Vom „realen Sozialismus“ zur Selbstbestimmung Ursachen und Konsequenzen der Systemkrise in der DDR
Gert-Joachim Glaeßner
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Zusammenfassung
Innerhalb weniger Wochen brach in der DDR das über 40 Jahre existierende politische System fast völlig zusammen. Die SED, bislang unangefochten die führende politische Kraft, hat nach 43 Jahren ihre dominierende Machtposition verloren. Der Aufsatz versucht eine erste Zwischenbilanz der laufenden Ereignisse. Er untersucht zunächst die strukturellen Ursachen der Krise, die im wesentlichen im Überdauern poststalinistischer politischer und ökonomischer Strukturen gesehen werden — in einer Zeit, in der sich in den anderen sozialistischen Ländern und der Führungsmacht Sowjetunion ein rascher Wandel vollzog. Zweitens wird auf die Widersprüchlichkeit der sogenannten „Wende“ eingegangen, mit der die erneuerte alte SED-Führung versuchte, so viel wie möglich an alten Strukturen zu bewahren. Das sechs Wochen währende Interregnum von Egon Krenz ist zwiespältig: Zwar wurden entscheidende Weichen in Richtung Erneuerung gestellt, der Kurs der SED blieb aber unklar und schwankte. Der Partei gelang es nicht mehr, sich an die Spitze der Reformbewegung zu stellen. Die Entwicklung nach dem Rücktritt von Krenz wird dargestellt und eine vorläufige Einschätzung der Ergebnisse des außerordentlichen Parteitages der SED gegeben. In einem Schlußteil werden die neuen Formen des institutionalisierten Pluralismus im politischen Organisationsgefüge der DDR skizziert sowie einige thesenhafte Überlegungen über die Bedeutung und die gesellschaftspolitische Richtung des revolutionären Prozesses in der DDR formuliert.
I. Emanzipation der Gesellschaft vom Staat
Als nach stundenlangen Verhandlungen am „runden Tisch“ die Vertreter von 14 Parteien und Gruppierungen sich am Abend des 7. Dezember 1989 darauf verständigten, Wahlen für den 6. Mai 1990 vorzuschlagen und die Ausarbeitung einer neuen Verfassung zu beginnen, die nach den Volkskammerwahlen in einem Referendum der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt werden soll, war für jedermann erkennbar, daß sich die Herrschaft der SED ihrem Ende zuneigt. Sie hatte die neu entstandenen Gruppierungen und Parteien als gleichberechtigte Partner bei der Suche nach einem Ausweg aus der Existenzkrise der DDR akzeptieren müssen.
Die von der Gesellschaft erzwungene, von der SED lange Zeit nicht zugelassene offene Diskussion über die Zukunft des politischen Systems ist die Folge einer generellen Krise des poststalinistischen Sozialismus. Die notwendige Modernisierung in allen Bereichen der Gesellschaft ließ sich mit den seit Jahrzehnten praktizierten Mitteln administrativer Veränderungen, technokratischer Politikkonzepte und bürokratischer Reformen nicht realisieren. Ökonomische Krisenerscheinungen, katastrophale ökologische Zustände und ein wachsendes kritisches Selbstbewußtsein der Bürger zwangen zu einem Überdenken bisheriger Politikvorstellungen.
Die Komplexität der neuen Problemkonstellation besteht darin, daß sich in der DDR seit den sechziger Jahren soziale, kulturelle und politische Veränderungen vollzogen haben, die alle Politikebenen tangieren. Weder die bestehenden normativen Regelungen noch das existierende Institutionensystem oder die tradierten Politikmuster sind in der Lage, die neuen Problemlagen zu verarbeiten.
Entgegen dem Willen der SED hat die Gesellschaft seit dem Beginn der sechziger Jahre eine gewisse Eigenständigkeit gewonnen. Sie hat sich von der Partei emanzipiert. Die ursprüngliche Erwartung, daß sich die Arbeitsund Lebensbedingungen immer mehr vereinheitlichen sowie die Normen und Werte des Sozialismus von immer mehr Menschen akzeptiert und bewußt gelebt würden, sich also eine neue, „sozialistische Lebensweise“ herausbilden werde, hat sich nicht erfüllt. Vielmehr hat auch die DDR — wie jeder moderne Industriestaat — einen Prozeß sozialen Wandels durchgemacht, der zur Herausbildung neuer sozialer Gruppen (z. B.der Intelligenz) mit differenzierten Normen und Wert-haltungen geführt hat.
Aufgrund der leicht zugänglichen Informationen aus den Massenmedien der Bundesrepublik ist in der DDR seit langem ein deutlicher Einfluß westlicher Werte und sich verändernder individueller und gesellschaftlicher Normen zu beobachten. Dieser Prozeß schlug sich seit den siebziger Jahren u. a. im Entstehen „alternativer“ Gruppen und Zirkel nieder, die in den letzten Jahren unter dem Dach der evangelischen Kirche viel zur Veränderung des Bewußtseins in der DDR-Gesellschaft beigetragen haben. Er ist jetzt in den Aufbruch einer ganzen Gesellschaft gemündet.
Es wird eine der interessantesten Aufgaben für künftige Historiker sein, die Frage zu klären, wann und warum die politische und gesellschaftliche Entwicklung in der DDR im Laufe der achtziger Jahre in die falsche Richtung gelenkt wurde, warum die SED-Führung unter Erich Honecker den Weg moderater Anpassung des Systems an sich verändernde innergesellschaftliche und äußere Bedingungen verließ, alle Versuche einer Modernisierung des Systems blockierte und dieses zunehmend in Korruption und Mißwirtschaft verstrickt wurde.
Es war wohl in erster Linie die Unfähigkeit, die Zeichen der Zeit zu erkennen, zu begreifen, daß das Gesellschaftsmodell des „realen Sozialismus“, dieses Derivat stalinistischer Herrschaft, an sein Ende gekommen war. Und es war das Unvermögen, von ideologischen Beschwörungsformeln wie: „Alles mit dem Volk, alles durch das Volk, alles für das Volk!“ Abschied zu nehmen, die einen vorurteilslosen Blick auf die eigene Gesellschaft versperrten. Aus der Sicht der Parteiführung der SED bot der DDR-Sozialismus „mit seinem humanistischen Anliegen Raum für die Entfaltung jeder Persönlichkeit“. Jeder sei angesprochen, „an unserem gemeinsamen Vorhaben zum Wohle des Volkes schöpferisch mitzuarbeiten“ Diese Formulierungen, die angesichts der gegenwärtigen Entwicklung geradezu gespenstisch wirken, zeigen, daß die SED ein Politikverständnis propagierte, das in die Zeit des Stalinismus zurückgeht und sich von dem westlicher Demokratien fundamental unterscheidet Sie vertrat einen Totali-tätsanspruch, den sie in den letzten Jahren zwar modifizieren und de facto in vielen Lebensbereichen aufgeben mußte (so duldete sie z. B. in Grenzen die Tätigkeit informeller Gruppen), an dem sie aber prinzipiell festhielt und ihn in konkreten Situationen auch einforderte.
II. Die programmierte Krise
Abbildung 2
Tabelle 2: Haltung zur Vereinigung von DDR und Insgesamt Anhänger Neues Forum bisherige Blockparteien SDP SED 27 41 46 49 7 71 59 53 48 93 Bundesrepublik (Dezember 1989, in Prozent) Politische Orientierung dafür dagegen Quelle: Der Spiegel, Nr. 51 vom 18. Dezember 1989. S. 89.
Tabelle 2: Haltung zur Vereinigung von DDR und Insgesamt Anhänger Neues Forum bisherige Blockparteien SDP SED 27 41 46 49 7 71 59 53 48 93 Bundesrepublik (Dezember 1989, in Prozent) Politische Orientierung dafür dagegen Quelle: Der Spiegel, Nr. 51 vom 18. Dezember 1989. S. 89.
Die gesellschaftliche und politische Entwicklung in den sozialistischen Ländern hat in den letzten Jahren eine ungeahnte Dynamik entfaltet. Die politischen und sozialen Strukturen entwickelten sich immer weiter auseinander. Der Sozialismus sowjetischen Typs, der diesen Ländern nach dem Krieg aufgezwungen worden war, ist in eine tiefe Krise geraten. 40 Jahre nach ihrer Gründung ist die DDR, bis zum Oktober 1989 — neben Rumänien — der Hort des politischen Konservativismus und des Spät-Stalinismus, in diese Systemkrise her-eingezogen worden.
Wenn man die Unbeweglichkeit der Honecker-Führung und ihr Beharren auf überkommenen Positionen mit der Entwicklung vergleicht, die sich in anderen sozialistischen Ländern seit einigen Jahren vollzogen hatte, ist der in der Sowjetunion für die Breschnew-Ära verwendete Begriff „Stagnation“ für die achtziger Jahre in der DDR angebracht.
Interessant ist. daß die Parteiführung der SED über viele Jahre eine kontinuierliche Politik betrieben hat — dafür wurde sie lange Zeit vom Westen gelobt. Kontinuität aber geriet zum Konservativismus. als die Welt um die DDR herum in Bewegung geriet. Statt eine notwendige Reform und Modernisierung des politischen und ökonomischen Systems in Angriff zu nehmen, verschanzte sich die Partei-und Staatsführung hinter den Mauern ihrer abgeschirmten Wohngebiete und ideologischen Vorstellungen. Nepotismus wurde zum beherrschenden Prinzip der politischen und gesellschaftlichen Ordnung in der DDR. Die letzten Jahre waren durch Erstarrung und wachsende Resignation gekennzeichnet. Noch im Sommer 1989 hat niemand ahnen können, daß die Massenflucht von DDR-Bürgern über Ungarn zum Katalysator einer einzigartigen, friedlichen Volksrevolution werden würde.
Die Stagnation der letzten Jahre könnte den Blick dafür versperren, daß es in der DDR durchaus signifikante Veränderungen und Reformversuche gegeben hat. So richtig die Kennzeichnung des politischen Systems als poststalinistisch ist — die Grundstrukturen und ideologischen Grundpositio-nen haben alle Entstalinisierungsbemühungen überlebt —, so problematisch wäre es, die vielfältigen Veränderungen außer acht zu lassen, die die DDR seit dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 durchlaufen hat.
Es hat mehrere Versuche gegeben, die Binnen-strukturen des politischen und ökonomischen Systems zu verändern. Diese Veränderungen zielten aber stets nur auf den ökonomischen Planungs-und Lenkungsmechanismus. Sie bezogen das Verhältnis des Parteistaates zu seinen Bürgern, zu gesellschaftlichen Interessengruppen und zur Gesellschaft insgesamt nicht ein. Zudem waren sie, wie ein Blick auf die verschiedenen Phasen der Wirtschaftsreform zeigt, stets halbherzig und von kurzer Dauer.
Auf der 10. Tagung des ZK der SED vom 8. bis 10. November 1989 gestand Egon Krenz ein, daß die „heute in aller Öffentlichkeit behandelten Probleme und Fragestellungen . . . nicht über Nacht und auch nicht erst im letzten Sommer entstanden“ seien. Die SED sei von falschen ökonomischen Annahmen ausgegangen, einer Fehleinschätzung der internationalen Situation unterlegen und habe sich von Wunschdenken leiten lassen
Die SED-offiziellen Äußerungen über die Gründe der schwersten politischen Krise seit dem 17. Juni 1953 blieben aber bis Anfang Dezember an der Oberfläche, da sie die strukturellen Ursachen nicht oder nur ungenügend benannten. Erst nachdem die SED-Parteiführung unter Egon Krenz am 3. Dezember 1989 das Feld geräumt hatte, begann eine offene Diskussion über den „strukturellen Stalinismus“.der alle Reformversuche überlebt hatte, die zwar das Planungs-und Lenkungssystem modifizierten, die politisch-gesellschaftlichen Grundstrukturen aber unangetastet ließen. So verwundert es nicht, daß seit der ersten Debatte über die Notwendigkeit tiefgreifender Reformen des ökonomischen Mechanismus 1956/57 noch immer die gleichen Fragen auf der Tagesordnung stehen: Dezentralisierung, Demonopolisierung, Rolle des Marktes, Preisreform, Liberalisierung des Außenhandels und vor allem die Unabhängigkeit der Wirtschaftsunternehmen von der Partei-und Staatsadministration.
Seit Beginn der sechziger Jahre hat es in der DDR mehrere Versuche gegeben, durch Reformen die Fesseln des alten stalinistischen Systems abzustreifen und die ideologische und politische Eigenständigkeit des zweiten deutschen Staates zu betonen. Das 1963 in der DDR eingeführte „Neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ (NÖSPL) war als eine Art Pilotprojekt auch für andere sozialistische Länder in Gang gesetzt worden. Der terminologische Bezug zur „Neuen ökonomischen Politik“ (NEP) Lenins war nicht zufällig. Dieses Experiment mußte dann nach dem Sturz Chruschtschows 1964 modifiziert und 1968/69 abgebrochen werden. Die von der Sowjetunion gewährten Spielräume für Reformen waren sehr eng geworden. Unter anderen politischen Rahmenbedingungen hätte das NÖSPL durchaus zum Vorbild einer, wenngleich technokratisch orientierten, Systemreform in den sozialistischen Ländern werden können.
Mitte der sechziger Jahre formulierte die Parteiführung unter Walter Ulbricht eigenständige, von der sowjetischen Position unabhängige Vorstellungen auf verschiedenen Gebieten der Politik. Sie verabschiedete sich von der Erwartung, daß die kommunistische Gesellschaft in absehbarer Zukunft erreicht werden könne. Das Konzept einer „sozialistischen Menschengemeinschaft“, einer konfliktfreien sozialistischen Gesellschaft, trat an die Stelle utopischer Zukunftserwartungen, verkleisterte zugleich aber die realen gesellschaftlichen Konflikte. Die SED versuchte, mit Hilfe neuer wissenschaftlicher Methoden, die aus der Systemtheorie und Kybernetik entnommen waren, den Aufbau des „entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus“ zu bewerkstelligen. Schließlich nahm sie eine eigenständige Haltung in der Frage der Ost-West-Beziehungen und des deutsch-deutschen Verhältnisses ein. Sie konnte diese Position jedoch nicht lange durchhalten.
Der endgültige Abbruch aller Reformexperimente in der Sowjetunion 1968/69 ging einher mit einer Rezentralisierung des Planungs-und Lenkungsmechanismus. Die tschechoslowakische Krise 1968 beendete alle Bestrebungen, Strukturreformen einzuleiten und brachte für zwei Jahrzehnte eine Rückkehr zum alten, politisch kontrollierten und determinierten Zentralismus
Die Ablösung Walter Ulbrichts und die Übernahme des Parteivorsitzes durch Erich Honecker im Mai 1971 beendete eine Etappe der DDR-Politik. Dieser Wechsel öffnete nicht nur den Weg zu einer realistischeren Westpolitik der SED, er war auch die Voraussetzung für eine Wende in der Wirtschafts-und Sozialpolitik, die ebenfalls erkennbar eigenständige Züge trug. Der SED gelang es in der ersten Hälfte der siebziger Jahre, neue Akzente in der Wirtschaftsund Gesellschaftspolitik zu setzen und mit Hilfe einer paternalistischen Sozialpolitik ihr Ansehen in der Bevölkerung zu erhöhen. Die Weltwirtschaftskrise Mitte der siebziger Jahre machte die weitreichenden Pläne einer „Einheit von Wirtschaftsund Sozialpolitik“ zunichte.
Es gerät heute häufig aus dem Blick, daß die SED-Führung in den Jahren der Breschnew-Ära einen eigenen Kurs eingeschlagen hatte: Das Programm der „Einheit von Wirtschaftsund Sozialpolitik“ vermochte über Jahre, die Legitimationsbasis der SED in der DDR-Gesellschaft zu festigen und schuf Spielraum für eine relativ selbständige Außen-und Sicherheitspolitik. In der Zeit des neuen kalten Krieges Anfang der achtziger Jahre blieben die deutsch-deutschen Beziehungen unter der proklamierten Zielsetzung einer „Schadensbegrenzung“ von den weltpolitischen Turbulenzen relativ unbeeinflußt.
Ohne Verständnis und ohne erkennbare politische Konzeption stand die SED-Führung den vielfältigen neuen sozialen Erscheinungen gegenüber: dem Wertewandel, vor allem in Teilen der jungen Generation, dem Aufkommen neuer „issues“ wie Umwelt, Frieden, individuelle Selbstbestimmung usw. Ein Reformbedarf war hier seit längerem unübersehbar. Allen Behinderungen zum Trotz bildeten sich in den letzten Jahren viele der heute aktiven informellen Gruppen und Vereinigungen. In den Ulbricht-Jahren wären solche Versuche im Keim erstickt worden und die Repräsentanten solcher „feindlichen Bestrebungen gegen den Sozialismus“ hätten sich in den Gefängnissen von Brandenburg oder Bautzen wiedergefunden.
Innerhalb weniger Jahre verspielte die SED-Führung den Kredit, den sie sich in den siebziger und frühen achtziger Jahren mühsam erworben hatte. Was noch fünf Jahre zuvor als liberale Haltung gegolten hätte, erschien angesichts der dynamischen Veränderungsprozesse in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern als Festhalten an überholten Vorstellungen und als fortdauernde politische Repression. Je mehr die Veränderungen in der Sowjetunion, Polen und Ungarn vorangingen, um so unsicherer wurde die überalterte Führung der SED. Sie spann sich in ein Netz von Selbst-täuschungen ein und sah jeden Versuch zur Veränderung als „Anschlag des Klassengegners“ an. Die massenhafte Abwanderung, vor allem junger DDR-Bürger, wurde — wie vor dem 13. August 1961 — dem negativen Einfluß, Abwerbungskampagnen und der „Frontberichterstattung“ der Westmedien zugeschrieben, die die „organisatorischen Regieanweisungen“ gäben, um „Bürger der DDR zum Verlassen ihrer Heimat anzustiften“ Die absurdeste Geschichte druckte das „Neue Deutschland“. das von einem Koch berichtete, der angeblich mit einer Mentholzigarette betäubt wurde und in Österreich wieder aufwachte Denen, die die DDR verließen, müsse man keine Träne nachweinen. Presse und Fernsehen berichteten — wie 1953 — von „durch Provokateure von langer Hand vorbereitete“ Aktionen, die nicht zufällig am 40. Jahrestag der DDR kulminierten.
Berichterstatter des Neuen Deutschland stellten noch am 10. Oktober 1989 — einen Tag, nachdem in Leipzig ein Bürgerkrieg knapp verhindert worden war — einen unmittelbaren Bezug zwischen der Berichterstattung westlicher Medien und „antisozialistischen Ausschreitungen“ her: „Die Provokation war von langer Hand vorbereitet. Westberliner Rundfunk-und Fernsehstationen haben sich dabei hervorgetan. Auch schickte man Hetzballons mit Flugblättern wie in Hochtagen des kalten Krieges.“ Von einer „aufgeputschten Meute“ war die Rede, die Polizeibeamte mit dem Nazigruß empfangen hätte. Die Gethsemane-Kirche wurde Oktober 1989 — einen Tag, nachdem in Leipzig ein Bürgerkrieg knapp verhindert worden war — einen unmittelbaren Bezug zwischen der Berichterstattung westlicher Medien und „antisozialistischen Ausschreitungen“ her: „Die Provokation war von langer Hand vorbereitet. Westberliner Rundfunk-und Fernsehstationen haben sich dabei hervorgetan. Auch schickte man Hetzballons mit Flugblättern wie in Hochtagen des kalten Krieges.“ Von einer „aufgeputschten Meute“ war die Rede, die Polizeibeamte mit dem Nazigruß empfangen hätte. Die Gethsemane-Kirche wurde als Ort ausgemacht, von dem die Übergriffe ausgegangen seien 7). In allen Bezirkszeitungen der SED kamen „empörte Bürger“ zu Wort, die „einhellig“ die „gewissenlosen Provokationen“ verurteilten. Jegliche Übergriffe der „Ordnungskräfte“ wurden geleugnet. wahr sei vielmehr, „daß Randalierer, aufge-putschte Störer und kriminelle Elemente staatsfeindliche Parolen riefen und die im Ordnungseinsatz befindlichen Volkspolizisten tätlich angriffen“ 8). Später wurde im Berliner Untersuchungsausschuß deutlich, daß die Gewaltanwendung durch die Sicherheitsorgane politischen Vorgaben folgte. Erich Mielke hatte am Ort des Geschehens in Ost-Berlin erklärt: „Haut sie doch zusammen, die Schweine!“ 9)
Am 11. Oktober 1989 verabschiedete das Politbüro der SED eine Erklärung, in der erstmals Zeichen der Einsicht in die tatsächliche Lage zu erkennen waren. Den Bürgern wurde ein sachlicher und vertrauensvoller Dialog angeboten, die Abwanderung vieler DDR-Bürger wurde bedauert: „Die Ursachen für ihren Schritt mögen vielfältig sein. Wir müssen und werden sie auch bei uns suchen, jeder an seinem Platz, wir alle gemeinsam.“ Zwar ist auch hier noch von Abwerbung und Erpressung die Rede, aber der Ton hat sich deutlich geändert. Gemeinsamkeit wird beschworen, „demokratisches Miteinander“ angeboten und „engagierte Mitarbeit“ eingefordert. Zugleich aber wird deutlich gemacht, daß sich an den Strukturen von Staat und Gesellschaft nichts ändern werde: Die DDR verfüge über „alle erforderlichen Formen und Foren der sozialistischen Demokratie“. Es komme nur darauf an, diese „noch umfassender“ zu nutzen 10).
III. Das Ende der Honecker-Ära
In einem Spiegel-Essay denkt der DDR-Schriftsteller Rolf Schneider darüber nach, was geschehen wäre, wenn Erich Honecker und mit ihm der Rest der alten Garde nach seinem erfolgreichen Besuch in Bonn im September 1987 ihren Rücktritt erklärt hätten, und all das eingeleitet worden wäre, was die Bürger der DDR im Herbst 1989 der politischen Führung abgetrotzt haben. Schneider bemerkt resi-gnierend, daß genau dies nicht vorstellbar sei, weil die gesellschaftlichen und politischen Strukturen des „realen Sozialismus“ keine grundlegende Reform aus eigener Kraft ermöglichten. „Der reale Sozialismus nach der Oktoberrevolution in Ruß-land und nach dem militärischen Zusammenbruch im östlichen Deutschland erbrachte die blutige Unterdrückung und die parasitäre Herrschaft der Nomenklatura. Statt Gerechtigkeit gab es Korruption, statt kultureller Vielfalt Zensur, statt freier Persönlichkeitsentwicklung Opportunismus, statt wirtschaftlichen Fortschritts Verelendung. Die Deformationen beschädigten alles, auch die Deformateure.“
In seiner Rede vom 6. Oktober 1989 zum 40. Jahrestag der DDR hatte Erich Honecker ein wahrhaft idyllisches Bild der Situation in der DDR gemalt. Statt einer gemäßigt kritischen Einschätzung, die ihm dem Vernehmen nach vorgelegt worden war, trug er einen Text vor, der jeden Wirklichkeitsbezug vermissen ließ und sich in platte Losungen wie „Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“ flüchtete, die vom Auditorium mit stürmischem Beifall beklatscht wurden. Die DDR überschreite die Schwelle zum Jahr 2000 mit der Gewißheit, daß dem Sozialismus die Zukunft gehöre, auch wenn „einflußreiche Kräfte der BRD“ die Chance witterten, „die Ergebnisse des zweiten Weltkrieges und der Nachkriegsentwicklung durch einen Coup zu beseitigen“. Statt eines Hinweises auf die realen Probleme des Landes war von einer „Politik der Kontinuität und Erneuerung“ die Rede, die sichere, daß auch künftig der „Sozialismus in den Farben der DDR“ leuchten werde. Während Tausende die DDR verließen oder auf den Straßen demonstrierten, sprach Honecker von dem „vertrauensvollen Gespräch in Stadt und Land“, das in Vorbereitung des XII. Parteitages, der für Mai 1990 einberufen war, im Gange sei In der Scheinwelt einer politischen Führung, die ihr eigenes Lebenswerk von außen bedroht sah, blieben Volk und Partei nur noch in realitätsblinder Festtagsrhetorik im gemeinsamen Bemühen vereint.
Bis zum November 1989 hat die SED an ihrer Führungsrolle in Staat und Gesellschaft gegen alle Versuche einer Systemreform festgehalten. Ihre Unfähigkeit, rechtzeitig eine Reform des politischen und ökonomischen Systems einzuleiten, hat die DDR an den Rand eines Bürgerkrieges gebracht. Nur ein Zusammentreffen glücklicher Umstände hat bewirkt, daß die friedliche Revolution am 9. Oktober in Leipzig im Gegensatz zu den blutigen Ereignissen des 4. Juni 1989 in Peking möglich geworden ist Am 4. November 1989 versammelten sich in Ost-Berlin Hunderttausende Menschen und beklebten die öffentlichen Gebäude mit Tapeten, auf denen die Forderung nach einem Umbau des „Hauses DDR“ erhoben wurde. Der SED, als dem Baumeister dieser Gesellschaft und dieses Staates blieb nur, diesen Forderungen Rechnung zu tragen. Sie versprach tiefgreifende Reformen.
Nach einer anfänglichen „Reformeuphorie“ zeigte sich sehr bald, daß die Resistenz des poststalinistischen Herrschaftssystems gegenüber weitreichenden Veränderungen nicht unterschätzt werden durfte. Es waren nicht allein die alten Männer im Politbüro, oder — wie die spätere Legende es darstellt — einige wenige Führungspersonen, sondern viele Tausende, die im Partei-und Staatsapparat, in der Wirtschaft, im kulturellen Leben, in der Wissenschaft daran mitgearbeitet haben, daß das offizielle Bild der DDR mit der Realität immer weniger übereinstimmte.
In der apologetischen Sicht führender Gesellschaftswissenschaftler in der DDR war der Sozialis-mus vor dem Oktober 1989 eine effektive und zukunftsorientierte „Leistungsgesellschaft“ ein System, das „Leistung, Fortschritt und Gerechtigkeit“ miteinander verbindet. Die Wirtschaft sei stabil und gesund, „vielfältige Reformprozesse“ im Gange, der „Reifeprozeß des Volkseigentums“ widerlege die Behauptung, daß ihm die inneren Triebkräfte verlorengegangen seien Die DDR wurde als ein „sozialistischer Rechtsstaat“ beschrieben in dem die Masse der Bürger das Recht und die Rechtsanwendung als gerecht empfinde Die Arbeiterklasse verwirkliche ihre historische Mission in einer „erbitterten ideologischen Auseinandersetzung“ mit dem Kapitalismus Jedes Reden über eine Krise in der DDR offenbare nur die Krise in den Köpfen derer, die darüber schrieben
Daß sich in solchen Äußerungen in Wahrheit eine Krise der Sozialwissenschaften und sozialwissenschaftlicher Politikberatung sowie eine Deformation des politischen Denkens zeigte, die die ökonomische, politische und soziale Situation der DDR verzeichnet hatte, macht ein Artikel des Direktors des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig, Walter Friedrich, deutlich: „Die Ereignisse der letzten Zeit, besonders die Zuspitzung der gesellschaftlichen Krise sowie die vom Volk erzwungene revolutionäre Umgestaltung, werfen auch Fragen nach dem Zustand, Einfluß, Mitverantwortung und damit nach einer schnellen Neuorientierung unserer Gesellschaftswissenschaften auf. Diese Fragen sind nicht neu, sie wurden seit langem von vielen Wissenschaftlern und Kollektiven reflektiert, diskutiert und zu beantworten versucht. Aber erst in diesen Tagen können (dürfen!) sie in der Öffentlichkeit mit jener Entschiedenheit, Ehrlichkeit, Radikalität debattiert werden, die der Wissenschaft eigen ist.“
Mit der Wirklichkeit hatten die publizierten Ergebnisse der Wissenschaft ebensowenig zu tun, wie das Bild, das in der Presse vom Zustand des Landes gezeichnet wurde. Zu diesem Eingeständnis sah sich schließlich auch Egon Krenz bei seinem Plädoyer für einen „erneuerten Sozialismus“ gezwungen: „Anstatt Lösungen von Problemen zu beraten, wurden allgemeine Lösungen in Umlauf gebracht und stereotyp wiederholt, um in Ordnung zu bringen. was noch nicht in Ordnung ist . . . Anstatt unsere Genossen und alle Bürger ins Vertrauen zu ziehen und sie so für eine engagierte Mitarbeit zur Lösung zu gewinnen, wurde versucht, ihnen ein DDR-Bild zu suggerieren, das immer weniger den Alltagserfahrungen der Menschen entsprach. Konflikte wurden verdrängt und notwendige Antworten oft durch Administration und Gängelei ersetzt.“
IV. Die „Wende“
Seit Mitte Oktober haben sich die Ereignisse überschlagen. Die Ablösung Erich Honeckers und die Abberufung der Mitglieder des Politbüros Joachim Hermann, zuständig für Agitation und Propaganda, und Günter Mittag, ZK-Sekretär für Wirtschaft, am 18. Oktober 1989 war als Befreiungsschlag gedacht. Die Wahl von Egon Krenz, stellvertretender Vorsitzender des Staatsrates und verantwortlicher Wahlleiter der manipulierten Kommunalwahl vom 7. Mai 1989, Politbüromitglied und ZK-Sekretär für Sicherheit (und damit für die brutalen Polizeieinsätze am 7. /8. Oktober verantwortlich), zum Generalsekretär der SED und — wenige Tage später — am 24. Oktober, zum Vorsitzenden des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates (bei 26 Gegenstimmen und 26 Enthaltungen in der Volkskammer), hinterließ den Eindruck, daß die SED-Spitze mit einer Rochade den Anschein von Einsicht zu erwecken suchte, in Wahrheit aber an ihrer Politik und ihren Machtpositionen festhielt. Diesen Makel konnten Krenz und das neue Politbüro nie loswerden.
Der Sturz des Politbüros und des gesamten Zentralkomitees der SED durch den Druck der Parteibasis und die anhaltende öffentliche Kritik der Partei am 3. Dezember sowie der unfreiwillige Rücktritt von Egon Krenz als Vorsitzender des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR am 6. Dezember 1989 zeigten das völlige Desaster dieser Strategie. Trotz einer verblüffenden Anpassungsfähigkeit an die veränderte Lage vermochte es die „erneuerte“ SED-Führung nicht, die Initiative wieder zu erlangen. Über Wochen hinweg blieb ihr nichts anderes übrig, als der Bewegung hinterherzulaufen.
Bei den Massendemonstrationen in Leipzig, Dresden und vielen anderen Städten der DDR und der Kundgebung vom 4. November 1989 in Ost-Berlin, an der nach Schätzungen zwischen 500 000 und 1 000 000 Menschen teilnahmen, zeigte sich eine verblüffende politische Reife und Phantasie. Nur einige Transparentaufschriften mögen als Beispiel dienen: „Egon, was sagst Du jetzt zu China?“; „ 40 Jahre Wasser gepredigt und Wein getrunken“; „Jetzt geht es nicht mehr um Bananen, jetzt geht es um die Wurst“; „Mein Vorschlag für den 1. Mai: die Führung zieht am Volk vorbei“; „ 40 Jahre Frust sind nicht mit 4 Wochen Dialog zu bezahlen“; „ 1789— 1989“; „Jedem seinen Paß — der SED-Führung den Laufpaß“.
Die politische Strategie der SED zielte seit der Wahl von Egon Krenz auf Schadensbegrenzung. Hatte man zuerst noch gehofft, durch Nachgeben im Detail den Unmut der Bevölkerung beruhigen zu können, so zeigte sich bald, daß dies nicht mehr möglich war. Der 4. November 1989 wird wohl als der Tag in die Geschichte eingehen, an dem auch der Parteiführung der SED klar wurde, daß ihre bisherige Taktik der Verzögerung und verbaler Zugeständnisse nichts mehr fruchtete. Abgeordnete des Verfassungs-und Rechtsausschusses der Volkskammer mißbilligten die Haltung des Präsidiums, das — trotz des Drängens von mehr als einem Drittel der Abgeordneten — eine Plenartagung systematisch verhindert hatte Die Regierung Stoph trat am 7. November unter dem wachsenden Druck der Öffentlichkeit zurück, die „befreundeten Parteien“ sahen sich, mit Ausnahme der LDPD, gezwungen. ihre bisherigen Vorsitzenden abzusetzen. Die anderen Stützen des alten Systems verhielten sich ähnlich widerstrebend wie die SED.
Währenddessen ging die Massenflucht weiter — über Prag. Um diese Flut, wenn schon nicht zu stoppen, so doch umzulenken, entschied sich die SED-Führung am 9. November 1989, die deutschdeutschen Grenzübergänge zu öffnen. Dann geschah spontan und friedlich, was die DDR-Führung immer befürchtet hatte — Zehntausende von Menschen strömten an die Grenze und überwanden in einer Nacht die Spaltung Berlins. Die Mauer war offen.
Nun überschlugen sich die Ereignisse. Der Dresdener SED-Bezirkschef Hans Modrow wurde am 13. November 1989 zum neuen Regierungschef gewählt, eine „Koalitionsregierung“ gebildet. Die Regierung wurde von 44 auf 28 Mitglieder verkleinert, den „Blockparteien“ wurden mehr Ministerien zugestanden (17 Mitglieder der neuen DDR-Regie-rung gehören der SED an, insgesamt 11 den anderen Parteien). In seiner Regierungserklärung vom 17. November 1989 versprach der neue Regierungschef Modrow einen grundsätzlichen Wandel der Politik und bat um einen „Vertrauensvor-schuß“. Ein umfangreiches Reformprogramm wurde angekündigt: Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit, ein neues Wahlgesetz und freie Wahlen 1990, eine Neufassung des Gesetzes über den Ministerrat, eine Strafrechtsreform und die Schaffung eines Verfassungsgerichts stellen einige der wichtigsten Vorhaben im politischen Bereich dar Die Wirtschaftsreform müsse die EigenVerantwortung der Wirtschaftssubjekte erhöhen, die zentrale Leitung und Planung vermindern und das Leistungsprinzip verwirklichen Ökologische Probleme, Fragen der Stadtentwicklung, Bildungsfragen wurden besonders hervorgehoben, ein Ende der „Verstaatlichung des kulturellen Lebens“ versprochen — Bereiche, deren Vernachlässigung und/oder ideologische Durchdringung wesentlich zur Unruhe im Lande beigetragen hatten.
Einige bedeutsame Hinweise gingen in Richtung Westen. Modrow bot der Bundesrepublik Deutschland in seiner Regierungserklärung eine „Vertragsgemeinschaft“ an, die weit über die bisherigen Verträge hinausgehen soll. Schließlich kündigte Modrow eine eigenständige „Europapolitik“ der DDR an.
V. Vom Block zur Koalition?
Am 7. Dezember 1989 eschien im Neuen Deutschland ein Kommentar mit der Überschrift: „Der Block ist zerbrochen“. Was in den ersten Nachkriegsjahren als „antifaschistisch-demokratisches Bündnis“ begann und sehr schnell zur völligen politischen Unterordnung der anderen Parteien LDPD, CDU, DBD und NDPD unter die SED führte, endete Anfang Dezember 1989 mit dem Austritt dieser Parteien aus dem „Demokratischen Block“ und dem Zerfall der „Nationalen Front“. Der Kommentator des Neuen Deutschland bezeichnete die-sen Block völlig zu Recht als „überkommene, vom stalinistischen Geist geprägte“ Struktur
Noch im Oktober hatten die „Blockparteien“ einhellig die Führungsrolle der SED unterstützt: „Bei aller Entwicklung und Veränderung, bei allem Nachdenken halten wir an bestimmten Axiomen fest. Die LDPD ist unwiderruflich eine im und für den Sozialismus wirkende demokratische Partei. Ihre Mitglieder wollen diese Gesellschaft, diesen Staat . . . Die LDPD (steht) zum Bündnis der Parteien in der DDR ebenso unwandelbar . . . wie zum Sozialismus. Dieses Selbstverständnis einer mit der SED befreundeten Partei wird bekanntlich weder genetisch vererbt noch an unseren Bildungseinrichtungen gelehrt. Wer zu uns kommt, muß damit erst vertraut gemacht werden . . . Wir Liberaldemokraten anerkennen die führende Rolle der marxistisch-leninistischen Partei. Wir wissen (und internationale Erfahrungen der letzten Zeit bestätigen es), daß von dieser Führung, von ihrer Qualität sehr viel für das Schicksal eines Landes, für den Sozialismus überhaupt abhängt.“
Der LDPD-Vorsitzende Manfred Gerlach, der bereits vor der „Wende“ in einer Rede zum 40. Jahrestag der DDR gefordert hatte, neue Entwicklungen nicht zu blockieren antwortete am 1. November 1989 in einem Interview auf die Frage nach seiner Auffassung über die führende Rolle der SED und die Rolle des „sozialistischen Eigentums“: „Ich bin für die Beibehaltung der Prinzipien aus historischen Gründen und aufgrund der Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft . . . Man kann die allgemeingültige Gesetzmäßigkeit von der führenden Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei nicht deshalb in Frage stellen, weil sie in bestimmten Punkten in der Geschichte schlecht ausgeübt wurde.“ Einen Monat später traten die LDPD, die CDU, die DBD und die NDPD aus dem Bündnis aus.
In der Volkskammer wurde am 1. Dezember 1989 Art. 1 der DDR-Verfassung mit großer Mehrheit bei nur 5 Enthaltungen geändert. Er hatte in der Verfassung von 1968 gelautet: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation.“ In der Fassung von 1974 wurde der nationale Bezug durch die Formulierung „sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern“ ersetzt. Und weiter hieß es: „Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.“ Die Volkskammer strich den Halbsatz „unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“.
Eine CDU-Abgeordnete hatte im Namen ihrer Fraktion gefordert, sich auf die Formulierung zu beschränken: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat“. Wenn man neue Zeichen setzen wolle, müsse deutlich werden, daß die DDR nicht nur ein „Staat der Arbeiter und Bauern“, sondern der Staat aller sei. Nach einer kurzen, emotionalen Debatte, in der der Vorsitzende des Schriftstellerverbandes, Hermann Kant, erklärte, daß die Arbeiter und Bauern schließlich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung darstellten und ein SED-Abgeordneter meinte, „meine Arbeiter“ würden eine solche Zurückweisung nicht akzeptieren, es sei „ein rein menschliches und Klassenproblem“, daß sie besonders erwähnt würden, lehnte die Volkskammer den CDU-Antrag mit großer Mehrheit ab. Für den Antrag stimmten 112 Abgeordnete, 20 enthielten sich
Der Führungsanspruch der SED war bis zum 1. Dezember 1989 nicht nur in der Verfassung verankert. In der Präambel des Statuts der SED hieß es: „Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands als die höchste Form der gesellschaftlichen Organisation der Arbeiterklasse, als kampferprobter Vortrupp, ist die führende Kraft der sozialistischen Gesellschaft, aller Organisationen der Arbeiterklasse und der Werktätigen, der staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen.“ Eine Vielzahl von Gesetzen, Statuten und Programmen der Parteien und Massenorganisationen normierten bisher detailliert diesen Anspruch.
VI. Struktureller Stalinismus
In einem Kommentar des Neuen Deutschland vom 6. Dezember 1989 hieß es, daß die Umwandlung der SED zur Partei neuen Typs 1948 und die damals gefundene Struktur der Partei abgeschafft werden müßten, wenn es gelingen sollte, die SED in eine demokratische Partei zu verwandeln. Es gehe um die Überwindung des „strukturellen Stalinismus“
Diese Kennzeichnung meint eine Politikvorstellung, von der die SED auf ihrem außerordentlichen Parteitag am 8. Dezember 1989 ausdrücklich Abschied genommen hat. Sie läßt sich folgendermaßen kennzeichnen: Die SED begriff das politische System als einen Zusammenhang, innerhalb dessen die Eigenständigkeit einzelner Politikbereiche und Politikfelder ebensowenig akzeptiert wurde wie eine Teilung der Gewalten. Die Verwirklichung der gesellschaftspolitischen Ziele „Sozialismus/Kommunismus“ bedurfte nach ihrer Auffassung einer zentralisierten, nach einheitlichen Prinzipien gestalteten Politik. Nur innerhalb dieser Einheit von Partei, Staat und Gesellschaft konnte sie sich eine funktionale Aufgabenverteilung zwischen Partei, Exekutive, Legislative und Judikative, zwischen staatlichen Institutionen und „gesellschaftlichen Organisationen“ vorstellen
Alle Teile des politischen Systems hatten den gleichen Zielen zu dienen, nach den gleichen Prinzipien zu funktionieren. Das bedeutete vor allem, den „demokratischen Zentralismus“ als Regelungsprinzip der gesamten Gesellschaft anzuerkennen, mit dem die Suprematie der SED gesichert wurde.
Der Anspruch des Parteistaates, alle Bereiche der Gesellschaft seinem lenkenden und regelnden Zugriff zu unterwerfen, verhinderte eine problem-und sachbezogene Politik und führte zu einer „künstlichen“ Politisierung des täglichen Lebens.
Der tradierte Zentralismus und Autoritarismus waren — vor allen Erscheinungen der Korruption und neofeudaler Privilegien — entscheidende Hemmfaktoren für die gesellschaftliche Entwicklung und die Bewältigung der ökonomischen, sozialen und kulturellen Herausforderungen, vor denen die DDR heute steht
Die parteizentrierte Struktur von Gesellschaft und Politik verhinderte einen erfolgreichen Modernisierungsprozeß. Der anstehende Umbau der administrativen Strukturen wird ohne eine größere Durch-schaubarkeit ökonomischer und politischer Entscheidungen nicht vorankommen können. Dies erfordert Offenheit in allen Bereichen der Gesellschaft. Gegenwärtig wird sie von kritischen Bürger-gruppen erzwungen Auch die „Wende“ vollzog sich zunächst noch unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Eine Reihe angekündigter Gesetzesvorhaben und der erklärte Wille, die Volkskammer zu einem wirklichen Parlament zu machen, hat dies bereits partiell geändert. Die Abgeordneten jedenfalls haben erste Forderungen in diese Richtung formuliert und beginnen, Parlamentarismus zu praktizieren, auch wenn im verstärkten Umfang die Frage nach ihrer Legitimation gestellt wird.
Der Umbau und die Modernisierung der sozialistischen Gesellschaft erfordern aber mehr als eine partielle, auf bestimmte Bereiche und gesellschaftliche Gruppen begrenzte Öffentlichkeit. Die wachsende Differenziertheit sozialer Lagen und der unverkennbare Wertewandel drängten seit langem in Richtung einer offenen Gesellschaft, einer „civil society“. Dazu zählen die Sicherung bürgerlicher Freiheiten, Informationsfreiheit, umfassende Partizipationsmöglichkeiten der Bürger, eine wirksame soziale Interessenvertretung und — für poststalinistische Gesellschaften von besonderer Bedeutung — die Sicherung des Individuums gegenüber allen Eingriffsmöglichkeiten des Staates, der Partei oder von ihnen abhängiger Organisationen und Institutionen
VII. Die Wandlungen der SED
Am 3. November 1989, einen Tag vor der großen Demonstration in Ost-Berlin, war das Politbüro der SED zu einer Sitzung zusammengetreten. Anschließend gab Egon Krenz in einer überraschend angekündigten Femsehrede den Rücktritt der fünf Politbüromitglieder Hermann Axen, Kurt Hager, Erich Mielke, Erich Mückenberger und Alfred Neumann bekannt und umriß die Grundzüge eines Aktionsprogramms der SED, das einen Tag später veröffentlicht wurde. Die Rede enthielt weitreichende politische Zugeständnisse, die noch Wochen zuvor als bedeutender Schritt vorwärts gefeiert worden wären, jetzt aber nur noch als halbherziges Zugeständnis einer Partei erschienen, die sich an die Macht klammert.
Krenz versprach
— die Veröffentlichung des Entwurfs eines Reisegesetzes
— die Aufhebung des § 213 (Republikflucht) des Strafgesetzbuches;
— die Ausarbeitung eines Mediengesetzes;
— die Veröffentlichung von Umweltdaten; — eine Amnestie des Staatsrates;
— eine „Reform des politischen Systems“ — die Einrichtung eines Verfassungsgerichtshofes; — eine Verwaltungsreform
— die Einführung eines zivilen Ersatzdienstes, den Kirchen und Bürgerrechtsgruppen seit Jahren vergeblich gefordert hatten;
— eine umfassende Wirtschaftsreform;
— die Reform des Bildungswesens
— Erneuerungen innerhalb der Partei selbst: „Im Leben der Partei, in ihren Strukturen und im Parteistatut sind Garantien für die Unumkehrbarkeit der Erneuerung zu schaffen. Erforderlich ist die Demokratisierung der Kaderpolitik und die Begrenzung der Zeitdauer für die Ausübung von Wahlfunktionen.“
Auf der 10. ZK-Tagung vom 8. bis 10. November 1989 wurde ein „Aktionsprogramm der SED“ verabschiedet, in dem die wesentlichen Aussagen der Krenz-Rede aufgenommen und erweitert wurden. Darin wurde eingestanden, daß es der „friedlichen Massenproteste der Bevölkerung, der Willensbekundungen vieler politischer Organisationen, des konstruktiven Wirkens kirchlicher Kreise und des wachsenden Drucks der Basis unserer eigenen Partei sowie eines Lernprozesses in der Parteiführung (bedurfte), um die erstarrten politischen Strukturen aufzubrechen und erste Schritte einer Wende einzuleiten“
Die politische Praxis sah anders aus. Große Teile des Apparates und die Führung der SED versuchten bis zum 3. Dezember 1989 hartnäckig, ihre Positionen zu verteidigen, eine schonungslose Auf-deckung der wahren Situation zu verhindern und die Entwicklung — vor allem die Vorbereitung des Parteitages — in ihrem Sinne zu manipulieren
Die Parteiführung, die anfangs noch gehofft hatte, ihre Position bis zum vorgezogenen XII. Parteitag im Frühjahr 1990 festigen zu können, konzedierte auf der 10. ZK-Tagung unter Hinweis auf die Bestimmungen des Parteistatuts zunächst nur die Einberufung einer Parteikonferenz.
Das Mißtrauen der Parteibasis gegenüber dem Willen der alten/neuen Führung ging aber inzwischen so tief, daß sie noch für 1989 einen außerordentlichen Parteitag forderte, um einen tiefgreifenden personellen und programmatischen Wechsel durchzusetzen. Die Führung mußte diesen Bestrebungen unter dem Eindruck massenhafter Parteiaustritte schließlich nachgeben. Das Politbüro beschloß am 12. November die Einberufung eines außerordentlichen Parteitages für den 15. bis 17. Dezember 1989
Daß es hinter den Kulissen zu heftigen Kämpfen um die inhaltliche Ausgestaltung des Parteitags und die Wahl der Parteitagsdelegierten kam, läßt ein Appell der SED-Kreisleitung der Humboldt-Universität Berlin ahnen. Dort wurden alle Genossinnen und Genossen der SED aufgerufen, „zum außerordentlichen Parteitag nur solche Delegierte zu wählen, die durch nachweisbare selbstkritische, aufrichtige Haltungen und Handlungen die Konsequenzen aus der Vergangenheit ziehen und mit Entschiedenheit für die Erneuerung des Sozialismus eintreten . . . Wählt Delegierte, die sich für die radikale Neuformierung unserer Partei von der Basis bis zum Generalsekretär verbürgen.“ Gefor-dert wurden eine neue Tagesordnung, um eine kritische Diskussion über die Vergangenheit zu führen, und die Neuwahl des Zentralkomitees und des Generalsekretärs, der bisher vom ZK gewählt wurde. Dieser ursprünglich schärfer formulierte Text zeigt die Unzufriedenheit der Parteibasis mit dem Verzögerungskurs der Parteiführung, der jeder konkrete Reformschritt abgerungen werden mußte. Als erkennbar wurde, daß sie diese Haltung nicht aufgeben würde, hat die Parteibasis die Führung hinweggefegt. Der Rücktritt aller Führungsgremien am 3. Dezember 1989 war der vorletzte Schritt in die Agonie Zuvor hatte das alte ZK noch zwölf prominente Mitglieder aus der Partei ausgeschlossen, unter ihnen Erich Honecker, Werner Krolikowski, Erich Mielke, Horst Sindermann, Willi Stoph und Harry Tisch
Der als Übergangsführung eingesetzte „Arbeitsausschuß“, dem neben den neuen Bezirkssekretären bekannte Reformer wie Wolfgang Berghofer, Lothar Bisky, Gregor Gysi, Klaus Höpcke, Dieter Klein, Roland Wötzel, Markus Wolf angehörten (den Vorsitz übernahm Herbert Kroker, 1. Sekretär der Bezirksleitung Erfurt), berief den Parteitag unter dem Eindruck zunehmender Auflösungserscheinungen in der SED kurzfristig bereits für den 8. Dezember 1989 ein und legte ein als „Diskussionsstandpunkt“ bezeichnetes Papier vor, das als Grundlage für eine „Neuformierung der SED als moderne sozialistische Partei“ dienen sollte Nur der radikale Bruch mit den „stalinistisch geprägten Grundstrukturen“ könne jenen in der SED, die sich „für eine freie, gerechte und solidarische Gesellschaft einsetzen, eine neue politische Heimat geben“ Der stalinistische Sozialismus habe auf keine der drängenden ökonomischen, sozialen, sicherheitspolitischen, ökologischen und kulturellen Existenzprobleme der Menschheit eine Antwort gehabt. Er sei vielmehr selbst Teil dieser Probleme. Angestrebt wird ein dritter Weg „jenseits von administrativem Sozialismus und Herrschaft transnationaler Monopole“.
Der Teil des Papiers, der sich mit konkreten Problemen befaßt, wiederholt alle, inzwischen auch von der SED akzeptierten Forderungen, die eine grundlegende Reform des politischen Systems und der Wirtschaft betreffen. Unverkennbar aber ist, daß die Reformer Probleme mit alten Machtapparaten haben, denen noch immer bonapartistische Gelüste zuzutrauen sind: Der Arbeitsausschuß fordert ein neues Sicherheitsdenken und eine Neubestimmung der Aufgaben für die Sicherheitsorgane, vor allem in bezug auf das „Amt für Nationale Sicherheit“, dessen Auflösung der „runde Tisch“ vom 7. Dezember 1989 der Regierung vorschlug. (Am 17. Dezember 1989 wurde durch die DDR-Regierung die Auflösung des „Amtes für Nationale Sicherheit“ mitgeteilt. Statt dessen sollen ein Nachrichtendienst der DDR und ein Organ des Verfassungsschutzes geschaffen werden, die direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt sein sollen.) Die Betriebskampfgruppen, die in der Gesellschaft der DDR auf wachsende Kritik gestoßen waren, „sollen sich bereit finden“, sich zum Schutz der Bürger, von Betrieben und Einrichtungen in „unbewaffneten Formationen zusammenzuschließen“
VIII. Der außerordentliche Parteitag der SED
In der Nacht vom 8. zum 9. Dezember 1989 trat in der Ostberliner Dynamo-Sporthalle der vorgezogene außerordentliche Parteitag der SED zu seiner ersten Sitzung zusammen. Die Mitgliedschaft der Partei war zu diesem Zeitpunkt von über 2, 3 Millionen auf knapp 1, 8 Millionen geschrumpft. Am selben Tag war bekannt geworden, daß gegen Erich Honecker, Erich Mielke, Willi Stoph, Günter Kleiber, Werner Krolikowski und Hermann Axen Ermittlungsverfahren eingeleitet und die Beschuldigten (außer Honecker, der schwer krank sei und Axen, der sich zu einer Operation in Moskau befinde) in Haft genommen seien. Vor diesem Hintergrund hielt Ministerpräsident Hans Modrow vor den 2 750 Delegierten eine leidenschaftliche Rede, in der er vor einem Zerfall und einer Selbstauflösung der SED warnte. Es komme darauf an, die Partei nicht zerbrechen, nicht untergehen zu lassen: „Macht sie sauber und stark, damit jeder Genosse jedem Bürger gerade in die Augen blicken kann! Macht sie stark, damit sie dem gesellschaftlichen Fortschritt in unserem Lande dienen kann, und das bedeutet für mich, dem Volke zu dienen.“ Die Krise der DDR könne nur gelöst werden, wenn alle Kräfte zusammen an ihrer Überwindung arbeiteten. Hintergrund dieses Appells war die dramatische Zuspitzung der Lage in den vorausgegangenen Tagen. Immer neue Enthüllungen über Korruption und Amtsmißbrauch, die Verhaftung eines großen Teils der alten Führung und Über-griffe auf Gebäude der Staatssicherheit hatten eine gespannte Situation geschaffen. Modrow forderte die Achtung von Recht und Gesetz ein und versprach, daß die Regierung alles tun werde, um Ungesetzlichkeiten aufzudecken. Aber: „Es darf beim Aufdecken von Amtsmißbrauch und Korruption keine Ungesetzlichkeiten geben.“
Der Bericht des Arbeitsausschusses, vorgetragen von Gregor Gysi, enthielt ebenfalls eine entschiedene Ablehnung einer Auflösung der SED. Gefordert wurde ein vollständiger „Bruch mit dem gescheiterten stalinistischen, das heißt administrativ zentralistischen Sozialismus in unserem Land“. Angestrebt werde ein „dritter Weg sozialistischer Prägung“, der gekennzeichnet sei durch „radikale Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Humanismus, soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz, Durchsetzung einer wirklichen Gleichberechtigung der Frau“. Dabei werde sich die Partei auf „sozialdemokratische, sozialistische, nichtstalinistisch-kommunistische. antifaschistische und pazifistische Traditionen“ berufen. „Es geht nicht um neue Tapeten“, äußerte Gysi in Anspielung auf einen gegen die Politik Gorbatschows gerichteten Ausspruch Kurt Hagers, „wir wollen eine neue Partei“
Drei Hauptargumente für die Nichtauflösung der SED lassen sich aus den verklausulierten Formulierungen herausschälen. Erstens: Wenn die SED sich auflöst, ist die letzte halbwegs funktionierende staatliche Institution, die Regierung unter Hans Modrow, nicht mehr zu halten. Es entstünde „ein politisches Vakuum, das niemand ausfüllen kann und das die Krise mit unabsehbaren Folgen verschärfen würde“ Zweitens: Damit würden auch die Einflußmöglichkeiten der SED auf staatliche Entscheidungen aufgegeben. Drittens: Die SED würde bei einer Selbstauflösung ihr riesiges Partei-vermögen (Immobilien, Verlage, wissenschaftliche Institute usw.) aufs Spiel setzen, und die soziale Existenz der Mitarbeiter des Parteiapparates wäre erheblich gefährdet.
Die anschließende Diskussion glich mehr einer studentischen Vollversammlung im Jahre 1968 als dem Parteitag einer „gestählten marxistisch-leninistischen Partei“, die sich 40 Jahre lang als „höchste Form der gesellschaftlich-politischen Organisation der Arbeiterklasse, als ihr kampferprobter Vor-trupp, (als) die führende Kraft der sozialistischen Gesellschaft“ beschrieben hat
Deutlich wurden drei Grundsatzpositionen, die sich unvereinbar gegenüberstanden: Auflösung der SED und Gründung einer neuen sozialistischen Partei; Erneuerung der SED und Umbenennung; Beibehaltung des bisherigen Namens — wobei unklar blieb, wie weit die Erneuerung gehen sollte. Als die Diskussion aus dem Ruder zu laufen drohte. legte das Parteitagspräsidium eine Pause ein. nach der die Debatte sowie die Wahl der Vorsitzenden und des Parteivorstandes unter Ausschluß der Öffentlichkeit fortgeführt wurde. In einer Abstimmung. die offenkundig nach langer Diskussion und scharfen Kontroversen erfolgte, sprachen sich die Delegierten vor allem unter dem Eindruck der Rede von Hans Modrow einstimmig für den Fortbestand der SED aus. Bei 647 Gegenstimmen und 7 Enthaltungen beschlossen sie, der Partei einen neuen Namen zu geben
Bereits im Vorfeld des Parteitages war klar geworden. daß die alten Parteistrukturen abgeschafft werden sollten. Es sollte kein Politbüro und keinen Generalsekretär, kein Zentralkomitee und keine Zentrale Parteikontrollkommission mehr geben, stattdessen einen Vorsitzenden. Stellvertreter, ein Präsidium, einen Parteivorstand und eine Schiedskommission. wie in demokratischen Parteien üblich. Der Parteitag wählte den Berliner Anwalt Gregor Gysi mit 95, 32 Prozent der Stimmen in geheimer Wahl zum Vorsitzenden. Zu seinen Stellvertretern wurden gewählt: Hans Modrow (mit 99. 4%), der Dresdener Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer (er wurde zugleich Leiter der Kommission Politisches System), Wolfgang Pohl, 1. Sekretär der Bezirksleitung Magdeburg (er übernahm den Vorsitz der Kommission Organisation und Parteileben). Der vierte Stellvertreter wird noch vom Parteivorstand gewählt und soll die Kommission Wirtschaftsund Sozialpolitik leiten. Zu weiteren Präsidiumsmitgliedern wurden Monika Werner als künftige Vorsitzende der SED-Fraktion in der Volkskammer, Marlies Deneke als Leiterin der Kommission für Jugend-und Frauenpolitik, Lothar Bisky (Rektor der Film-und Femsehhochschule) für Medien und Fernsehen sowie vorübergehend zusätzlich für Bildung und Schule), Klaus Höpcke für Kultur und Wissenschaft, Helmar Hegewald für Umweltpolitik und Hans-Joachim Willerding für Internationale Politik. Willerding ist das einzige Mitglied des neuen, aus 100 Mitgliedern bestehenden Parteivorstandes der — wenn auch nur für einige Tage nach der 10. ZK-Tagung — als Kandidat dem Politbüro angehört hatte. Lediglich drei Mitglieder des alten Zentralkomitees gehören dem Parteivorstand an: Hans Modrow, Gerd König, Botschafter der DDR in der UdSSR, und Herbert Richter, Generaldirektor des Gaskombinats „Fritz Selbmann“ Schwarze Pumpe. Ferner sind neun der fünfzehn 1. Bezirkssekretäre Mitglieder des Partei-vorstandes: Heinz Albrecht, Berlin; Roland Claus, Halle; Hansjoachim Hahn. Dresden; Norbert Kertscher, Karl-Marx-Stadt; Bernd Meier, Frankfurt/Oder; Wolfgang Pohl, Magdeburg; Wolfgang Thiel, Cottbus; Heinz Vietze. Potsdam und Roland Wötzel. Leipzig.
Nach der Wahl des Parteivorstandes vertagte sich der Parteitag auf den 15. Dezember und verabschiedete einen „Bericht zur Diskussion auf dem ersten Beratungstag des außerordentlichen Partei-tages“, in dem sich die SED von der bisherigen Politik distanziert. „Die Delegierten . . .sehen es als ihre Pflicht an, sich im Namen der Partei gegenüber dem Volk aufrichtig dafür zu entschuldigen, daß die ehemalige Führung der SED unser Land in diese existenzgefährdende Krise geführt hat. Wir sind willens, diese Schuld abzutragen. Wir danken aufrichtig den mündigen Bürgern unseres Landes, die die radikale Wende durch ihren mutigen, gewaltlosen Kampferzwungen und uns damit auch die Chance zur revolutionären Erneuerung unserer Partei gegeben haben. Der außerordentliche Parteitag hat den Bruch mit der machtpolitischen Überhebung der Partei über das Volk, mit der Diktatur der Führung über die Parteibasis vollzogen. Er stellt den Parteimitgliedern ... die Orientierung für einen demokratischen Sozialismus, jenseits von stalinistischem Pseudosozialismus und Herrschaft des Profits vor.“
Entscheidendes Element jeder Parteireform ist die Veränderung der grundlegenden Organisationsprinzipien der „Partei neuen Typs“, wie sie im Statut der SED von 1976 festgelegt waren. In deutlicher Abweichung von der bisherigen Praxis sind in der Woche zwischen den Sitzungen des Parteitages drei Entwürfe eines Parteistatus und zwei pro-grammatische Dokumente veröffentlicht worden. Sie stimmen in der Forderung nach der Einführung des sog. Territorialprinzips, d. h.der Organisierung der Parteimitgliedschaft in Gemeinde, Orts-oder Stadtteilverbänden überein. Auf dem Parteitag wurde in dieser wichtigen Frage jedoch eine halbherzige Entscheidung getroffen: Den Grundorganisationen soll das Recht gegeben werden, sich entsprechend ihren jeweiligen Bedürfnissen, auch auf Betriebsebene zu organisieren. Dies soll allerdings nicht für den Staatsapparat und die „bewaffneten Organe“ gelten. Gregor Gysi machte in seiner Abschlußrede zwar deutlich, daß „langfristig“ die Grundorganisationen in den Territorien „die entscheidende Struktur werden“, sprach aber zugleich davon, daß viele Betriebsorganisationen ihren Fortbestand beschlossen hätten. Bei der Erarbeitung eines neuen Wahlgesetzes wird es vermutlich zu einer harten Auseinandersetzung kommen, ob die SED in den Betrieben ihre mit der Betriebsparteiorganisation verbundenen Einflußmöglichkeiten aufrechterhalten kann.
Halbherzig war auf dem Parteitag auch die Entscheidung über die Festlegung eines neuen Parteinamens. Die neue Parteibezeichnung „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands — Partei des Demokratischen Sozialismus (SED-PDS) stellt einen fragwürdigen Kompromiß dar, der zwei unvereinbare Ziele miteinander zu verbinden trachtet. Daß der neue Name SED-PDS nur schwer verständlich ist, zeigt eine Stellungnahme des Parteivorstandes, in der es u. a. heißt: „Dieser Parteitag ist nicht bereit sich wegen des Namens zu spalten.“ Die Partei will sich einerseits zu ihrer Geschichte bekennen und erklärt gleichzeitig ihren Willen zu einem ernsthaften Neubeginn. Beiden — schwer vereinbaren — Anliegen soll die Namensgebung gerecht werden, doch wird sie gleichzeitig als eine vorläufige Entscheidung bezeichnet. Über den endgültigen Parteinamen soll auf dem nächsten ordentlichen Parteitag beschlossen werden, der nach Verabschiedung eines Wahlgesetzes zusammentreten soll. Der am ersten Verhandlungstag des Parteitages geäußerten Ansicht, die SED habe „ihre faktische Neugründung eingeleitet“ und strebe einen demokratischen Sozialismus an 6la), kann man im Hinblick auf die organisatorischen und programmatischen Konsequenzen bisher kaum folgen.
Wie schwierig sich ein solcher Neuanfang gestaltet, zeigte die Diskussion bei der Fortsetzung des Parteitages am 15. /16. Dezember 1989 deutlich. Generalabrechnung mit der alten Führung auf der einen Seite, Rechtfertigung der Arbeit der „vielen ehrlichen Genossen“ und Beschwörung der ursprüngli-chen Ziele auf der anderen Seite prägten die Diskussion. Erkennbar wurde auch eine deutliche Distanz zwischen den intellektuellen Reformern der Partei und vielen „einfachen“ Delegierten, aus deren Beiträgen oft die Angst vor der Zukunft, bei vielen hauptamtlichen Funktionären auch die Sorge vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg sprachen. Viele Delegierte beschworen die positiven Züge der Vergangenheit, sie sprachen von den Erfolgen, die trotz allem erreicht worden seien und betonten die Risiken für die Zukunft wie wachsende Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Nationalismus, Rechtsradikalismus.
Im Gegensatz zu diesen eher rückwärts gewandten Beiträgen standen die beiden Hauptreferate der Professoren Dieter Klein und Michael Schumarm Klein forderte eine „ganzheitliche Politik“ der Partei, ein Bündnis aller progressiven Kräfte. Er wandte sich gegen eine Einengung des sozialen Spektrums der Partei auf die „Arbeiter“, da dies der differenzierten Sozialstruktur und den aktuellen Problemen der DDR-Gesellschaft nicht mehr gerecht werde. Er plädierte für eine Verwirklichung der Volkssouveränität und Ausweitung der Demokratie über den engeren Bereich des Politischen hinaus. Ziel sei die freie Entfaltung der Individualität, die Gewährung der Menschenrechte, eine humanistische, soziale und ökologische Leistungsgesellschaft auf der Grundlage des Volkseigentums, genossenschaftlichen und privaten Eigentums, also einer gemischten Eigentumsordnung, die eingebunden sei in die dringend notwendige Lösung der Menschheitsprobleme.
Michael Schumann formulierte eine scharfe Kritik bisheriger Herrschaftspraxis und eine schonungslose Abrechnung mit dem Stalinismus. Deutlicher als bisher wies er darauf hin. daß es nicht allein die „Verfehlungen“ einer kleinen Führungsclique waren, die das Land in eine Krise geführt hätten, die Herrscherallüren der Führungsgruppe hätten auch viele Nacheiferer auf unterer Ebene gehabt und die Partei in Verruf gebracht. Die Bewegung zur Erneuerung des Sozialismus sei ihrem Wesen nach eine revolutionäre Bewegung, die „Politbürokraten verunglimpften den Aufbruch des Volkes als Konterrevolution und wollten ihn mit Gewalt niederdrücken. In Wirklichkeit waren sie in dieser Situation die Konterrevolutionäre.“
Als wesentliche Ursachen dieser Erscheinungen nannte Schumann „ein Geflecht von Strukturen allgegenwärtiger Apparate und eine Rechtfertigungsideologie“, die den Mißbrauch ermöglicht hätten. „Die Symptome dieses Machtmißbrauchs liegen offen zutage: Konzentration der Macht in den Händen eines arroganten Alleinherrschers, Steuerung der Wirschaft durch eine Kommandozentrale, der es an Verständnis für elementare Bedürfnisse der produktiven und sozialen Bereiche der Gesellschaft und für die Lebensqualität der Bevölkerung fehlte, Reglementierung und bürokratische Zentralisation von Kultur, Wissenschaft und Bildung, die kritische Geister außer Landes trieb, politische Entmündigung der Bürger unserer Republik und Kriminalisierung Andersdenkender, Verwandlung der Medienlandschaft in eine trostlose Informationswüste und eine widerliche Hofberichterstattung, Ausgrenzung der Pateibasis aus allen innerparteilichen Willensbildungs-und Entscheidungsprozessen.“ Der Parteiführung unter Egon Krenz warf Schumann vor, daß sie kein Konzept gehabt hätte und nicht in der Lage gewesen sei, den radikalen Bruch mit der Vergangenheit zu wagen.
Wenn man den Parteitag bilanziert, muß man feststellen, daß die SED trotz einer weitreichenden Kritik an der Vergangenheit nicht den Mut aufgebracht hat, den angekündigten Neubeginn tatsächlich umfassend zu vollziehen. Ihre Bemühungen waren vornehmlich darauf gerichtet, die Einheit der Partei um jeden Preis zu wahren. Es muß auch als sehr zweifelhaft erscheinen, ob die neue Parteibezeichnung in der DDR-Gesellschaft als ein glaubwürdiges Signal akzeptiert wird — kommt sie doch eher der Quadratur des Kreises nahe. Es dürfte schwer verständlich sein, wenn man den — nach eigenem Selbstverständnis mit dem Stalinismus untrennbar verbundenen — traditionellen Parteinamen mit einer Kennzeichnung verbindet, die von der westlichen Sozialdemokratie in Anspruch genommen wird und dort einen Inhalt besitzt, der primär an parlamentarisch-demokratischen und wirtschaftsdemokratischen Vorstellungen und nicht am Marxismus (oder gar Leninismus) orientiert ist. Die Tradition der SED, und das heißt spätestens seit 1948 die einer leninistischen Partei, erscheint mit der des — auf dem Parteitag nicht näher definierten — demokratischen Sozialismus unvereinbar. Ob das machtpolitische Kalkül aufgehen wird, das die SED-PDS ohne Spaltung und einem weiteren großen Mitgliederschwund die stärkste politische Kraft bleiben wird, ohne die keine (Regie-rungs-) politik möglich ist, wird die Zukunft zeigen müssen.
IX. Institutionalisierter Pluralismus
Im Hinblick auf die Wahlen zur Volkskammer, die für den 6. Mai 1990 terminiert worden sind, haben sich die ehemaligen Parteien des „Demokratischen Blocks“ neu zu formieren begonnen. Als erste dieser Parteien führte die CDU am 15. /16. Dezember 1989 in Ost-Berlin einen Sonderparteitag durch, auf dem sich die etwa 800 Delegierten mit einem politischen Schuldbekenntnis von den Fehlern der Vergangenheit distanzierten. Der bisherige amtierende Vorsitzende der Partei, der Ostberliner Rechtsanwalt Lothar de Maiziere, wurde mit großer Mehrheit in seinem Amt bestätigt. Er bezeichnete den demokratischen Zentralismus als „genetischen Defekt der DDR“, der den Mißerfolg und das Ende des Pseudosozialismus programmiert habe De Maiziäre, zugleich Vizepräses der Synode der evangelischen Kirche in der DDR, würdigte ausdrücklich die positive Rolle, die die Kirchen bei der Veränderung der Gesellschaft in der Vergangenheit geleistet haben: „Unsere Partei steht beschämt vor der Klarheit und Öffentlichkeit des Einsatzes der Kirchen, der sich immer als Dienst für den Einzel-nen und für das Ganze unserer Gesellschaft verstand . . . Als CDU haben wir uns klarzumachen, daß es viel zu wenig unsere Partei, daß es vielmehr die Kirchen waren, die über Jahre hinweg für das Volk gesprochen und dem Volk Raum gegeben haben, seine Sprache zu finden.“
Die Delegierten des Parteitages — auf dem auch der frühere Regierende Bürgermeister von Berlin (West), Eberhard Diepgen, und der CSU-Generalsekretär Erwin Huber zugegen waren — bekannten sich zu einer „Marktwirtschaft mit sozialer Bindung“ und zur „Einheit der deutschen Nation“. Für eine Übergangsperiode wird auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts eine deutsche Konföderation in einem freien und vereinigten Europa vorgesehen. Die Garantie der polnischen Westgrenze wird als unverzichtbare Bedingung für diesen Entwicklungsprozeß betrachtet. Bei der Neuorientierung der CDU wurde der Begriff „Sozialismus“ eliminiert. In ihrer Satzung charakterisiert sich die CDU, die ausdrücklich an ihrem alten Parteinamen festhält, als „eine Partei von Bürgern, die sich in ihrem Handeln zum Wohl der Gesellschaft von christlicher Verantwortung, von religiösen Moral-und Wertvorstellungen und von humanistischer Ethik leiten lassen“. Seit Mitte Dezember wird zunehmend deutlich, daß sich die alten Parteien ebenso intensiv um eine programmatische Neuorientierung bemühen, um für den schon bald beginnenden Wahlkampf gerüstet zu sein, wie sich auch die Oppositionsgruppen um eine politische Formierung bemühen, mit der sie die Wähler um Zustimmung zu ihrer Position gewinnen wollen. Dafür bietet der Gründungsparteitag des Demokratischen Aufbruchs, der am 16. /17. Dezember 1989 in Leipzig stattfand, ein erstes instruktives Beispiel. Im Programm des Demokratischen Aufbruchs, das auf dem Parteitag verabschiedet wurde, setzt sich diese Partei für eine soziale, ökologisch orientierte Marktwirtschaft und für die Einheit der deutschen Nation auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts ein. Die Programmdiskussion in Leipzig hat gleichzeitig deutlich gemacht, daß der Zusammenhalt der Oppositionsbewegung einer Belastungsprobe ausgesetzt ist, wenn sie sich nicht nur kritisch gegen das poststalinistische System wendet, sondern einen eigenen programmatischen Konsens finden muß. Kontroverse Auseinandersetzungen über die künftige Orientierung blieben daher nicht aus und werden voraussichtlich auch bei den anderen Parteien und Oppositionsgruppen in den nächsten Monaten zutage treten.
Für die politische Entwicklung in der DDR werden die Diskussionen am „runden Tisch“ in der nächsten Zeit eine besondere Bedeutung haben. Auf seiner zweiten Sitzung am 18. Dezember 1989 wurde der Teilnehmerkreis auf 38 Mitglieder erweitert. Zu den ursprünglich 15 Vertretern von sieben Oppositionsgruppen und 15 Vertretern der fünf Volkskammerparteien SED, CDU, LDPD, NDPD und DBD wurden bereits auf Beschluß der ersten Sitzung die Gewerkschaft FDGB sowie der Unabhängige Frauenverband zusätzlich am „runden Tisch“ aufgenommen. Am 18. Dezember wurden außerdem die Bauerninitiative und die Grüne Liga als Gesprächspartner berücksichtigt. Fünfweitere Organisationen, darunter der Jugendverband FDJ und der Kulturbund, erhielten Beobachterstatus. Nachdem die Legitimation der Volkskammer und der von ihr gewählten Regierung in der DDR-Gesellschaft häufig in Frage gestellt wird, erscheint der „runde Tisch“ einerseits als ein Kontrollorgan der politischen Institutionen, sucht andererseits aber auch politische Ziele zu formulieren und den Rahmen für einen Grundkonsens der konkurrierenden Parteien und Gruppierungen auszuloten. Dieses Gremium soll künftig wöchentlich tagen, doch muß sich erst noch zeigen, ob in einem sol-chen Rahmen über die notwendige Diskussion aktueller Probleme hinaus auch konkrete Maßnahmen projektiert und beschlossen werden können. Wichtig ist, daß der „runde Tisch“ in den nächsten Monaten eine effektive Rolle bei der Kontrolle der Regierung spielen kann und an den notwendigen Gesetzgebungsvorhaben wirksam beteiligt wird.
X. Zurück zu Lenin — oder vorwärts zum „demokratischen Sozialismus“?
„Der Sozialismus steht zwischen Chance und Untergang.“ Diese Alternative stellt sich Dieter Klein, dem Prorektor der Berliner Humboldt-Universität und einem der entschiedenen Reformer in den Reihen der SED. Er sieht (oder sah Mitte November) eine wirkliche Chance, den Sozialismus zu erneuern: „Laßt uns eine Revolution machen, in deren Verlauf die Arbeit erstes Eigeninteresse ist.“
Für Günter Kunert klingen solche Überlegungen „traumverloren“. Er kommt zu der resignierenden Feststellung, daß der „deutsche Intellektuelle nebst seinen Visionen vom Guten, Schönen und Humanen . . . durch keine noch so massive Tatsachenfülle widerlegbar“ sei. Entgegen aller Erfahrung, auch der eigenen, „trotz überwältigender Kenntnis der trostlosen Lage und ihrer kaum minder trostlosen Ursache wird die längst mumifizierte Utopie beschworen.“ Christa Wolf und andere meinten ernsthaft, jetzt könne der demokratische Sozialismus eingeläutet werden. „Die nach vierzig Jahren Tristesse ungeduldige Mehrheit jedoch greift lieber nach dem Nächstliegenden: den Bananen bei , Aldi‘."
Dieter Klein und viele Tausende Mitglieder der SED, aber auch Nicht-Parteimitglieder haben den Traum von einem erneuerten Sozialismus noch nicht aufgegeben. Unter ihnen der große alte Mann der DDR-Gesellschaftswissenschaften, Jürgen Kuczynski. Er sah im Oktober/November 1989 in der DDR eine „konservative Revolution“ im Gange, eine Revolution zur Erneuerung des Sozialismus. Auch der Sozialismus sei nicht gefeit vor fatalen Fehlentwicklungen, die zur Erstarrung und zu einer, „sagen wir es ganz brutal, Entmündigung der herrschenden Klasse, ja des ganzen Volkes“ führen könne. Es entwickele sich „eine Art Absolutismus an der Spitze und ein entsprechender Machtverlust der herrschenden Klasse, deren Rechte verletzt werden“ Um diesen Prozeß zu stoppen, seien im Sozialismus Revolutionen nötig, und eine solche Revolution erlebe die DDR. Kuczynski forderte, wieder zu Lenin zurückzukehren und sprach damit sicher für eine nicht geringe Zahl von „Kommunisten“. Rückkehr zu Lenin würde bedeuten, hinter die stalinistische Perversion des Sozialismus zurückzugehen, es würde aber auch heißen: Festhalten an der Avantgarde-Vorstellung, an der Idee der „Partei neuen Typs“ und an den zentralistischen Organisationsprinzipien der Partei, wie sie Lenin formuliert und durchgesetzt hatte.
Diese Überlegungen entsprechen, wie das Ende der SED zeigt, in keiner Weise der Haltung der Mehrheit der Parteimitglieder, noch gar 'der Mehrheit jener, die diese „Wende“ erzwungen haben. Sie orientieren sich vielmehr an den klassischen Forderungen nach der Verwirklichung der Ideale der amerikanischen und französischen Revolution, nach Teilung und Kontrolle der Macht, individueller Freiheit und bürgerlichen Rechten.
Wenn man unter Revolution eine „tiefgreifende Veränderung der Struktur der politischen und sozialen Verhältnisse“ und nicht nur einen Wechsel in der Zusammensetzung der Eliten, eine Veränderung oder einen Bruch mit der Verfassung und andere parlamentarische Mehrheitsverhältnisse versteht, dann ist das. was sich im Oktober/November 1989 in der DDR abgespielt hat, intentional sicher eine Revolution. Daß es keine „konservative“.den Sozialismus bewahrende und erneuernde Umwälzung im Sinne Jürgen Kuczynskis ist. zeichnet sich immer deutlicher ab. Angesichts der die DDR im wahrsten Sinne des Wortes überwältigenden ökonomischen Probleme wäre dies auch eine Aufgabe, die kaum lösbar erscheint. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob es Anzeichen dafür gibt, daß dieser Versuch ernsthaft gewollt ist und erkennbare Schritte in diese Richtung gegangen werden.
XL Reform des Sozialismus in einem halben Land?
Die Reformkräfte in den sozialistischen Ländern verbinden ihre Versuche, auf die Krisenerscheinungen des alten Systems zu reagieren, mit nationalen Antworten. Der erkennbare Zerfall des Systems des „realen Sozialismus“ korrespondiert mit einem Prozeß, den man — in Abwandlung des von Karl W. Deutsch, Shmuel Eisenstadt, Stein Rokkan u. a. eingeführten Begriffs „nation-building“ — als Wiedergewinnung nationaler Identität nach der Überwindung des Erbes des Stalinismus, als „nation re-building“ bezeichnen könnte. Erst die partielle Unabhängigkeit bietet die Chance, die ökonomische und soziale, politische und kulturelle Entwicklung in ein den Besonderheiten jedes Landes entsprechendes Modernisierungskonzept einzubinden. Als Teil einer Nation kann die DDR diesen Weg nicht gehen, ganz gleich, welche politischen Kräfte sie in Zukunft regieren werden.
Sie kann die Chancen nicht nutzen, die sich für die anderen sozialistischen Länder aus einer solchen nationalen Orientierung ergeben. Die Existenz der DDR rechtfertigt sich bisher einzig aus dem Versuch, in einem Teil Deutschlands den Sozialismus aufzubauen — also aus ihrer Funktion als politisches und soziales System „jenseits des Kapitalismus“. In den Zeiten der Ost-West-Konfrontation fungierte sie als Gegenmodell und Vorposten des Sozialismus gegenüber der „Welt des Kapitalismus“. Wenn beides, die Selbstbehauptung des alten. in seinen Wurzeln auf dem Stalinismus gründenden Systems und die Logik des kalten Krieges verabschiedet werden, stellt dies für die DDR langfristig die Existenzfrage — es sei denn, die Vision eines erneuerten, demokratischen Sozialismus ließe sich verwirklichen. Die Vorstellung, die DDR müsse einen „dritten Weg“ zwischen „bürokratisch-administrativem Sozialismus“ und der „Herrschaft transnationaler Monopole“ suchen, und die Existenz der DDR ermögliche „eine historische Chance einer deutschen Alternative des demokratischen Sozialismus in gleichberechtigter Partnerschaft zu allen Staaten Europas“ ist zu diffus, um in der gegenwärtigen Umbruchsituation einen Weg aus der Krise weisen zu können. Sie wird zudem von einer Partei vorgetragen, die 40 Jahre lang alle de-mokratisch-sozialistischen Alternativen unterdrückt hat.
Die SED-Führung und die DDR-Publizistik wurden in den Monaten vor dem 40. Jahrestag der DDR nicht müde, den Zustand, der noch wenige Jahre zuvor mit dem Begriff „real existierender Sozialismus“ bezeichnet worden war, als „Sozialismus in den Farben der DDR“ darzustellen. Darin kam zum Ausdruck, daß die SED unter erheblichen Legitimationsdruck geraten war. Sie konnte sich der allgemeinen Reformdiskussion und dem Einfluß wiedererwachter nationaler Gefühle nicht mehr völlig verschließen und war zu der Behauptung genötigt, daß die DDR eine eigene Identität habe, die sie sowohl von den sich demokratisierenden sozialistischen Ländern als auch von der Bundesrepublik unterscheide. Der propagandistische Charakter dieser Kampagne war zu offenkundig, um Glauben zu finden. Die . Veränderungen in der Sowjetunion, in Polen und Ungarn übten eine wachsende Faszination auf die Menschen aus. Die Zurückhaltung der DDR-Führung gegenüber einer Adaption sowjetischer Entwicklungen basierte auf der Furcht vor einer erneuten Infragestellung des Existenzrechtes der DDR. In den ostmitteleuropäischen Ländern ist der Zusammenhang von Reformbewegung und der Suche nach größerer nationaler Eigenständigkeit unverkennbar. Erstellt sich aber für die DDR völlig anders dar als für Ungarn oder Polen. Dort schafft größere nationale Unabhängigkeit Freiräume und stiftet innergesellschaftliche Legitimität, die nötig ist, entscheidende Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung in der Phase des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie zu lösen Die staatliche Teilung Deutschlands verhindert eine politisch-strategische Nutzung der nationalen Frage für die Sicherung der Eigenständigkeit der DDR. Auf längere Frist wird keine der alten und neuen politischen Gruppierungen darum herumkommen, den Bürgern der DDR glaubhafte Gründe für einen Fortbestand der DDR als Staat anzubieten.
Eine erste repräsentative Umfrage des Leipziger Zentralinstituts für Jugendforschung von Ende November 1989 zur Frage der Vereinigung von Bundesrepublik und DDR (vgl. Tabelle 1) zeigt, daß zwar noch eine knappe Mehrheit der Bevölkerung einer Wiedervereinigung skeptisch bis ablehnend gegenübersteht, belegt aber auch, daß es extreme Auffassungsunterschiede zwischen den Anhängern der verschiedenen Parteien und Gruppierungen gibt. Der faktische Zusammenbruch der SED und die zu erwartende Verschärfung der Krise werden das Bild in kurzer Zeit ändern
Die erste repräsentative Meinungsumfrage in der DDR, die in westlichem Auftrag und in deutsch-deutscher Zusammenarbeit durch das Institut für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften der DDR Anfang Dezember 1989 durchgeführt wurde, erbrachte ähnliche Ergebnisse, Die Daten dieser Umfrage müssen jedoch insofern relativiert werden, als bei den Befragten SED-Mitglieder und Ost-Berliner Bürger überrepräsentiert waren:
Die politische Stagnation, die Abwesenheit von selbstverständlichen bürgerlichen Freiheiten und die Unfähigkeit der alten politischen Führung, die alltägliche Lebenssituation der Bevölkerung spürbar zu verbessern, haben in der Vergangenheit entscheidend dazu beigetragen, daß die Bundesrepublik zum fernen, unerreichbaren „Traumland“ wurde Die Möglichkeit, sich nun ein eigenes Bild zu machen, hat die Diskrepanz im Lebensniveau und in den Lebenschancen eher noch deutlicher werden lassen. Sie wirft in ganz neuer Weise die Frage nach dem Verhältnis der DDR zur Bundesrepublik als dem „großen, reichen Bruder“ auf. Es sieht so aus. als ob die Mehrheit der DDR-Bürger nicht bereit sein wird, ein erneutes sozialökonomisches und politisches Projekt zu tolerieren, einen „dritten Weg“ zu versuchen, dessen positive Resultate erst in einer Reihe von Jahren zu erwarten wären. Der Druck in Richtung „Vereinigung“ dürfte rasch wachsen.
So scheint es auch die Regierung Modrow zu sehen. In seiner Rede auf dem SED-Parteitag am 8. Dezember 1989 ging der Regierungschef daher explizit auf den „ 10-Punkte-Plan“ von Bundeskanzler Kohl ein: Er nahm die Vorstellung zukünftiger „föderativer Strukturen“ positiv auf, schränkte aber zugleich ein, daß eine Wiedervereinigung nicht auf der Tagesordnung der europäischen Politik stehe“. „In der Welt breitet sich die Erkenntnis aus. die Existenz und ein ordentliches Verhältnis der beiden deutschen Staaten sind gewichtige, ja erstrangige Fragen der Weltpolitik. Aus der Verantwortung, die sich mit dieser Tatsache verbindet, hat die Regierung der DDR eine Vertragsgemeinschaft der beiden deutschen Staaten vorgeschlagen . . . Wenn Bundeskanzler Helmut Kohl diesen Gedanken aufgegriffen und mit dem Hinweis auf konföderative Schritte ausgebaut hat, so ist dies, meine ich, ein maßvoller Ansatz für bevorstehende Erörterungen ... Es geht darum, erst einmal die Kooperation auszubauen, und ich streite mit niemandem darüber, ob dies schon ein konföderativer Schritt sein könnte.“ Die DDR habe nur eine Chance, wenn sie sich „in den Weg zur Überwindung der Teilung Europas“ einordne
Ohne daß den Beteiligten bislang klar wäre, was „Konföderation“ oder „konföderative Strukturen“ konkret bedeuten, gewinnt der Begriff an Faszination. Er bietet allen Beteiligten die Chance, der Forderung nach sofortiger Wiedervereinigung entgegenzutreten, ohne den Weg zu einer zukünftigen Einheit in einem demokratischen Europa zu verbauen. Er nimmt auf Befürchtungen Rücksicht, die auf dem EG-Gipfel in Straßburg am 8. /9. Dezember spürbar geworden sind und auch durch die überraschende Viermächtekonferenz auf Botschafter-ebene am 11. Dezember zum Ausdruck kamen, und öffnet eine Perspektive, die eine Intensivierung deutsch-deutscher Zusammenarbeit mit einem Fortschreiten des westeuropäischen Integrationsprozesses und dem Aufbau einer gesamteuropäischen Friedensordnung verknüpft.
Der Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl in Dresden und seine Begegnung mit dem DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow am 19. Dezember 1989 hat eindrucksvolle Zeichen für die gemeinsame Bereitschaft gesetzt, eine weitreichende „Vertragsgemeinschaft“ beider Staaten zu entwickeln. Die Öffnung des Brandenburger Tors mag ein symbolischer Ausdruck dafür sein, worauf sich die Hoffnungen und Erwartungen vieler Menschen richten. Beide Regierungschefs haben gegenüber einem weitgespannten Erwartungshorizont auf eine bald vollzogene Einheit und einer wachsenden Ungeduld in Teilen der DDR-Bevölkerung aber auch sehr deutlich erkennen lassen, daß zunächst die praktischen Fragen einer engen Zusammenarbeit in allen Bereichen im Vordergrund der Entwicklung der beiderseitigen Beziehungen stehen müssen. Noch im Januar wird eine gemeinsame Wirtschaftskommission ihre Arbeit aufnehmen, um die dringend erforderliche ökonomische Unterstützung der DDR konkret voranzubringen. Auch Begegnungen auf höchster Regierungsebene werden in der nächsten Zeit dazu beitragen, das Konzept der „Vertragsgemeinschaft“ genauer zu fixieren. Vernunft und Augenmaß, die Verantwortung gegenüber den Deutschen und die Rücksichtnahme auf die legitimen Interessen der europäischen Nachbarn werden als Leitmotive einer künftigen deutsch-deutschen Politik betont, die unter dem Vorzeichen der „Vertragsgemeinschaft“ steht und in eine Zukunft verweist, deren Konturen und Perspektiven sich noch nicht deutlich erkennen lassen.
Die gegenwärtige Krise der DDR muß nicht deren Ende bedeuten. Aber sie bedeutet das Ende einer mehr als vierzigjährigen Diktatur. Und sie bedeutet die Chance für einen demokratischen Neubeginn. Wenn er gelingt, wird niemand mehr von lauter verpaßten demokratischen Revolutionen in Deutschland reden können.
Gert-Joachim Glaeßner, Dr. rer. pol. geb. 1944; Professor für Politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Die Bundesrepublik in den 70er Jahren. Versuch einer Bilanz, Opladen 1984; Auszug aus der Gesellschaft? Gemeinschaften zwischen Utopie, Reform und Reaktion, Berlin 1986; (Hrsg.) Die DDR in der Ära Honecker. Politik — Kultur — Gesellschaft. Opladen 1988; Die andere deutsche Republik. Gesellschaft und Politik in der DDR, Opladen 1989.
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