Die soziale Integration von DDR-Ubersiedlern in der Bundesrepublik Deutschland
Volker Ronge
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Zusammenfassung
Auf der Basis einer empirischen Langzeitbeobachtung der sozialen Integration von DDR-Übersiedlern in der Bundesrepublik wird die These entwickelt, daß deren relativ problemlose ökonomische Integration einhergeht — wenn nicht „bezahlt“ wird — mit erheblichen Schwierigkeiten bei der sozialen Integration. Die verbreitete soziale Isolation der Übersiedler im deutschen Westen wird erklärt mit der gesellschaftlichen Divergenz der beiden deutschen Staaten, die (von westlicher Seite) gegenüber der ihnen gemeinsamen deutschen Nationalität eine zu geringe Berücksichtigung und Anerkennung findet. Die bei der Über-siedler-„Welle“ von 1984 gefundenen Erkenntnisse sind allerdings nicht ohne weiteres auf diejenigen ehemaligen DDR-Bürger zu übertragen, die seit Öffnung der innerdeutschen Grenze in die Bundesrepublik strömen. Hierzu bedarf es neuer Untersuchungen.
Das Jahr 1989 hat — völlig überraschend — deutschlandpolitischen Themen eine ungewöhnliche öffentliche Aufmerksamkeit verschafft. Im Unterschied zu 1984, wo dies aus Anlaß einer ersten — für die Zeit nach 1961 atypischen und gleichfalls überraschenden — „Übersiedlerwelle“ auch schon der Fall gewesen ist, wurde jetzt jedoch das Thema „Übersiedler“ überlagert und zurückgedrängt durch die „November-Revolution“ und den Machtwechsel in der DDR sowie die Öffnung der Mauer. Dabei machte die Zahl der Übersiedler 1989 sogar ein Vielfaches derjenigen von 1984 aus; und die Massenausreise von DDR-Bürgern über die bundesdeutschen Botschaften in Budapest, Prag und Warschau sowie durch den geöffneten „Eisernen Vorhang“ über Ungarn und schließlich in unkontrolliertem Transit durch die Tschechoslowakei bildeten sicherlich einen die radikalen Veränderungen in der DDR mitauslösenden — also durchaus nicht nebensächlichen — Faktor. Am Ende geriet, zusammen mit der neuen durchgängigen Reisefreiheit der DDR-Bürger, die Möglichkeit zum Verlassen der DDR und zur nahezu formlosen Übersiedlung in die Bundesrepublik — sowie schließlich auch die Möglichkeit für ehemalige DDR-Bürger zur Rückkehr in die DDR — fast zu einem Stück Normalität in den deutsch-deutschen Verhältnissen.
In Relation zu den großen deutschlandpolitischen Fragen, die sich somit jetzt stellen, bildet das Thema „Übersiedler“ also nur noch einen Rand-aspekt, der auch nur für kurze Zeit im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gestanden hat. Fanden die quantitativen Aspekte der deutsch-deutschen Wanderungsbewegung von Ost nach West zunächst noch erhebliches Interesse in den Medien, weil sie eine seit dem Mauerbau nicht mehr gekannte Größenordnung erreichten und man unsicher war, ob man die aktuellen Zahlen vielleicht bis hin zu einer „Wiedervereinigung der Deutschen auf dem Boden der Bundesrepublik“ würde extrapolieren müssen, so stellt sich inzwischen eher das Problem, im massenhaften Reiseverkehr zwischen Ost und West sowie angesichts völlig unkontrolliert erfolgender Rückwanderungen von Übersiedlern in die DDR überhaupt genaue Übersiedlungszahlen registrieren zu können.
Einen Beleg für die inzwischen wieder eingetretene Entdramatisierung des Übersiedler-Themas in den Medien bildet auch die Tatsache, daß die zwischenzeitlich aus dem Blickfeld geratenen — dabei quantitativ keineswegs marginalen — anderen Zuwanderergruppen — die „volksdeutschen“ Aussiedler aus Polen, der UdSSR, Rumänien und anderen osteuropäischen Staaten sowie die ausländischen Asylbewerber — in den Medien und in der Politik wieder Erwähnung finden.
Die Beschäftigung mit DDR-Übersiedlern stellt unter den genannten Umständen, ein akademisches Unterfangen dar, das deutlich im Schatten anderer deutschlandpolitischer Debatten steht. Das erscheint zunächst einmal als vorteilhaft, weil somit keine Politisierung die wissenschaftliche Seriosität bedroht. Andererseits stellt dies dann ein Problem dar, wenn sich die Erkenntnisse solcher Forschung als politisch bedeutsam erweisen — aber keine entsprechende öffentliche und politische Aufmerksamkeit erfahren.
Es gibt noch einen weiteren Interessenten an der Übersiedler-Forschung, der angesprochen werden soll: In den — immer nur kurzen — Perioden öffentlichen Interesses am Thema der Übersiedler investieren die Medien viel Zeit und Geld in die Recherche — weit mehr, als dies der sozialwissenschaftlichen Forschung normalerweise möglich ist. Allerdings zielen diese journalistischen Recherchen regelmäßig — „mediengerecht“ — auf Einzel-schicksale, deren exemplarischen Charakter, d. h.deren Repräsentativität man dabei — zwangsläufig ungeprüft — unterstellt. Ein wissenschaftlicher Themenzugriff kann sich dieses Manko nicht leisten. Der wissenschaftliche Anspruch auf wenigstens einigermaßen abgesicherte Verallgemeinerungsfähigkeit der Aussagen bedeutet allerdings — nicht zuletzt wegen fehlender Forschungsmittel — den Verzicht auf Detailtiefe beim Einzelfall. In dieser Hinsicht sind die Medienberichte der Wissenschaft also zumeist überlegen; hier ist die normale Sozialwissenschaft nicht konkurrenzfähig. Die Tugend aus dieser Not für den Wissenschaftler lautet; Verfolgung von Fragestellungen und Produktion von Erkenntnissen, auf die die Medien mit ihrem Rechercheansatz nicht kommen können, die aber gleichermaßen relevant sind. Derartige Erkennt-39 nisse können jedoch mit den eingängigen Schicksalsberichten der Medien — was Spannung und Plausibilität anbetrifft — kaum konkurrieren.
Meine Ausführungen zur Übersiedler-Thematik sind in folgender Weise zwischen deutschlandpolitischer Bedeutsamkeit und journalistischer Problem-behandlungzu plazieren: Einerseits konzentriere ich mich in thematischer Hinsicht auf die soziale Integration von DDR-Übersiedlern in die Gesellschaft der Bundesrepublik. Als „Übersiedler“ gelten dabei — gemäß der bis vor kurzem gültigen (mit dem Jahr 1989 umgestellten) amtlichen Definition — Zuwanderer aus der DDR, die mit Genehmigung der DDR-Behörden aus der DDR-Staatsbürgerschaft entlassen wurden und ausreisen durften und die anschließend auf Dauer im Westen bleiben bzw. geblieben sind. Mit dem Terminus der „Integration“ ziele ich auf längerfristige Prozesse ab, die jenseits der ersten Tage, Wochen oder auch Monate nach Übersiedlung ablaufen (für die sich, ihren kurzfristigen Aufmerksamkeitszyklen entsprechend, die Medien vornehmlich interessieren).
Andererseits strebe ich Erkenntnisse an, die mit einiger — aus der methodischen Untersuchungsanlage resultierender — Sicherheit über Einzelfälle hinaus verallgemeinerungsfähig sind. Dabei verbleibe ich jedoch im Bereich sogenannter qualitativer Methoden, die immerhin etwas komplexere Falldetails ermöglichen als bloße Demoskopie. Ich beschreite also einen mittleren Weg zwischen Einzelfallgeschichten und bloßen quantitativ-repräsentativen Aussagen.
I. Integration nach Übersiedlung
Aus soziologischer Perspektive handelt es sich beim Vorgang der Übersiedlung aus dem östlichen in den westlichen deutschen Staat um eine Migration zwischen zwei Gesellschaften. Einen besonderen — und zugleich besonders interessanten — Fall bildet diese Migration allerdings insofern, als es sich dabei um Menschen handelt, die einerseits der gleichen Nation angehören wie die Menschen der Zuzugsgesellschaft. andererseits aber in einem sozialstrukturell deutlich unterschiedlichen — konzeptionell („weltanschaulich“) sogar antagonistischen — Gesellschaftssystem aufgewachsen und sozialisiert worden sind.
Man kann sich mit Blick auf die deutsch-deutsche Ost-West-Migration für vielerlei Fragen interessieren: Beispielsweise für die politische Frage, was denn ein Ausreisevorgang dieser Größenordnung für die zurückgelassene Gesellschaft — also die Gesellschaft der DDR — für Folgen hat. Eine bedeutsame politische Frage — für beide deutschen Gesellschaften — ist auch, wie sich die Übersiedlerzahlen in Zukunft entwickeln werden und durch welche Faktoren diese Entwicklung bestimmt wird. Weiterhin lassen sich die Übersiedlungsvorgänge auch deutschlandpolitisch deuten, z. B. als Beleg für nationale Zusammengehörigkeit der Ost-und Westdeutschen, als „Wiedervereinigung der Menschen“ (nicht der Staaten bzw. geographischen Räume). Man kann sich auch für die vielen individuellen Schicksale — oder, neutraler, Biographien — von Übersiedlern interessieren, etwa tendenziell psychologisch fragen, wie die Einzelnen mit dem einschneidenden Erlebnis der Migration bzw. Emigration umgehen und „fertigwerden“. Den Soziologen interessiert demgegenüber insbesondere die Frage, in welcher Weise die DDR-Übersiedler sich in der Bundesrepublik sozial integrieren. Diese soziologische Fragestellung hat übrigens durchaus politische Aspekte und Implikationen. Beispielsweise würde eine soziologische Erkenntnis, wonach die DDR-Übersiedler Probleme bei der sozialen Integration haben, das herrschende deutschlandpolitische Verständnis in der Bundesrepublik konterkarieren, wonach solche Integrationsprobleme deshalb gar nicht erwachsen könnten, weil es sich bei den Übersiedlern ethnisch, kulturell und rechtlich um Deutsche handele, die nur von Ost-nach West-Deutschland „umgezogen“ seien, d. h. ihr „Land“ eigentlich gar nicht gewechselt hätten.
Der Soziologe rechnet natürlich von vornherein — d. h. hypothetisch — mit Integrationsproblemen der DDR-Übersiedler im Westen, weil seine Perspektive die genannten Aspekte von Ethnizität (Nationalität), kultureller Tradition, Recht und Politik in einem wesentlichen Punkt überschreitet, nämlich die aus vierzigjähriger getrennter und antagonistischer Gesellschaftsentwicklung resultierende Unterschiedlichkeit der Wertsysteme und Sozialstrukturen einbezieht, die sich den Individuen ja tief einprägt. Die DDR-Übersiedler bringen demnach ein „Sozialisationsgepäck“ mit, das sich an den bundesdeutschen Werten und Sozialstrukturen mutmaßlich stößt und bricht. Und daraus resultieren — so die Hypothese — Integrationsprobleme der Über-siedler, deren Bewältigung vornehmlich ihnen als der Minorität zufällt.
Ohne hier ausführlich auf theoretische Probleme der sozialen Eingliederung eingehen zu wollen, ist doch eine Bemerkung angebracht: Selbstverständlich stellt sich soziale Integration als „Interaktivität“, als zweiseitiger Vorgang zwischen Migranten und Zuzugsgesellschaft dar. Dieses Aufeinander-treffen ist aber nicht einfach interaktionistisch zu deuten. Der Migrant stößt z. B. keineswegs unmittelbar auf die generellen Einstellungen der Bevölkerung der Zuzugsgesellschaft (die sich so schön demographisch erheben lassen und z. B. Aufnahmebereitschaft, Fremdenfeindlichkeit oder „Wohlstandschauvinismus“ beinhalten). Seine „Interaktionspartner“ sind vielmehr einerseits — immer relativ wenige — konkrete Einzelne in der Zuzugsgesellschaft — Helfer im Aufnahmelager, Verwaltungsbedienstete aller möglichen Behörden, Kollegen und Vorgesetzte am Arbeitsplatz, Nachbarn am Wohnort, vielleicht Verwandte. Freunde —, deren Einstellungen ja nicht unbedingt ein Abbild durchschnittlicher oder mehrheitlicher demographischer Einstellungen darstellen müssen, und andererseits soziale Institutionen — vor allem Bürokratien wie Sozialamt, Arbeitsamt, Ausgleichsamt, Schulverwaltung und Schulen, Gerichte usw. —, welche aber nicht in erster Linie durch die Einstellungen und Verhaltensweisen ihrer Bediensteten, sondern vornehmlich durch rechtliche Normen, Verwaltungsroutinen usw. repräsentiert oder auch durch bloßes (Nicht-) Vorhandensein (siehe etwa Kinder-krippen-und Kindergartenplätze oder rechtsstaatliche Beschwerdemittel) integrationsbedeutsam werden.
Die soziale Integration von Übersiedlem ebenso wie von anderen Personen läßt sich nach bestimmten Lebensbereichen bzw. Dimensionen differenzieren: Wohnung, Arbeit, Kontakte zu Ämtern, alltägliche Sozialbeziehungen (Verwandte, Freunde, Bekannte, Nachbarn, Schulkameraden usw.). Auf abstrakterer Ebene lassen sich kulturelle Muster und Wertsysteme sowie Sozialstrukturen in differenzierten Funktionssystemen der Gesellschaft unterscheiden. Die Messung des Grades oder Erfolgs von Integration ist dagegen viel schwieriger. Für sie bleibt am Ende eigentlich nur der — von den Betroffenen geäußerte — Grad ihrer Zufriedenheit mit ihrer neuen sozialen Situation, wobei dies eine sehr komplexe Variable darstellt.
II. Der Zeitbedarf sozialer Integration
Die folgenden Ausführungen zum Thema „Übersiedler“ beruhen in der Hauptsache auf einer Langzeituntersuchung der Integrationsprozesse und -ergebnisse an einer willkürlich ausgewählten Gruppe von Übersiedlem. die mit der „Übersiedlerwelle“ des Jahres 1984 in die Bundesrepublik gekommen sind. Über einen Zeitraum von fünf Jahren hinweg wurden diese Übersiedler — am Anfang 30 Haushalte mit rd. 120 Personen; die Zahl verminderte sich über Zeit auf schließlich die Hälfte (sogenannter Panelschwund, verursacht nicht durch Befragungsverweigerung, sondern vornehmlich durch Fortzüge, die aus Kostengründen nicht verfolgt werden konnten) — dreimal in aufwendigen Tonband-Interviews befragt: nach etwa einem halben Jahr im Westen, nach einem und schließlich letztmalig nach fünf Jahren -
Eine derartige Langzeitbeobachtung — die eigentlich zeitlich noch weiter auszudehnen wäre — ist m. E. die einzig angemessene Art der Untersuchung von Prozessen der sozialen Integration, weil diese sich nur in langen Fristen vollzieht. Der Zeit-aspekt spielt natürlich in den verschiedenen Integrationsfeldern und -dimensionen eine unterschiedliche Rolle. Um davon nur eine Andeutung zu geben: Ein Dach über dem Kopf braucht der Über-siedler im Westen sofort; es macht dann freilich einen erheblichen Integrationsunterschied, ob man bereits nach wenigen Tagen oder erst nach vielen Monaten aus einem Wohnheim in eine eigene Privatwohnung ziehen kann. Oder der Zeitaspekt bei der Arbeitssuche, der immer wieder übersehen wird: Weil die allermeisten Übersiedler-Haushalte ein Jahr lang mindestens einen, häufig sogar zwei Arbeitslosengeldansprüche haben, die ihnen ein Auskommen deutlich oberhalb des Sozialhilfeni-veaus sichern, ergibt sich für ihre ökonomische Integration eine Art Schonfrist mit vermindertem materiellen Druck zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Somit entscheidet sich die ökonomische Integration häufig — und pauschal gesehen: überhaupt — erst nach Ablauf eines Jahres im Westen, wenn nämlich die Arbeitslosenunterstützung auf die deutlich niedrigere Arbeitslosenhilfe reduziert wird. Ein letztes Beispiel: Gerade etwas ältere Übersiedlerfamilien kommen nicht selten hauptsächlich deshalb in den Westen, um ihren Kindern eine im Vergleich zur DDR bessere, vielleicht weniger politisierte, berufliche Zukunft zu ermöglichen.
Dafür stecken sie mit ihren eigenen Integrationsansprüchen zurück. Hier — wie überhaupt hinsichtlich der Übersiedler-Kinder — muß die Integrationsperspektive zeitlich weit ausgreifen, mindestens einige Jahre, vielleicht sogar eine ganze Generation.
III. Veränderungen der Übersiedlung zwischen 1984 und 1989
Die nachfolgend zusammengefaßten Erkenntnisse basieren auf der Langzeitbeobachtung von Über-siedlern aus der 1984er Welle und sind in ihrem Aussagenanspruch entsprechend beschränkt. Von Bedeutung sind dabei, wenn man die aktuelle Übersiedlerbewegung vergleichend in Betracht zieht, insbesondere die folgenden Umstände:
a) Obwohl sie im Vergleich zur vorherigen Zeit ungewöhnlich hoch waren, lagen die Zuwanderungszahlen von 1984 doch noch weit unterhalb derjenigen des Jahres 1989.
b) Bei den Übersiedlem der 1984er Welle handelte es sich in der Regel um Personen, die zwischen ihrem (ersten) Ausreiseantrag und der Ausreisegenehmigung noch eine längere Zeit, häufig unter erheblicher Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse, in der DDR zubringen mußten. Im Durchschnitt betrug diese „Wartezeit“ etwa zwei Jahre; in Einzelfällen erreichte sie bis zu zwölf Jahre. (Die DDR wollte sich damals mit einem Schlage der seit Jahren aufgestauten Ausreiseanträge entledigen.) Diese Wartezeit, die m. E. für den späteren Integrationsprozeß im Westen von größter Bedeutung ist (s. u.), hat sich bei den jüngeren Übersiedlerjahrgängen wesentlich verkürzt; unter den Über-siedlern der großen 1989er Welle ist ein erheblicher, freilich nicht genau zu beziffernder Anteil überhaupt ohne vorherigen Ausreiseantrag in den Westen gekommen.
c) Der Übersiedler-Jahrgang 1989 ist, verursacht vor allem durch die ohne vorherigen Ausreiseantrag über Drittländer (Ungarn, Tschechoslowakei) gekommenen „Spontanflüchtlinge“, im Durchschnitt etwa zehn Jahre jünger als derjenige von 1984. Das hat Bedeutung für die ökonomische Integration im Westen, weil bei Jüngeren die Phase der beruflichen Ausbildung in der DDR weniger lange zurückliegt als bei Älteren und sie somit an relativ — für DDR-Verhältnisse — modernen Produktionsmitteln qualifiziert wurden, was ihre Anpassung an den hochtechnologisierten Produktionsapparat im Westen erleichtert.
d) Die allgemeine ökonomische Lage in der Bundesrepublik hat sich von 1984 bis 1989 — trotz immer noch hoher Arbeitslosigkeit — wesentlich verbessert. Die Zahl der Arbeitsplätze hat zugenommen. und inzwischen herrscht in einigen Bereichen des gewerblichen, insbesondere des industriellen Sektors Facharbeitermangel. Im Handwerk besteht bereits ein erheblicher Nachwuchsmangel. Die Aufnahmemöglichkeiten des bundesdeutschen Arbeitsmarkts haben sich also vor allem für gewerblich-technisch ausgebildete Zuwanderer, wie das bei den (jedenfalls den männlichen) DDR-Über-siedlern verbreitet der Fall ist, inzwischen deutlich verbessert und zwar in einem Maße, das die im Vergleich zu 1984 wesentlich höhere quantitative Zuwanderung vermutlich auf dem Arbeitsmarkt verkraftet werden kann.
e) Gegenteilig nimmt sich die Lage auf dem Wohnungsmarkt aus. Die im Vergleich zur aktuellen noch relativ niedrige Zuwanderung von 1984 konnte vom Wohnungsmarkt ohne große Probleme bewältigt werden. Inzwischen ist der Wohnungsmarktjedoch ausgesprochen angespannt und für die deutlich gestiegenen Zuwanderungen, zu denen auch noch die Aussiedler und Asylbewerber hinzuzurechnen sind, nurmehr begrenzt aufnahmefähig.
f) Beide genannten Integrationsbereiche — Wohnung und Arbeit — werden mitbestimmt durch das Ausmaß an — privater — Hilfe, das die Übersiedler bei ihren Integrationsanstrengungen erfahren. Hier ist zu konstatieren, daß bei den Übersiedlungen 1984 häufig verwandtschaftliche Hilfe in Anspruch genommen werden konnte, während von den heutigen Übersiedlern ein großer Teil keine — auch keine entfernten — Verwandten im Westen hat, was sich natürlich erschwerend auswirkt. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß die früheren Übersiedler ihren Ausreiseantrag gegenüber den DDR-Behörden begründen mußten und sich dabei häufig auf Familienzusammenführung — die in der von der DDR anerkannten Schlußakte von Helsinki privilegiert worden war — beriefen, obwohl es sich nicht selten um ziemlich entfernte, oft erst neu aktivierte Verwandtschaftsbeziehungen handelte. Für viele der 1989er Übersiedler, deren Ausreise seitens der DDR wesentlich „lockerer“ legalisiert wurde, konnte dieser Zusammenhang entfallen, weshalb sie dann auch eher auf administrative und wohlfahrtsverbandliche Integrationshilfestellung angewiesen waren und sind. g) Die generelle Einstellung der Bundesbevölkerung gegenüber den Übersiedlern hat sich, wenn man den diversen Umfragen Glauben schenkt, ganz allgemein im Verhältnis zu 1984 eher in Richtung erhöhter Aufnahmebereitschaft verbessert, und dies trotz der erheblich angestiegenen Zuwanderungszahlen. (Erst nachdem die neue Regierung der DDR ihrer Bevölkerung praktisch Reisefreiheit gewährt hat, haben die Bundesbürger weniger Verständnis für weitere Übersiedlungen.) Dafür ist vermutlich sowohl die Medienberichterstattung hinsichtlich der Botschafts-und Ungamflüchtlinge vom Herbst 1989 verantwortlich, die bei der Bundesbevölkerung weithin positive Emotionen freigesetzt hat, als auch die Tatsache, daß die Bundesbürger von den drei großen, unbeeinflußbar einströmenden Zuwanderergruppen — den Übersiedlern aus der DDR, den volksdeutschen Aussiedlern und den ausländischen Asylbewerbern — noch am ehesten zugunsten der „eindeutig deutschen“ Über-siedler-„Landsleute“ votieren.
Die Einstellungsdaten aus Umfragen sind aber nicht ganz unproblematisch; sie sind vermutlich stark durch „sozial erwünschtes Antwortverhalten“ geprägt. In ihnen reflektieren sich somit nicht unbedingt die „wirklichen“ Einstellungen, in denen die Übersiedlungswelle, die Motive und Ansprüche der Übersiedler und ihre politisch-administrative Behandlung in der Bundesrepublik weit kritischer gesehen werden dürften, als sich das in den Umfrage-daten ausdrückt.
Die weiteren Ausführungen berichten zusammenfassend über die Ergebnisse unserer Langzeituntersuchung der Integration von DDR-Übersiedlern in der Bundesrepublik, wobei analytisch auf die angesprochene Differenzierung von Integrationsfeldern bzw. -dimensionen abgestellt wird. Auf detaillierte Angaben zur Untersuchungsanlage und -methodik wird an dieser Stelle verzichtet.
IV. Ökonomische Integration
In einer „Arbeitsgesellschaft“ wie der unsrigen, die vom Einzelnen (bzw. vom einzelnen Privathaushalt) erwartet, daß seine wirtschaftliche Basis durch eigenes Erwerbseinkommen gesichert wird, bildet die ökonomische Dimension selbstverständlich den Kern aller sozialen Integration — für Zuwanderer ebenso wie für Einheimische. Das stellt für die DDR-Übersiedler auch keinerlei Überraschung dar, kommen sie doch aus einer Gesellschaftsordnung, in der — marxistischer Weltanschauung gemäß — die Bedeutung der Arbeit noch um einiges höher rangiert als in der tendenziell bereits „post-materiell“ orientierten bürgerlich-kapitalistischen Welt.
Die individuellen Integrationsvoraussetzungen der Übersiedler sind, insgesamt gesehen, ausgesprochen günstig. Die Übersiedlungsmotivation sehr vieler von ihnen, ein im Westen vieldiskutiertes Thema, ist nämlich deutlich arbeitsbzw. berufsbezogen. Viele Übersiedler — vor allem solche im mittleren Lebensalter, d. h. mit einiger Berufserfahrung und mit höherer beruflicher Qualifikation — haben die DDR verlassen, weil sie sich dort durch die im Wirtschaft«-und Arbeitsleben bestehenden Bedingungen des „real existierenden Sozialismus“ in ihrer beruflichen Entfaltung gehemmt sahen. Diese Übersiedler haben in erster Linie unter den negativen Folgen der Planwirtschaft, deren Realbedingungen die individuellen Arbeitsleistungen eher hemmten als unterstützten, sowie unter der Politisierung der Wirtschaft und der beruflichen Karrieren gelitten. Es waren nicht selten die besonders arbeits-und leistungsmotivierten, aber „politik-unwilligen" DDR-Bürger, die aus Enttäuschung über die realsozialistische Ökonomie im Westen ihre von Politik entlastete berufliche Selbstverwirklichung anstrebten und natürlich auch die Früchte ihrer Arbeit — in Gestalt von arbeits-und leistungsgerechter Entlohnung und Konsumgüterteilhabe — ernten wollten. Diese Übersiedlungsmotivation fällt sozusagen zwischen das üblicherweise diskutierte Raster entweder politischer oder privatistisch auf Konsum und Wohlstand gerichteter Motive.
Weil es sich verbreitet um sehr individuelle und stark auf Arbeit, Beruf und Leistung bezogene Übersiedlermotivation handelt, läßt sich von für die ökonomische Integration im Westen guten Integrationsvoraussetzungen bei vielen Übersiedlern sprechen. Es handelt sich bei vielen von ihnen — also beim untersuchten 1984er Übersiedler-Jahrgang — um beruflich gut qualifizierte, leistungswillige, aktive, selbstbewußte Personen. Diese Übersiedler haben keine Angst vor dem Kapitalismus, seinem Leistungs-und Konkurrenzdruck und seinen strengen Anforderungen an die Menschen. Vielmehr war die Leistungsgesellschaft gerade das, was sie suchten und wollten.
Obwohl die ökonomischen Bedingungen für die Übersiedler des 1984er Jahrgangs sich noch wesentlich schlechter darstellten, vor allem die Arbeitslosigkeit noch erheblich höher lag als heute, gelang den meisten ein sehr schneller Berufseinstieg. Sie kamen zumeist mit dem Ziel, möglichst schnell Arbeit zu finden und nicht, obwohl ihnen diese Möglichkeit offenstand, von Leistungen der Arbeitslosenversicherung zu leben Viele dieser Arbeitsverhältnisse wurden schon nach wenigen Tagen oder Wochen im Westen begründet, und häufig wurde dabei nicht die Vermittlung der Arbeitsverwaltung in Anspruch genommen Man begab sich nicht in die Obhut des Arbeitsamts und wartete dessen Vermittlungsangebote ab, sondern machte sich — aktiv und nicht selten mit für westliche Augen unkonventionellen Methoden — selber auf die Arbeitssuche: häufig genug mit Erfolg, weil gerade diese Aktivität bei vielen — vor allem kleinen und mittelständischen — Unternehmen Anklang fand.
Zur aktiven Arbeitsplatzsuche gehörte auch die verbreitet vorhandene Bereitschaft der Übersiedler zur regionalen Mobilität, die ihnen als gerade Zugezogenen natürlich auch leichter fallen konnte als beispielsweise einem arbeitslos gewordenen Einheimischen. Insbesondere Alleinstehende zogen an die Orte, an denen sie Arbeit finden konnten, d. h. sie zogen um, nachdem die meisten 1984er Über-siedler ihren ersten Zuzugsort bei Verwandten oder Bekannten gefunden hatten (wodurch sich auch kaum Wohnungsprobleme einstellten).
Arbeitsplätze fanden die Übersiedler in der Hauptsache bei kleinen und mittelständischen Unternehmen Sowohl der öffentliche Dienst als auch die Großunternehmen waren dagegen ausgesprochen zurückhaltend mit Einstellungen. Das hat sicherlich etwas mit den stärker bürokratisierten und langwierigen Prozeduren in großen — sei es öffentlichen, sei es privatwirtschaftlichen — Organisationen zu tun. Vor allem aber dürften dabei Sicherheitsprobleme eine Rolle gespielt haben. Die Sicherheitsbedürfnisse sowohl des staatlichen Bereichs (Verfassungsschutz) als auch der hochtechnologisierten Großindustrie (Industriespionage) behinderten eine gegenüber Zuwanderern aus der DDR offene Einstellungspraxis. In der Meinung der Bundesbevölkerung drückte sich das übrigens deutlich dahingehend aus, daß verbreitet angenommen wurde, unter den DDR-Übersiedlern befänden sich viele Spione
Natürlich gab es auch Probleme beim beruflichen Einstieg der Übersiedler. Aber zunächst einmal ist festzustellen, daß schon innerhalb eines halben Jahres sechzig Prozent der erwerbsfähigen und -willigen Übersiedler unseres Samples Arbeit gefunden hatten. Betrachtet man — was die angemessene Perspektive darstellt — nicht die Personen, sondern die Haushalte, so waren nach einem halben Jahr nur noch fünf unserer dreißig Haushalte ohne jegliches Einkommen aus Erwerbstätigkeit.
Probleme bei der beruflichen Integration der Über-siedler lassen sich relativ eindeutig spezifizieren: Schwierigkeiten auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt hatten und haben bis heute — Akademiker aus nicht-technischen und -naturwissenschaftlichen Disziplinen, insbesondere solche, deren Berufsfeld in der Hauptsache zum öffentlichen Dienst gehört (prototypisch: Lehrer); — Erwerbspersonen aus Handels-und Dienstleistungsberufen, die in der DDR häufig sozialismus-typisch geprägt oder auch in der Bundesrepublik besonders nachgefragt und überlaufen sind (typi-scherweise: kaufmännische und administrative Berufe); — weibliche Erwerbspersonen insofern, als bei ihnen überproportional häufig die beiden erstgenannten Merkmale zutreffen sie zudem verbreitet Teilzeitarbeitsplätze suchen, die hier besonders rar sind und'stark nachgefragt werden, und sie — sofern es sich um Mütter mit kleineren Kindern handelt — ihre Erwerbstätigkeit von der Möglichkeit der Versorgung ihrer Kinder in Kindergärten oder -horten abhängig machen müssen, bei denen jedoch der Versorgungsgrad in der Bundesrepublik erheblich unter demjenigen der DDR liegt.
Als nicht besonders problematisch hat sich — entgegen anderslautenden Erwartungen — die Heran-führung der Übersiedler an die technologische Ausrüstung der Arbeitsplätze in der bundesdeutschen Wirtschaft herausgestellt Zur Begründung dieses Ergebnisses muß man darauf hinweisen, daß sich die technologische Entwicklung in der Produktion und die individuelle berufliche Qualifikation in unserer Wirtschaft seit längerem entkoppelt haben: Kaum jemand erwirbt in seiner Berufsausbildung heutzutage noch eine Qualifikation, die für sein gesamtes Berufsleben ausreicht; den Normalfall bildet vielmehr die mehrfache Anpassung der Qualifikation an relativ schnell veraltende und wechselnde Produktionsmittel am Arbeitsplatz. (Die bildungspolitische Denkfigur des lifelong learning hat diese Situation schon vor Jahrzehnten auf den Begriff gebracht, und die Ausbildungsordnungen sind in dieser Richtung revidiert worden — übrigens auch, z. T. sogar früher als in der Bundesrepublik, in der DDR.) Bei guter beruflicher Basisqualifikation gelingt es den DDR-Übersiedlern ebensogut, sich den für sie zunächst zweifellos fremden, nämlich höher als in der DDR technologisierten betrieblichen Produktionsapparaten im Westen anzupassen, wie dies den einheimischen westdeutschen Arbeitnehmern oft genug abverlangt wird und normalerweise gelingt. Gab es in unserem Übersiedler-Sample nach einem Jahr des Lebens im Westen noch — oder wieder -Arbeitslose in der Größenordnung von etwa einem Drittel (der Erwerbspersonen), so zeigte sich nach fünf Jahren nur noch ganz marginale Arbeitslosigkeit. Keiner der Haushalte lebte von Sozialleistungen. Auch die meisten Frauen mit Kindern waren, wie zuvor in der DDR, wieder berufstätig. Allerdings konnten nicht alle im erlernten und zuvor in der DDR ausgeübten Beruf oder auf gleichem beruflichen Niveau Arbeit finden. In etwa der Hälfte der Fälle mußte die Übersiedlung mit einem beruflichen Abstieg oder erzwungenen Berufswechsel bezahlt werden, was sich in der Regel natürlich auch negativ auf die Einkommensverhältnisse auswirkt. In diesen Fällen wird das — im Verhältnis zum unter optimalen Umständen der Integration erreichbaren — niedrigere Einkommen nicht selten durch Überstunden oder zweite Arbeitsverhältnisse zu kompensieren versucht, insbesondere von Männern. Das letztlich angestrebte Resultat ökonomischer Integration liegt natürlich beim Lebensstandard, d. h. beim aus Erwerbseinkommen abgeleiteten Konsum. Obwohl die Übersiedler — gerade diejenigen der 1984er Welle, die überwiegend bereits ein mittleres Lebensalter erreicht hatten — keineswegs aus (unter DDR-Verhältnissen) ärmlichen Umständen in den Westen gekommen sind, haben die meisten ihren alten Lebensstandard nach wenigen Jahren im Westen wieder erreicht oder übertroffen, nicht selten zum „Neidwesen“ ihrer sozialen Umgebung. Einen Teil der Erklärung dieses Integrationserfolgs muß man freilich darin sehen, daß bei den Übersiedlern ganz verbreitet die erwähnte arbeitsund leistungsorientierte Einstellung parallel geht mit einem quasi-investitionsartigen Konsumverhalten, indem man sich zunächst auf einige wesentliche, langlebige Güter — insbesondere Wohnungsausstattung (von Möbeln bis zum Videorecorder) und Auto — konzentriert und dafür an den Ausgaben des täglichen Lebens spart. Die einzige Ausnahme davon bilden nicht selten Reisen, um ein in diesem Bereich in der DDR lange aufgestautes Bedürfnis zu befriedigen.
V. Soziale Integration
Die separate Behandlung von ökonomischer und sozialer Integration reflektiert eine theoretische Unterscheidung zwischen gesellschaftlichen Funktionssystemen — wozu insbesondere auch die Ökonomie zählt — und einem nicht systemisch strukturierten Bereich, den man heute bevorzugt „Lebenswelt“ nennt und als „privat“ ansieht. Nach Darstellung der ökonomischen Integration geht es folglich jetzt um die soziale Integration im engeren Sinne. Es handelt sich dabei, das ist zu betonen, um eine analytische Differenzierung. Beispielsweise findet soziale Integration im hier gemeinten, engeren Sinne durchaus auch am Arbeitsplatz statt, den wir zunächst der ökonomischen Integration zugeordnet hatten.
Während sich für die ökonomische Integration der Übersiedler die grundsätzlich in beiden deutschen Staaten auf der Mikroebene übereinstimmenden „arbeitsgesellschaftlichen“ Verhältnisse positiv auswirken. weil insoweit vom integrationswilligen Übersiedler kein prinzipielles Umlernen gefordert wird, stellt sich die Situation in der sozialen Dimension (immer gemeint im engeren Sinne) etwas anders dar. Diese Dimension ist einerseits durch die Gesamtsozialstruktur der Gesellschaft geprägt, die sich zwischen Sozialismus und bürgerlichem Kapitalismus markant unterscheidet (das jeweilige Verhältnis zwischen ideologischem Programm und Realität einmal ganz beiseite gelassen). Andererseits wirken sich im Bereich der „Lebenswelt“ kulturelle Werte und Traditionen — und zwar nicht nur historisch langsam „gewachsene“, sondern auch politisch in Gestalt von Ideologien „produzierte“ — weit deutlicher aus als bei den Funktionssystemen.
Die „Lebenswelt“ besteht — und soziale Integration erfolgt dementsprechend — in den „kleinen“ sozialen Alltagsbeziehungen der Menschen: am Arbeitsplatz in der Beziehung zu Arbeitskollegen und Vorgesetzten, in der Schule in der Beziehung zu Mitschülern, am Wohnort in der Beziehung zu Nachbarn, in Kneipen, Restaurants, Kinos, Freizeitgestaltungsvereinen oder auch Kirchengemeinden.
Meine aus sozialwissenschaftlicher Langzeitbeobachtung bezogene These lautet, daß der relativ erfolgreichen und problemlosen ökonomischen Integration der DDR-Übersiedler in der Bundesrepu-blik eine soziale Integration gegenübersteht, die erheblich problemgeladen ist, worin sich die zwischenzeitlich eingetretene tiefgreifende Unterschiedlichkeit der beiden deutschen Gesellschaftsordnungen der Nachkriegszeit widerspiegelt. Das sozialistische „Sozialisationsgepäck“, das die heutigen Übersiedler in den Westen mitbringen und das sich ja nicht einfach durch Umlemen abschütteln und auswechseln läßt, bricht sich in vielerlei Situationen an den hier vorherrschenden Verhaltenserwartungen, -Orientierungen und -mustern. Die Last der daraus erwachsenden Probleme tragen die Übersiedler in Gestalt von verbreiteter sozialer Isolation. Daraus auszubrechen, würde von den ehemaligen DDR-Bürgern eine fast übermenschliche Fähigkeit zur Rationalisierung der erfahrenen alltäglichen Probleme als solche der Konfrontation unterschiedlicher Kultur-und Gesellschaftsmuster bedingen.
Es gibt, um ein mögliches Mißverständnis auszuschließen, keinen Sinn, die ökonomische mit der sozialen Integration „zu verrechnen“ — etwa dergestalt, daß man von den Übersiedlem verlangte, sie sollten angesichts ihrer erfolgreichen ökonomischen Integration doch zufrieden sein (was sie im übrigen meistens sind). Beide Dimensionen haben ihren gleichberechtigten Stellenwert. Es geht uns ja auch hier nicht um die Mobilisierung von Mitleid oder Hilfe für die Übersiedler, sondern allein um das Konstatieren von Integrationsproblemen (die die Betroffenen gar nicht unbedingt als belastend empfinden) und deren soziologische Interpretation. Die problematischen Zusammenhänge im Bereich der sozialen Integration der Übersiedler sollen hier nur exemplarisch angesprochen werden:
— Dasselbe Verhalten, das vielen Übersiedlern überraschend schnell zu einem Arbeitsplatz verholfen hat — die unkonventionelle, aktive Art der Stellensuche, die demonstrative Bereitschaft zum Lernen und zur beruflichen Fortbildung, die bereitwillige Ableistung von Überstunden, die Bereitschaft zur unferqualifizierten und vielleicht auch untertariflich entlohnten Arbeit, in Mehrpersonenhaushalten die Erwerbsbeteiligung auch der Frau (sogar bei Vorhandensein kleiner Kinder) —, all das bereitet im Arbeitskollegenkreis und beim Betriebsklima (an dem auch der Arbeitgeber interessiert sein muß) einige Probleme. Die individualistisch-egozentrischen Übersiedler-„Pioniere“ erscheinen als Streber, als allzu arbeitgeberfreundlich, als — um es pointiert zu überzeichnen — „potentielle Streikbrecher“, als Gefahr für das Betriebsklima. Es liegt nahe, daß sich unter solchen Umständen nur schwer intensivere Sozialkontakte oder gar Freundschaften von Übersiedlern mit Arbeitskollegen ergeben. (Es hat durchaus Fälle gegeben, in denen Übersiedler, die zunächst einen Arbeitsplatz gefunden hatten, aus solchen betriebsklimatischen Gründen wieder arbeitslos wurden.)
— Denselben Effekt verursachen aber auch andere Probleme. Ein großer Teil zumindest der 1984er Übersiedler war — häufig verstärkt oder ausgelöst durch eine langjährige Wartezeit nach gestelltem Ausreiseantrag — aus den sozialen Netzen der DDR-Lebenswelt ausgeschert. Einen nicht unerheblichen Anteil an der Ablehnung der Lebensbedingungen in der DDR machte für viele Übersiedler die ihnen aufgezwungene Organisationsbeteiligung (Parteien und Massenorganisationen) aus, die für die DDR-Gesellschaft typisch ist. Die erfolgreiche Ausreise bedeutete für sie auch die Befreiung vom Organisationszwang. Eine solche, individuelle Autonomie anstrebende Haltung führt den Über-siedler natürlich im Westen nicht als erstes in die Gewerkschaft. Mit dieser — individuell sehr rationalen und verständlichen — Abstinenz macht er sich aber bei gewerkschaftlich organisierten Arbeitskollegen nicht gerade Freunde.
— In den gleichen Zusammenhang gehört schließlich auch die in den beiden deutschen Gesellschaften unterschiedliche Differenzierung zwischen den verschiedenen Lebensbereichen Arbeit. Wohnen, Freizeitgestaltung. Während die Arbeitskollegen und Freunde in der privaten Freizeit in der DDR zumeist dieselben sind, hat sich in der Bundesrepublik in dieser Hinsicht eine relativ starke Trennung herausgebildet. Das hängt u. a. mit den durchschnittlich größeren Entfernungen zwischen Wohnung und Arbeitsstätte, aber auch damit zusammen. daß hier inzwischen für die Freizeitgestaltung in erheblichem Maße Freizeitvereine und -Stätten zuständig geworden sind, in denen sich dann ganz andere Menschen zusammenfinden als am Arbeitsplatz. Die Übersiedler kennen aus der DDR den einen Modus der Gesellschaftlichkeit und erwarten ihn natürlicherweise zunächst auch im Westen; sie stoßen hier aber auf einen anderen Modus, der sie nicht nur befremdet, sondern in seinen Auswirkungen oft auch enttäuscht.
— Ein ganz anderer, aber gleichfalls soziale Isolation bewirkender Faktor zeigt sich im Lebensbereich des Wohnens, also hinsichtlich der nachbarschaftlichen Kontakte. Auch er hat mit dem „Vorleben“ der Übersiedler in der DDR und den dortigen Erwartungen und Erfahrungen zu tun, die auf die entsprechenden Muster hier nicht recht passen. Weil sie in der DDR ein im Vergleich zum Westen wesentlich niedrigeres Mietpreisniveau gekannt haben und das Wunschbild einer Wohnung in der DDR in einer Neubauwohnung mit Zentralheizung und Bad besteht — die es freilich in der Regel nur schwer und dann in großen Wohnkomplexen zu haben gibt, welche somit nicht mit einem negativen Image behaftet sind —, ziehen die DDR-Übersiedler bevorzugt in für bundesdeutsche Verhältnisse relativ preiswerte, oft sozial geförderte Wohnkomplexe. Das im Westen inzwischen ziemlich negative Image dieser Wohnkomplexe ficht die Übersiedler nicht an; sie sind glücklich, das zu bekommen, was ihnen in der DDR als erstrebenswert galt: eine -zumindest relativ — preiswerte Neubauwohnung mit Heizung und Bad. Sie ignorieren dabei das V^ohnumfeld, konzentrieren sich auf die Ausstattung ihrer Wohnung.
Das sozialintegrative Problem besteht dann darin, daß die Übersiedler auf diese Weise in eine Nachbarschaft von sozial Schwächeren, verstärkt von Ausländern geraten, der gegenüber sie sich fremd fühlen. Pointiert: Sie leben als Mittelschichtangehörige in einem Unterschichtumfeld. (Man sollte hier nicht moralisieren, sondern die Sache nüchtern und durchaus aus der Sicht der Übersiedler konstatieren, die sich jedenfalls in entsprechendes Verhalten umsetzt.) Im Ergebnis fällt daher für die Über-siedler der lebensweltliche Sektor „Nachbarschaft“ weitgehend aus. Übersiedlerfamilien wenden sich dann nach innen, isolieren sich gegenüber ihrem sozialen Wohnumfeld. — Soziale Kontakte finden heutzutage nicht nur im unmittelbaren räumlichen Umfeld — etwa der Wohnung (mit Nachbarn) oder des Arbeitsplatzes (mit Arbeitskollegen) — statt, sondern lassen sich auch über gewisse Entfernungen herstellen und aufrechterhalten. Man kann sich gegenseitig besuchen. Derartige Besuchsmöglichkeiten hängen jedoch von vielen Faktoren ab, wie z. B.den Verkehrsverbindungen oder den finanziellen Mitteln zum Reisen. Soziologisch relevant sind die Muster des Kontaktverhaltens. die übrigens auch weitgehend im Wege der Sozialisation gelernt werden — und in diesem Punkt gibt es zwischen der DDR und der Bundesrepublik einen konkreten, herausragenden Unterschied, der mit der extrem unterschiedlichen Telefondichte in beiden Gesellschaften zusammenhängt. Im Westen gehen Besuchen, selbst solchen über kurze Entfernungen am gleichen Ort, in der Regel telefonische Ankündigungen oder Absprachen voraus. Selbst kleine Kinder lernen dieses Kontaktmuster frühzeitig und halten sich daran. Die Basis dafür bildet eine Telefondichte von über 90 Prozent der Haushalte. In der DDR liegt die Telefondichte nur bei ca. zehn bis zwanzig Prozent. Dementsprechend besteht dort das normale Verhalten eher darin, die Kontaktpartner, zumindest am selben Ort, ohne Ankündigung aufzusuchen. Obwohl nun die Übersiedler aus der DDR an ihrem neuen Wohnort im Westen das Telefon als Medium für sich vorfinden, läßt sich denken, daß sie damit nicht in der gleichen selbstverständlichen Weise umgehen, wie dies Westdeutsche tun, die mit dem Telefon aufgewachsen sind.
-Auch aus dem angesprochenen übersiedlertypischen Konsumverhalten ergeben sich — negative —
Effekte auf ihre Sozialkontakte. Indem sie sich, zumindest in den ersten Jahren, auf den Erwerb langlebiger Konsumgüter konzentrieren, sparen sie an Ausgaben, die an typischen Orten der sozialen Kommunikation anfallen: Kneipen, Restaurants, Kinos, Veranstaltungen. Damit begeben sie sich dann allerdings auch der dort möglichen sozialen Kontakte.
Diese Beispiele ließen sich vermehren; wesentlich ist mir ihre „Logik“: Die empirisch feststellbare Isolation vieler Übersiedler — die, sofern gegeben, durch betonte Wendung ins Innere der Familie kompensiert wird — muß als Resultat des Aufeinandertreffens von sozialisatorisch erworbenen, divergierenden Mustern der Gesellschaftlichkeit interpretiert werden, die sich — bei aller übergreifenden „deutschen“ Charakteristik — in den beiden deutschen Staaten herausgebildet haben.
VI. Zufriedenheit, Enttäuschung, Rückkehrwünsche
Insgesamt und nach Ablauf von fünf Jahren Aufenthalt im Westen gesehen, findet man unter den Übersiedlern kaum Enttäuschung — geschweige denn Rückkehrwünsche —, hinter der sich ein Bereuen der Entscheidung zum Verlassen der DDR und zur Übersiedlung in die Bundesrepublik verbergen würde. Der durchgängige Tenor lautet, man hätte schon früher als tatsächlich geschehen in den Westen kommen sollen. Die grundsätzliche Zufriedenheit sowohl mit dem, was man hier vorgefunden und inzwischen erreicht hat, als auch mit der Entscheidung für die Übersiedlung besteht meistens im vollen Bewußtsein einer gewissen sozialen Isolation in der neuen „Heimat“ (und eines Verlustes an alter Heimat). Selbstverständlich wünschen sich insbesondere diejenigen, die nur eine unterqualifizierte oder berufsfremde Arbeit gefunden haben mit entsprechend geringerer Bezahlung, eine Verbesserung ihrer Lage. Aber das ändert nichts an ihrer grundsätzlichen Zufriedenheit — und ist im übrigen nichts, was allein für Übersiedler zuträfe.
Bei der Interpretation dieser generellen Zufriedenheit ist allerdings auf einen — m. E. durchaus wesentlichen — Faktor hinzuweisen, an den man nicht unmittelbar denkt: Die Übersiedler der 1984er Welle (wenngleich nicht nur diese) haben, wie erwähnt, in der DDR meist eine längere Wartezeit zwischen Ausreiseantrag und Ausreisegenehmigung absolviert, die nicht selten mit erheblicher sozialer Diskriminierung verbunden war. Diese Wartezeit hat für die spätere Bewältigung von Problemen beim Integrationsprozeß in der Bundesrepublik erhebliche Auswirkungen. In dieser Zeit konnte — neben der Sammlung von Informationen über die Bundesrepublik als dem angestrebten Lebensort — vor allem eine ausreichende psychosoziale Verarbeitung der Ausreiseentscheidung erfolgen, die dann im späteren Leben im Westen — auch unter Problemdruck — verhinderte, daß an der einmal getroffenen und umgesetzten Entscheidung mental gerüttelt wurde. Die mit solcher Wartefrist verbundene Entscheidung der Übersiedler für ihren biographisch einschneidenden Schritt in den Westen war also mit der Ausreise verarbeitet und endgültig. Daraus resultiert eine — sehr funktionale — erhöhte Frustrationstoleranz gegenüber Schwierigkeiten im Integrationsprozeß und schließlich Zufriedenheit mit der erreichten Integration, wie auch immer deren Niveau aussehen mochte. Der hypothetische Vergleich mit einem in der DDR fortgesetzten Leben bildet für diese Übersiedler keine verunsichernde, dysfunktionale Störung ihrer Befindlichkeit in der neuen Heimat des Westens.
Ganz unabhängig vom — individuell natürlich unterschiedlichen — Maß ihrer Zufriedenheit kann man für die Übersiedler (des 1984er Typs) generell feststellen, daß sie auch in der Hinsicht ausgesprochen integrationsaktiv sind, als sie sich bemühen, möglichst schnell möglichst „richtige“, unauffällige Bundesbürger zu werden.
Was sie in rechtlicher Hinsicht in der Bundesrepublik sind — einfach Deutsche (und nicht: ehemalige DDR-Bürger) —, das versuchen sie mit erstaunlichem Nachdruck auch sozial tatsächlich zu sein, was freilich — wie deutlich gemacht werden sollte — durchaus beträchtliche sozialisatorische Anpassungsleistungen von ihnen erfordert.
Volker Ronge, Dr. rer. pol., geb. 1943; Dipl. -Politologe; seit 1982 Professor für Allgemeine Soziologie an der Bergischen Universität Wuppertal. Veröffentlichungen u. a.: Von drüben nach hüben. DDR-Bürger im Westen, Wuppertal 19852; (Hrsg.) Berufliche Integration ausländischer Flüchtlinge, Wuppertal 1986; (Hrsg.) Der institutionelle Kontext der Sozialarbeit mit Flüchtlingen, Wuppertal 1989.
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