörde wenden, um eine unerwünschte kommunale Maßnahme abzuwenden. Erst mit weitem Abstand folgten als nächstgenannte Einflußstrategien die Mobilisierung informeller Gruppen und individuelle Kontakte zu Politikern. Zwischen 1959 und 1980 veränderten sich die politischen Verhaltensabsichten grundlegend: Während die individuellen Verwaltungskontakte an Bedeutung verloren, verdreifachte sich der Anteil der Bundesbürger, die im Zusammenwirken mit Freunden, Nachbarn u. ä. versuchen wollten, ihre politischen Ziele durchzusetzen. Auf einem ohnehin niedrigen Niveau entwickelte sich das Vertrauen in die Parteien und Interessenverbände als Partizipationskanäle nochmals leicht rückläufig. Allerdings würde man der Vermittlungsfunktion der politischen Parteien in der Kommunalpolitik nicht gerecht, wenn man die individuellen Kontakte der Bevölkerung mit Politikern unberücksichtigt ließe. In der Bundesrepublik laufen Politikerkontakte fast ausschließlich über die Parteien. Die Bürger mobilisieren auf diesem Wege die politischen Parteien für ihre Anliegen, ohne selbst dauerhaft in ihnen mitzuarbeiten. Nimmt man die verschiedenartigen Formen parteienvermittelter Einflußnahme zusammen, dann bleibt die Rolle der Parteien als Instrumente lokalpolitischer Partizipation ziemlich unverändert (vgl. im einzelnen die Angaben in Tabelle 1). Angesichts des starken Mitgliederzuwachses der Parteien ist dies ein überraschendes Ergebnis. Die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele spielte weder 1959 noch 1974 eine Rolle.
Almond und Verba sahen in der Bereitschaft der Bürger, bei der Durchsetzung ihrer politischen Vorstellungen mit anderen zusammenzuarbeiten, einen Indikator des demokratischen Reifegrades eines Landes. Das gemeinschaftliche politische Engagement versetzt ihrer Meinung nach die Normalbürger in die Lage, ihre Eigeninteressen zu artikulieren, Einfluß auf die Regierung zu nehmen und diese zu verantwortlichem Handeln zu zwingen. Nicht zuletzt trage es zur Integration der Bürger in das politische Gemeinwesen bei
Macht man sich diese Betrachtungsweise zu eigen, dann stellte sich die Situation der Bundesrepublik im Jahre 1959 zwiespältig dar. Zwar arbeiteten mehr Bürger in formalen politischen Organisationen mit als in Großbritannien und in den USA. Im Unterschied zu den etablierten Demokratien betätigten sich jedoch in der Bundesrepublik wesentlich weniger Personen in informellen politischen Aktionsgruppen. Dementsprechend indiziert der Wandel der bevorzugten Einflußstrategien eine Stärkung der bundesdeutschen Demokratie. Neuere Daten über die subjektive politische Kompetenz in nationalen und lokalen Fragen liegen nicht vor. Allerdings enthält eine international vergleichende Studie aus dem Jahre 1985 Informationen über die in der Bevölkerung vorherrschende Einschätzung des eigenen Einflusses auf die lokale und nationale Politik. Danach glaubten in der Bundesrepublik 29 Prozent der Befragten, der Durchschnittsbürger habe Einfluß auf die lokale Politik (USA: 32 Prozent; Großbritannien 24 Prozent). Auf der nationalen Ebene lagen die Werte erheblich niedriger (Bundesrepublik und Großbritannien: 8 Prozent; USA: 19 Prozent) Ein direkter Vergleich dieser Angaben mit den zuvor präsentierten Daten zur politischen Kompetenz verbietet sich aus methodischen Gründen. I Prozent der Befragten, der Durchschnittsbürger habe Einfluß auf die lokale Politik (USA: 32 Prozent; Großbritannien 24 Prozent). Auf der nationalen Ebene lagen die Werte erheblich niedriger (Bundesrepublik und Großbritannien: 8 Prozent; USA: 19 Prozent) 27). Ein direkter Vergleich dieser Angaben mit den zuvor präsentierten Daten zur politischen Kompetenz verbietet sich aus methodischen Gründen. Insofern sind Aussagen über die seit 1980 eingetretene Entwicklung nicht möglich. 2. Strukturen und Bestimmungsfaktoren konventioneller und unkonventioneller politischer Aktivität: Begriffe und Erhebungsverfahren
Wie die Untersuchung der subjektiven politischen Kompetenz erkennen läßt, verbinden sich in der Bundesrepublik mit der „partizipativen Revolution“ zwei Entwicklungen: ein genereller Anstieg der Beteiligungsbereitschaft und die Ausbreitung neuer kollektiver Aktionsformen. Den Auftakt zur qualitativen Veränderung des Beteiligungsverhaltens bildeten die Aktivitäten der Studentenbewegung, jedoch entstanden schon bald darauf lokale Initiativgruppen, die zur Durchsetzung ihrer Forderungen auf die von der APO entwickelten Aktionsformen zurückgriffen 28).
Mit dem Aufkommen neuer Partizipationsformen ergab sich für die empirische Politikwissenschaft die Notwendigkeit, die Beziehung zwischen dem traditionellen partei-und wahlbezogenen Verhalten und den neuen Protestaktivitäten theoretisch und empirisch zu klären. Den bislang wichtigsten Beitrag hierzu lieferte das „Political-Action-Projekt“ im Rahmen einer vergleichenden Analyse des Beteiligungsverhaltens in acht westlichen Demokratien 29). Dabei unterstellten die Forscher die Existenz zweier verschiedenartiger Beteiligungssysteme. die sie als „konventionelles“ und als „unkonventionelles politisches Verhalten“ bezeichneten und folgendermaßen definierten: „Als konventionell werden diejenigen Beteiligungsformen bezeichnet, die mit hoher Legitimitätsgeltung auf institutionalisierte Elemente des politischen Prozesses, insbesondere auf die Wahl bezogen sind, auch wenn diese Formen selbst nicht institutionalisiert sind. . . . Als unkonventionell werden hingegen alle die Beteiligungsformen bezeichnet, die auf institutionell nicht verfaßte unmittelbare Einflußnahme auf den politischen Prozeß abstellen.“ Die empirische Analyse konventioneller politischer Aktivitäten konnte an zahlreiche Vorarbeiten an-knüpfen -In der Tradition der empirischen Partizipationsforschung entwickelte man eine Skala konventioneller politischer Partizipation, die aus sieben hierarchisch geordneten Einzelaktivitäten bestand. Die „Basis“ des konventionellen Partizipationssystems bildeten einfache, weit verbreitete Aktivitäten wie die Lektüre des politischen Teils der Zeitung und die Beteiligung an politischen Diskussionen. An der Spitze der Partizipationshierarchie standen aufwendige und seltene Aktivitäten wie der Besuch politischer Veranstaltungen oder die individuelle Kontaktaufnahme mit Politikern (genauere Angaben in Tabelle 2) Die Teilnahme an Wahlen wurde, wie schon bei Verba und Nie, als eigenständiges Partizipationssystem angesehen
Auf denselben Überlegungen basierte die Skala unkonventionellen politischen Verhaltens, bei deren Konstruktion ein Rückgriff auf frühere Forschungsergebnisse allerdings nicht möglich war. Die sieben hierarchisch geordneten Einzelaktivitäten unterschieden sich wie die konventionellen Aktivitäten in ihrer Verbreitung und in ihrem Schwierigkeitsgrad voneinander. Darüber hinaus sind einige dieser Aktionsformen legal, andere illegal. Zu ersteren zählt Fuchs die Unterzeichnung von Petitionen sowie die Teilnahme an genehmigten Demonstrationen und an Boykotten. Die darauf aufbauenden Formen zivilen Ungehorsams (Verkehrsblockaden, Miet-und Steuerstreiks, wilde Streiks und Gebäudebesetzungen) überschreiten die Legalitätsschwelle, ohne aber im Regelfälle Gewalt gegen Personen zu implizieren. Die Gewaltanwendung ließ sich auf der Skala unkonventionellen Verhaltens nicht einordnen und bildete ein Handlungssystem eigener Art
Die der Messung konventioneller und unkonventioneller Beteiligung zugrundeliegenden theoretischen Annahmen bewährten sich in der empirischen Analyse. Weitere empirische Partizipationsstudien über die Bundesrepublik kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Alle Untersuchungen stützen die Schlußfolgerung, daß sich die Bevölkerung zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele unterschiedlicher Strategien bedient. So. grenzten Ellwein, Lippert und Zoll „vier empirisch abgesicherte Verhaltenssegmente bzw. Typen’" politischer Partizipation voneinander ab, die sie als formelle Teilnahme, als individuelle politische Aktivität, als passive und als demonstrative Teilnahme bezeichneten. Radtke ermittelte ebenfalls vier Systeme politischer Partizipation: die unkonventionelle politische Aktivität, die Parteiaktivitäten, die strukturell unreglementierten Aktivitäten und die Standardaktivitäten. Die drei hier vorgestellten Untersuchungen stützen also — bei im Einzelnen divergierenden Ergebnissen — die Unterscheidung zwischen konventionellen, wahl-und parteienbezogenen Aktivitäten und direktdemokratischen Handlungsformen
Trotz erheblicher theoretisch-methodischer Fortschritte blieben die empirischen Partizipationsstudien in mancherlei Hinsicht unbefriedigend. Sie beschreiben und erklären zwar verschiedenartige politische Aktivitäten, lassen aber die Frage unbeantwortet, ob die Partizipanten diese Handlungen tatsächlich als politische Partizipation einschätzen, als Versuche nämlich, Entscheidungen der politischen Führung zu beeinflussen. Bei den meisten konventionellen politischen Aktivitäten, etwa beim Lesen des politischen Teils der Zeitung, bei der Beteiligung an politischen Diskussionen oder beim Besuch politischer Veranstaltungen erscheint dies bereits auf den ersten Blick unwahrscheinlich. Teils haben wir es mit Kommunikationsaktivitäten, teils mit Unterstützungshandlungen ohne Entscheidungsbezug zu tun. Inwieweit sie der politischen Einflußnahme dienen, müßte empirisch überprüft werden. Diese Feststellung gilt es auch für einzelne unkonventionelle Aktivitäten, insbesondere die Teilnahme an Boykotten, Mietstreiks oder wilden Streiks, deren Ausrichtung auf das politische System zudem fraglich erscheint, zu klären. Gerade die Protestaktivitäten weisen nach Kaase und Barnes eine starke rituelle Komponente auf, die sich mit dem eingangs vorgestellten instrumenteilen Partizipationsbegriff nicht ohne weiteres ver-trägt Unter den institutioneilen Bedingungen der Bundesrepublik erscheint schließlich die Beschreibung der legalen unkonventionellen Aktivitäten als nichtinstitutionalisiertes Verhalten problematisch. Der Grundrechtsteil des Grundgesetzes sieht ausdrücklich Demonstrations-und Petitionsrechte vor. Die empirische Partizipationsforschung müßte sich in der Zukunft stärker um eine theoretisch schlüssige Umsetzung des Partizipationsbegriffes bemühen und sich auf die Analyse solcher Aktivitäten konzentrieren, die sich als Instrumente politischer Einflußnahme eignen. Darüber hinaus wäre es zweckmäßig, die der politischen Beteiligung zugrundeliegenden Motive und die mit ihr verfolgten Absichten genauer zu untersuchen, um auf diese Weise verläßlichere Aussagen über die partizipative Komponente politischen Verhaltens zu erhalten. 3. Die Ergebnisse der empirischen Forschung: Das Beteiligungsverhalten in der Bundesrepublik 1974 und 1980
Die Zunahme der subjektiven politischen Kompetenz zieht mit großer Wahrscheinlichkeit eine intensivere Beteiligung der Öffentlichkeit an der nationalen und lokalen Politik nach sich Daß die „partizipatorische Revolution“ nicht allein die politischen Einstellungen der Bundesbürger veränderte, sondern daß sie darüber hinaus auch für das politische Verhalten bedeutsam wurde, zeigt sich am Anstieg der Wahlbeteiligung auf allen Ebenen des politischen Systems und an den steigenden Mitgliederzahlen der politischen Parteien. Das Aufkommen der Bürgerinitiativen in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre belegt ebenfalls die Gültigkeit dieser These. Allerdings gibt es bislang keine zuverlässigen Angaben über die Zahl der in Bürgerinitiativen aktiven Personen
Eine langfristig angelegte empirische Analyse des konventionellen und des unkonventionellen politischen Verhaltens in der Bundesrepublik scheitert an der Datenlage. Insofern kann nachfolgend nur die Entwicklung in den Jahren 1974 bis 1980 vorgestellt werden. Dabei wird deutlich, daß sich auch nach dem Abschluß des politischen Mobilisierungs prozesses nur eine Minderheit der Bürger aktiv ar der Politik beteiligt. Die breite Mehrheit begnügt sich nach wie vor mit einer „Zuschauerrolle“, die darin besteht, sich aus der Zeitung über politische Ereignisse zu informieren oder sich an politischen Diskussionen zu beteiligen. Zwar war 1974 und 1980 nur etwa jeder fünfte Befragte politisch völlig inaktiv, doch beschränkten sich etwa 50 Prozent auf Zuschaueraktivitäten. Ein Viertel hatte nach eigenen Angaben oft oder manchmal an mindestens einer anspruchsvolleren Aktivität teilgenommen. Dieser Anteil war im untersuchten Zeitraum leicht rückläufig (vgl. Tabelle 2).
Bei der Untersuchung der Frage, wieviele Bundesbürger sich an mehreren konventionellen Aktivitäten beteiligen, verdichtet sich das Bild von der politischen Partizipation als Minderheitenphänomen.
Das gesamte Spektrum der sieben Formen konventionellen politischen Verhaltens schöpften 1974 und 1980 nur 6 bzw. 4 Prozent der Bundesbürger aus.
Nach den von Kaase präsentierten Daten ist dies im internationalen Vergleich noch ein recht hohes Niveau konventioneller Aktivität Im partei-und wahlbezogenen Engagement der Bundesbürger traten zwischen 1974 und 1980 keine tiefgreifenden Änderungen auf. Die „partizipatorische Revolution“ setzte sich in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre zwar nicht fort, es ist aber auch kein dramatischer Rückgang der politischen Aktivität zu verzeichnen
Das unkonventionelle politische Verhalten ist definitionsgemäß weniger institutionalisiert als das Engagement in der traditionellen Politik. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, wenn das Beteiligungsniveau in diesem Bereich deutlich unterhalb der für die konventionellen Aktivitäten ermittelten Werte liegt. Abgesehen von der Mitwirkung an Unterschriftensammlungen entfielen auf keine der in Tabelle 2 enthaltenen Aktionsformen mehr als 10 Prozent der Nennungen. Bei der Wahl einer „weicheren“ Erfassungsmethode ergibt sich zwar ein höheres Beteiligungspotential, doch selbst in wichtigen Situationen ist ein nennenswerter Anteil der Bundesbürger allenfalls zur Mitwirkung an legalen Protestaktionen bereit. 1974 und 1980 ließen 19 bzw. 24 Prozent der Befragten keinerlei Engagement in der unkonventionellen Politik erkennen. Sie hatten sich bislang an Protestaktionen nicht beteiligt und waren hierzu auch in wichtigen Fragen nicht bereit. Das Potential für die legalen Protest-aktivitäten blieb zwischen 1974 und 1980 relativ konstant (69 bzw. 64 Prozent), allerdings verteilten sich die Werte im unteren Skalenbereich in diesen beiden Jahren sehr unterschiedlich. Lediglich 13 bzw. 11 Prozent der Befragten zeigten eine Bereitschaft, in wichtigen Fragen auch Formen des zivilen Ungehorsams zu praktizieren, 3 bzw. 2 Prozent waren bereit, das gesamte Arsenal der Protestpolitik einzusetzen. Die bereits 1974 im internationalen Vergleich nur schwache Protestbereitschaft der Deutschen ging zwischen 1974 und 1980 nochmals deutlich zurück
Im Gegensatz zu der häufig geäußerten Vermutung, das Aufkommen der Protestaktionen resultiere aus einem Versagen der traditionellen Formen politischer Einflußnahme, tendieren in der Parteipolitik überdurchschnittlich aktive Personen auch stärker als die übrige Bevölkerung zur Beteiligung an Protestaktionen. Nach Kaase spricht einiges dafür, „daß die neuen, direkten Formen der politischen Beteiligung das Repertoire der Bürger an politischen Verhaltensweisen erweitern und sie damit vermutlich in den Stand versetzen, ihre eigenen politischen Vorstellungen flexibler als in der Vergangenheit im politischen Entscheidungsprozeß zu vertreten“ 4. Die Kommunalpolitik als Adressat politischer Beteiligung Die bislang präsentierten Daten geben keinen Aufschluß über die Verteilung des bürgerschaftlichen Engagements auf die einzelnen Ebenen des politischen Systems, insbesondere über die Rolle der Kommunalpolitik als Adressat politischer Aktivitäten. Zwar laufen über die Eignung der Kommunen als Betätigungsfeld zahlreiche plausible Vermutungen um, aber es liegen nur wenige Informationen vor. Umso erfreulicher ist es, daß die „PoliticalAction“ -Erhebung von 1980 als erste nationale Repräsentativstudie detaillierte Fragen zur Ausrichtung konventioneller und unkonventioneller Aktivitäten auf die einzelnen staatlichen Entscheidungsebenen enthielt. Diese Daten dokumentieren die hervorgehobene Rolle der Kommunen im Partizipationssystem der Bundesrepublik. 32 Prozent der Teilnehmer an einer unkonventionellen politischen Aktivität nannten die Kommunen bzw. Kreise als Adressaten, weitere 13 Prozent der Nennungen entfielen auf die Kommunen in Verbindung mit einer überlokalen Entscheidungsinstanz. Protestaktivitäten mit einer bundes-oder landespolitischen Ausrichtung waren weitaus seltener (Bund: 7 Prozent, Land 13 Prozent, sonstige/mehrere überlokale Ebenen: 19 Prozent). In der Arbeit der Bürgerinitiativen überwiegen nach den in der „Poiitical-Action“ -Studie enthaltenen Angaben kommunalpolitisch ausgerichtete Einflußversuche noch deutlicher Prozent), überlokale Einrichtungen: 29 Prozent.
Auch das konventionelle politische Engagement richtete sich schwerpunktmäßig auf die kommunale Ebene. Bei den Bemühungen der Bürger um die Lösung gemeindlicher Probleme ergibt sich dies schon definitionsgemäß, aber auch die Politiker-kontakte konzentrieren sich auf die Kommunen und Kreise (32 Prozent) oder beziehen diese Ebene ein (22 Prozent). Wesentlich seltener kamen Kontakte mit Politikern in landes-(9 Prozent) oder bundespolitischen Fragen vor (9 Prozent).
Weitere Hinweise auf die Bedeutung lokaler bzw. überlokaler Probleme für die politische Beteiligung der Bundesbürger ergeben sich aus den Sachbereichen, auf die sich die lokalpolitische Partizipation richtet. Als Gegenstände der Zusammenarbeit mit anderen Bürgern wurden besonders häufig Verkehrsprobleme (17 Prozent), die Belange von Kindern und Jugendlichen (16 Prozent), die Kommunalpolitik im allgemeinen (12 Prozent) sowie Fragen des Umweltschutzes, der Ver-und Entsorgung genannt (11 Prozent). Bei den Politikerkontakten ging es in erster Linie um die Partei-und Wahlkampfarbeit (21 Prozent) und um die Kommunalpolitik im allgemeinen (12 Prozent), spezifische kommunale Probleme wurden seltener auf diesem Wege angegangen. Die beiden wichtigsten Themenfelder der unkonventionellen politischen Partizipation waren Verkehrs-(20 Prozent) und umwelt-politische Probleme (einschließlich Ver-und Entsorgung: 17 Prozent), gefolgt vom Politikfeld Schule/Kultur/Bildung. Erstaunlicherweise spielten Fragen der Friedens-und Abrüstungspolitik als Zielscheibe von Protestaktivitäten im Jahre 1980 noch keine wesentliche Rolle.
IV. Bestimmungsfaktoren konventioneller und unkonventioneller Beteiligung
Die Möglichkeit zur Einflußnahme auf politische Entscheidungen gehört zu den wichtigsten demokratischen Bürgerrechten. Sie sollte jedem Mitglied des politischen Systems offenstehen. Bereits die ersten empirischen Untersuchungen zeigten jedoch eine Diskrepanz zwischen der demokratischen Norm allgemeiner und gleicher Beteiligung und der Beteiligungspraxis. Die politische Partizipation wird von der gesellschaftlichen Stellung einer Person beeinflußt. Angehörige der Ober-und Mittel-schicht partizipieren stärker an der Politik als Unterschichtangehörige; die Partizipationsbereitschaft steigt mit dem Bildungsniveau, dem Einkommen und mit dem beruflichen Status. Städter sind politisch aktiver als die Bewohner ländlicher Gebiete; Männer betätigen sich politisch häufiger als Frauen, und schließlich ist die politische Aktivität der mittleren Altersgruppen überdurchschnittlich groß. Die Wohndauer in einer Gemeinde, die Identifikation mit ihr und die Einbindung in lokale Vereine fördern gleichfalls das politische Engagement. Mit gewissen nationalen Besonderheiten finden sich diese Hintergrundfaktoren politischer Partizipation in der gesamten westlichen Welt 43).
Zur Erklärung der gruppenspezifischen Partizipationsmuster stehen mehrere Ansätze zur Verfügung, deren Annahmen einander allerdings nicht ausschließen. Das Sozialisationsmodell führt den Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Position von Individuen und ihrem politischen Verhalten auf gruppentypische Prozesse des Erwerbs partizipationsfördemder Werte, Normen und Einstellungen zurück Milbrath und Goel zählen das politische Interesse, das staatsbürgerliche Pflichtbewußtsein, die Partei-Identifikation, das politische Kompetenz-oder Effektivitätsbewußtsein und das politische Vertrauen zu den wichtigsten partizipationsfördernden Einstellungen Teils vermitteln die Bildungseinrichtungen diese Dispositionen, teils sind sie das Ergebnis von Lernprozessen in der Familie und im Freundeskreis, oder sie resultieren aus persönlichen Erfahrungen mit dem politischen System. Neben diesen spezifisch politischen Orientierungsmustern wirken allgemeine Persönlichkeitsmerkmale oder Einstellungen wie die Kontakt-freudigkeit und das Selbstbewußtsein auf das Partizipationsverhalten ein.
Etwas anders setzt die Erklärungsstrategie des Ressourcenmodells politischer Beteiligung an Sie zieht Sozialisationsfaktoren zwar ebenfalls zur Erklärung des individuellen politischen Verhaltens heran, berücksichtigt aber darüber hinaus die Möglichkeiten des Partizipanten, Einflußressourcen zu mobilisieren, stärker. Nach Verba und Nie gibt es zahlreiche Erklärungen für die überdurchschnittliche politische Beteiligung der höheren Statusgruppen: „Für Personen mit einem höheren sozio-ökonomischen Status steht in der Politik mehr auf dem Spiel, sie verfügen über größere Fertigkeiten und mehr Ressourcen, die Politik ist in ihrem Leben gegenwärtiger, sie setzen sich stärker politischen Informationen aus und haben häufiger mit Personen zu tun, die sich ebenfalls in der Politik betätigen.“
Während der Sozialisationsansatz die erlernten Werte. Normen und Einstellungen als die ausschlaggebenden Bestimmungsfaktoren politischer Partizipation ansieht, benötigt ein Individuum nach den Annahmen des Ressourcenansatzes zusätzlich politische Einflußmittel (Geld, Kontakte. Informationen, Wählerstimmenpakete), um seine Vorstellungen in der Politik durchsetzen zu können.
Nach den Ergebnissen älterer, international vergleichender Partizipationsstudien war das politische Engagement in der Bundesrepublik weniger stark von der Schichtzugehörigkeit beeinflußt als in den USA und in Großbritannien. Dagegen waren geschlechtsspezifische Unterschiede im Beteiligungsverhalten der Deutschen stärker ausgeprägt als in den anglo-amerikanischen Demokratien. In allen drei Ländern spielte die Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Organisationen, die Intensität der Mediennutzung, das politische Interesse und das staatsbürgerliche Kompetenzbewußtsein eine bedeutende Rolle bei der Erklärung politischer Partizipation
Im Prinzip treffen diese Feststellungen auch für die siebziger und achtziger Jahre zu. Allerdings macht es die neuere politische Entwicklung erforderlich, zwischen den Bestimmungsfaktoren konventionellen und unkonventionellen politischen Verhaltens zu unterscheiden. Vermutlich ist es auf die stärkere Institutionalisierung der konventionellen Beteiligung und die stärkere Situationsabhängigkeit von Protestaktionen zurückzuführen, daß sich der Einfluß sozialstruktureller Faktoren im System konventioneller Partizipation wesentlich deutlicher zeigt als in der Protestpolitik. Ökonomische Faktoren wie die Schichtzugehörigkeit, das Einkommen und die berufliche Stellung beeinflussen das politische Verhalten 1974 und 1980 nicht sonderlich stark. Die mit weitem Abstand wichtigsten Bestimmungsfaktoren wähl-und parteibezogener Aktivitäten sind das Bildungsniveau und das Geschlecht. Die Beteiligung an Protestaktivitäten hängt ebenfalls stark vom Bildungsniveau ab. noch nachhaltiger aber wird sie vom Lebensalter geprägt. Somit läßt sich das Potential der Teilnehmer an der konventionellen und der unkonventionellen Politik klar eingrenzen. In beiden Partizipationssystemen sind Personen mit einer hohen formalen Schulbildung überrepräsentiert, an Partei-und Wahlkampfaktivitäten beteiligen sich Männer stärker als Frauen, die Teilnehmer an Protestaktionen schließlich rekrutieren sich fast ausschließlich aus den jüngeren Altersgruppen. Abgesehen von den weniger deutlichen geschlechtsspezifischen Unterschieden, finden wir diese Strukturen auch in den USA und in Großbritannien.
Beachtung verdient vor allem die unterschiedliche Relevanz der traditionellen geschlechtsspezifischen Verhaltensmuster für die konventionelle und die unkonventionelle Politik. Bei den Partei-und Wahlkampfaktivitäten zeigt sich die tradierte Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen — auch im internationalen Vergleich — noch klar, bei den direkten politischen Aktionen ist sie weniger deutlich. Zwischen 1974 und 1980 gingen die ohnehin nur schwachen Unterschiede im Engagement von Männern und Frauen in der Protestpolitik weiter zurück. Dieser Sachverhalt läßt sich relativ leicht erklären. Der politische Protest gehört nur bei den jungen Bundesbürgern zum politischen Verhaltensrepertoire. Angehörige dieser Altersgruppen sind weniger stark geschlechtsspezifischen Sozialisationsprozessen ausgesetzt als dies bei den Älteren der Fall ist. Durch den zwischen 1974 und 1980 erfolgten Generationentausch und durch gruppenspezifische Lernprozesse schwächte sich der Einfluß der Geschlechtszugehörigkeit auf die Teilnahme an unkonventionellen Aktivitäten nochmals ab. Gegenüber den genannten Variablen kommt allen weiteren sozialstrukturellen Merkmalen eine untergeordnete Bedeutung als Bestimmungsfaktoren politischer Beteiligung zu
Die Position eines Individuums im gesellschaftlichen Gefüge ist zwar für die Teilnahme an der Politik nicht unwichtig, jedoch haben wir es überwiegend mit relativ schwachen Zusammenhängen zwischen der sozialen Stellung und dem Beteiligungsverhalten zu tun. Größeres Gewicht kommt im Einklang mit den Annahmen des Sozialisationsmodells den politischen Einstellungen zu. Auch diese Feststellung gilt für das konventionelle politische Verhalten stärker als für die unkonventionelle politische Aktivität. Die weitaus wichtigste Bestimmungsgröße des Partei-und Wahlkampfengagements ist das politische Interesse. Daneben begünstigen vor allem das politische Effektivitäts-bzw. Kompetenzbewußtsein und die Überzeugung von der Wichtigkeit der Politik für das Leben der Menschen die konventionelle politische Partizipation. Das politische Interesse und das Effektivitätsbewußtsein fördern auch die Teilnahme an Protestaktivitäten. Der Einfluß der genannten politischen Einstellungen ist in allen gesellschaftlichen Teilgruppen wirksam, d. h. er läßt sich nicht ausschließlich auf bildungs-. alters-oder geschlechtsbedingte Einstellungsunterschiede zurückführen. Erstaunlicherweise trägt das Vertrauen der Bürger zur Regierung und zum politischen System nichts zur Erklärung politischer Partizipation bei. Dies Ergebnis widerspricht der verbreiteten Interpretation des Protestverhaltens als Ausdruck einer Krise des politischen Systems. Die Tatsache, daß kein nennenswerter Zusammenhang zwischen dem politischen Vertrauen und der unkonventionellen politischen Partizipation besteht, stützt vielmehr Kaases These, der Einsatz von Protestaktivitäten in der Politik signalisiere eher eine Erweiterung der politischen Fertigkeiten der Aktivbürger als eine Krise der traditionellen Politik
In der neueren politischen Soziologie hat ein Erklärungsansatz Einfluß gewonnen, der die unkonventionelle politische Aktivität auf einen Wandel der grundlegenden politischen Wertvorstellungen der Bevölkerung zurückführt. Demnach vollzieht sich in den westlichen Gesellschaften gegenwärtig ein Übergang von „materialistischen“ Sicherheits-und Wohlstandszielen zu „postmaterialistischen“
Gleichheits-und Selbstverwirklichungszielen. In folge dieses Wandels verändere sich auch das Par tizipationsverhalten. Die traditionellen-Formen eli tegesteuerter politischer Partizipation durch Mas senorganisationen würden durch die politische Füh rung herausfordernde direkte und spontane (Pro test-) Aktionen ergänzt. Träger dieser neuen Ver haltensformen seien Personen mit postmaterialisti sehen Wertorientierungen In Übereinstimmung mit diesen Annahmen stellen die postmaterialisti sehen Prioritäten 1974 wie 1980 die wichtigste Bestimmungsgröße unkonventioneller politischer Aktivität dar und übertreffen selbst das Alter und das Bildungsniveau noch an Bedeutung. Jedoch bewirkt das Aufkommen postmaterialistischer Wertvorstellungen keineswegs einen Bedeutungsverlust der tradierten Teilnahmeformen, sondern es fördert generell die politische Aktivität, auch in konventionellen Formen.
Da das Ressourcen-und das Sozialisationsmodell einander nicht ausschließen, besteht keine Notwendigkeit, einem der beiden Modelle den Vorzug zu geben. Die große Bedeutung von Sozialisationsfaktoren zeigt sich am Einfluß der politischen Einstellungen auf die Teilnahme der Bürger an der Politik.
Der Einfluß des Bildungsniveaus, des Geschlechts und des Lebensalters auf die politische Beteiligung läßt sich ebenfalls als Hinweis auf die größere Erklärungskraft des Sozialisationsmodells interpretieren. Hierfür spricht schließlich auch die untergeordnete Bedeutung ökonomischer Faktoren (Beruf, Einkommen, Schicht) für das Beteiligungsverhalten. Dennoch kann man das Ressourcenmodell nicht gänzlich verwerfen; denn einige der Sozialisationsindikatoren. insbesondere das Bildungsniveau und das Effektivitätsbewußtsein, sind ohne weiteres als sozio-ökonomische Ressourcenfaktoren interpretierbar. Eine gesonderte Auswertung der Bestimmungsfaktoren der Beteiligung auf kommunalpolitischem Gebiet ist wegen der kleinen Zahl aktiver Partizipanten an spezifisch kommunalpolitischen Aktivitäten nicht sinnvoll. Nach den von Arzberger und von amerikanischen Autoren vorgelegten Ergebnissen ist zu vermuten, daß das Engagement in der Gemeindepolitik grundsätzlich denselben Bestimmungsfaktoren unterliegt wie die Beteiligung an der nationalen Politik
V. Die Bedeutung der veränderten Beteiligungsstrukturen für die kommunale Demokratie
Mit Ausnahme des Wahlrechts wurden die verfaßten und die informellen Partizipationsmöglichkeiten in den fünfziger Jahren von den Bundesbürgern nur zurückhaltend genutzt. Dabei muß man berücksichtigen, daß das politische Engagement auf der nationalen Ebene noch schwächer entwickelt war. In der unzulänglichen Verankerung partizipativer Normen und Werte sahen Beobachter denn auch einen der gravierendsten Mängel der deutschen Nachkriegsdemokratie. Seither nahm die Partizipationsbereitschaft der Bürger deutlich zu. Für diese Veränderung gibt es zahlreiche Ursachen, vor allem die Erhöhung des Bildungsniveaus, der Ausbau des Massenkommunikationssystems und die Verstädterung der Gesellschaft. Neben diesen allgemeinen gesellschaftlichen Bestimmungsfaktoren politischen Verhaltens dürften Strukturwandlungen im politischen System selbst eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben. Erstmals seit dem Beginn der Neuzeit erlebten die Deutschen in der Nachkriegszeit eine längere ungebrochene demokratische Entwicklung. Dies eröffnete ihnen erst die Möglichkeit zum Erwerb partizipativer Normen und zum Erlernen partizipativer Verhaltensformen. Aufgrund dieser Veränderungen paßten sich die politischen Strukturen in der Bundesrepublik zunehmend denen in den etablierten Demokratien an. Zu Recht betont Kaase, „daß das 1963 von Almond und Verba festgestellte Partizipations-und Identifikationsdefizit nicht länger besteht. Was immer an entwicklungsbedingten Problemen der Orientierung der Bürger an einer demokratischen politischen Ordnung in Deutschland im Vergleich zu anderen westlichen Demokratien diagnostiziert und beklagt worden sein mag: Mitte der siebziger Jahre kann davon keine Rede mehr sein.“
Ob die Veränderungen des Partizipationsverhaltens die Funktionsfähigkeit der kommunalen Demokratie stärkt oder schwächt, ist in der Literatur umstritten. Die Ergebnisse der empirischen Forschung machen zwar eine normative Diskussion über die demokratietheoretische Bedeutung des Anstiegs der Beteiligungsbereitschaft nicht überflüssig, können sie aber mit einigen Fakten beliefern und dadurch rationalisieren:
1. Für die von den Kritikern vermehrter Bürgerbeteiligung befürchtete Entrationalisierung des politischen Prozesses gibt es kaum Anhaltspunkte. Die politisch besonders aktiven Bevölkerungsgruppen zeichnen sich durch ein überdurchschnittlich großes politisches Interesse, ein gutes Informationsniveau und ein stark ausgeprägtes politisches Kompetenzbewußtsein aus. Vor allem die Gruppe, die das gesamte Spektrum konventioneller Aktivitäten ausschöpft und zudem auf die legalen Protestaktivitäten zurückgreift, entspricht weitgehend den Lehrbuchvorstellungen vom mündigen Bürger.
2. Die Zunahme politischer Beteiligung läßt sich nicht als Krisensymptom der repräsentativen Institutionen deuten. Dies gilt nicht einmal für die Protestaktivitäten, da eine überdurchschnittliche Unzufriedenheit der Protestierer mit dem politischen System bislang nicht nachweisbar ist. Die Teilnahme an Protestaktionen scheint in erster Linie aus einer spontanen Reaktion auf unerwünschte Aktivitäten der politischen Führung zu resultieren. Hierfür spricht auch das zwischen der konventionellen und der unkonventionellen Beteiligung bestehende Verhältnis wechselseitiger Verstärkung. Die Teilnahme an einer Aktionsform schließt den Rückgriff auf die andere nicht aus, sondern die beiden Partizipationssysteme ergänzen einander.
3. Unbestätigt blieb bislang auf der anderen Seite auch die Erwartung, Aktionen außerhalb des etablierten Institutionengefüges eigneten sich in besonderem Maße dazu, bislang inaktive und gesellschaftlich benachteiligte Gruppen für den politisehen Prozeß zu mobilisieren. Ebenso wie die traditionellen Formen politischer Einflußnahme dient die Protestpolitik vornehmlich Personen mit einer qualifizierten Schulbildung als Instrument der Interessendurchsetzung. An der seit langem bekannten Überrepräsentation der Mittelschicht unter den politisch Aktiven änderte die partizipatorische Revolution nichts. Noch am wenigsten zeigen sich schichtspezifische Verzerrungen bei der Beteiligung an Wahlen, da die Wahlnorm in allen gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen anerkannt wird. Durch die Erhöhung des Bildungsniveaus der Bevölkerung wurde der Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau und der politischen Aktivität nicht aufgehoben, wohl aber der Kreis der Partizipanten erweitert.
Für die Funktionsfähigkeit der kommunalen Demokratie ergeben sich aus der Zunahme der politischen Partizipation überwiegend die bereits 1959 von Almond und Verba behaupteten positiven Effekte. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man mit dem Ausbau der Beteiligungsinstitutionen keine übertriebenen Erwartungen verknüpft. Die bislang durchgeführten institutionellen Reformen, vor allem die Stärkung der Initiativrechte der Bürger im kommunalpolitischen Entscheidungsprozeß und die Erweiterung des bürgerschaftlichen Einflusses bei Kommunalwahlen, wurden von der Öffentlichkeit nach anfänglichen Vorbehalten angenommen. Eine weitere Öffnung des politischen System für die Einflußnahme durch die Bevölkerung bietet siel schon aus organisatorischen Gründen vor allem au der kommunalen Ebene an. und sie trifft wohl auci in diesem Bereich auf entsprechende Erwartun gen.
Oscar W. Gabriel, Dr. rer. pol. habil., geb. 1947; Studium der Sozialwissenschaften an den Universitäten Mainz und Hamburg; 1983 Habilitation für das Fach Politikwissenschaft an der Universität Mainz; Privatdozent und Akad. Oberrat am Institut für Politikwissenschaft der Universität Mainz. Arbeitsgebiete: Theorien und Methoden der empirischen Politikwissenschaft; Politische Soziologie westlicher Demokratien; Kommunalpolitik. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Grundkurs Politische Theorie, Köln-Wien 1978; (Hrsg.) Bürgerbeteiligung und kommunale Demokratie, München 1983; (zus. mit Peter Haungs und Matthias Zender) Opposition in Großstadtparlamenten, Melle 1984; Politische Kultur, Postmaterialismus und Materialismus in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1986, sowie zahlreiche Aufsätze in Fachzeitschriften.