Die wirtschaftliche Entwicklung Polens in den achtziger Jahren war negativ: Die Wirtschaftskrise, in die das Land 1979 geraten ist, konnte bisher nicht überwunden werden. Die mehrfachen Versuche der politischen Führung, das Wirtschaftssystem zu reformieren und es dadurch effizienter zu gestalten, sind im Sande verlaufen. Das vergangene Jahr lieferte dafür einen aktuellen Beleg: Polens Wirtschaft hat 1989 ein schlechtes Ergebnis erzielt. Die gesamtwirtschaftliche Produktion stagnierte; sie lag immer noch unter dem Niveau von 1978.dem letzten Vorkrisenjahr. Privater Konsum — und damit auch der Lebensstandard — sowie Investitionen gingen zurück. Das Ungleichgewicht auf dem inländischen Produktions-und Konsumgütermarkt hat sich verschärft. Seit der Freigabe der Nahrungsmittelpreise im August 1989 herrscht eine Hyperinflation. Die Auslandsverschuldung in harter Währung hat weiter zugenommen. Die Regierung Rakowski hatte zur Jahreswende 1988/89 ein Paket von Reformmaßnahmen beschlossen: Gewerbefreiheit, Öffnung des Landes für Auslandskapital, neues Bankensystem, Deregulierung des Außenhandelsmonopols, freier Devisenhandel für Privatpersonen, Abschaffung der zentralen Wirtschaftsplanung. Auch diese Reform hat in der Praxis keine positiven Wirkungen gezeigt. Die Regierung Mazowiecki, seit September im Amt, versucht, mit einer Schock-Therapie eine Wende zum Besseren einzuleiten: Mit einer Freigabe der Preisbildung, einem Abbau der staatlichen Subventionen und mit der Einführung einer partiellen Konvertibilität des Zloty gegenüber westlichen Währungen will man die wirtschaftliche Lage stabilisieren und zugleich die Grundlagen für eine funktionsfähige Marktwirtschaft schaffen. Die Kosten des Programms, an dem der Internationale Währungsfonds (IWF) maßgeblich beteiligt war, lauten: Arbeitslosigkeit, Betriebsbankrotte, zunehmendes Elend der wirtschaftlich Schwächsten. Was die Erfolgsaussichten angeht, so regiert bestenfalls das Prinzip Hoffnung. Es gibt indes zwei Lichtblicke: die anhaltende Unterstützung der Regierung Mazowiecki durch die Mehrheit der Bevölkerung und die zugesagte, massive wirtschaftliche Hilfe des Westens. Gelingt der erste polnische Versuch, die Marktwirtschaft einzuführen?
I. Entwicklungstendenzen in den achtziger Jahren
Die wirtschaftliche Krise in der Volksrepublik Polen wurde 1979 offenbar. Bis 1978 zeigten die statistischen Ergebnisse der Wirtschaftstätigkeit noch Wachstumsraten; ab 1979 ergab sich ein Rückgang. 1982 war der Tiefpunkt erreicht; das produzierte Nationaleinkommen lag damals um 24 vH unter dem Stand von 1978, beim Realeinkommen belief sich der Rückgang auf 25 vH.
Viele Ursachen werden für die wirtschaftliche Krise in Polen genannt: Streiks und politische Unruhen, ungünstige außenwirtschaftliche Bedingungen, falsche Entscheidungen der Wirtschaftsführung in der Vergangenheit und nach Zuspitzung der Krise. Jeder einzelne dieser Faktoren allein reichtjedoch zur Erklärung nicht aus. Streiks und politische Unruhen waren nicht eine Ursache, sondern vielmehr eine Folge der ökonomischen Probleme. Die außenwirtschaftlichen Bedingungen und die falschen Entscheidungen spielten zwar eine Rolle, waren aber für sich allein nicht ausschlaggebend für den plötzlichen Zusammenbruch der Wirtschaft. Insgesamt gibt es keine isolierte Erklärung für die geradezu katastrophale Entwicklung in Polen Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre. Vielmehr bestand die Ursache aus vielen Faktoren, die sich gegenseitig verschärften.
Die Wurzeln der späteren Schwierigkeiten reichen weit in die Vergangenheit zurück. Sie beruhten auf der Entscheidung, in Polen eine Wirtschaft unter Bevorzugung der Schwerindustrie aufzubauen. Dieses aus der marxistischen Vorstellung und der stalinistischen Praxis in der UdSSR abgeleitete Wachstumsmuster hatte zur Folge, daß andere Industriezweige — insbesondere die Verbrauchsgüterindustrie und die Landwirtschaft — sowie die Infrastruktur weitgehend vernachlässigt wurden. Auch die Einbindung Polens in die internationale Arbeitsteilung, der Aufbau von exportfähigen Produktionen, blieb zurück.
Diese Fehlentwicklungen wurden weder in den sechziger noch in den siebziger Jahren korrigiert. Die wichtigsten Strukturdaten blieben vielmehr fast unverändert. Das wirtschaftliche System — insbesondere die zentrale Entscheidung über die Investitionsprioritäten, die verzerrte Preisstruktur und die fehlenden Anreizmechanismen — haben die ungünstige Struktur zusätzlich konserviert. Die Einführung einer grundsätzlich neuen Strategie und neuer Methoden der Wirtschaftsführung wurde immer wieder hinausgeschoben. So kumulierten sich Fehler und Versäumnisse. Der Ausweg einer „aktiven Kreditpolitik“ durch Westverschuldung ohne eine durchgreifende Strukturpolitik in den siebziger Jahren hat das strukturelle Ungleichgewicht noch weiter verstärkt.
Gravierend bei der Zuspitzung der Situation war, daß die zentrale Führung die Kontrolle über die Wirtschaft mehr und mehr verloren hatte. Eine ganze Reihe von wichtigen Aktivitäten (Investitionen, Preise, Importe) entwickelten sich mehr oder weniger unkontrolliert; es wird sogar von einem völlig ungeplanten, spontanen Ablauf der Wirtschaftsprozesse gesprochen. Eine erfolgreiche Verwirklichung der „aktiven Kreditpolitik“, wie sie von Gierek Anfang der siebziger Jahre begonnen wurde, setzt aber gerade eine strenge zentrale Kontrolle der wichtigsten makroökonomischen Größen voraus. Nachdem man sich einmal zur Kreditaufnahme entschlossen hatte, hätte konsequenterweise die zweite und zentrale Entscheidung gefällt werden müssen — wie hoch man sich verschulden sollte, wie schnell und wofür. Diese Kriterien wurden von der polnischen Führung immer mehr aus den Augen verloren. Die Verschuldung erhöhte sich zu rasch und nur die Hälfte der Auslandskredite wurde für die Finanzierung von Investitionsgütereinfuhren verwendet.
Unter dem Druck der Gewerkschaften und der öffentlichen Meinung wurde im Herbst 1980 eine Partei-und Regierungskommission für eine Wirtschaftsreform gebildet, auch zahlreiche andere Gruppen erarbeiteten Reformvorschläge. Die — revidierte — Fassung der Reformkommission vom Juli 1981 war weitgehend: Sie legte nicht nur neue Prinzipien für die Arbeit der Betriebe, sondern auch für die sozialen Beziehungen in der Gesellschaft und für die Organisation von Staat und Verwaltung fest. Auf der Betriebsebene waren das Zielmodell die „drei S“: Selbständigkeit, Selbstfinanzierung, Selbstverwaltung. Die wichtigsten Punkte waren Marktorientierung der Betriebe. Beschränkung der zentralen Planung auf Rahmenpla29 nung, Koordinierung durch indirekte Steuerung. Gleichzeitig sollte das gesamte volkswirtschaftliche Lenkungssystem umgestaltet werden (Reduzierung der Zahl der Industrieministerien, Abschaffung der mittleren Leitungsebene). Für die wichtigsten Maßnahmen wurde ein genauer Stufenplan aufgestellt.
Die Einführung der Reform stand im Schatten des Kriegsrechts. Einige der im Stufenplan vorgesehenen Maßnahmen wurden zögerlich und wenig konsequent realisiert. So konnten die Preise ihre Regulierungsfunktion nicht übernehmen, weil der Anwendungsbereich der „vereinbarten Preise“ (freie Marktpreise) verringert worden ist. Auch die Subventionierung wurde nicht eingeschränkt. Ein stark dirigistisches Element bestand immer noch in der administrativen Zuteilung von Rohstoffen und Material. Gravierend war, daß keine grundsätzliche Veränderung in der Organisationsstruktur eingeführt wurde. Die Leitungsstruktur war immer noch zentralistisch und hierarchisch gegliedert. So ist ein neues Mischsystem entstanden; es ist „zwar anders als früher, aber anders als es sein sollte“.
Der „Kriegszustand“ begann am 13. Dezember 1981. Die Führung des Landes übernahm ein sogenannter „Militärrat“ (WRON) unter General Jaruzelski. Der Kriegszustand wurde am 21. Juli 1983 aufgehoben; er dauerte somit 585 Tage. Rein wirtschaftlich betrachtet gab es Licht-und Schattenseiten: 1982 und 1983 war es der militärischen Führung gelungen, die Talfahrt der Wirtschaft zunächst zu verlangsamen, um die Wirtschaft dann — wenn auch ausgehend von einer relativ niedrigen Basis — wieder auf einen Wachstumskurs zu führen. Auf der Negativseite stehen in erster Linie die Mißerfolge bei der Inflationsbekämpfung. Es ist nicht gelungen, die Lohnentwicklung der Produktivitätssteigerung anzugleichen — im Gegenteil: Die Preis-Lohn-Spirale hat sich auch 1983 weiter kräftig gedreht. Die polnische Militärregierung war offensichtlich nicht in der Lage, eine „harte“ Geld-und Einkommenspolitik zu fahren.
Das polnische Parlament, der Sejm, hatte Ende 1982 den Dreijahresplan für die Jahre 1983 bis 1985 verabschiedet; er sollte als ein Zeichen der Normalisierung des Wirtschaftsablaufs in Polen verstanden werden. Dieser Plan verfolgte zwei Hauptziele, nämlich die schrittweise Überwindung der Wirtschaftskrise und die schrittweise Rückkehr zum (binnen-und außen-) wirtschaftlichen Gleichgewicht. Bei der Produktion sind die Ziele des dreijährigen Gesundungsprogramms der Regierung durchweg übererfüllt worden. Dennoch konnte der Leistungsstand von 1979 — abgesehen von der Landwirtschaft — in keinem Bereich erreicht werden. Der Vergleich mit 1978, dem letzten Vorkrisenjahr, ergibt ein noch negativeres Bild: Die gesamtwirtschaftliche Produktion des Landes lag 1985 real um 12 vH unter dem damaligen Niveau; gerechnet je Einwohner betrug der Rückstand sogar 17 vH. Auch auf dem Wege der Wiederherstellung des Gleichgewichts ist man in den Jahren 1983 bis 1985 nicht viel weitergekommen. Der Investitionsprozeß bildet in diesem Zusammenhang nach wie vor eine erhebliche Schwachstelle. Der Konsultativrat für Wirtschaftsfragen (KRG), damals eine Art unabhängiger Sachverständigenrat zur Beurteilung der Wirtschaftspolitik der Regierung, stellte in diesem Zusammenhang lakonisch fest, „daß das Zentrum die Investitionsprozesse nach wie vor nicht beherrscht“. Die geplante Inflationsbekämpfung endete mit einem Mißerfolg. Die polnischen Verbindlichkeiten in Transfer-Rubel (TRbl), in erster Linie gegenüber der Sowjetunion und der RGW-Bank für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, erhöhten sich weiter. In den Jahren 1983 bis 1985 wurden insgesamt sechs Mrd. US-Dollar, das sind 25 vH des Einnahmenüberschusses aus der Waren-, Dienstleistungs-und Übertragungsbilanz, an westliche Gläubiger überwiesen. Dieser Betrag reichte indes nicht aus, um den fälligen Schuldendienst voll zu finanzieren; die polnischen Gesamtverbindlichkeiten in westlichen Währungen stiegen um 2, 8 auf 29, 3 Mrd. US-Dollar.
Der Plan 1986 bis 1990 sollte einen breiten und tief-greifenden Strukturwandel in der polnischen Wirtschaft mit dem Ziel einleiten, alle verfügbaren Produktionsfaktoren besser zu nutzen, den spezifischen Material-und Energieverbrauch zu senken, die Verschmutzung der natürlichen Umwelt zu verringern und den Wirtschaftsablauf effizienter zu gestalten. Wie schwierig es sein wird, diese Aufgaben zu lösen, zeigt folgendes Beispiel: Nach Schätzungen der polnischen Planungskommission wird sich das Angebot an Brennstoffen und Energie, aus heimischen und ausländischen Quellen zusammengenommen, in den Jahren 1986 bis 1990 um 13 bis 14 Mill, t Steinkohleeinheiten (SKE) erhöhen. Demgegenüber hatte der Mehrverbrauch in den Jahren 1971 bis 1975 36 Mill, t und in den Jahren 1976 bis 1980 30 Mill, t betragen. Der Energiemehrbedarf in der laufenden Planperiode würde sich bei unveränderter Energieintensität auf 32 Mill, t belaufen. Das geplante Wachstum ist bei dem begrenzten Energieangebot nur dann zu erreichen, wenn der spezifische Energieverbrauch erheblich gesenkt wird. Polnische Fachleute bezweifeln, ob das dem Plan zugrunde liegende Verhältnis des Energieangebots und der gesamtwirtschaftlichen Wachstumsrate (0, 4) überhaupt realistisch sei. Wie vor fünf Jahren betonte die polnische Regierung auch dieses Mal, der erwünschte Wandel in der Produktionsstruktur sei nicht zu erreichen, die Inflation nicht erfolgreich zu bekämpfen und das wirtschaftliche Gleichgewicht nicht wiederherzustellen, wenn es nicht gelingt, die Wirtschaftsreform konsequent zu verwirklichen. Die Regierung betont ihren Reformwillen und ihre Bereitschaft, den eingeschlagenen Reformweg weiterzugehen. Zur Realisierung der „zweiten Etappe der Wirtschaftsreform“ sollen bis 1990 drei Viertel der Subventionszahlungen aus dem Staatshaushalt gestrichen, der Staatshaushalt ausgeglichen und seine Einnahmequellen stabilisiert, die zentrale Bewirtschaftung auf allen Märkten wesentlich eingeschränkt, das Anlagenvermögen neu bewertet und die Abschreibungen daran angepaßt werden; das finanzielle Ergebnis soll schließlich bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Unternehmen eine größere Rolle spielen.
Ein zentrales Anliegen ist die Inflationsbekämpfung. Die Inflationsrate soll bis 1990 auf fünf bis sechs Prozent gesenkt, die Wiedererlangung des binnenwirtschaftlichen Gleichgewichts beschleunigt und damit die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, das marktwirtschaftliche Instrumentarium wirksam einsetzen zu können. Die Regierung nimmt bewußt in Kauf, daß in den ersten Jahren der Planperiode das Tempo der Preissteigerung über dem gegenwärtigen Inflationsniveau (15 bis 20 vH) liegen müßte.
Fazit: In Polen ist im Herbst 1981 mit der Durchführung einer Wirtschaftsreform in einer Situation begonnen worden, die seither unverändert durch eine binnenwirtschaftliche Krise, innenpolitische Instabilität sowie außen-und außenwirtschaftspolitische Unsicherheiten gekennzeichnet ist. In dieser Lage hat die jeweilige polnische Regierung der Bekämpfung aktueller wirtschaftlicher Schwierigkeiten auf dem Binnenmarkt immer Vorrang vor der angestrebten Umgestaltung des Wirtschaftsmechanismus gegeben und dabei gleichzeitig immer wieder ihren Reformwillen hervorgehoben. Das Ergebnis ist ein halbherzig durchgeführter Reformversuch; es wurde stets bewußt in Kauf genommen, daß die bereits durchgeführten Reformen wieder gelähmt wurden. Auf diese Weise wurde auch die Position der Regierung bei der Steuerung und Kontrolle der Wirtschaftsprozesse geschwächt, ohne daß gleichzeitig die innerbetrieblichen und marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die selbständig und eigenverantwortlich handelnden Unternehmen geschaffen worden wären. Der Wirtschaftsablauf trägt seit Jahren chaotische Züge, was die wirtschaftliche Krise des Landes perpetuiert. Der Fünfjahrplan 1986 bis 1990, vom polnischen Parlament erst Ende 1986 verabschiedet, war bereits Ende 1988 obsolet. Im Jahr 1989 hat sich die wirtschaftliche Lage Polens weiter verschlechtert.
II. Die wirtschaftliche Lage 1989
Abbildung 2
Tabelle 2: Preissteigerungen in Polen; Stand Dezember 1989 (Dezember 1988 = 100)
Tabelle 2: Preissteigerungen in Polen; Stand Dezember 1989 (Dezember 1988 = 100)
Produktion
Polens Bruttosozialprodukt bzw. produziertes Nationaleinkommen hat sich im vergangenen Jahr — nach vorläufigen Schätzungen der obersten statistischen Behörde des Landes — gegenüber 1988 nicht vergrößert; ein leichter Rückgang dürfte sogar plausibler sein. Zu diesem Ergebnis haben insbesondere die (staatliche und genossenschaftliche) Industrie (Absatz: — 3, 5 vH; arbeitszeitbereinigt: — 2, 5 vH) und die (vergesellschaftete) Bauwirtschaft (Produktion: — 9 vH) maßgeblich beigetragen. Die Produktion der wichtigsten Grundstoffe ist gesunken: Steinkohle: — 8 vH, Stahl: — 10. 5 vH, Walzwerkerzeugnisse: — 9 vH. Dies hat den Produktionsprozeß der nachgelagerten Industrie empfindlich gestört. Diese — hausgemachten — Störungen wurden durch die Kürzung der Importe von Vorleistungsgütern (-4. 5 vH) verschärft. Der Bausektor lieferte eine besonders schlechte Leistung: 1989 konnten nur knapp 150 000 neue Wohnungen fertiggestellt werden (— 21 vH), das schlechteste Ergebnis seit 26 Jahren (öffentlicher Wohnungsbau: 95 000 Wohungen: — 27 vH; privater Wohnungsbau: 55 000 Wohnungen: — 8 vH). Bezogen auf 1 000 Einwohner wurden nur vier neue Wohnungen gebaut (1978: 8. 1). Junge Familien (1989 gab es 256 000 Eheschließungen) müssen weit über zehn Jahre auf eine eigene Wohnung warten.
Demgegenüber hat die Landwirtschaft ein Plus erzielt (Bruttoproduktion: + 2 vH). Die pflanzliche Produktion stieg um 4 vH, weil bei Getreide — bedingt durch einen milden Winter und durch günstige Witterungsverhältnisse — eine Rekordernte (28, 5 Mill, t) erzielt wurde. Die tierische Produktion ist leicht gesunken (— 1 vH), weil die Fleisch-erzeugung hinter dem Ergebnis von 1988 (— 4, 5 vH) blieb; dies hat sich auf die Versorgung der Bevölkerung negativ ausgewirkt. Gewachsen ist auch die Produktion der privaten Wirtschaft des Landes (+ 12 vH); sie erhöhte ihren Anteil an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung um zwei Punkte auf 18, 5 vH. Polen ist damit im (politischen) Osteuropa dasjenige Land, in dem die Bedeutung der Privatwirtschaft bisher mit deutlichem Abstand am größten gewesen ist (in den übrigen Volkswirtschaften dürfte der Anteil des privaten Sektors an der gesamtwirtschaftlichen Produktion unter 5 vH liegen). Eine wichtige Ursache für das unbefriedigende Ergebnis der gesamten verarbeitenden Wirtschaft sind die zahlreichen Streiks gewesen: Insgesamt wurden 880 Streiks gezählt, an denen knapp 350 000 Beschäftigte. darunter rund 300 000 Arbeiter, beteiligt waren (6, 5 vH aller Arbeiter im Bereich der materiellen Produktion). Der geschätzte Arbeitszeitausfall wird mit fast 700 000 Arbeitstagen beziffert.
2. Verwendung
Die Summe der im Inland insgesamt verwendeten Güter und Dienstleistungen („verwendetes Nationaleinkommen“) lag in Polen im vergangenen Jahr um 3 vH unter dem Produktionsaufkommen; dieser Betrag diente überwiegend dem auswärtigen Schuldendienst. Im Vergleich mit 1978, dem letzten Vor-krisenjahr, war das verwendete Nationaleinkommen je Einwohner 1) 1989 rund 13 vH kleiner (bei der Produktion betrug der vergleichbare Rückstand rund 8 vH). Der private Verbrauch hat sich 1989 leicht verringert. Dies ging in erster Linie auf das unzureichende Angebot von Konsumgütem zurück, Bei Nahrungsmitteln traten Angebotslücken insbesondere bei Fleisch und Fleischwaren (-7 vH gegenüber 1988), Fisch und Fischwaren (— 8 vH), tierischem Fett (— 10 vH), Schokolade (-10 vH) und Wodka (— 7 vH) auf. Bei sonstigen Waren konnte die Nachfrage selbst dann nicht gedeckt werden, wenn das Angebot von 1988 mengenmäßig übertroffen wurde; dies traf für viele dauerhafte Verbrauchsgüter zu. Die polnische Bevölkerung hat 1989 von staatlichen Handelsunternehmen für insgesamt 900 Mill. US-Dollar Waren aus dem westlichen Ausland gekauft (+ 29 vH). Darunter waren 20 000 PKW, 153 000 Farbfernseher, 216 000 Videogeräte.
Die Anlageinvestitionen haben sich im vergangenen Jahr — erstmals seit 1983 — verringert (— 2 vH). Dies war eine Folge von Kürzungen von größeren Projekten im Bergbau, im Verkehrsbereich und beim Kraftwerksbau. Außerdem mußten viele Unternehmen wegen erheblicher Finanzierungsschwierigkeiten, die in der zweiten Jahreshälfte aufgetreten waren, ihre Investitionstätigkeit stark einschränken. Wegen der schlechten Wirtschaftslage beschränkten sich die meisten Unternehmen auf die Durchführung der allernotwendigsten Ersatz-und Modernisierungsinvestitionen. Wegen des Investitionsrückstaus der letzten zwölf Jahre — im vergangenen Jahr wurden nur drei Viertel der Summe von 1978 investiert — ist das produktive Anlagevermögen weitgehend veraltet („Dekapitalisierung“) und die technische Infrastruktur, im Zuge der stalinistischen Industrialisierung ohnehin stark vernachlässigt, befindet sich in einem kritisch-desolaten Zustand. In diesem Zusammenhang fällt negativ auf, daß im vergangenen Jahr gerade die Investitionen in Maschinen und Einrichtungen besonders stark gesunken sind (-11 vH).
3. Preise, Einkommen, Lebenshaltung
Die Rakowski-Regierung hat am 1. August 1989 die Preise für alle Grundnahrungsmittel freigegeben, die Lebensmittelkarten für Fleisch-und Fleischwaren aufgehoben sowie die staatlichen Subventionen für die Nahrungsmittelproduktion eingefroren. Die Folge war eine drastische Steigerung der Preise für Nahrungsmittel: Diese erhöhten sich im ersten Halbjahr 1989 um 60 vH (gegenüber dem 4. Quartal 1988); in der zweiten Hälfte des Berichtsjahres betrug die Steigerungsrate bereits mehr als 465 vH. Aber auch in allen anderen Bereichen der Wirtschaft hat sich die Inflation dramatisch beschleunigt (vgl. Tab. 2).
Eine der wichtigsten Inflationsursachen war das gewaltige Defizit des zentralen Staatshaushalts (November 1989: 5, 2 Bill. ZI., das war über ein Drittel der Staatseinnahmen). Dieses Defizit wurde durch einen zinsfreien Kredit (Geldschöpfung) der Nationalbank finanziert; die Staatsverschuldung erhöhte sich infolgedessen auf 6, 5 Bill. ZI. Der Staat mußte sich derart verschulden, um die wachsenden Subventionen (38, 5 vH der Staatsausgaben) und die steigenden Löhne und Gehälter im öffentlichen Sektor finanzieren zu können.
Der „runde Tisch“, diese polnische Erfindung zur Durchsetzung politischer und wirtschaftlicher Reformen, hat im Frühjahr 1989 zwar beschlossen, die Zunahme der Einkommen mit einem Faktor von 80 vH an die steigenden Lebenshaltungskosten zu binden. Die monatlichen Einkommen der außerhalb der Privatwirtschaft Beschäftigten sind aber dennoch kräftiger gestiegen (+ 286 vH) als die Kosten ihrer Lebenshaltung (+ 254 vH). Auch dadurch hat sich die Inflation beschleunigt; die Indexierung der Löhne kann in einer Wirtschaft, die von einer Angebotskrise geplagt ist, kein erfolgreiches Instrument der Inflationsbekämpfung sein (zumal man auf eine Indexierung der Zinsen und des Wechselkurses verzichtet hat).
Die infolge dieser Hyperinflation wachsende Entwertung der polnischen Währung verursacht eine verstärkte Flucht in Sachwerte aller Art. Der US-Dollar ist faktisch zur Hauptwährung geworden. Für polnische Bauern spielte der Diesel-Treibstoff die Rolle einer Ersatzwährung: ein Liter Diesel für ein Liter Milch oder 30 Liter Diesel für eine Tonne Zuckerrüben.
4. Außenwirtschaft
Auch das Außenhandelsergebnis hat sich 1989 verschlechtert: Ausfuhr und Einfuhr gingen real je um 1 vH zurück. Der Wert der Ausfuhr in das soge-nannte Währungsgebiet (WG) I (Länder, mit denen der Handelsverkehr in sozialistischen, nicht-konvertiblen Währungen verrechnet wird erhöhte sich um knapp 2 vH, die Einfuhren von dort sind wertmäßig deutlich gesunken (-7 vH); die Ursachen hierfür sind noch nicht klar erkennbar. Der Ausfuhrüberschuß Polens gegenüber dem WG I hat sich auf über 2 Mrd. Transfer-Rubel (TRbl) fast verdoppelt. Hierzu hat auch die Verbesserung der Terms of Trade beigetragen (+ 3, 7 vH; das ergab ein Plus von 420 Mill. TRbl.).
Die Ausfuhr in das sogenannte Währungsgebiet II (Länder, mit denen der Handel auf der Grundlage konvertibler Währungen abgewickelt wird) stieg um 2 vH auf 8, 5 Mill. US-Dollar, die Einfuhr aus dieser Region erhöhte sich um 5, 5 vH auf 7, 7 Mill. US-Dollar. Der Ausfuhrüberschuß gegenüber dieser Region betrug knapp 750 Mill. US-Dollar, fast 300 Mill. US-Dollar weniger als 1988. Auch hier konnten Gewinne (115 Mill. US-Dollar) aus den Veränderungen der Terms of Trade (+ 1, 5 vH) verbucht werden. Das Leistungsbilanzdefizit in konvertiblen Währungen hat sich, nach ersten Schätzungen des Finanzministeriums, auf 2 Mrd. US-Dollar verdreifacht. Die Auslandsverbindlichkeiten des Landes in Transfer-Rubel sind um 0, 6 Mrd. auf 5, 9 Mrd. gesunken. Allein 5 Mrd. dieser Verbindlichkeiten bestehen gegenüber der UdSSR. Bereits 1988 haben Polen und die Sowjetunion vereinbart, die Rückzahlung dieser Schulden auf die Jahre nach 1995 zu verschieben
Die gesamten Verbindlichkeiten Polens in konvertiblen Währungen betrugen zum Jahresultimo 1989 rund 40 Mrd. US-Dollar, das war ein Plus von 0, 8 Mrd. gegenüber 1988. Allerdings ist nach Polen kein „frisches Geld“ geflossen. Diese Zunahme ist ausschließlich durch die Kapitalisierung der im vergangenen Jahr fälligen, aber nicht gezahlten Zinsen bedingt (2 Mrd. US-Dollar).
Unter den osteuropäischen RGW-Staaten weist Polen damit die absolut und relativ (d. h. je Einwohner bezogen) höchste Verschuldung in westlichen Währungen auf. Bei allen Indikatoren, die bei der Beurteilung der Verschuldung eines Landes bzw.seiner zukünftigen Kreditwürdigkeit von den Banken herangezogen werden (Verhältnis von Verbindlichkeiten zum Export, Schulden-bzw. Zinsendienstquote), steht Polen an letzter Stelle in der Reihenfolge der osteuropäischen Schuldnerländer. Polen konnte deswegen in den achtziger Jahren keinen Kredit auf den internationalen Finanzmärkten aufnehmen. Abgesehen von Kursschwankungen des amerikanischen Dollars, sind die Verbindlichkeiten Polens ausschließlich in Höhe der nichtgezahlten Zinsen und Tilgungen angewachsen. Dies ist auf Dauer ein unhaltbarer Zustand und verlangt nach einem Entgegenkommen der Gläubiger, auch in ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse. Die Bundes-B republik hat sich in diesem Zusammenhang beispielhaft verhalten: Was den sogenannten „Jumbo-Kredit“ über eine Mrd. DM aus dem Jahre 1975 an Polen angeht — hinzu kommen 350 Mill. DM angelaufene Rückstände —, so wurde von beiden Regierungen im November 1989 beschlossen, 590 Mill. DM werden in Zloty umgewandelt und in einen Fonds eingezahlt, aus dem Projekte in Polen im Bereich der Kultur, Bildung und Infrastruktur finanziert werden sollen; die restlichen 760 Mill. DM werden gestrichen.
Aufgrund der galoppierenden Inflation wurde der Zloty im Verlaufe des Jahres gegenüber dem US-Dollar um das 13fache (Januar: 503 ZI. /US-Dollar, Dezember: 6 500 ZI. /US-Dollar) und gegenüber dem TRbl (230 bzw. 1 450) um das Sechsfache abgewertet.
III. Das neue Regierungsprogramm für 1990: Stabilisierung und Marktwirtschaft
Abbildung 3
Tabelle 3: Verschuldung der RGW-Länder in konvertiblen Währungen 1981 bis 1988 (in Mrd. US-Dollar)) Quelle: Schätzungen der OECD.
Tabelle 3: Verschuldung der RGW-Länder in konvertiblen Währungen 1981 bis 1988 (in Mrd. US-Dollar)) Quelle: Schätzungen der OECD.
Die Rakowski-Regierung hatte bereits zur Jahreswende 1988/89 ein Paket von Reformmaßnahmen beschlossen. Die grundsätzliche Gewerbefreiheit und die Gleichheit aller Unternehmen, unabhängig von ihrer Eigentumsform, wurden gesetzlich verankert; die bisherige Begrenzung der Beschäftigten in privaten Unternehmen (50 pro Schicht) entfällt. Ausländern wurde gesetzlich die Möglichkeit eingeräumt, in Polen allein oder zusammen mit polnischen Partnern zu investieren; ausländische Beteiligung bis zu 100 vH des Kapitals ist dabei möglich. Ein zweistufiges Bankensystem wurde geschaffen mit einer unabhängigen Zentralbank an der Spitze und mit untereinander konkurrierenden Geschäftsbanken an der Basis; die Gründung von privaten Banken ist möglich, und ausländische Banken können tätig werden. Das staatliche Außenhandelsmonopol wird weitgehend dereguliert; ausgenommen bleiben einige strategische Bereiche. Private Personen können im Inland frei Devisen kaufen und verkaufen; die Regierung legt nur den Wechselkurs für kommerzielle Zwecke fest. Die Staatliche Plankommission — sie bestimmte im wesentlichen die Wirtschaftspolitik — wurde abgeschafft und durch das Zentrale Planungsamt mit ausschließlich beratenden Funktionen ersetzt; die staatliche Wirtschaftsplanung beschränkt sich nunmehr auf wirtschaftspolitische Leitlinien.
Dieses Reformpaket hat in der Wirklichkeit keine positiven Wirkungen gezeigt. Im Gegenteil: Die Regierung hat die makroökonomische Kontrolle weitgehend verloren, ebenso wie die finanzielle Disziplin auf allen Ebenen der Wirtschaft spürbar schwächer wurde. Auf diese Situation hat die neue Mazowiecki-Regierung — seit Mitte September 1989 im Amt —, mit einem radikalen Erneuerungsprogramm reagiert; sie wurde dabei von Fachleuten des IWF unterstützt.
Dieses Programm verfolgt zwei — aus der Sicht der polnischen Regierung interdependente — kurzfristige Ziele: erstens einen spürbaren Abbau der Inflationsrate und der Angebotsknappheiten sowie zweitens einen beschleunigten Umbau des Wirtschaftssystems in Richtung auf eine Marktwirtschaft. In mittelfristiger Sicht sollen — und hier handelt es sich um das eigentliche Endziel des Kurswechsels — ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum, eine Verbesserung des Lebensstandards und eine Stärkung der externen Position des Landes erreicht werden. Die Behörden erwarten eine für die polnische Bevölkerung sehr harte Übergangszeit, von der man hofft, daß sie so kurz wie möglich dauern wird.
Das neue Programm hat die folgenden wichtigsten Bestandteile: — Am 1. Januar sind — bis auf wenige Ausnahmen — die Preise für Produktions-und Konsumgüter freigegeben worden. Mieten, öffentliche Verkehrs-tarife sowie Preise für etliche öffentliche Güter unterliegen weiter der Kontrolle durch die Regierung (das sind nur 3 bis 5 vH des gesamten Umsatzes von Konsumgütern und Dienstleistungen; 1988: 31 vH). Im Produktionsbereich werden nur Steinkohle, Koks und elektrischer Strom (auf sie entfallen zusammen 5 vH des Produktionspreisindex) administrativ festgelegte Preise aufweisen. — Ab 1. Januar ist der Zloty für Inländer partiell konvertibel: Für alle laufenden Transaktionen in konvertiblen Währungen wurde ein einheitlicher Wechselkurs in Höhe von 9 500 ZI. /US-Dollar festgelegt. Zugleich sind sämtliche Subventionen und Steuererleichterungen für die Exportwirtschaft beseitigt worden. Unternehmen und private Haushalte haben einen unbegrenzten Zugang zu ihren Devisenbeständen, die sie bis einschließlich 1989 akkumuliert haben (ca. 6 Mrd. US-Dollar). Seit Beginn dieses Jahres müssen Unternehmen ihre Deviseneinnahmen an die Zentralbank verkaufen, und sie können von ihr Devisen für ihre Importfinanzierung kaufen. Private Haushalte sind demgegenüber weiterhin berechtigt. Devisenkonten im Inland zu halten. Die Regierung wird die Entwicklung des offiziellen Wechselkurses im Vergleich zum Kurs auf dem privaten Parallelmarkt sorgfältig beobachten. Die quantitativen Beschränkungen der Einfuhr aus dem Westen wurden weitgehend aufgehoben. Auch der Export ist seit Jahresbeginn liberalisiert worden. — Die Zunahme der nominalen Löhne soll 1990 durch zentral vorgegebene Koeffizienten auf eine Rate begrenzt werden, die signifikant unter dem Anstieg der Preise für Konsumgüter und Dienstleistungen liegen wird. Jede Lohnerhöhung über diese Norm hinaus wird durch eine hohe und stark progressive Lohnsteuer abgeschöpft. Für die ersten vier Monate wurde der Koeffizient auf 30 vH der Preissteigerung im Januar und auf 20 vH der Preissteigerung in den Monaten Februar bis April festgesetzt; für den Rest des Jahres glaubt man, den Koeffizienten auf 60 vH erhöhen zu können, weil man ab Mai mit einer erheblich reduzierten Inflationsrate rechnet. Diese harte Lohn-und Einkommenspolitik ist das Kernstück der Stabilisierungsanstrengungen. — Im laufenden Jahr soll der zentrale Staatshaushalt ein „annäherndes“ Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben aufweisen — auch dies ist von fundamentaler Bedeutung für das Gelingen des Regierungsprogramms. Das geplante Haushaltsdefizit soll nur noch ca. 1 vH des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmachen (1989: mehr als 8 vH des BIP). Auf der Ausgabenseite sollen die Subventionen von 38, 5 vH auf 14 vH reduziert werden (das entspricht 7 vH des BIP); die verbleibenden Subventionen werden überwiegend an die Wohnungswirtschaft und an den öffentlichen Verkehr geleistet. Durch eine Streichung sämtlicher Steuererleichterungen sollen Mehreinnahmen in Höhe von vH des BIP erzielt werden. — Mit einer konsequenten Geld-und Kreditpolitik sollen erstens effektive Barrieren gegen eine zu exzessive Expansion der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage geschaffen, zweitens das Vertrauen in den Zloty als Zahlungsmittel wieder hergestellt werden, und drittens sollen die realen Zinsen -anders als 1989 — wieder ein positives Vorzeichen aufweisen und somit zur Herstellung eines effizienten Kreditmarktes beitragen.
Dieses Programm soll in diesem Jahr durch eine ganze Reihe von weiteren Reformmaßnahmen flankiert werden. Die Regierung ist entschlossen, die staatliche Wirtschaft weitgehend zu privatisieren; der Entwurf des Privatisierungsgesetzes wurde soeben veröffentlicht 4). In Kürze soll mit dem Verkauf staatlichen Vermögens begonnen werden; dies soll insbesondere auf öffentlichen Versteigerungen geschehen, die für alle (einschließlich Ausländer) offen stehen. Ein Wertpapiermarkt und ein Kapitalmarkt sollen entstehen. Um den Wettbewerb zu stärken, sollen antimonopolistische Maßnahmen — insbesondere in der Kohleindustrie, Stromwirtschäft, Nahrungsmittelverarbeitung und im Handel — ergriffen werden; der Entwurf eines Gesetzes gegen monopolistische Praktiken liegt dem Parlament bereits vor. Das gesamte Bankensystem soll weiter modernisiert werden. Ein Insolvenzengesetz soll geschaffen werden. Die verbliebenen Elemente der zentralen Intervention („Regierungsaufträge“) sollen beseitigt werden. Für 1991/92 ist eine umfassende Reform des Steuersystems vorgesehen.
IV. Aussichten
Der traditionelle „Zentrale Jahresplan“ (CPR) wurde mit Beginn dieses Jahres abgeschafft, die gesamtwirtschaftliche Steuerung stützt sich auf die (marktwirtschaftlichen) Instrumente der Staatshaushaltspolitik-, Geld-und Einkommens-sowie Währungspolitik. Die Inflationsrate soll von 650 vH 1989 auf nicht mehr als 95 vH in diesem Jahr gesenkt werden; die monatliche Preissteigerung soll von 45 vH im Januar auf 1 vH in der zweiten Jahreshälfte zurückgehen. Die Regierung rechnet mit einem weiteren „signifikanten“ Rückgang der Produktion: Viele unrentable Unternehmen werden schließen müssen, in der Bauwirtschaft könnten es allein 30 vH aller Betriebe sein. Die geschätzte Zahl der Arbeitslosen bewegt sich zwischen 400 000 und. rund drei Millionen. Mit einem sozialpolitischen Netz sollen die Auswirkungen dieser Politik auf die Arbeitslosen, wirtschaftlich Ärmsten und Schwächsten begrenzt werden.
Die Ausfuhr in das WG II soll real stagnieren, bei der Einfuhr ist ein Wachstum von 10 vH vorgesehen. Das Defizit der Leistungsbilanz in harter Währung wird um 1 Mrd. US-Dollar auf 3 Mrd. US-Dollar anwachsen (7 vH des BIP). Vorausgesetzt, es gelingt, den in diesem Jahr fälligen Schulden-dienst in Höhe von 4. 8 Mrd. US-Dollar umzuschulden, benötigt Polen 1, 5 Mrd. US-Dollar, um den laufenden Fehlbedarf zu finanzieren. Der Leistungsüberschuß gegenüber den RGW-Staaten soll 1990 halbiert werden.
Die Januar-Ergebnisse, die man indes nicht überbewerten darf, sind für eine erfolgreiche Realisierung dieser Politik nicht sehr ermutigend: Die Industrieproduktion fiel um 23 vH; die Wirtschaft bewegt sich in Richtung auf eine Rezession. Die Preise sind um 73 vH gestiegen, die Löhne um real 40 vH gesunken, die Zahl der Arbeitslosen betrug rund 60 000.
Für die Regierung Mazowiecki gibt es bei der Durchsetzung ihrer harten Wirtschaftspolitik zwei Pluspunkte: Sie findet bisher immer noch die Unterstützung durch die Mehrheit der Bevölkerung; für diese Mehrheit gibt es offensichtlich nach 40 Jahren kommunistischer Mißwirtschaft keine Alternative. Sie hat von den Industrieländern des Westens Zusagen über wirtschaftliche Hilfe in Höhe von über 10 Mrd. US-Dollar erhalten.
Die westliche Unterstützung des Demokratisierungsprozesses in Polen entspricht damit genau der Summe, die von der Solidarnosc Mitte vergangenen Jahres vom Westen erbeten wurde. Dieser Betrag von zehn Mrd. US-Dollar dürfte sich u. a. aus den folgenden Einzelposten zusammensetzen: Auf Vorschlag des amerikanischen Präsidenten haben 24 westliche Staaten (G-24) für Polen einen Stabilisierungskredit in Höhe von einer Mrd. US-Dollar bereitgestellt; die Bundesregierung in Bonn hat sich mit 500 Mill. DM in Form eines ungebundenen Finanzkredits mit Bundesbürgschaft beteiligt (der Anteil der USA beträgt 200 Mill. US-Dollar). Dieser Stabilisierungsfonds, den Polen ab sofort abrufen kann, dient in erster Linie der Unterstützung der polnischen Wechselkurspolitik. Mit dem gleichen Ziel wurde ein sogenannter Überbrückungskredit (in unbekannter Höhe) zwischen Polen und der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel vereinbart. Der Bundeskanzler hat bei seinem Besuch in Warschau im November letzten Jahres neue Hermes-Bürgschaften über 2, 5 Mrd. DM zur Finanzierung von Projekten in Polen zugesagt.
Die gesamte — kostenlose — Nahrungsmittelhilfe derG-24-Länder betrug zuletzt 380 Mill. ECU (420 Mill. US-Dollar); Polen erhält in diesem Jahr weitere 780 000 t Weizen, 600 000 t allein aus der EG (aus der EG wurden bereits 800 000 t Weizen geliefert), 130 000 t aus Japan, 38 000 t aus Österreich und 18 0001 aus Australien (die USA wollen 200 000 t Mais liefern). Die aus dem Staatshaushalt in allen G-24-Ländern finanzierte Unterstützung für Polen (einschließlich der genannten Nahrungsmittelhilfe) wurde Ende November auf zusammen rund eine Mrd. ECU (1. 1 Mrd. US-Dollar) geschätzt (die vergleichbare Hilfssumme für Ungarn beträgt 500 Mill. ECU). Anfang Februar dieses Jahres hat Polen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) ein sogenanntes Stand-by-Abkommen über einen Betrag von 723 Mill. US-Dollar und einer Laufzeit von 13 Monaten abgeschlossen. Es ist die erste polnische Vereinbarung mit dieser Organisation nach dem (Wieder-) Eintritt Polens in den IWF im Juni 1986. Der IWF dürfte Polen weitere zwei Mrd. US-Dollar aus einem seiner „Spezialtöpfe“ zur Verfügung stellen. Dem Standby-Abkommen mit dem IWF folgte Ende Februar der erste Kreditvertrag mit der Weltbank: Es wurde eine Summe von 360 Mill. US-Dollar vereinbart, davon sollen 200 Mill. US-Dollar die polnische Exportwirtschaft stützen, um die „dezimierten Währungsreserven wieder aufzubauen“. Die Weltbank wird Polen in den nächsten drei Jahren weitere Kredite im Umfange von 2, 5 Mrd. US-Dollar gewähren. Schließlich hat die Europäische Investitionsbank (EIB) einen Garantierahmen für Polen und Ungarn von zusammen einer Mrd. ECU eingeräumt.
Die Übereinkunft mit dem IWF hat auch den Weg zu einer Umschuldungsaktion im sogenannten „Pariser Club“ frei gemacht. In diesem Club sind die öffentlichen Gläubiger Polens aus 17 Staaten zusammengeschlossen. Polen schuldet diesen Gläubigem 27 Mrd. US-Dollar (68 vH der gesamten Auslandsverschuldung in westlichen Währungen). Mitte Februar sind 9. 4 Mrd. US-Dollar der polnischen Verbindlichkeiten umgeschuldet worden (davon entfallen allein 3 Mrd. Dollar auf die Bundesrepublik). Es handelt sich dabei um die gesamten Zahlungsrückstände an Tilgungen und Zinsen in Höhe von 3. 4 Mrd. US-Dollar bis zum Jahresende 1989 und die Fälligkeiten bis zum März 1991 in Höhe von 6 Mrd. US-Dollar. Die Bedingungen für die Umschuldung sind außerordentlich günstig: Die Rückzahlungen werden sich auf eine Zeit von 14 Jahren bei acht tilgungsfreien Jahren erstrecken. d. h. die Rückzahlung beginnt erst 1998. Der Pariser Club war allerdings nicht bereit, einen Teil der polnischen Verbindlichkeiten zu streichen.
Polen benötigt die zugesagte westliche Hilfe dringend. Nur mit dieser Hilfe dürfte es möglich sein. den weiteren wirtschaftlichen Niedergang aufzuhalten, die Industrie und insbesondere die Exportwirtschaft zu modernisieren, die Währungsreserven des Landes aufzubauen und die freie Austauschbarkeit des Zloty zu stärken sowie schließlich die sozialen Härten beim Übergang zur Marktwirtschaft zu mil-dern. Wird das Experiment gelingen, für das es weder eine empirisch brauchbare Theorie noch historische Erfahrungen gibt — nämlich aus einer maroden Planwirtschaft eine funktionierende Marktwirtschaft zu schaffen, und das in einem krisengeschüttelten Land?
Heinrich Machowski, Dr. rer. pol., geb. 1936; seit 1969 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin (West). Neuere Veröffentlichungen u. a.: Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den EG-und RGW-Staaten, in: Europäische Rundschau, (1985) 3; Die Produktionsspezialisierung im RGW am Beispiel der DDR, in: Harmonisierung der Wirtschaftspolitik in Osteuropa, hrsg. von H. Machowski, Berlin 1985; Grundzüge der neuen sowjetischen Außenwirtschaftspolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 45/87.
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