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Politisches System und Pluralismus in Polen - | APuZ 12-13/1990 | bpb.de

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APuZ 12-13/1990 Politisches System und Pluralismus in Polen - Polens Weg aus dem Kommunismus Polens schwieriger Weg in die Marktwirtschaft Der Normalisierungsprozeß zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen. Hintergründe und Belastungen

Politisches System und Pluralismus in Polen -

Georg W. Strobel

/ 38 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Beitrag analysiert — auf dem Hintergrund eines durch Symbole vermittelten Geschichtsbewußtseins — den politischen Machtwechsel in Polen, der durch die Bildung der unabhängigen selbstverwalteten Gewerkschaft „Solidarität“ 1980 eingeleitet wurde. An der Wiege des Durchbruchs zum politischen Pluralismus in Polen stand der Bankrott der bisherigen kommunistischen Herrschaft und ihrer Wirtschaftsreformpolitik. Er wurde aber erst dadurch ermöglicht, daß die formal noch verbotene, aber seit 1985/86 wieder in aller Öffentlichkeit wirkende Gewerkschaft „Solidarität“ die Schwächen der kommunistischen Partei-und Regierungspolitik konsequent ausnutzte und sich weit entschiedener als noch vor ihrem Verbot 1981 an staatspolitische Aufgaben heranwagte. Die neue Entwicklung, die sich seit Mitte 1988 vollzog, war durch die Gespräche am Runden Tisch, die Parlamentswahlen im Juni 1989 und die Bildung einer Koalitionsregierung unter dem ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten Mazowiecki gekennzeichnet. Diese stützt sich auf die „Solidarität“, schließt aber auch die Bauernpartei, die Demokratische Partei und die PVAP ein, was den Widerstand verschiedener Oppositionsgruppen hervorgerufen hat. Die Übernahme des kommunistisch geprägten Staatsapparates bringt wesentliche Erschwernisse für eine systempolitische Neuordnung mit sich. Die politische Pluralisierung zeigt ihre Auswirkungen sowohl auf gewerkschaftlicher Ebene, wo mehrere Neugründungen den beiden Gewerkschaftsgiganten, der „Solidarität“ und der alten offiziellen Gesamtpolnischen Gewerkschaftsverständigung (OPZZ). Konkurrenz machen als auch in der Parteienlandschaft, wo sich inzwischen ca. 40 Parteien den Richtungen der Bauembewegung, der Christdemokratie, Nationaldemokratie, Sozialdemokratie, den Liberalen und der Ökologiebewegung zuordnen lassen. Zur Einordnung der politischen Organisation ist jedoch weniger deren schwer differenzierbare Programmatik als ihr Traditionsbezug hilfreich. Die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit Polens ist daher weitaus komplizierter als es die westliche Publizistik vermuten läßt. Der Umschichtungsprozeß in Polen ist von Unsicherheiten und Risiken begleitet, die durch die sozioökonomische Instabilität verstärkt werden, so daß die künftige Entwicklung viele Fragen offenläßt.

I. Geschichtsverständnis, Symbolik und aktuelle Politik

Am 12. September 1989 Übernahm mit Tadeusz Mazowiecki zum ersten Male in der Nachkriegsgeschichte Polens ein nichtkommunistischer, katholischer Ministerpräsident die Regierung des Landes. Am 12. September 1683 schlugen die Polen unter ihrem König Johann III. Sobieski die Türken vor Wien und retteten mit ihrer letzten großen Waffen-tat vor dem Niedergang Polens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Abendland, ohne daß dieser Dienst für Europa die polnischen Teilungen verhindert hätte. Damals war es ein großer, nun ein symbolisch verpflichtender Tag.

Die polnische Gesellschaft lebt mit einem tiefverwurzelten populären, aber stereotypen Geschichtsverständnis und einem mythisierten Geschichtsbewußtsein, das die eigene Geschichte heroisierend und märtyrologisch überhöht. Aus solchem Denken wurde der Messianismus im 19. Jahrhundert mit der Vorstellung, Polen leide am Kreuze Europas wie Christus für die Menschheit gelitten habe — was 1980/81 von der „Solidarität“ aufgegriffen wurde und in der Legitimation der Papstwahl Johannes Paul II. durch den Fürstprimas Wyszynski deutlich herauszuhören war -Ähnlich war die Vorstellung des polnischen Geschichtsphilosophen Cyprian Kamil Norwid, daß die Polen „kein sozialer Körper“, sondern alle zusammen „ein einziges Nationalbanner“ seien

Das mythisierte, heroisierend-märtyrologisierte Geschichtsverständnis besaß in Polen eben schon immer neben einer psychopolitisch begründeten Anspruchsfünktion auch eine aktuelle politische Bedeutung. In der politischen Entwicklung seit 1945 bedienten sich beide Lager, die Herrschaftsträger wie die Oppositionellen, des populären Geschichtsverständnisses als eines eigenen agitatorischen Politikaxioms Mithin war es gleichermaßen Herrschaftsmittel wie Zeichen politischer Opposition. Damit wurde es aber zum Ausdruck sehr unterschiedlicher politischer Wünsche und Absichten nach innen und außen.

» Die historischen Symbole stehen für aktuelle Programme und Ansichten, z. T. in der Tradition der Parteien Vorkriegspolens und des Kampfes gegen die deutsche Besatzungsmacht, und werden in ihrem politischen Gehalt von der für Symbolik außerordentlich sensiblen und darin geübten Gesellschaft verstanden. Daher werden sie von allen politischen Kräften und Strömungen mit jeweils unterschiedlichen Absichten eingesetzt: sowohl zur Diffamierung des Gegners wie zur nationalen Identifizierung. Als Beispiele für Wortsymbole, die in der Auseinandersetzung mit der kommunistischen Herrschaft eine Rolle spielten und die Differenzierungen innerhalb der Opposition anzeigten, wären zu nennen: Niepodlego (= staatliche Unabhängigkeit und politische Souveränität, dazu Verneinung des politischen Zustandes nach 1945), Rzeczpospolita (= res publica als Ausdruck höchsten politischen Strebens und Toleranz), Sybirak (= durch Leiden, Verbannung oder Verschleppung geadelter antirussischer Patriot), Antyk (= entschiedener bis militanter Antikommunismus), Grunwald (= Antigermanismus, Deutschfeindlichkeit). Migdzymorze (= Intermarium als machtpolitische Stellung Polens zwischen Ostsee und Schwarzem Meer und polnisch dominierter ostmitteleuropäischer Föderalismus) und Katyn (= Inbegriff der sowjetischen Verbrechen am polnischen Volk).

Dazu kommen Namenssymbole, wie Adam Mickiewicz, (= größter, dazu antirussischer Dichter der Romantik, einer der Begründer des polnischen Messianismus), Jzef Pilsudski (= national-aktivistisches, antirussisches Unabhängigkeitsprogramm), Roman Dmowski (= nationales, deutschlandkritisches und eher pro-russisches Programm), Wincenty Witos, Stanislaw Mikolajczyk (= patriotisch-populistisches Programm mit Vorrang für Pluralismus und bäuerliche Interessen), Jerzy Popieluszko (= Vaterlandsliebe und Opferbereitschaft, auch gegen den Willen der Oberen in der eigenen Institution).

Außerdem gibt es eine Vielzahl von Zeichensymbolen Am bekanntesten ist das Bild der Schwarzen Madonna von Tschenstochau, die 1656 durch königlichen Beschluß zur Königin der Krone Polens erhoben wurde und auch heute politisch in dieser Weise instrumentalisiert wird. Während des Kriegs-zustandes nach dem 13. Dezember 1981 wurde es zum offen getragenen Ersatzsymbol für den einprägsamen Schriftzug „Solidamosc“. Dazu zählen weiter der eine Krone tragende Weiße Adler, das Staatssymbol des nichtkommunistischen Polens, die Madonna von Katyn mit einem durch Genickschuß gespaltenen Totenschädel im Schoß, den sie beweint, und der Hoffnungsanker, das politisch wohl aussagestärkste Symbol. Während der deutschen Besatzungszeit wurde er mit wenigen Strichen als Zeichen des Widerstandes an die Wände gemalt. In den achtziger Jahren wurde er allgemein als Oppositionssignum übernommen und später mit der „Solidarität“ — z. T. in Verbindung mit dem Kreuz — identifiziert.

Die meisten der symbolhaften Bezeichnungen waren zuerst Titel illegaler periodischer Veröffentlichungen, wurden dann zu Identifikationsmerkmalen der sich um die jeweiligen Redaktionen scharenden Gesinnungsgenossen, um letztlich zu Namen oppositioneller Organisationen zu werden. Sie werden immer noch als Identifikationsmerkmale und verbale Signale verwendet. Auf diese Weise sind sie aus dem politischen Leben Polens nicht wegzudenken.

Nach einer völligen Beseitigung und brutalen Unterdrückung bürgerlicher politischer Strömungen kamen die Träger der ersten öffentlich organisierten oppositionellen Ansätze gegen Mitte der siebziger Jahre allein aus dem linken politischen Spektrum. Ihr Ziel war es, verhafteten Arbeitern und deren Familien materiell und juristisch beizustehen. Zum ersten Male zogen Arbeiter und Intellektuelle in Polen an einem Strang. Meist waren es abdriftende Mitglieder der staatstragenden Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP), wie schon gegen Mitte der sechziger Jahre Kurori und Modzelewski. Dazu gehörten auch radikale Linkssozialisten der Vorkriegszeit, die seit 1948 in der PVAP zwangsvereinigt worden waren: der Sozialwissenschaftler Edward Lipiriski oder der Sozialphilosoph Wladyslaw Bierikowski sowie Schüler des weltbekannten kritischen Nationalökonomen Oskar Lange Sie alle strebten keine grundlegende Systemänderung an, sondern einen menschlicheren Sozialismus in den alten, jedoch verbesserten und gerechteren Strukturen.

So kommt es aber, daß die ersten dissidenten Organisationen. wie das KOR (Komitet Obrony Narodowej-Komitee zur Nationalen Verteidigung) oder TKN (Towarzystwo Kursöw Naukowy-Gesellschaft für wissenschaftliche Kurse) von enttäuschten PVAP-Mitgliedern und Linkssozialisten bis Kommunisten unterschiedlichen Herkommens, darunter auch Trotzkisten, beherrscht waren. Aus dem Umfeld der Gruppierung „Erfahrung und Zukunft“ (DiP), die seit 1978 Unzufriedene aller politischen Schattierungen, darunter auch Reformkommunisten, anfangs sogar mit dem Segen aus dem ZK der PVAP vereinigte, kamen später bekannte Persönlichkeiten, wie Bronislaw Geremek. Sie alle strebten anfangs aber nur die Erneuerung, aber keine grundlegende Veränderung des realsozialistischen Regimes an.

Die schon vor dieser Zeit in striktester Illegalität entstandene Oppositionsorganisation PPN (Polskie Porozumienie Niepodleglosciowe — Polnische Unabhängigkeitsverständigung) vertrat im Gegensatz zu diesen eher linkssozialistisch-reformkommunistischen Oppositionsströmungen programmatisch klar definierte, auf die westlichen Demokratien ausgerichtete nichtsozialistische Vorstellungen, die sie in Polen nur illegal verbreiten konnte. Der Sender Freies Europa und die in Paris erscheinende polnische Zeitschrift „Kultura" hatten für die Verbreitung aller oppositionellen Ideen in Polen eine erhebliche Bedeutung. Die „Kultura“ gilt als die intellektuell bedeutsamste polnischsprachige Zeitschrift. Sie war ein beliebtes, unter der Hand weitergegebenes Schmuggelgut in Polen; ihre Geld-sammlungen unter Emigranten, jeweils namentlich aufgelistet, halfen der Opposition in Polen sehr, Im Gefolge dieser Geschehnisse entstand im August 1980 nach Streiks die Unabhängige Selbstverwaltete Gewerkschaft „Solidarität“ (NSZZ „Solidarno"). Es war ganz natürlich, daß ihre Führungsgremien sich zu einem großen Teil aus Mitgliedern der bereits bestehenden Oppositionsgruppen rekrutierten. Damit waren sie aber zu einem erheblichen Teil linksorientiert. Das erklärt wiederum, daß die im Entstehen begriffene Gewerkschaft sich noch in ihren ersten Statutenentwürfen weder als eine politische noch als eine soziale Gegenbewegung im politischen System Polens verstand, sondern als eine parteiunabhängige Ergänzung des Gewerkschaftssystems, das sie zudem nur regional pluralisieren, aber nicht dominieren wollte. Allerdings wurde die „Solidarität“ von der gesellschaftlichen Entwicklung überrollt. Nachdem sie sich gesamtstaatlich konstituiert hatte, nahm sie die oppositionellen nichtsozialistischen bis nationalistischen Gruppen genauso unter ihrem Dach auf wie sie in ihr Beratergremium auch unabhängige Persönlichkeiten unterschiedlicher politischer Herkunft einreihte Das führte schon bald zu erheblichen Spannungen, und es kam zu heftigen Auseinandersetzungen um Einfluß und die künftige politische Richtung der Organisation. Die „Solidarität“ wurde aber trotzdem nicht nur zu einer sozialen, sondern auch zu einer nationalen Sammlungsbewegung verschiedener politischer Strömungen.

Als nationale Sammlungsbewegung wurde die „Solidarität“ von der „polnischen Kirche“ — wie sich. die katholische Kirche Polens wegen ihrer nationalen Verpflichtung und Bedeutung selbst bezeichnet — entschieden unterstützt Diese trachtete vor allem danach, die linkspolitischen Einflüsse zurückzudrängen. Das brachte aber der „Solidarität“ weitere innere Spannungen wegen angeblich unvertretbarer „kirchlicher Einmischung“, die von den linksorientierten und neoliberalen Teilen der Bewegung vehement abgelehnt wurde. Schon damals hütete man sich, den Begriff „Sozialismus“ zu verwenden. Das führte zu Fehlbeurteilungen der „Solidarität“, auch in der westlichen Öffentlichkeit.

Die linksorientierten Teile der „Solidarität“ zogen sich — wenn nötig — aufdie katholische Soziallehre zurück, die sie freilich sehr viel weiter auslegten als etwa Nell-Breuning. Die taktische Berufung auf die katholische Soziallehre erfolgt in der politischen Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Oppositionsgruppen bis auf den heutigen Tag. Im polnischen gesellschaftlichen Verständnis ist der Begriff „Sozialismus“ nämlich in absoluten Mißkredit geraten und sehr nah an den abgewirtschafteten und als feindselig empfundenen Begriff „Kommunismus“ gerückt, der neuerdings gelegentlich wieder in seiner doppelt pejorativen Form als „Zydokomuna“ (Judenkommune) auftaucht was bezeichnend für das Anwachsen antisemitischer Stimmungen ist.

Für die Bewertung und Einordnung politischer Organisationen in Polen, die in wesentlichen Teilen ihrer Programmatik sehr eng beieinander liegen, entstehen dadurch auch heute noch große Schwierigkeiten. Für eine politische Einordnung sind dann die psychopolitisch verankerten Symbole der Organisationen und deren Traditionsbezüge weitaus hilfreicher.

II. Die Etappen des „polnischen Weges“ zum politischen Pluralismus

An der Wiege des Durchbruchs zum politischen Pluralismus in Polen stand der Bankrott der bisherigen kommunistischen Herrschaft und ihrer Wirtschaftsreformpolitik. Er wurde aber erst dadurch ermöglicht, daß die formal noch verbotene, aber seit 1985/86 wieder in aller Öffentlichkeit wirkende Gewerkschaft „Solidarität“ die Schwächen der kommunistischen Partei-und Regierungspolitik konsequent ausnutzte und sich nunmehr weit entschiedener als noch 1981 an staatspolitische Aufga-ben heranwagte, wobei das einfallsreiche und geschickte Taktieren ihres charismatischen, wenngleich eigenwillig-autoritären Vorsitzenden Lech Wasa eine wichtige Rolle spielte. Der Durchbruch war vor allem durch drei Ereignisse gekennzeichnet, die seit Mitte 1988 in einem spannenden politischen Poker vorbereitet worden waren — die Gespräche am sog. Runden Tisch vom 6. Februar bis 5. April 1989, — die am Runden Tisch für Mitte Juni 1989 in zwei Etappen vereinbarten Parlamentswahlen, — die Bildung einer Koalitionsregierung unter dem nichtkommunistischen Ministerpräsident Mazowiecki am 12. September 1989.

Diese Entwicklung vollzog sich in einem komplizierten Prozeß, der im Westen offenbar nicht ganz richtig eingeordnet wird Die zwar immer noch formal illegale „Solidarität“ hielt mit der kommunistischen Regierung Kontakt und verhandelte mit ihr — gelegentlich auch indirekt durch Presseverlautbarungen — über ihre Führungsmannschaft mit unterschiedlichen Akzentsetzungen und über Lech Wasa, die Symbolfigur der polnischen Opposition im Westen und Gailionsfigur der „Solidarität“. Auf diese Weise konnte sie die Aktions-und Gesprächsbereitschaft genauer ausloten. Andererseits gab sie zu erkennen — erstmals durch die Schlichtung von Streiks im Frühsommer 1988 und durch wiederholte Anti-Streik-Aufrufe, die zu grimmigem Arbeiteraufbegehren, auch gegen Wasa führten —, daß sie von dem früheren Konfrontationskurs des Alles oder Nichts auf einen Kurs des Ausgleichs bzw. sogar einer Kooperation eingeschwenkt war. Offenbar hatten beide Seiten hinzugelemt. Auch die internationale Situation und Abhängigkeit hatten sich seit 1981 verändert.

Eine mittlerweile ausufernde Oppositionsszene erschwerte diesen Prozeß. Ende 1988 bestanden immerhin bereits knapp zwei Dutzend Organisationen, die in Anspruch nahmen, Parteien zu sein und ihre Legitimation aus nationalem, antikommunistischem Argumentieren schöpften. Daneben gab es noch rund 150 weitere illegale und halblegale, aber geduldete Organisationen, die sich in unterschiedlichsten Bereichen betätigten. Einzeln warjede dieser Organisationen schwach. Doch im nationalen antikommunistischen Chor waren sie lautstark und über ihre eigene, entsprechend zahlreiche Presse auch meinungsbildend. Die von ihnen ausgehende Beeinflussung der Gesellschaft sollte daher nicht unterschätzt werden, wie die späteren Wahlen zeigen sollten. Durch die organisatorische Verselbständigung vieler einst unter ihr Dach aufgenommenen Gruppen verlor die „Solidarität“ an gesellschaftlicher Zustimmung und konnte keineswegs mehr den Anspruch erheben, eine nationale oder zumindest eine soziale Sammlungsbewegung der Polen zu sein. Insofern hatten die Jahre 1982— 1989 die politische Szene Polens erheblich verändert, wenngleich die Persönlichkeit Lech Wapsas, des Friedensnobelpreisträgers, nach wie vor in der ganzen Entwicklung erdrückend dominierte.

1. Das „Bürgerkomitee bei Lech Walsa"

Die politische Komponente der eigentlich als soziale Gewerkschaftsbewegung entstandenen „Solidarität“ wurde mit der Zeit immer bedeutsamer. In dieser Situation wurde Ende Dezember 1988 ein „Bürgerkomitee bei Lech Wasa" (und nicht bei der „Solidarität“!) als eine Vertretung der polnischen Gesellschaft, ein Ersatz-Parlament, geschaffen. Die mehreren Dutzend Mitglieder waren nahezu ausnahmslos Intellektuelle, was in der Arbeiterschaft viel Groll und Unzufriedenheit auslöste. Die Komitee-Mitglieder wurden durch Lech Wasa namentlich berufen, so daß gewährleistet war, politisch gleichgesinnte Persönlichkeiten zu gewinnen. Unter den der „Solidarität“ nahestehenden Personen waren auch Laien-Mitglieder des Sozialen Beirats beim Episkopat und eine Reihe von Geistlichen, darunter auch Wasas Danziger Beichtvater und Berater Jankowski. Nicht beteiligt wurden hingegen Vertreter anderer Oppositionsorganisationen. die strikt antikommunistisch waren. Schon die Zusammensetzung des Gremiums signalisierte Gesprächs-bis Kooperationsbereitschaft mit der kommunistischen Regierung. Die Art der Berufung und die Zusammensetzung des „Bürgerkomitees" löste vehemente Proteste in der übrigen Opposition aus.

Im Komitee wurden 15 Sachkommissionen geschaffen. Nach ihrer Aufgabenstellung waren sie ein Spiegelbild des Kabinetts der Regierung. Zu ihren Vorsitzenden gehörten u. a. Mazowiecki und Geremek. Sehr bald kam für sie die Bezeichnung eines Schattenkabinetts der „Solidarität“ auf. Das „Bürgerkomitee“ übernahm die weitere Vorbereitung der Gespräche am Runden Tisch und verantwortete sie später auch.

2. Der Runde Tisch

Die Gespräche am Runden Tisch dauerten vom 6. Februar bis zum 5. April 1989. An ihnen nahmen mit vollem Stimmrecht Vertreter der Regierung, des offiziellen Gewerkschaftsverbandes OPZZ (Ogölnopolskie Porozumienie Zwiazkw Zawodowych — Gesamtpolnische Gewerkschaftsverständigung) und der „Solidarität“ teil, im wesentlichen durch Mitglieder ihres „Bürgerkomitees“ repräsentiert. Ohne Stimmrecht beteiligten sich zwei Beobachter des Episkopats, darunter ein Bischof. Bei den Verhandlungen saßen sich mithin zwei Gesprächspartner gegenüber: eine durch die vorherige Gespräche von der Regierung konzessionierte Monopol-Opposition der „Solidarität“ — trotz des Vorhandenseins einer Reihe mittlerweile recht potenter Oppositionsorganisationen mit Parteicharakter — und Vertreter der kommunistischen Herrschaftsorgane. Das ganze Geschehen wurde von den antikommunistischen, national bis konservativ orientierten Oppositionsgruppen mit Mißfallen beobachtet. Es verstärkte ihre bisherige Ablehnung der Gespräche mit den Kommunisten, obwohl sie sich im Einzelfall darüber hinwegzusetzen bereit waren.

Am Runden Tisch wurden Übereinkommen verabschiedet 14). Auch die Neuzulassung, aber nicht Relegalisierung der NSZZ „Solidarno", die Industrie-und gewerbliche Arbeiter erfaßt, und der RI „Solidarno" (Rolniköw Indywidualnych „Solidarnosc“ -Land-„Solidarität“) wurde vereinbart. Damit war die Grundlage für weitere Übereinkünfte geschaffen:

-im Juni 1989 abzuhaltende Wahlen zum Parlament, dem Sejm, und dem neu installierten, in der polnischen Verfassungsgeschichte tradierten Senat, wofür eine eigene Wahlordnung vereinbart wurde;

- Änderungen der Verfassung mit dem allgemeinen Einvernehmen, eine neue Verfassung auszuarbeiten und zu verabschieden;

— Veränderungen im Wirtschaftsbereich, die jedoch eine allseitige wirtschaftspolitische Konzeptionslosigkeit vermuten ließen, besonders weil sie nur wenig Detail-und Wirklichkeitsnahe hatten;

— Veränderungen im Gerichts-, jedoch weit weniger im Rechtswesen;

— Bestimmungen zur Medien-und Jugendpolitik, die zwar Veränderungen ankündigten, jedoch keine schnelle Abhilfe erwarten ließen.

Durch die Ergebnisse dieser Gespräche wurde die sanktionierte Opposition der „Solidarität“ in die Verantwortung für die künftige Politik des maroden Systems eingebunden, was die Nachgiebigkeit der kommunistischen Herrschaftsträger erklären dürfte. Es konnte scheinen, daß die kommunistischen Gesprächspartnereinen taktischen Erfolg davongetragen und die Opposition — durch aufkommende innere Zwietracht — noch geschwächt hätten. Das Wahlsystem war kompliziert Gewählt werden sollte zum Sejm und zum Senat. Für den Sejm wurde ein Abgeordnetenproporz festgelegt. Dabei sollten die PVAP und ihre beiden Blockparteien ZSL (Zjednoczone Stronnictwo Ludowe — Vereinigte Bauernpartei) und SD (Stronnictwo Demokratyczne — Demokratische Partei) 60 Prozent der Sejm-Mandate erhalten, die drei parteilosen „katholischen“ Vereinigungen 5 Prozent, 35 Prozent der Mandate sollten an jene Abgeordneten fallen, die keiner dieser Organisationen und mithin der Opposition angehörten. Sie wurden jedoch nicht ausdrücklich auf Mitglieder der konzessionierten Opposition „Solidarität“ begrenzt. Das sollte weiteren Zwist in der Oppositionsszene nähren. Für den im Anschluß an bürgerliche Verfassungstraditionen neu gebildeten Senat als Zweite Kammer, der 100 Mitglieder zählen sollte, wurde kein Mandatsproporz festgelegt. Nur in der Wahl zum Senat konnte die Bevölkerung Polens zum ersten Male überhaupt zum herrschenden Regime offen Stellung beziehen. Die Übereinkünfte sollten vier Jahre gelten. Spätere Wahlen zum Sejm sollten ohne Proporz erfolgen. Die Form der Legalisierung der beiden „Solidaritäts“ -Organisationen brachte den kommunistischen Gesprächtspartnern nicht nur momentane taktische Erfolge. Sie belastet noch immer die „Solidarität“ und begünstigt ihre Spaltungen. Die „Solidarität“ hatte zunächst verlangt, re-legalisiert zu werden. Ihr Verbot sollte auf der Grundlage ihrer Zulassung und ihres Statuts von 1980 bedingungslos aufgehoben werden. Nun geschah Erstaunliches. Sie erklärte sich in den Verhandlungen ebenso wie die Land-„Solidarität" bereit, das erst nach der Ausrufung des Kriegszustands vom 13. Dezember 1981 verabschiedete und besonders gegen sie gerichtete Gewerkschaftsgesetz zu akzeptieren, das sie bisher auch aus dem Untergrund erbittert bekämpft hatte, und auf dieser Grundlage einen neuen Antrag auf Zulassung zu stellen. In der politischen Wirklichkeit bedeutete das eine Aufgabe der bisherigen Grundsätze. Die Zulassung wurde zudem von einem anderen Personenkreis als 1980 beantragt. Wasa und sein Kreis veränderten auch eigenmächtig das Statut, wozu nur ein Kongreß berechtigt gewesen wäre. Durch die Rechtsangleichung verzichteten Wasa und seine Vertrauten auf spontane Streiks, die einzige wirksame Waffe der Arbeiter. Die Stimmung gegen Lech Wasa kochte daher örtlich über, so daß er einige Industrieregionen von nun an zu meiden begann.

Nicht nur in der Oppositionsszene, sondern auch unter Mitgliedern der „Solidarität“ wurde argumentiert, bei der zugelassenen „Solidarität“ handele es sich um eine völlig neue Organisation. Ihre Kontinuität beanspruche sie nur aus der Usurpierung des alten Organisationsnamens, der Person ihres Führers und den Namen einiger Persönlichkeiten, die den Zulassungsantrag unterschrieben, obwohl sie früher der echten Arbeiter-„Solidarität“ angehört hatten. Damit wurden am Runden Tisch bei allen unbezweifelbaren Erfolgen der Opposition von der Regierungsseite sehr geschickt Spaltungskeime in die Oppositionsszene eingepflanzt.

3. Die Juni-Wahlen zum Sejm und Senat

Als Träger der Wahlen seitens der „Solidarität“ trat erneut ihre politische Suborganisation „Bürgerkomitee bei Lech Wasa" auf, das sich regional und örtlich für den Wahlkampf und die Listenaufstellung zweistufig in nachgeordneten Strukturen organisierte. Die nachgeordneten Komitees neigten dazu, sich als parteiliche Zweigorganisationen zu sehen. Ihre Mitglieder wurden genau so wie die Kandidaten der einzelnen Wahlbezirke zentral von Lech Wasa und seinem „Bürgerkomitee“ ernannt. Besonders bei den Kandidatenemennungen setzte man sich über die örtlichen Wünsche und Einsprüche hinweg, um erprobte und zuverlässige Kandidaten zu haben. In diesen Vorgängen profilierte sich Lech Wal? sa immer mehr zu einem autoritären Führer der andererseits aber mit seiner angeblichen Amtsmüdigkeit kokettierte.

Wegen der undemokratischen Emennungsverfahren der „Bürgerkomitee“ -Vertreter und der Wahl-kandidaten weigerten sich führende Mitglieder des zentralen „Bürgerkomitees“ und enge Mitarbeiter Wasas, sich als Kandidaten für die Wahlen von ihm ernennen zu lassen. Dazu gehörten prominente „Solidaritäts“ -Politiker, wie Frasyniuk, Bujak, der spätere Minister Hall und der kommende Ministerpräsident Mazowiecki. Chefredakteur des Organs der „Solidarität“. Das mag das Unbehagen an Wasas Praktiken auch innerhalb seiner eigenen Kreise andeuten.

Zugleich weigerte sich Wasa, bei den Kandidatenemennungen Mitglieder anderer Oppositionsgruppen zu berücksichtigen, bis auf einige wenige, die den vorherrschenden linkspolitischen Vorstellungen der Führungsmannschaft entsprachen, wie aus der mittlerweile neugegründeten, aber bald wieder gespaltenen PPS (Polska Partia Socjalistyczna -Polnische Sozialistische Partei). Auf diese Weise erreichte sie innerhalb der „Solidaritäts“ -Mannschaft einen Senatssitz (Jan Jozef Lipski) und zwei Sejm-Sitze, was ihr sonst kaum möglich geworden wäre. Grund für solches Handeln mag nicht nur politische Gesinnungsnähe, sondern auch der Umstand gewesen sein, daß die 35 Prozent ausgehandelter Sejm-Sitze politisch nicht weiter aufgesplittert oder auch nur mit anderen Organisationen geteilt werden müßten. Andererseits unterstützte Wasa mit seinem „Bürgerkomitee“ — besonders im nötig gewordenen zweiten Wahlgang — Kandidaten der bisherigen Blockparteien und sogar der PVAP, bekämpfte aber in allen Wahlgängen Kandidaten von Oppositionsgruppen mit entgegengesetzten Programmen. Politische Toleranz wurde zum Fremdwort. Innerhalb der Oppositionsszene wurde dieses Verhalten als ein weiterer Versuch zu ihrer Domination durch Wasa gewertet. Örtlich führten diese Verfahren zu harten Auseinandersetzungen zwischen gegeneinander kandidierenden oppositionellen Politikern. Verschiedene Oppositionsgruppen, vor allem betont antikommunistische, riefen wiederum zum Wahlboykott auf.

Da im ersten Wahlgang eine Reihe von Kandidaten der PVAP und der Blockparteien nicht die erforderlichen Stimmenzahlen erhielt und bei der vereinbarten Wahlordnung für sie auch in einem zweiten Wahlgang keine Chance gesehen wurde, erklärten sich Lech Wasa und sein „Bürgerkomitee“ bereit, noch während der Dauer des zweistufigen Wahlvorganges die Wahlordnung zugunsten der PVAP und der Blockparteien abzuändern. Auf diese Weise sollte der vereinbarte Mandatsproporz im Sejm sichergestellt werden. Nur durch dieses Taktieren, das andererseits den Einzug der „Solidarität“ in Sejm und Senat absicherte. konnten die am Runden Tisch für den Sejm festgelegten Proportionen gewahrt werden. Schon beim ersten Sejm-Wahlgang war eine Absage der Gesellschaft an die kommunistische Herrschaft erkennbar geworden; die Wahlbeteiligung von nur rund 18 Prozent am zweiten, ergänzenden Wahlgang unterstrich dies noch zusätzlich. Ein geradezu plebiszitäres Ergebnis über die kommunistische Herrschaft in Polen ergaben jedoch die Wahlen zum Senat, für die kein Proporz festgelegt war: Die Oppositionskandidaten erhielten 99 von 100 Sitzen

Ein wichtiger Indikator für die Kompliziertheit der politischen Situation war die Wahlbeteiligung. Obwohl erstmals die Möglichkeit bestand, die Ablehnung des kommunistischen Herrschaftssystems nach außen offen zu bekunden, lag die Wahlbeteiligung nur bei 62 Prozent. Trotz beschwörender, wiederholter Aufrufe der „Solidarität“ und ihrer „Bürgerkomitees“, der „polnischen Kirche“ sowie der PVAP und ihrer Blockparteien, zur Wahl zu gehen, folgte den Boykottaufrufen der Opposition mehr als ein Drittel der Wahlberechtigten. Diese gesellschaftliche Verweigerung kann in ihrer politischen Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden.

4. Die Koalitionsregierung Mazowieckis

Auf dem Wege zur Regierungsbildung durch Tadeusz Mazowiecki waren verschiedene Hürden zu nehmen, die vor allem dank des Einfallsreichtums und der Geschicklichkeit Lech Wasas gemeistert wurden: Das in den Vereinbarungen des Runden Tisches geschaffene Amt des Staatspräsidenten mußte besetzt werden, damit ein Kandidat mit der Regierungsbildung betraut werden könnte. In dem heftigen Hin und Her einigte man sich letzten Endes auf einen einzigen Präsidentschaftskandidaten, nachdem Lech Wasa die ihm nahegelegte Kandidatur abgelehnt hatte. Es war der Erste Sekretär der PVAP und Verkünder des Kriegszustandes vom 13. Dezember 1989, General Jaruzelski. Am 19. Juli 1989 wurde er äußerst knapp und nur mit einer Stimme aus der Sejm-Fraktion des „Bürgerkomitees“ gewählt, die sich unter Leitung von Bronislaw Geremek organisierte und sich den Namen OKP (Obywatelski Klub Parlamentamy — Bürgerlicher Parlamentsklub) gab.

Im OKP wurde zunächst kontrovers diskutiert, auf welche Art man sich an der Regierungsarbeit beteiligen könnte und ob man den Anfang August 1989 mit der Regierungsbildung betrauten General Kiszczak akzeptieren sollte. In dieser Situation machte Lech Wasa, der auch das Amt des Ministerpräsidenten für sich ablehnte, einen alle überraschenden eigenmächtigen Vorschlag. Er überrollte damit alle Vereinbarungen des Runden Tisches und veränderte die politische Realität Polens sehr viel eher und entschiedener als dort vereinbart. Wasa schlug eine Koalition zwischen OKP und den bisherigen Blockparteien der PVAP vor, die sich von ihr lösen sollten. Dieser bemerkenswerte Schachzug brachte Wasa seitens der PVAP den Vorwurf ein, das Runde-Tisch-Ergebnis zu brechen, und Kritik aus dem OKP, daß ohne Abstimmung mit ihm Politik gemacht werde. Bei weiteren Eigenmächtigkeiten Wasas, derja weder Sejm-noch Senats-Abgeordneter ist, drohten einige Abgeordnete ihre Mandate niederzulegen.

Doch die Blockparteien ZSL und SD willigten angesichts einer mit dem Motto „Unser Premier, euer Präsident“ geschickt geführten Kampagne in den Vorschlag Wasas ein. Es entstand eine neue Koalition, die die PVAP-Fraktion an die Wand drückte. Sie verfügte über 57 Prozent der Sejmsitze. Daraufhin machte General Kiszczak den Weg frei für die Bildung einer Regierung durch einen Nicht-kommunisten.

Es war wieder Lech Wasa, der dem Staatspräsidenten als neuen Kandidaten Tadeusz Mazowiecki präsentierte. Offenbar war er ein Kompromißkandidat der unterschiedlichen politischen Kräfte in Polen. Der bisherige Chefredakteur von „Tygodnik Solidarnosci“ (Wochenblatt der „Solidarität“) mußte mit seiner persönlichen Integrität, seiner lauteren Bescheidenheit und seiner intellektuellen Selbständigkeit allen Seiten akzeptabel erscheinen. Am 24. August 1989 wurde er zum ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten Polens nach 1945 mit 378 von 423 im Sejm abgegebenen Stimmen bei nur vier Gegenstimmen gewählt, am 12. September wurde seine Regierung vom Sejm bestätigt.

Die von ihm nach einer überzeugenden Wahl übernommene Aufgabe bedeutet politische und wirtschaftliche Sisyphusanstrengungen. Sie muß in einer sich rasch wandelnden politischen Landschaft bewältigt werden, kann zwar auf neue, jedoch nicht berechenbare politische Strukturen zurückgreifen, die sich entweder spontan herausgebildet haben, auf Übereinkommen am Runden Tisch zurückgehen, den Verfassungsänderungen oder auch nur der eingeleiteten Entwicklung entspringen. Immerhin wurde aber mittlerweile das politische System Po-lens strukturell ähnlich weitgehend verändert wie seine politische Kultur. Doch bei allen eingetrete nen Veränderungen, die noch vor einem Jahr als unvorstellbar gegolten hätten, ist Polen noch langt kein demokratisches Gemeinwesen, wohl aberaui einem domenreichen Weg dorthin.

III. Die Veränderungen im politischen System

1. Regierung und Sejm

Die Übernahme der Regierung durch Tadeusz Mazowiecki war wegen der Einbindung der PVAP, der Beteiligung der ehemaligen Blockparteien und unterschiedlichen Interessen und Ansprüchen im OKP mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Sie schlugen sich später in Spannungen innerhalb des OKP und verschiedenen Organisationseigenheiten des politischen Umfelds nieder. So erhoben die OKP-Vertreter der Land-„Solidarität", die eine eigene Bauernpartei gegründet hatten, den Anspruch, auch im Sejm eine eigene Fraktion zu besitzen.

Die Koalition mit den Kommunisten, die lange umstritten war und unter Mitwirkung Lech Wasas vereinbart wurde, stieß in Teilen der „Solidarität“, aber auch in den oppositionellen Parteien und Gruppierungen auf Unverständnis und wurde dort mit großer Verärgerung aufgenommen. Wie ernst diese Proteste genommen wurden, zeigen die sofort aufgenommenen Duldungsverhandlungen Mazowieckis mit Vertretern der oppositionellen Organisationen, die unter verschiedenen Auflagen ein Stillhalten bzw. sogar eine teilweise Mitarbeit in Aussicht stellten.

In der Koalitionsregierung kontrollierten die vier PVAP-Minister den Machtapparat des Staates: das Innenministerium mitsamt Miliz, Sicherheitskräften und den zwar gegen Ende 1989 umgewidmeten, aber nicht völlig aufgelösten Eingreifverbänden der ZOMO, die für ihre Brutalität berüchtigt waren, und der Milizreserve ORMO; das Verteidigungsministerium; das strategisch wichtige Verkehrs-und Transportministerium sowie das Außenhandelsministerium, dessen Inhaber während des Wahlkampfes von der „Solidarität“ unterstützt worden war.

Im Sejm bildeten sich vier Fraktionen: die PVAP-Fraktion mit dem Politbüro-Mitglied und Breslauer Professor Orzechowski an der Spitze, die numerisch am stärksten war; das OKP unter Führung von Geremek sowie der ZSL und der SD, wobei die katholischen parteilosen Abgeordneten außerhalb der Koalitionsabsprachen frei agierten. Mittlerweile hat sich das Bild verschoben. Auch die Bezeichnungen stimmen nicht mehr. Durch den Bruch in der PVAP Ende Januar 1990 wie auch bei den OKP-Koalitionspartnern gingen infolge von Klärungs-, Umbenennungs-und Neugründungsprozessen. die sich zeitweilig überschlugen, erhebliche Veränderungen bzw. Differenzierungen vor sich. Die ehemals stärkste PVAP-Fraktion gab ihre Position an das OKP ab. Trotz der schon frühzeitig auf Distanz zur zentralen Parteiführung gehenden, reformbewußten und umsichtigen Politik ihres Vorsitzenden Orzechowski gelang es nach dem Zusammenbruch der Partei nicht, die Fraktion zusammen-zuhalten. Der von Orzechowski geführte neue Parlamentsklub der Demokratischen Linken (PKLD — Parlamentarny Klub Lewicy Demokratycznej) zählt nur noch 52 Abgeordnete. 116 Abgeordnete der ehemaligen PVAP-Fraktion blieben fraktionslos. Der Verzicht, den die PVAP-Sejmfraktion unter Orzechowski auf die Ausübung der führenden Rolle der Partei in Staat und Gesellschaft nach der Regierungsbildung ausgesprochen hatte, eröffnete Mazowiecki die Möglichkeit, relativ frei zu agieren. Der Verzicht der kommunistischen Sejmfraktion bedeutete zugleich einen Verzicht auf die wichtigsten Ordnungsprinzipien kommunistischer Staaten: das Prinzip des demokratischen Zentralismus und das Nomenklaturprinzip, also das Recht. Positionen im Staate nur mit Zustimmung der Partei zu besetzen.

Die Regierung Mazowiecki mußte aber weiter mit einem Staatsapparat arbeiten, der in den Traditionen, Erfahrungen und Gewohnheiten der obsolet gewordenen kommunistischen Prinzipien stand und von ihnen geprägt war. Von 49 Wojewoden, die man mit Regierungspräsidenten der Bundesrepublik vergleichen könnte, gehörten 39 der PVAP an. von deren 167 Stellvertretern waren es 115. In den Städten waren 86 Prozent aller Bürgermeister und ihrer Vertreter sowie 91 Prozent der Abteilungsleiter PVAP-Mitglieder; auf dem Lande waren es 82 Prozent aller Landräte Dazu kamen 83 Prozent aller Direktoren in der Industrie, 64 von 66 Bot-schaftem. 50 Prozent der Richter aller Instanzen mit zunehmender Tendenz in höheren Gerichten sowie der „weitaus überwiegende Teil“ der Offiziere, auf die sich ja die PVAP-Organisation in der kritischen Periode des Kriegszustandes gestützt hatte Erst allmählich und sehr vorsichtig konnte begonnen werden, die Verhältnisse zu verändern. Doch steht dieser Prozeß erst an seinem Anfang. Am deutlichsten ist er im Auswärtigen Dienst, wo gegenwärtig ein großes Revirement stattfindet.

Die systempolitische Neuordnung unter Mazowiecki wurde durch die Auflösung der Patriotischen Bewegung der Nationalen Wiedergeburt (PRON — Patriotyczny Ruch Odrodzenia Narodowego) gefestigt, die zuvor die Vorherrschaft der PVAP gesichert hatte. Zudem wurde eine soziale und politische Rehabilitierungsaktion zugunsten früher Verfolgter in Gang gesetzt, die auch zur Untersuchung von Verbrechen während der Stalin-Zeit führte. Dazu werden auch die in den Jahren 1944— 1946 von den Sowjets verübten Verbrechen gezählt, für deren rückhaltslose Aufklärung die Öffnung sowjetischer Geheimarchive verlangt wird In kurzen Abständen wurden getarnte Massengräber entdeckt. Listen mit zu Tode Gekommenen wurden publiziert, wobei auch viele Deutsche genannt wurden. Das alles führte zur Einsetzung einer Untersuchungskommission, die der einschlägig erfahrenen Hauptkommission zur Untersuchung von NaziVerbrechen unterstellt wurde. Wenig später kam eine Sonderkommission zur Untersuchung der Tätigkeit des Innenministeriums hinzu. Der letzte kommunistische Ministerpräsident Rakowski, zugleich letzter Vorsitzender der PVAP, wurde öffentlich der Mißwirtschaft beschuldigt und vor einem Ausschuß gehört. Obwohl nichts darauf hindeutet, daß es in Polen zu Prozessen und Abrechnungen mit den früheren Trägern von Macht und Gewalt kommen wird, wie es anderswo geschieht, besteht Unsicherheit über seine Zukunft.

Auch die Informations-und Medienpolitik wurde grundlegend geändert. Zum ersten Mal wurde eine Frau mit einem hohen Regierungsamt betraut: Ma-gorzata Niezabitowska wurde Regierungssprecherin. Das Verlags-und Vertriebsmonopol „Ruch“, ein Wirtschaftsunternehmen der PVAP, soll nach empfindlichen Einschränkungen zum 1. April 1990 ganz aufgelöst werden. Viele einschlägige Zeitungen und Wochenschriften wurden entweder bereits eingestellt oder müssen nun damit rechnen, darunter die renommierte, für Reformen immer offene „Polityka“. Daneben entstanden rund 300 neue Blätter, andere änderten ihre diskreditierten Na-men. wie das PVAP-Organ „Trybuna Ludu“ (Tribüne des Volkes) in „Trybuna Kongresowa“ (Kongreß-Tribüne). Der „Tygodnik Solidamosci“ wurde neu belebt. Unter der Leitung von Adam Michnik entstand mit der „Gazeta Wyborcza“ ein wichtiges neues Presseorgan. Die Führungspositionen in Funk und Fernsehen wurden umbesetzt, die Programmpolitik geändert. In beiden Medien erhielt die Kirche vorerst feste Sendezeiten zur selbstverantworteten Programmgestaltung, die über das bisherige Entgegenkommen weit hinausreichen. Sie darf außerdem eigene Rundfunk-und Sendestationen installieren, was bereits vorbereitet wird.

Durch Verfassungsergänzungen 1989 trat eine Reihe von Veränderungen ein, die auch das Symbolverlangen der polnischen Gesellschaft stillten: Polen ist nicht mehr eine „Volksrepublik“, sondern unter ausdrücklicher Besinnung auf die Werte der alten res publica „Rzeczpospolita Polska" (Republik Polen) und kehrte zum alten Staatssymbol, dem Königsadler in seiner plastischen Form, zurück: dem gekrönten Weißen Adler im Roten Feld, dem allerdings das Kreuz in der Krone versagt blieb. Noch vor der Regierungsübernahme durch Mazowiecki waren ein Verfassungsgerichtshof, ein Staatsgerichtshof und die Institution eines Ombudsmannes für Bürgerrechte geschaffen worden. Die Verfassungsänderungen von 1989 stützten sich auf die Vereinbarungen am Runden Tisch, die alle kodifiziert worden sind, wenngleich stellenweise geringfügig verändert und breiter ausgedeutet Fortgelassen wurde auch der Anspruch der PVAP auf die führende Rolle in Staat und Gesellschaft, auf den schon die PVAP-Sejmfraktion verzichtet hatte.

Neben der Einsetzung des Senats als Zweiter Kammer, die vor allem Kontrollfunktionen erhielt, muß als politisch wohl wichtigste verfassungsrechtliche Neuerung die Schaffung eines personalen Staatspräsidentenamtes mit umfassenden Kompetenzen angesehen werden. Es ist als ein sehr starkes Amt mit breiten Exekutivrechten und weitreichenden Kontrollbefugnissen gegenüber dem Sejm angelegt. Der Staatspräsident ist Vorsitzender des Landesverteidigungs-Komitees und oberster Kriegsherr Polens, ihm untersteht direkt die Aufsicht über die Territorial(Kommunal) -Verwaltung, unter bestimmten Voraussetzungen kann er den Sejm und Senat auflösen. Als Folge innerer und äußerer Bedrohung, deren Art nicht definiert wurde, kann er über ganz Polen oder Teile des Staatsgebietes den 21 Kriegszustand verhängen, wobei Sejm und Senat im Amte bleiben müssen. Zugleich verfügt er über eine eigene Präsidialkanzlei mit so weitgehenden Befugnissen, daß von einer Art Überregierung gesprochen wird. Diese darf er mit (gegenwärtig drei) Ministern seines Vertrauens besetzen. Sie arbeiten nach einer vom Staatspräsidenten autonom ausgearbeiteten Geschäftsordnung, die keiner Zustimmung bedarf.

Obwohl die Verfassung überarbeitet wurde, weist sie einige Unklarheiten und Schwachstellen auf. Wenngleich eine volle „wirtschaftliche Betätigungsfreiheit“ garantiert ist. und zwar „ohne Rücksicht auf die Eigentumsform“, wird schon im Nachsatz die Eingrenzung dieser Freiheit als Möglichkeit genannt. An anderer Stelle wird festgesetzt, daß „das sozialistische Wirtschaftssystem“, die „Planung der Entwicklung der Produktionsmittel“ und die „sozialistische Arbeitsgesetzgebung“ das Recht auf Arbeit gewährleisten, obwohl andererseits eine „bürgerliche Gesellschaft“ erreicht werden soll. Auch wenn General Jaruzelski nach Übernahme seines neuen Amtes erklärte. Präsident aller Polen sein zu wollen und offenbar nationale Belange über ideologisch-politische Interessen stellt, relativiert die reale Machtkonstellation im Staat die Handlungsmöglichkeiten der Koalitionsregierung Mazowieckis doch empfindlich, besonders weil diese — trotz seines hohen persönlichen Popularitätsgrades — auch in der Gesellschaft nicht unumstritten ist. Mazowieckis Stillhalte-und Solidaritätsappelle — gemeinsam mit Lech Wasa verkündet — zeigen, daß er sich der Labilität seiner Regierung und der großen Schwierigkeiten bei der Ausbalancierung der vielen unterschiedlichen Interessen sehr bewußt ist.

2. Die Gewerkschaftsfrage

Für die gesamte polnische Entwicklung ist bedeutsam, daß die „Solidarität“ des Jahres 1989 bei weitem nicht mehr eine so mächtige nationale Sammlungsbewegung darstellt wie 1980/81. Ihre erfolgreiche Politik des Kompromisses, die zur Installierung einer nichtkommunistisch geführten Regierung führte, stieß auch in den eigenen Reihen auf Kritik. Schon sehr früh gingen Teile der Organisation auf Gegenkurs zur „Solidarität“ Wasas. Sie splitterten von ihr ab. verselbständigten sich und schufen sich eine eigene Presse. In den Auseinandersetzungen der Jahre 1988/89 entschieden sie sich gegen die Koalitionspolitik Wasas, gegen den Runden Tisch, für einen Wahlboykott und gegen jegliche Zusammenarbeit und Gespräche mit den Kommunisten. wobei sie besonders die veränderte Haltung zu Streiks kritisierten.

Neben der „Solidarität“ Wapsas, die als mächtige Stütze der Regierung Mazowieckis der gesellschaftlich weitaus potenteste und politisch bedeutendste Teil der gleichnamigen Bewegung ist, entstanden aus den Absplitterungen folgende drei Organisationen:

1. Solidarno Walczca (SW — Kämpfende Solidarität), die sich schon 1982 verselbständigt hatte. Sie betrieb einen radikalen Konfrontationskurs zur Regierung und zur eigenen Mutterorganisation. Ihre Führungsmannschaft um Kornel Morawiecki bleibt nach wie vor im Untergrund. Genau wie ihre Jugendorganisation Widerstandsbewegung der Jungen (MRO — Mlodziezowy Ruch Oporu) repräsentiert sie — wie ihrer Programmatik zu entnehmen ist — „als politische Organisation die Richtung radikalen Antikommunismus und der Unabhängigkeit“ sowie den „kompromißlosen Kampf gegen jeglichen Totalitarismus“

2. Solidarnosc — Grupa Robocza (Solidarität-Arbeitsgruppe) entstand im Gefolge eines Meinungsstreits um die Appeasement-und Streik-Strategie und um das Dominationsverhalten Wasas innerhalb der Organisation. Sie ist mittlerweile Ausdruck radikaler Kampfforderungen der nachgewachsenen Generation, von der sie getragen wird. Insofern verweist sie auf den Generationskonflikt innerhalb der „Solidarität“. Frühere Querelen Wasas mit ihren Führungspersonen, wie Gwiazda. Siowik oder Palka, sind für die Abspaltung nicht bedeutungslos; doch sind auch hier mittlerweile wieder Klärungsprozesse im Gange, die durchaus zur „Solidarität“ Wasas zurückführen könnten. Die Gruppe entstand Ende Dezember 1988. Diese „junge, ungeduldige, radikale und Aktivismus predigende . Solidarität* vertritt politischen Maximalismus und verlangt eine grundlegende Umformung des Staates“ Die Gruppe entstand bemerkenswerterweise in der politischen Heimat Wasas, in Danzig, wo sie gegen ihn wiederholt demonstrierte und ihn unnachsichtig, auch tätlich angriff.

3. Krajowa Komisja „Solidarno" (Landeskommission „Solidarität“) bildete sich in der ersten Hälfte 1989 in Stettin um Jurczyk, wobei das spezifische Verhältnis der beiden Streikzentren 1980, Danzig und Stettin, psychologisch eine Rolle spielte. Von hier ging vor allem die Kritik an der mittlerweile fehlenden Führungs-Legitimation Wasas aus, die zur Gründung der Initiative „Verständigung zur Durchführung demokratischer Wahlen in der . Solidarität*“ am 10. Juni 1989 mit einem eigenen Programm führte. Die Gruppe breitet sich über Polen aus: Ende Oktober 1989 wurde eine eigene Organisation in Oberschlesien, auch durch Abspaltung, gegründet. Die beiden letztgenannten Gruppen unterhalten Gespräche zur besseren Koordinierung ihrer Arbeit. Auf diese Weise scheint eine potente „Gegen-Solidarität“ entstehen zu können, der sich auch die SW anschließen könnte.

Durch ihren kompromißlosen Antikommunismus, ihren entschiedenen Nationalismus mit Forderungen nach der immer noch nicht erreichten staatlichen Unabhängigkeit und Souveränität Polens, die von der Sowjetunion verwehrt werde, und ihre soziale Orientierung im Gegensatz zu der neuerdings stärkeren politischen Orientierung der „Solidarität“ Wasas sind die abgesplitterten Gruppen nicht nur Zeichen einer Identitätskrise in der „Solidarität“; sondern auch ein zentrifugales Potential für sie. Zudem stehen sie in der Tendenz des Rechts-rucks im politischen Leben Polens, den die sich bildenden, bald spaltenden und dann wieder auf anderer Grundlage einigenden vielen neuen politischen Gruppen herbeiführen.

Die Situation bringt für die „Solidarität“ Wapsas das Problem der Besinnung auf ihre künftige Stellung im politischen System Polens. Sie muß klären, ob sie sich aus ihrer bisherigen Zwitterstellung zu einer eindeutig politischen Organisation wandeln oder zu einer gewerkschaftlichen Bewegung zu-

will. Diesen Rahmen hatte sie gesellschaftspolitisch allerdings bereits im Herbst 1981 so eindeutig überschritten, daß bei der Besinnung auf diese ursprüngliche Zielsetzung eine erhebliche Änderung auch der gegenwärtigen gewerkschaftlichen Tätigkeit notwendig würde. In ihrer gewerkschaftlichen Funktion weist sie im Vergleich zu damals weder eine vergleichbare Bedeutung in den Betrieben noch eine annähernd hohe Mitgliederzahl auf. 1981 zählte die „Solidarität“ mindestens 9, 5 Millionen Mitglieder und beherrschte unangefochten die gewerkschaftliche Szene. Heute ist sie mit annähernd 2, 0 und höchstens 2, 5 Millionen Mitgliedern numerisch sogar schwächer als die OPZZ (Oglno-polskie Porozumienie Zwizkw Zawodowych — Gesamtpolnische Gewerkschaftsverständigung). Die OPZZ, die noch vor Aufhebung des Kriegszustandes an Stelle der „Solidarität“ und unter Übernahme ihres Gewerkschaftsvermögens als offizielle Gewerkschaft in einzelgewerkschaftlichen Ansätzenbegründet worden war, gibt ihren Mitgliederbestand mit 4. 5 Millionen an. Selbst die „Solidarität“ Walsas räumte ein, daß ihr die OPZZ in verschiedenen Betrieben, besonders wo der Führungsstil Waifsas und seine Politik — insbesondere die Anti-Streik-Taktik — beanstandet werden, den Rang abzulaufen beginne. In der Popularitätsskala sind die OPZZ und ihr Leiter Miodowicz zwar am oberen Rande des letzten Drittels angesiedelt, doch taktierten sie in den letzten Monaten recht geschickt, wobei sie die zunehmende Unzufriedenheit und Radikalisierung nutzten.

Während die „Solidarität“ zur Unterstützung der Regierung Mazowiecki die angespannte politische und soziale Situation eher abzuwiegeln und zu beruhigen suchte, um die legalen Veränderungsmöglichkeiten nicht zu gefährden, begann die OPZZ radikalpopulistisch zu agitieren, Streiks zu begünstigen und den angestrebten Stabilisierungsprozeß zu stören. Im Juli 1989 schied ihr Vorsitzender Miodowicz noch so rechtzeitig aus dem Politbüro der PVAP (in das er Mitte 1986 aufgenommen worden war) aus, daß der Einfluß der OPZZ aus dieser Bindung zur Partei 1989/90 nur in Maßen litt. Während sich die „Solidarität“ in eine Koalition mit der PVAP einließ, konnte er darauf hinweisen, daß er sich aus der Abhängigkeit zur PVAP gelöst hatte. Obwohl es sicher nur ein taktisches Verhalten war, schlug es mancherorts trotz seiner Durchsichtigkeit zugunsten der OPZZ aus. Übrigens soll sie in mehr Betrieben als die „Solidarität“ Wapsas vertreten sein, die wiederum weit mehr Einfluß unter Intellektuellen und an deren Arbeitsstellen hat.

Wenngleich die gewerkschaftliche Szene von den beiden Gewerkschaftsgiganten „Solidarität“ und OPZZ dominiert wird, entstehen seit der Akzeptierung des Pluralismus am Runden Tisch wieder neue gewerkschaftliche Organisationen, wie schon 1981. Vor allem lebte die damalige Organisation der Autonomen Gewerkschaften mit ihrem berufsorientierten Organisationsprinzip auf. Eine größere Bedeutung hat sie bisher nicht erhalten. Dieses dürfte in Zukunft aber wohl von der Entscheidung der am Scheidewege stehenden „Solidarität“ wie auch von der taktischen Fähigkeit der OPZZ abhängen, sich aus dem Odium der offiziellen Parteigewerkschaft lösen zu können.

3. Parteienlandschaft und politischer Pluralismus

Die polnische Parteienlandschaft ist nur schwer überschaubar. Sie umfaßt annähernd 40 Parteien und zahllose politisierte Organisationen mit unterschiedlichen Betätigungszwecken. Als wichtigste Ereignisse in der aktuellen Entwicklung müssen dabei der langsame Zerfall der einstmals staatstragenden PVAP und der Versuch zur Bildung einer politischen Partei aus dem Mitgliederreservoir der „Solidarität“ betrachtet werden.

Die PVAP war schon seit rund einem Jahrzehnt schweren inneren Spannungen und Kontroversen ausgesetzt. Bereits im Oktober 1981 wurde ein Zerfall der PVAP in zwei eigenständige Parteien, eine eher kommunistische und eine eher sozialdemokratische, von Zentralkomitee-Mitgliedern avisiert, der damals doch noch abgewendet werden konnte. 1985/86 traten erneut deutliche Differenzen zwischen verschiedenen Gruppen auf, die nur notdürftig überbrückt werden konnten.

Die Wahl Rakowskis an die Spitze der PVAP nach Jaruzelskis Übernahme des Staatspräsidentenamtes mußte in dieser Situation befremden, weil er als Ministerpräsident gescheitert war und wegen Mißwirtschaft öffentlich angegriffen wurde. Seine Wahl mußte daher zusätzliche Schatten auf das ohnehin schlechte Image der verunsicherten Partei werfen. Der zentrale Apparat und weite Funktionärskreise waren zudem wenig reformfreudig.

Unter den etwa 2 Millionen Mitgliedern der „Arbeiterpartei“ waren lediglich 38 Prozent Arbeiter. Die Partei, von der die Jugend nichts mehr wissen wollte war stark überaltert. Das Durchschnittsalter lag bei 50 Jahren. Rentner machten mehr als ein Viertel des Mitgliederbestandes aus

Seit vielen Monaten traten immer neue Gruppen mit eigenen Positionspapieren, Statuten-und sogar Programmentwürfen auf, die sich dazu eigene Namen gaben, Bezeichnungen für die neue „Partei der Linken“ wußten, und kaum noch zentral zusammengehalten wurden; es gab über 70 solcher Gruppen Bei einer Ende September 1989 unter rund 50 Prozent der Parteimitglieder durchgeführten Umfrage sprachen sich nahezu drei Viertel der Befragten für eine Umwandlung der PVAP in „eine neue Partei mit neuem Programm, Statut und Namen aus“ Die reformerische Parlamentsfraktion der PVAP unter Orzechowski erklärte folgerichtig Ende Oktober 1989: „Die Zeit der PVAP ist abgelaufen.“ Der für Ende Januar 1990 anberaumte Parteitag wurde trotz angestrengter Bemühungen der zentralen Parteiführung, die Einheit der PVAP zu wahren, als der „Liquidationskongreß“ der PVAP angesehen

Während des Kongresses vom 27. bis 28. Janua 1990 kam es zu turbulenten Szenen. Ein Teil de Abgeordneten zog aus dem Saal aus, tagte in einen Nebenraum. Es waren Anhänger einer „sozialde demokratyczna RP (Sozialdemokratische Unior der Republik Polen) gab. Di im Hauptsitzungssaa sozialistisch bis konservativ kommunistisch orientiert. gründeten dann die Socjaldemokracja Rzeczy. pospolitej Polskiej (SdRP — Sozialdemokratie dei Sport-und Jugendministers Aleksander Kwasniewski zu finden, einem Mann aus dem dritten Glied Die Folgen der Spaltung fanden trotz Bemühung um die Einheit der Parlamentsfraktion durch deren Vorsitzenden Orzechowski auch in deren Aufspaltung Niederschlag. Rakowski, der in der SdRP ohne offizielles Amt blieb, wurde beauftragt, ein neu zu gründendes theoretisch-politisches Organ der polnischen und internationalen Sozialdemokratie zu leiten.

Die Gründung der Niepodleglosciowa Partia „Solidarnosc“ (Unabhängigkeitspartei „Solidarität“) im November 1988 setzte zweierlei Zeichen: Zum einen verstärkte sie den Differenzierungsprozeß in der „Solidarität“, zum anderen zeigte sie die Neigung neu entstandener Organisationen, besonders solcher, die den sog. Nationalen Solidarismus mit Traditionsbezügen zur Vorkriegszeit gutheißen sich zunehmend des Oppositionssignums „Solidarno" positiv zu bedienen.

In der Niepodleglosciowa Partia „Solidarnosc“ dominieren sozialistische Tendenzen. Der Runde Tisch und Übereinkommen oder Kompromisse mit Kommunisten werden aber abgelehnt. In der Partei scheinen sich Mitglieder der abgesplitterten „Solidarität“ -Gruppen, aber auch unzufriedene PPS-und OPZZ-Mitglieder, die allerdings selber an einem Ruch Ludzi Pracy (Bewegung der arbeitenden Menschen) als parteilichem Ausdruck der OPZZ Haltung basteln, zusammenzufinden. All das drängt die „Solidarität“ erst recht in eine Identitätssuche. Zwar ist die „Solidarität“ dieser Partei ge-genüber vorerst noch ambivalent eingestellt, doch scheint sie zur Distanz zu neigen

So zeigt sich deutlich, daß die beiden in der Umgestaltung des politischen Systems Polens wichtigsten und engagiertesten Partner und Kontrahenten, die Kommunisten und die „Solidaritäts“ -Mitglieder, im Verlaufe der Entwicklung nicht nur an Bedeutung für dieses politische System verlieren, sondern auch in vielerlei Schwierigkeiten geraten, die ihre eigene Identität und politische Effizienz bedrohen. Dies umso mehr bei der „Solidarität“, weil sich die „polnische Kirche“ als nicht zu unterschätzender politischer Machtfaktor vorsichtig von der zunehmend nach links abdriftenden „Solidarität“ löst und politischen Organisationen zuwendet, denen sie wohl in Zukunft größere Chancen einräumt. In der „Solidarität“ macht sich demgegenüber sogar bei Lech Wasa die Bereitschaft breit, mit der Sozialdemokratischen Union Fiszbachs nähere Kontakte aufzunehmen. Dabei kann auf frühere Annäherungsversuche Orzechowskis und von Vertretern einzelner PVAP-Splittergruppen vom Ende 1989 zurückgegriffen werden, die schon damals im OKP eine prinzipielle Aufgeschlossenheit gefunden haben Auch aus diesem Bereich könnten neue politische Konstellationen für die weitere Entwicklung Polens erwachsen.

Bei der bisherigen politischen Abstinenz ist die Bereitschaft, Parteien zu gründen, groß. Parteien können von 10 Personen gegründet werden, deren Anliegen von 3000 namentlich genannten Bürgern unterstützt wird. Kennzeichen aller neu entstehenden Parteien ist, daß sie gerade wegen verschiedener Deutungen ihrer Traditionen, Symbole und Bezugspersonen einander das Recht der politischen Kontinuität absprechen. Sehr bald zerfallen sie in sich und vermitteln auf diese Weise das Bild eines großen politischen Durcheinanders. Auf der anderen Seite finden sich kleinere, ihrer Schwäche bewußte politische Organisationen zusammen, wenn sie auf keine erfolgverheißenden Traditionen zurückgreifen können. Sie gründen übergreifende Sammlungsbewegungen, die sich durch eine vergleichsweise große Bestandsfähigkeit auszeichnen. Bei diesen Besonderheiten der Parteienlandschaft ist ein genauer Aufriß dieser Szene, die völlig in Fluß ist, an politischer Bedeutung aber zunimmt, sehr schwierig. Am ehesten kann sie noch über eine grobe Klassifizierung entschlüsselt werden.

In der parteipolitischen Geographie Polens haben folgende Richtungen und Parteien die größte Bedeutung:

1. Die Bauernbewegung: Mindestens fünf Partei-organisationen beanspruchen den Namen PSL (Polskie Stronnictwo Ludowe — Polnische Bauernpartei) mit unterschiedlichen Zusätzen, wie „Solidarnosc“ oder „Odrodzenie“ (Wiedergeburt). Sie berufen sich alle mit geringfügigen Unterschieden auf die alte Bauernpartei von Witos und Mikolajczyk. Zwischen einzelnen Gruppen gibt es zwar Annäherungstendenzen, doch die für sich agierende RI „Solidarno" scheint in ihrer Identitätskrise einen allgemeinen Zusammenschluß zu erschweren. Sollte er erfolgen, wäre die Bauernbewegung die wohl bedeutendste und damit richtungsweisende politische Kraft Polens. Auch persönliche Animositäten und Profilierungsbestrebungen scheinen einen solchen Schritt zu erschweren, so daß aus unterschiedlichen Gründen eine große politische Chance für Polen aufs Spiel gesetzt wird.

2. Die Christdemokratie (Chadecja): Sie wird von den zwei Parteien Zjednoczenie Chrzescijansko-Narodowe (Christlich-nationale Vereinigung) als Sammelbewegung einiger kleinerer Gruppen und von Stronnictwo Pracy (Partei der Arbeit) gebildet, die von dem früher der „Solidarität“ eng verbundenen Rechtsanwalt Sila-Nowicki präsidiert wird. Die erstgenannte Partei organisiert ihre Mitglieder in einer eigenen Arbeitsgemeinschaft innerhalb des OKP mit dem Anspruch, später eine eigene Fraktion zu stellen; damit tritt sie in die Fußstapfen der PSL „Solidarnosc“ und verstärkt den Differenzierungsprozeß im OKP.

3. Die Nationaldemokratie (Endecja): Sie ist in eine Vielzahl kleinerer, ihren Patriotismus und ihren Unabhängigkeitsdrang durch die unterschiedlichsten Symbole ausdrückende Organisationen gegliedert, wozu auch traditionsreiche Parteien gehören. Sie ist schwierig zu überblicken. Am traditionsreichsten ist die Stronnictwo Narodowe (National-partei), die während ihres Gründungskongresses Ende 1989 antisemitische und antideutsche Tendenzen erkennen ließ. Ihr Gründungskongreß wurde mit einer Zelebrierung des feierlichen Hoch-amts durch Kardinals Glemp auf bezeichnende Weise hervorgehoben, was auch die Kirche wohl politisch neu orientiert. Die Konfederacja Polski Niepodleglej (Konförderation des unabhängigen Polen) — die älteste Oppositionsgruppierung — scheint im Augenblick die politisch bedeutendste Partei dieses Spektrums zu sein, zählt sie doch als Elite-Partei rund 4500 Mitglieder in 40 über Polen verstreuten Ortsorganisationen und gibt etwa 30 Zeitungen illegal heraus. Daneben besteht eine Reihe sich immer größeren Zuspruchs erfreuender Zusammenschlüsse, wie eine zweite von Honoratioren gebildete, konkurrierende Stronnictwo Narodowe oder Polskie Stowarzyszenie Narodowe (Polnischer Nationalverband).

4. Die Sozialdemokratie: Trotz einer großen Tradition ist sie nahezu bedeutungslos geworden, weil der Begriff „Sozialismus“ diskreditiert und die Partei zersplittert ist. Die PPS (Polska Partia Socjalistyczna — Polnische Sozialistische Partei) war schon dreigespalten bevor sie zugelassen war. Es gibt die Gruppe Jan Jzef Lipskis, des eigentlichen Begründers der Partei Mitte November 1987. dann die ein Jahr später abgesplitterte PPS-RD (PPS — Rewolucja Demokratyczna PPS — Demokratische Revolution), die im Gegensatz zu Lipski sowohl die Zusammenarbeit mit der „Solidarität“, als auch jegliche Kontakte mit der PVAP und dem Runden Tisch ablehnte. Wenig später (Mai 1989) spaltete sich die PPS — Grupa Ilki (PPS — Ilka-Gruppe) ab, benannt nach ihrem Anführer, der für sich den Traditionsnamen ohne Zusätze als eigentlicher Traditionsträger der PPS betrachtet und dies durch den Olof Palme-Verlag auch international zu unterstreichen sucht. In diesem Bereich sind neuerdings eine Reihe von der PVAP abgesplitterter Gruppen anzusiedeln. darunter auch Fiszbachs Sozialdemokratische Union, obwohl sich die PPS-Gruppen vorerst noch von ihnen fernhalten.

5. Die Liberalen: Neben ihrer Partei Unia Polityki Realnej (Union für Realpolitik) demonstrieren sie in einer Vielzahl von mittlerweile gegründeten Wirtschaftsgesellschaften privater Unternehmer ihre politische Kraft.

6. Die Ökologiebewegung: Sie hat ihr Zentrum in der bereits im Dezember 1988 gegründeten Partei Polska Partia Zielonych (Polnische Partei der Grünen) und ist von einer Vielzahl ökologisch engagierter Organisationen getragen, die in einem Parlament Polskich Zielonych (Parlament der polnischen Grünen) zusammenarbeiten. Daneben gibt es: Niezalezne Stronnictwo „Ruch Zielonych“ (Unabhängige Partei „Grüne Bewegung“) und Polski Klub Ekologiczny (Polnischer Ökologischer Klub). Die ökologische Bewegung war während des Kriegszustandes von 1981 die einzige akzeptierte Oppositionsbewegung, was ihr damals eine erhebliche politische Bedeutung verlieh

Obwohl die Breite, aber auch die Widersprüchlichkeit und Kompliziertheit der polnischen politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit nur in groben Zügen dargestellt werden konnte, zeigt sich doch, daß dort weit mehr in Fluß ist, als der westlichen Publizistik entnommen werden kann. Die politische Landschaft Polens ist gegenwärtig auch weitaus mehr zerstritten, als bei der sozioökonomischen Lage gut ist. Die Situation ist labil, unübersichtlich, in gewissen Kreisen nationalistisch bis zum Exzess aufgeladen — wobei auch antideutsche und antisemitische Tendenzen zu beobachten sind — und scheint in ihrem Rechtsruck vor einem größeren Umschichtungsprozeß zu stehen.

Polen ist im Aufbruch, auch wenn die Schnelligkeit der realen systempolitischen Veränderungen es heute hinter seinen Nachbarn, denen es schon zu verschiedener Zeit Beispiel gewesen war, hinterherhinken läßt. Zwischen 1980 und 1990 ist Polen unter den Bedingungen des Kriegsrechts in wirtschaftlicher und sozialer Not anders geworden. Aber die Situation bleibt schwierig und die künftige Entwicklung läßt viele Fragen offen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Kardinal Wyszynski legitimierte die Wahl eines Polen zum Papst mit den Worten: „Polen gebührt diese Auszeichnung zu Recht, denn Polen hat stets viel erlitten, nicht nur zur Verteidigung der Unabhängigkeit seiner Nation, sondern auch für die Kirche Christi.“ (Vgl. Der Sieg ist gekommen — es ist ein Sieg Mariens!, in: Stefan Kardinal Wyszynski. Der Primas von Polen über den Papst aus Krakau. Regensburg 1979. S. 43). Zur „messianistischen Vormauerfunktion“ der „Solidarität“ vgl. Georg W. Strobel, NSZZ „Solidamosc“. Beitrag zur Analyse der Organisation und politischen Wirkung einer sozialen Sammlungsbewegung, in: Dieter Bingen (Hrsg.), Polen 1980— 1984. Dauerkrise oder Stabilisierung? Strukturen und Ereignisse in Politik. Gesellschaft und Wirtschaft, Baden-Baden 1985, S. 87 ff.

  2. Zum Gesamtkomplex des polnischen populären Ge-schichtsverständnisses und seiner Gestaltung durch den Messianismus des 19. Jh. vgl. wiadomo historyczna Polaköw. Problemy i metody badawcze pod redakcja Jerzcgo Topolskiego (Das Geschichtsbewußtsein der Polen. Forschungs-Probleme und -Methoden). Ld 1981. Zur Instrumentalisierung dieses Problems für Kirche und Gesellschaft, insbesonere in der neuesten Vergangenheit, vgl. Georg W. Strobel, er Einfluß der Religion in der gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Entwicklung Polens. Saarbrücken 1982.

  3. Für die kommunistische Herrschaft nach 1945 war es vor allem eine unnachsichtige, und durch Härte und das Nicht-Vergessenlasscn „nationale“ Zuspitzung der deutschen Frage, die ihrer abgelehnten Herrschaft nationale Indentifikation und Legitimation geben sollte. Vgl. Georg W. Strobel. Polen und die deutsche Frage, in: Günther Wagenlehner (Hrsg.), Die deutsche Frage und die internationale Sicherheit, Koblenz 1988. S. 174 ff.

  4. Neuerdings erschien eine mit Illustrationen reich dokumentierte Arbeit zur Zeichensymbolik der Oppositionsbewegung seit 1980. Vgl. Anna Uhlig. W krgu symboli (Im Kreis der Symbole). Warschau 1989.

  5. Vgl. hierzu Georg W. Strobel. Oskar Lange und die Reformbestregungen in der Wirtschaftstheorie Polens, in: Europa-Archiv, (1959) 19-20, S. 601 ff.

  6. Helga Hirsch, KOR, Frankfurt 1987; Peter Raina. Independent Social Movements in Poland, London 1981 S. 183ff.; Georg W. Strobel. NSZZ „Solidamosc“. Beitrag zur politischen Wirkungsanalyse einer sozialen Sammlungs. bcwegung. Köln 1983 (Berichte des Bundesinstituts für ost-wissenschaftliche und internationale Studien. 8).

  7. Vgl. die breit eingeführte Dokumentation: Georg W. Strobel. „Solidarität“ und Augenmaß: Probleme politischer Optimierung und Maximierung, in: Osteuropa. (1983), S. A 176—A 197. Zur Gesamtproblematik auch: Klaus Ziemer, Polens Weg in die Krise. Eine politische Soziologie der „Ära Gierek“, Frankfurt/M. 1987.

  8. Vgl. G. W. Strobel (Anm. 2), S. 26 ff.

  9. Neuerdings wird in Polen verbreitet. Tadeusz Mazowiecki sei Jude, unabhängig davon, daß in den früheren Oppositionskreisen und heute im Regierungsspektrum Menschen-jüdischer Herkunft tätig waren und sind. Diese tradierte polnische Herabwürdigung insbesondere von Linkskreisen und besonders von Linksintellektuellen findet ihren vorläufigen Höhepunkt in der Verwendung eines vom „Zydokomuna“ abgeleiteten Signums „ydosolidarno" (Judensolidarität). Die Auseinandersetzungen um Macht und Einfluß in der PVAP 1968 erfolgten mit ähnlichen Argumenten. Es wäre zu überlegen, ob die Herkunft der jetzigen Anti-Regierungsund Anti-„Solidaritäts“ -Aktion mit antisemitischen Parolen der gleichen Küche entstammen könnte.

  10. Für den chronologischen Ablauf der Ereignisse, die Wahlgesetzbesonderheiten und die soziologische Struktur der neuen Körperschaften vgl. Klaus Ziemer. Auf dem Weg zum Systemwandel in Polen: I. Politische Reformen und Reformversuche 1980 bis 1988. in: Osteuropa, (1989), S. 791; II. Vom „Runden Tisch" zur „IV. Republik“?, ebd., S. 957 ff.

  11. Vgl. Dieter Bingen, Systcmwandel durch Evolution: Polens schwieriger Weg in die parlamentarische Demokratie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 23/89, S. 3 ff.

  12. Über die „Solidarität“ und ihre Politik liegen zahlreiche Veröffentlichungen vor, wobei unterschiedliche Sach-und Politik-Akzente gesetzt werden. Vgl. u. a. Jerzy Holzer, „Solidarität“. Die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen. München 1985; Dieter Bingen. Solidarno — eine polnische Gewerkschaft und gesellschaftliche Bewegung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29-30/82, S. 3ff.; Bohdan A. Osadczuk-Korab, „Solidarnosi“ — Glanz und Elend einer Gewerkschaftsbewegung, in: Alexander Uschakow (Hrsg.), Polen — das Ende der Erneuerung? Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur im Wandel. München 1982; Timothy Garton Ash. The Polish Revolution: Solidarity 1980— 1982, London 1983; Jadwiga Staniszkis, Poland's Self-Limiting Revolution. Princeton 1984.

  13. vgl. hierzu Georg W. Strobel, Gewerkschaftssystem und Arbeiterinteressen in Polen, in: Aus Politik und Zeitge-Sahichte, B 39/86, S. 36 f.

  14. Die Vereinbarungen im Wortlaut, in: Tygodnik Mazowsze. Numer Specjalny, 12. 4. 1989.

  15. Vgl. zu den Einzelheiten K. Ziemer (Anm. 10). S. 965 f.

  16. Wasa rechtfertigt gern metaphorisch: Viele Menschen bauten an einem Flugzeug oder Automobil, doch nur ein einziger könne es in voller Verantwortung und auf sich selber gestellt lenken (vgl. Gazeta Wyborcza, 13. — 15. 10. 1989).

  17. Nach dem Tode Osmaficzyks wurde ein oberschlesischer Senatssitz frei, um den sich der Vertreter der deutschen Min-derheit Kröl und Prof. Dorota Simonides bewarben. Trotz seiner Erklärung zugunsten von Minderheiten während der Juni-Wahlen (Tygodnik Powszechny. 28. 5. 1989), unterstüae Lech Wasa nicht den ebenfalls der „Solidarität“ verbundenen deutschstämmigen Bewerber, sondern Frau Simonides. Der beiderseits national sehr emotionalisierte Wahlgampf brachte Frau Simonides im zweiten Wahlgang den senatssitz ein (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung. 20. 2.

  18. Vgl. Polityka, 2. 9. 1989.

  19. Vgl. ycie Warszawy, 12. 10. 1989.

  20. Vgl. Gazeta Wyborcza, 29. 11. 1989.

  21. Vgl. die Vereinbarungen des Runden Tisches: Tygodnik Mazowsze, 12. 4. 1989; der nichtoffizielle Text der ergänzten Verfassung ist veröffentlicht in: Rzeczpospolita, 18. 1. 1990.

  22. Serwis Agencji Informacyjnej Solidarnosci WalczaceJ. 111/1989.

  23. Wola. 10. 10. 1988.

  24. Partia wczoraj — partia jutro. Dyskusja rcdakcyjna (Die Partei gestern und morgen. Redaktionsdiskussion), in: Nowe drogi. September 1989. S. 48.

  25. Splot szans i zagroe (Ein Knäuel von Chancen und Bedrohungen), in: Nowe drogi, September 1989. S. 8.

  26. Poziomkowe pola (Himbeerfelder), in: Walka Mlodych. 8. 10. 1989; Odglosy (Widerhall). 24. 9. 1989; Gazeta Wyborcza, 9. 10. 1989; Wybrzeze (Küstengebiet), 21. 5. 1989; Trybuna ludu. 13. 10. 1989.

  27. Trybuna ludu. 4. 10. 1989.

  28. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. 10. 1989.

  29. Trybuna ludu. 19. 10. 1989; W stron zycia (In Richtung Leben), in: Zycie partii (Parteileben). 20. 9. 1989; Zycie Literackie (Literatenleben), 8. 10. 1989.

  30. Vgl. die Interviews von Kwasniewski und Fiszbach nach der Spaltung in: Polityka. 3. 2. 1990.

  31. Vgl. hierzu Georg W. Strobel. Die parlamentarische Idee und die polnischen Parteien, in: Hans-Erich Volkmann (Hrsg.), Die Krise des Parlamentarismus in Ostmitteleurop“ zwischen den beiden Weltkriegen. Marburg 1967, S. 517

  32. Vg. u. a. Ryszard Swierkowski. Co si wyloni z „Solidarpsci" (Was aus der „Solidarität“ hervorkommen wird), m: Perspektywy, 24. 11. 1989; Nie zazdroicimy nikomu Wadzy (Wir beneiden niemanden um die Macht), in: Odom. 10. 12. 1989

  33. Przeglad Tygodniowy, [10 1989; ycie literackie, 8. 10. 1989

  34. Neuerdings gibt es einen Klassifizierungsversuch der polnischen Opposition, doch entspricht er zu wenig den Traditionslinien; vgl. Aleksander Smolar, Die polnische Opposition. in: A. Smolar/P. Kende. Die Rolle der oppositionellen Gruppen am Vorabend der Demokratisierung in Polen und Ungarn (1987-1989), Köln 1989.

  35. Vgl. G. W. Strobel (Anm. 7).

  36. Der Rabbiner Pinchas Menachem Joskowicz bezeugt in einem Interview auf die Frage, ob seiner Meinung nach Antisemitismus in Polen herrsche: „Ja, leider. Offiziell wird behauptet, daß es ein solches Problem nicht gibt. Aber ich habe Beweise, daß diese schlimme Erscheinung vorhanden ist. Id erhalte vulgare, schmutzige anonyme Briefe, häufig m Morddrohungen. Die Scheiben der Synagoge werden einge worfen. Man muß etwas tun, um den Antisemitismus einzu dämmen.“ (Sztandar mlodych, 14. 12. 1989).

Weitere Inhalte

Georg W. Strobel, Dr. phil., geb. 1923; o. Prof. em. für Politikwissenschaften an der TH Darmstadt, Honorarprofessor für osteuropäische Geschichte und Politik an der Universität Mainz. Seit der ersten Veröffentlichung über Polen (Ende 1949) zahlreiche Buch-und Zeitschriftenveröffentlichungen zur politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung Polens und zu den deutsch-polnischen Beziehnungen.