Auf dem Weg zum politischen Alltag. Eine Analyse der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl vom 2. Dezember 1990
Wolfgang G. Gibowski /Max Kaase
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Zusammenfassung
Die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 hat erwartungsgemäß die Parteien der bisherigen Bundesregierung und ihre Politik in überzeugender Weise bestätigt. Der Beitrag belegt, daß bis zum Wahltermin die deutsche Wiedervereinigung die politische Tagesordnung bestimmt und anderen Themen keine Chance gelassen hat, wahlentscheidend zu wirken. Der Ausgang der Wahl ist durch den Umstand bestimmt worden, daß die Vorstellungen der Opposition und vor allem des SPD-Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine zur deutschen Vereinigung in der Bevölkerung der alten wie der neuen Bundesländer nicht die geringste Mehrheitschance besessen haben. So wird auch verständlich, daß die SPD erneut Einbrüche in ihre Kernklientel hinnehmen mußte. Damit ist diese Bundestagswahl zumindest für das Gebiet der alten Bundesländer eine weitere Bestätigung des bekannten wahlsoziologischen Befundes, daß sich die engen Bindungen an bestimmte Parteien bei einem wesentlichen Teil des Elektorats lockern. Bei der Bundestagswahl 1990 fällt die besonders niedrige Wahlbeteiligung auf, die nicht nur auf das unerwartet geringe Engagement der Wähler in den neuen Bundesländern zurückzuführen ist. Künftige Wahlen müssen zeigen, ob in Deutschland ein schon in anderen westlichen Demokratien bekannter Trend zu weniger Wahlpartizipation Platz greift, oder ob es sich bei dieser Wahl nur um eine temporäre Über-sättigung der Bürger nach einer über ein Jahr andauernden Extrempolitisierung gehandelt hat. Überrascht hat ferner das Scheitern der westdeutschen GRÜNEN an der Fünfprozenthürde. Hier wird erkennbar, daß selbst ein scheinbar ideologisch und wertmäßig so fixiertes Wählerpotential wie das der GRÜNEN nicht völlig unbeeindruckt von der politischen Tagesordnung und von den Leistungen der eigenen Parteiakteure bleibt.
I. Das Wahlergebnis
Das Ergebnis der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl vom 2. Dezember 1990 bestätigte erwartungsgemäß die Parteien der bisherigen CDU/CSU/FDP-Bundesregierung und führte — für viele Beobachter überraschend — zum Ausscheiden der seit 1983 im Bundestag vertretenen GRÜNEN, die im westlichen Wahlgebiet 5 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen nicht erreichten. Aus Gründen der Chancengleichheit der Parteien im Osten Deutschlands mit denen im Westen hatte das Bundesverfassungsgericht im Juli auf Antrag mehrerer kleiner Parteien die ursprünglich für Deutschland insgesamt geltende Fünfprozenthürde verworfen. Die vom Bonner Gesetzgeber daraufhin vorgenommene Einteilung Deutschlands in zwei Wahlgebiete mit getrennt anzuwendenden Fünfprozenthürden ermöglichte den Einzug der SED-Nachfolgepartei PDS/Linke Liste und der Listenverbindung Bündnis 90/GRÜNE (B 90/GRÜNE) in den Bundestag. Dort sind nun einschließlich der bisherigen Parteien CDU, CSU, FDP und SPD sechs Parteien vertreten. Die Wahlbeteiligung lag mit 77, 8 Prozent niedriger als jemals zuvor bei einer Bundestagswahl in der bisherigen Bundesrepublik; im Wahlgebiet West wies sie mit 78, 5 Prozent den zweitniedrigsten Wert aller Bundestagswahlen auf.
Abbildung 6
Tabelle 6: Wahlbeteiligung Bundestagswahl 1990; Differenz der Beteiligung in Altersgruppen im jeweiligen Wahlgebiet zur Beteiligung insgesamt (Angaben in Prozentpunkten) Quelle: Eigene Berechnung auf der Grundlage von: Statistisches Bundesamt (Hrsg.). Wahl zum 12. Deutschen Bundestag am 2. Dezember 1990. Erste Ergebnisse aus der Repräsentativen Wahlstatistik, Wiesbaden 1990. Es handelt sich um vorläufige Ergebnisse unter Einschluß von Urnen-und Briefwählern.
Tabelle 6: Wahlbeteiligung Bundestagswahl 1990; Differenz der Beteiligung in Altersgruppen im jeweiligen Wahlgebiet zur Beteiligung insgesamt (Angaben in Prozentpunkten) Quelle: Eigene Berechnung auf der Grundlage von: Statistisches Bundesamt (Hrsg.). Wahl zum 12. Deutschen Bundestag am 2. Dezember 1990. Erste Ergebnisse aus der Repräsentativen Wahlstatistik, Wiesbaden 1990. Es handelt sich um vorläufige Ergebnisse unter Einschluß von Urnen-und Briefwählern.
Zu einer Besonderheit hatte dieses Wahlgesetz in Berlin geführt. Das ehemalige West-Berlin zählte zum westlichen, das ehemalige Ost-Berlin zum östlichen Wahlgebiet. Da die Landeslisten der Parteien aber für das gesamte Berlin galten, traten die westdeutschen und ostdeutschen GRÜNEN, die sich als einzige der Parteien noch nicht vereint hatten und ihren Zusammenschluß für den Tag nach der Bundestagswahl vorgesehen hatten, in beiden Wahlgebieten Berlins gleichzeitig an. So konnten die Berliner Bürger im Osten wie im Westen der Stadt unter anderem auch zwischen den GRÜNEN aus dem Westen und dem Bündnis 90/GRÜNE aus der ehemaligen DDR wählen 1).
Abbildung 7
Abbildung 1: Wichtigste Probleme 1989— 1990 aus der Sicht der westdeutschen Bevölkerung (Prozentanteile aller Befragten)
Abbildung 1: Wichtigste Probleme 1989— 1990 aus der Sicht der westdeutschen Bevölkerung (Prozentanteile aller Befragten)
Das Gesamtergebnis beider Wahlgebiete (vgl. Tabelle 1) bedeutet für die Regierungsparteien mit zusammen 54, 8 Prozent eine eindrucksvolle Bestätigung, wobei nach Stimmenanteilen vor allem die FDP gegenüber der CSU ihr Gewicht in der Regierungskoalition vergrößerte. Wegen des Ausscheidens der westdeutschen GRÜNEN zeigt die Verteilung der Sitze allerdings ein besseres Ergebnis für die Unionsparteien, als aufgrund der Stimmenanteile anzunehmen wäre. Zum ersten Mal seit 1961 verfügt die CDU allein, also ohne die CSU, über mehr Mandate als die SPD; als Fraktionsgemeinschaft besitzen CDU und CSU zusammen mehr Mandate (319) als SPD und FDP (318), die auch unter Einschluß der acht Mandate von B 90/GRÜNE nicht auf die für die Wahl des Kanzlers erforderliche Mehrheit von 332 Mandaten kämen. Für die Machtverhältnisse im ersten nach der Wiedervereinigung gewählten Bundestag zählt natürlich in erster Linie das Gesamtergebnis der Wahl. Die Analyse des Wahlergebnisses erfordert jedoch die getrennte Betrachtung der beiden Wahlgebiete. Aus Gründen der Forschungskontinuität muß das Wählerverhalten im Westen aus der Perspektive der bisherigen Bundestagswahlen analysiert werden, während das Wählerverhalten im Osten nur in die Reihe der 1990 erfolgten Wahlgänge zur Volkskammer (18. März 1990) sowie zu den fünf Landtagen (14. Oktober 1990) eingeordnet werden kann. Das Ereignis der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl sollte nicht den Blick dafür verstellen, daß diese Wahl zwei Wahlgebiete mit völlig unterschiedlicher gesellschaftlicher Tradition zusammenführte: den Westen Deutschlands mit einer sich seit 1949 immer überzeugender entfaltenden demokratischen Ordnung auf der Grundlage einer föderativen Struktur, der Einbindung in das westliche Bündnissystem und einem bisher ungekannten materiellen Wohlstand, sowie den Osten Deutschlands mit einem fast 60 Jahre andauernden Kontinuitätsbruch demokratischer Institutionen, darunter einer langen Phase sozialistisch-kommunistischer Indoktrinierung in eine totalitäre Herrschaftsordnung. Hinzu kam dort mit der deutschen Vereinigung der plötzliche Verlust jeder staatlichen Identität Die folgende Tabelle 2 enthält dementsprechend nur die Ergebnisse für die im westlichen Wahlgebiet kandidierenden Parteien für alle Bundestagswahlen seit 1949. Aus Gründen der Vergleichbarkeit wurden dabei für 1990 die Stimmen von West-Berlin nicht berücksichtigt
Abbildung 8
Abbildung 2: Die politische Stimmungslage der Bevölkerung 1989— 1990 (Wahlabsicht in Prozentanteilen) Quelle: Politbarometer — monatliche Befragung von jeweils 1000 Personen, die repräsentativ für die wahlberechtigte Bevölkerung von Deutschland (West) sind; bis Mai 1990 ohne, seit Juni 1990 mit West-Berlin. Berechnung und Grafik: Forschungsgruppe Wahlen, Mannheim.
Abbildung 2: Die politische Stimmungslage der Bevölkerung 1989— 1990 (Wahlabsicht in Prozentanteilen) Quelle: Politbarometer — monatliche Befragung von jeweils 1000 Personen, die repräsentativ für die wahlberechtigte Bevölkerung von Deutschland (West) sind; bis Mai 1990 ohne, seit Juni 1990 mit West-Berlin. Berechnung und Grafik: Forschungsgruppe Wahlen, Mannheim.
Im Vergleich zu 1987 verbessern sich die Koalitionsparteien CDU/CSU und FDP auf 54, 8 Prozent, bleiben damit allerdings immer noch etwas unter ihrem Ergebnis bei der „Wende“ -Wahl von 1983. Diese Verbesserung kommt der CDU/CSU nicht zugute, sondern geht fast allein auf das Konto der FDP. Sie erreicht wie 1980 das drittbeste Ergebnis bei Bundestagswahlen überhaupt. SPD und GRÜNE bleiben mit zusammen 40, 6 Prozent deutlich hinter ihren Ergebnissen von 1983 und 1987 zurück; bei den Wahlen von 1969 bis 1980 hatte die SPD für sich allein jeweils höhere Stimmenanteile erzielt. Darüber hinaus bedeuten die 35, 9 Prozent für die SPD im bisherigen Bundesgebiet das schlechteste Wahlergebnis seit 1957. Mit 4, 6 Prozent, davon die Hälfte für die Republikaner, gewinnen die sonstigen Parteien den höchsten Stimmen-anteil seit 1969. Besonders bemerkenswert ist. daß trotz der außerordentlichen Politisierung der Bundesbürger durch den Prozeß der deutschen Vereinigung die Wahlbeteiligung nur 78, 5 Prozent betrug.
Abbildung 9
Abbildung 3: Zufriedenheit mit den Spitzenkandidaten und ihren Parteien von 1989— 1990 (Mittelwerte: Alle Befragten, Skala + 5 bis — 5) Quelle: Politbarometer — monatliche Befragung von jeweils 1000 Personen, die repräsentativ für die wahlberechtigte Bevölkerung von Deutschland (West) sind; bis Mai 1990 ohne, seit Juni 1990 mit West-Berlin. Berechnung und Grafik: Forschungsgruppe Wahlen. Mannheim.
Abbildung 3: Zufriedenheit mit den Spitzenkandidaten und ihren Parteien von 1989— 1990 (Mittelwerte: Alle Befragten, Skala + 5 bis — 5) Quelle: Politbarometer — monatliche Befragung von jeweils 1000 Personen, die repräsentativ für die wahlberechtigte Bevölkerung von Deutschland (West) sind; bis Mai 1990 ohne, seit Juni 1990 mit West-Berlin. Berechnung und Grafik: Forschungsgruppe Wahlen. Mannheim.
Tabelle 3 enthält für Ostdeutschland die Ergebnisse der Bundestagswahl, der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 und der Landtagswahlen vom 14. Oktober 1990.
Abbildung 10
Tabelle 7: Gewünschter Bundeskanzler (Angaben in Prozent) Quelle: Für 1990 Blitzumfragen Bundestagswahl 1990 (Anm. 13 und 17). gesamtdeutscher Wert; für 1969 bis 1987 Forschungsgruppe Wahlen, Sieg ohne Glanz, in: M. Kaase/H. -D. Klingemann (Anm. 2), S. 720.
Tabelle 7: Gewünschter Bundeskanzler (Angaben in Prozent) Quelle: Für 1990 Blitzumfragen Bundestagswahl 1990 (Anm. 13 und 17). gesamtdeutscher Wert; für 1969 bis 1987 Forschungsgruppe Wahlen, Sieg ohne Glanz, in: M. Kaase/H. -D. Klingemann (Anm. 2), S. 720.
Im Ost-West-Vergleich fällt vor allem die Ähnlichkeit der Lagerstärken der Regierungsparteien auf. CDU und FDP erreichen im Osten gemeinsam 54, 7 Prozent, wobei das eine Prozent der DSU nicht berücksichtigt ist, im Westen kommen sie zusammen mit der CSU auf 54, 8 Prozent. Dieser Vergleich stößt allerdings aufgrund der Veränderungen und Entwicklungen im dortigen Parteiensystem schnell an seine Grenzen. Darüber hinaus gilt eine weitere Einschränkung für die Landtagswahlen. Diese Wahlen wurden zwar gemäß Bundeswahl-recht durchgeführt, doch wurde in Ost-Berlin da-B mals nicht gewählt; dort wurde das (Stadt-) Parlament schon bei den Kommunalwahlen am 6. Mai 1990 bestimmt
Abbildung 11
Tabelle 8: Wahlentscheidung und Kirchenbindung in Westdeutschland (in Prozent) Quelle: Nachwahlbefragungen vom November 1976, November 1980, März 1983 und Februar 1987; Dezember 1990 Politbarometerbefragung Forschungsgruppe Wahlen.
Tabelle 8: Wahlentscheidung und Kirchenbindung in Westdeutschland (in Prozent) Quelle: Nachwahlbefragungen vom November 1976, November 1980, März 1983 und Februar 1987; Dezember 1990 Politbarometerbefragung Forschungsgruppe Wahlen.
Trotz dieser Einschränkungen für einen Vergleich sind bei allen drei Wahlen durchgängige Trends zu erkennen. Die CDU ist aus allen Wahlen eindeutig als Mehrheitspartei hervorgegangen. Von der weitgehenden Auflösung der von der CSU gegründeten DSU und der Übernahme des Bauernverbandes (DBD) konnte sie allerdings nicht in vollem Umfang profitieren. Ganz offensichtlich hat die FDP, nachdem sich die liberalen Parteien des Ostens mit der FDP des Westens zusammengeschlossen hatten, über dieses Potential hinaus auch zunehmend andere bürgerliche Wähler erreicht. Die SPD, die bei der Volkskammerwahl im März völlig überraschend nur knapp über 20 Prozent erreicht hatte, blieb auch bei den beiden nachfolgenden Wahlen schwach. Als nachhaltig erwies sich der Eindruck, daß die SPD die deutsche Vereinigung nur halbherzig wolle, eine Position, die weder den Wünschen der Mehrheit der DDR-Bürger noch der der Bundesbürger im Westen entsprach. Ferner wurden die Chancen der SPD durch die trotz Verluste noch zweistelligen Ergebnisse der PDS und die im Verlauf der Zeit etwas gewachsene Unterstützung von GRÜNEN und Bündnis 90 beeinträchtigt. Im Vergleich zwischen der Volkskammer-und der Bundestagswahl hat insgesamt die Zustimmung zu SPD, B 90/GRÜNE und PDS weiter abgenommen, während die bürgerlichen Parteien ihre Stimmenanteile vor allem aufgrund des guten Abschneidens der FDP verbessern konnten.
II. Die Ergebnisse in den Bundesländern
Abbildung 2
Tabelle 2: Amtliche Bundestagswahlergebnisse 1949 bis 1990 (Parteianteile in Prozent der gültigen Zweit-stimmen)
Tabelle 2: Amtliche Bundestagswahlergebnisse 1949 bis 1990 (Parteianteile in Prozent der gültigen Zweit-stimmen)
In den Bundesländern verbinden sich die strukturellen Stärken und Schwächen der Parteien mit den jeweils regionalspezifischen politischen Entwicklungen und den bundespolitischen Trends. Wegen der von der Wahlforschung zweifelsfrei belegten zunehmenden Wechselbereitschaft der Wählerschaft können sich die Ergebnisse von Bundes-und von Landtagswahlen stärker — bis hin zum Austausch der Führungspositionen der beiden Volksparteien — unterscheiden, weil jeweils die bundes-oder die landespolitischen Gesichtspunkte den Ausschlag geben. Die Bundestagswahlergebnisse 1990 in den Bundesländern bestätigen diese Tendenzen.
Abbildung 12
Tabelle 9: Wahlentscheidung und Gewerkschaftsmitgliedschaft nach Berufsgruppen in Westdeutschland (in Prozent) Quelle: Vgl. Tabelle 8.
Tabelle 9: Wahlentscheidung und Gewerkschaftsmitgliedschaft nach Berufsgruppen in Westdeutschland (in Prozent) Quelle: Vgl. Tabelle 8.
In zwölf der 16 Bundesländer lagen CDU bzw. CSU vor der SPD (vgl. Tabelle 4); in Nordrhein-Westfalen blieb die CDU nur hauchdünn hinter der SPD zurück, obwohl die SPD bei der Landtagswahl sieben Monate zuvor einen Vorsprung von 13, 3 Prozentpunkten vor der CDU hatte. In Niedersachsen, wo der SPD im Mai zusammen mit den GRÜNEN die Ablösung der CDU/FDP-Landesregierung gelungen war, fiel die SPD bei der Bundestagswahl um sechs Prozentpunkte hinter die CDU zurück, obwohl sie bei der Landtagswahl im Mai 1990 noch zwei Prozentpunkte vor der Union gelegen hatte. Auch in Brandenburg, wo die SPD die CDU am 14. Oktober noch um fast neun Prozentpunkte distanziert hatte, erzielte die CDU bei der Bundestagswahl ein um mehr als drei Prozentpunkte besseres Ergebnis als die SPD. Am gravierendsten war der Unterschied in Schleswig-Holstein, wo die SPD bei der letzten Landtagswahl im Mai 1988 im Gefolge der Barschel-Affäre einen Vorsprung von 21, 5 Prozentpunkten vor der CDU aufwies und nun von ihr um fünf Prozentpunkte übertroffen wurde.
Abbildung 13
Tabelle 11: Wahlentscheidung der Arbeiter nach Konfession und Gewerkschaftsmitgliedschaft in Westdeutschland (in Prozent) Quelle: Vgl. Tabelle 8.
Tabelle 11: Wahlentscheidung der Arbeiter nach Konfession und Gewerkschaftsmitgliedschaft in Westdeutschland (in Prozent) Quelle: Vgl. Tabelle 8.
Betrachtet man in Tabelle 5 nur die Ergebnisse in den Bundesländern des westlichen Wahlgebiets (ohne Berlin), dann hat die CDU in den nördlichen Bundesländern bei meist schwacher Ausgangs-stärke Stimmen hinzugewonnen; eine Ausnahme bildet Hamburg. In Baden-Württemberg konnte sich die CDU nur knapp behaupten, in Bayern verlor die CSU Stimmen; in beiden Ländern schnitten die Republikaner überdurchschnittlich gut ab. Die SPD hat in den westlichen Bundesländern mit Ausnahme des Saarlands durchweg verloren. Ihr Bundestagswahlergebnis im Saarland weicht mit einer Zunahme von 6 Prozentpunkten auffällig von den übrigen Länderergebnissen ab, ein Resultat der großen Beliebtheit des SPD-Kanzlerkandidaten in seinem Bundesland. Trotz geringer Ausgangsstärke hat die CDU hier nochmals deutlich verloren, und auch die FDP hat im Saarland als einzigem Bundesland Stimmenanteile eingebüßt. Es fällt ferner auf, daß die GRÜNEN und die Republikaner nirgendwo schlechter abgeschnitten haben als im Saarland. In West-Berlin konnten sich die Wähler zum ersten Mal an einer Bundestagswahl beteiligen. Das Gesamt-Berliner Wahlergebnis wurde offensichtlich durch die kommunalpolitischen Vorgänge der letzten Monate beeinflußt 7). Im neuen Bundesland Berlin ist die Zustimmung zur CDU und zur FDP deutlich gestiegen, während SPD und GRÜNE viele Stimmen verloren haben. Daß die GRÜNEN aus dem Westen in Ost-Berlin und das B 90/GRÜNE in West-Berlin hinzugewonnen haben, ist nur auf den Umstand zurückzuführen, daß beide Parteien in beiden Teilen der Stadt gegeneinander kandidierten. Insofern stehen im Westen leichte Gewinne von B 90/GRÜNE deutlichen Verlusten bei den GRÜNEN und im Osten leichte Gewinne bei den GRÜNEN deutlichen Verlusten bei B 90/GRÜNEN gegenüber.
Abbildung 14
Tabelle 10: Wahlentscheidung und Konfession nach Berufsgruppen in Westdeutschland (in Prozent) Quelle: Vgl. Tabelle 8.
Tabelle 10: Wahlentscheidung und Konfession nach Berufsgruppen in Westdeutschland (in Prozent) Quelle: Vgl. Tabelle 8.
Bei den Wahlergebnissen in den östlichen Bundesländern fällt vor allem das gute Abschneiden der FDP in Sachsen-Anhalt und in Thüringen auf; in der Hauptstadt von Sachsen-Anhalt, in Halle, liegt der einzige Wahlkreis im ganzen Bundesgebiet, in dem ein Kandidat der FDP ein Direktmandat erringen konnte. Die hohen Verluste der CDU in Sachsen sind darauf zurückzuführen, daß die FDP in diesem Bundesland bei der Landtagswahl aufgrund von Problemen mit ihrem Spitzenkandidaten verhältnismäßig schwach abgeschnitten hatte, so daß die Gewinne der FDP, die größtenteils zu Lasten der CDU gingen, eine gewisse Normalisierung des damaligen Ergebnisses darstellen. In den östlichen Bundesländern hat die SPD im Vergleich zu den Landtagswahlen vom 14. Oktober durchweg Stimmenanteile verloren.
III. Die Wahlbeteiligung
Abbildung 3
Tabelle 3: Wahlergebnisse 1990 in Ostdeutschland (Parteianteile in Prozent der gültigen Stimmen)
Tabelle 3: Wahlergebnisse 1990 in Ostdeutschland (Parteianteile in Prozent der gültigen Stimmen)
In demokratischen Staaten kommt Wahlen die zentrale Funktion zu, politische Herrschaft auf Zeit zu legitimieren. Vor dem Hintergrund des epochalen Ereignisses der gerade vollzogenen deutschen Vereinigung war die geringe Beteiligung bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl eines der besonders überraschenden und deutungsbedürftigen Ergebnisse dieser Wahl. Mit 77, Prozent lag sie niedriger als jemals zuvor bei Bundestagswahlen in der bisherigen Bundesrepublik. Im Wahlgebiet West (ohne Berlin) fiel die Beteiligung mit 78, 5 Prozent genauso niedrig aus wie bei der ersten Bundestagswahl 1949 (vgl. Tabelle 2); im Wahlgebiet Ost lag sie mit 74, 7 Prozent fast 20 Prozentpunkte niedriger als bei der Volkskammerwahl, wenn auch um mehr als fünf Prozentpunkte höher als bei den Landtagswahlen (vgl. Tabelle 3).
Abbildung 15
Tabelle 12: Wahlentscheidung nach Konfession (in Prozent) und Differenzen zur Volkskammerwahl Quelle: Wahltagbefragungen der Forschungsgruppe Wahlen.
Tabelle 12: Wahlentscheidung nach Konfession (in Prozent) und Differenzen zur Volkskammerwahl Quelle: Wahltagbefragungen der Forschungsgruppe Wahlen.
Wenn es um mögliche Gründe für die in West wie in Ost niedrige Wahlbeteiligung geht, also um die Motive der Nichtwähler, dann tut sich die Wahlforschung recht schwer, weil die Beteiligung in den Umfragen vor und nach einer Wahl aufgrund der von vielen Befragten wahrgenommenen sozialen Wünschbarkeit dieses Verhaltens meist nicht korrekt gemessen werden kann. In einer wenige Tage vor der Bundestagswahl durchgeführten Umfrage gaben nur 11, 7 Prozent der im Westen befragten Wahlberechtigten an, nicht zu wissen, welcher Partei sie ihre Zweitstimme geben würden, bzw. überhaupt nicht wählen gehen zu wollen; im Osten betrug der entsprechende Wert 13, 3 Prozent. In der unmittelbar auf die Wahl folgenden Politbarometer-Untersuchung im Dezember sagten nur 10 Prozent der im Westen und 17 Prozent der im Osten Befragten, sie hätten an der Wahl nicht teilgenommen. Da also Umfrageergebnisse hier in der Regel nicht weiterhelfen, bleibt der Wahlforschung zumindest die Möglichkeit, auf der Grundlage der realen Wahlergebnisse die Strukturen der Wahlbeteiligung zu analysieren, um aus den Veränderungen von Wahlbeteiligung und Stimmenanteilen zugunsten oder zu Lasten einer Partei auf mögliche Gründe für die Nichtbeteiligung zu schließen 8). Die Ergebnisse in den verschiedenen Bundesländern (vgl. Tabellen 4 und 5) hatten bereits auf deutliche regionale Unterschiede hingewiesen, wobei insbesondere die Beispiele Saarland und West-Berlin Rückschlüsse auf die Gründe für die in diesen Bundesländern besonders hohe Beteiligung zulassen.
Abbildung 16
Tabelle 13: Wahlentscheidung nach Berufsgruppen 1) (in Prozent) und Differenzen zur Volkskammerwahl in Ostdeutschland Quelle: Wahltagbefragungen der Forschungsgruppe Wahlen.
Tabelle 13: Wahlentscheidung nach Berufsgruppen 1) (in Prozent) und Differenzen zur Volkskammerwahl in Ostdeutschland Quelle: Wahltagbefragungen der Forschungsgruppe Wahlen.
In dem Drittel der 256 Wahlkreise im westlichen Wahlgebiet (bisheriges Bundesgebiet einschließlich West-Berlin), in denen die Wahlbeteiligung am stärksten zurückgegangen ist (im Durchschnitt um 7, 4 Prozentpunkte), ist die Höhe der Wahlbeteiligung insgesamt deutlich niedriger als dort, wo die Wahlbeteiligung am wenigsten zurückgegangen ist oder sogar noch leicht zugenommen hat. Dieser Zusammenhang mag auf den ersten Blick trivial erscheinen, ist es aber keineswegs. In diesem Drittel der Wahlkreise weisen CDU/CSU und vor allem die SPD beachtliche Stimmenverluste auf; die Verluste der GRÜNEN sind hier unterdurchschnittlich, während die Gewinne der Republikaner überdurchschnittlich ausfallen. In dem Drittel der 256 Wahlkreise, in denen die Wahlbeteiligung am wenigsten zurückgegangen ist oder sogar leicht zugenommen hat, verzeichnet die CDU 9) deutliche Gewinne; die Verluste der GRÜNEN sind ver-gleichsweise höher und die Zugewinne der Republikaner sehr viel geringer. Daß beide großen Parteien unter mangelnder Mobilisierung leiden, während gleichzeitig die Republikaner besonders erfolgreich sind, legt mehrere und für die einzelnen Parteien unterschiedliche Deutungen nahe. Der Union hat geschadet, daß viele ihrer Anhänger die Wahl schon vor dem Wahltag für gewonnen hielten. Bei der SPD und vielleicht auch zum Teil bei den GRÜNEN mag Wahlenthaltung die Enttäuschung über die mit einiger Sicherheit zu erwartende Wahlniederlage zum Ausdruck gebracht haben. Zu diesem Bild paßt auch der Befund, daß die Republikaner bei starkem Beteiligungsrückgang relativ gute Ergebnisse erzielen. Das läßt auf ein mögliches Protestverhalten dieser Wähler schließen, das sich als Aktivierung ausdrückt und damit von einer anderen Art von Protestverhalten — Nichtwahl als Ergebnis einer mangelnden Motivation bei Anhängern von CDU/CSU und Enttäuschung bei Anhängern der SPD — unterschieden werden muß.
Abbildung 17
Tabelle 14: Wahlentscheidung zur Bundestagswahl nach Altersgruppen (in Prozent) und Differenzen zur Volkskammerwahl in Ostdeutschland Quelle: Wahltagbefragungen der Forschungsgruppe Wahlen. 40— 49 Jahre 50— 59 Jahre 60 und älter
Tabelle 14: Wahlentscheidung zur Bundestagswahl nach Altersgruppen (in Prozent) und Differenzen zur Volkskammerwahl in Ostdeutschland Quelle: Wahltagbefragungen der Forschungsgruppe Wahlen. 40— 49 Jahre 50— 59 Jahre 60 und älter
Auch für das östliche Wahlgebiet (fünf neue Bundesländer und Ost-Berlin) wurden die 72 dortigen Wahlkreise nach der Veränderung der Wahlbeteiligung, hier allerdings im Vergleich zu den Landtagswahlen, in drei Gruppen geringer, mittlerer und großer Beteiligungsveränderung (im konkreten Fall: Zunahme) zusammengefaßt. In der Gruppe der Wahlkreise mit der geringsten Zunahme der Wahlbeteiligung (im Durchschnitt 3, 3 Prozentpunkte) hat die CDU bei guter Ausgangslage deutliche Stimmeneinbußen zu verzeichnen, während sie bei stärkster Beteiligungszunahme (im Durchschnitt 7, 8 Prozentpunkte, bei allerdings geringer Ausgangsstärke) vergleichsweise große Gewinne verbucht. In diesen Wahlkreisen scheint sie wieder stärker auf ihr Wählerpotential bei der Volkskammerwahl zurückgegriffen zu haben. Im Gegensatz zur CDU verliert die SPD in dem Maße, wie die Beteiligung zunimmt. Da die Ausgangsstärke der SPD bei höchster Beteiligungszunahme allerdings auch sehr viel höher ist als bei niedrigster Zunahme, ist der relative Rückgang der SPD in beiden Fällen gleich groß. Die Gewinne der FDP nehmen mit steigender Wahlbeteiligungszunahme ab, während die Verluste von Bündnis 90/GRÜNE und der PDS bei hoher Beteiligungszunahme höher sind als bei niedriger. Die Republikaner, die ihre Stimmenanteile bei den Landtagswahlen nicht erreichen, verlieren bei geringer Beteiligungszunahme und guter Ausgangsstärke am meisten.
Weitere Aufschlüsse vor allem im Hinblick auf die Beteiligung der verschiedenen Alterskohorten liefern erste Ergebnisse aus der repräsentativen Wahl-statistik (vgl. Tabelle 6). Vergleicht man die Wahlbeteiligung in den verschiedenen Altersgruppen mit der Gesamtwahlbeteiligung, dann haben sich die Achtzehn-bis Vierzigjährigen unterdurchschnittlich häufig an der Wahl beteiligt, während die über Vierzigjährigen sich überdurchschnittlich engagierten. Allerdings zeigen sich hier im Vergleich zwischen Ost und West erhebliche Unterschiede. Im östlichen Wahlgebiet, also in den fünf neuen Bundesländern und in Ost-Berlin, weist die Altersgruppe bis 35 Jahre ein weitaus größeres Beteiligungsdefizit auf als die der Gleichaltrigen im westlichen Wahlgebiet. Da in diesen Altersgruppen im Osten die Unterstützung für die PDS bei der Volkskammerwahl im März und bei den Landtagswahlen im Oktober überdurchschnittlich hoch war erscheint ein Rückschluß auf ein altersspezifisches Legitimationsdefizit als durchaus gerechtfertigt. Die Unterscheidung zwischen Männern und Frauen zeigt, daß die Beteiligung unter den jüngsten Frauen in der Altersgruppe der Achtzehn-bis Einundzwanzigjährigen im Westen wie im Osten besonders niedrig war, vergröbert ausgedrückt kann man feststellen, daß sich im Osten nur jede zweite Frau im Alter von 18 bis 21 Jahren an der Bundestagswahl beteiligt hat. Für das westliche Wahlgebiet ist es darüber hinaus möglich, die Beteiligungsveränderung in den verschiedenen Altersgruppen im Vergleich zur Bundestagswahl 1987 festzustellen und auch hier nach Männern und Frauen zu unterscheiden. Dieser Vergleich läßt einerseits erkennen, daß die Wahlbeteiligung in allen Altersgruppen zurückgegangen ist. Andererseits liegt aber auch bei dieser Betrachtung der Schwerpunkt des Rückgangs bei der Altersgruppe bis 40 Jahre, wobei die Unterschiede zwischen Männern und Frauen nur gering sind. Es ist nicht auszuschließen, daß sich jüngere Altersgruppen zunehmend von der Institution der Wahl abwenden; das war schon 1987 zu beobachten.
Es ist sicherlich unbefriedigend, daß die Frage, was sich hinter dem deutlichen Rückgang der Wahlbeteiligung verbirgt, nicht differenzierter beantwortet werden kann. Der trotz aller Unterschiede ähnliche Befund einer geringeren Beteiligung bei den jüngeren Wählern in Ost wie in West könnte die Vermutung nahelegen, daß eine kritische Distanz zum System der Demokratie besteht; dies gilt vor allem für die ehemalige DDR. Allerdings gibt die in Umfragen regelmäßig bekundete Zufriedenheit mit der Demokratie, die verschiedentlich als Indikator für die Zustimmung zum politischen System der Bundesrepublik verwendet wird keinerlei Anlaß zur Annahme einer zunehmenden Distanz zum politischen System. Etwa zwei Wochen vor der Bundestagswahl haben in einer Politbarometer-Untersuchung im westlichen Bundesgebiet 77 Prozent aller Befragten erklärt, sie seien mit der Demokratie zufrieden. Das entspricht Befragungsergebnissen von 1987 und 1983 zum jeweiligen Zeitpunkt der damaligen Bundestagswahlen.
IV. Die Bundestagswahl 1990: Themen, Kandidaten und Sozialstruktur
Abbildung 4
Tabelle 4: Wahlergebnisse in den Bundesländern (Bundestagswahl 1990): Prozentanteile der gültigen Zweitstimmen
Tabelle 4: Wahlergebnisse in den Bundesländern (Bundestagswahl 1990): Prozentanteile der gültigen Zweitstimmen
Die Analyse von Bundestagswahlen muß sich jeweils mit zwei grundlegenden Fragen auseinander-setzen: Wie ist es um die seit vielen Jahren beobachtete Stabilität individueller Wahlentscheidungen bestellt, und welche Faktoren haben die bei einer Wahl eingetretenen Veränderungen des Wählerverhaltens bestimmt? Auch eine Analyse der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl muß sich mit diesen Fragen auseinandersetzen. Zusätzlich gilt es, das Wählerverhalten der Ostdeutschen auf vergleichbare Einflußgrößen zu untersuchen. 1. Die Themen 1989/90
Inwieweit haben die politischen Ereignisse in der Zeit vor der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl die grundsätzlichen parteipolitischen Präferenzen der Deutschen in Ost und West sowie das konkrete Wahlverhalten beeinflußt?
Für den gesamten Zeitraum von August 1989 bis zur Bundestagswahl hatte der Prozeß der staatlichen Selbstauflösung der DDR überragende Bedeutung für die Westdeutschen, wie die Befunde der regelmäßigen Befragungen der Forschungsgruppe Wahlen zu den wichtigsten Themen, Ereignissen und Problemen aus der Sicht der Bevölkerung zeigen (vgl. Abbildung 1).
Seit August/September 1989, als Urlauber aus der DDR massenhaft zunächst über Ungarn, dann über die Tschechoslowakei ihre Ausreise in den Westen durchsetzten, beherrschten diese Flüchtlinge die politische Agenda und nährten Spekulationen, wie lange sich Honecker bzw. das SED-Regime in der DDR noch halten würde.
Die Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 verwandelte das Thema der DDR-Flüchtlinge augenblicklich in das Thema der deutschen Vereinigung. Im Zehnpunkteprogramm des Bundeskanzlers, das er am 28. November 1989 vor dem Deutschen Bundestag präsentierte, wurde zum ersten Mal konkretisiert, wie die Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas vonstatten gehen könnte. Auch wenn sich die damals geäußerten Vorstellungen der allmählichen Entwicklung eines Staatenbundes zu einem Bundesstaat schon bald als von der Wirklichkeit überholt erwiesen, hatte der Bundeskanzler damit dennoch eine deutschlandpolitische Perspektive formuliert, welche die in der Bevölkerung vorhandenen Unsicherheiten zunehmend strukturierte. Glaubten im Oktober 1989 nur 28 Prozent an eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten in den „nächsten zehn Jahren“, so waren es im November nach dem Fall der Mauer 48 Prozent und im Januar 1990 dann 68 Prozent Der Prozeß der Vereinigung der beiden deutschen Staaten dominierte die politische Tagesordnung so eindeutig, daß Themen wie Umweltschutz und Arbeitslosigkeit, die jahrelang die Agenda angeführt hatten, viel von ihrer Bedeutung verloren; das seit Anfang 1989 als solches erkannte Problemfeld der in die Bundesrepublik kommenden Asylbewerber, Aus-und Übersiedler wurde sogar ganz an den Rand gedrängt. Erst der völkerrechtliche Vollzug der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 leitete schließlich einen signifikanten Bedeutungsrückgang des Themas ein.
Für das Gebiet der ehemaligen DDR liegen für den fraglichen Zeitraum vergleichbare systematische Erhebungen zu den wichtigsten Themen und Ereignissen nicht vor. Dennoch ist deutlich zu erkennen, daß nach der Einführung der Wirtschafts-, Währungs-und Sozialunion die Bedrohung durch Arbeitslosigkeit zunehmend als Problem empfunden wurde. Wenige Tage vor der Bundestagswahl nannten 68 Prozent der befragten Ostdeutschen Arbeitslosigkeit als eines der beiden gegenwärtig wichtigsten Probleme Deutschlands
An der großen Zustimmung zur deutschen Vereinigung bei West-und Ostdeutschen konnte es über den gesamten Zeitraum keine Zweifel geben. Vom Fall der Mauer bis zum Abschluß des Prozesses der Vereinigung waren die Zustimmungsraten im Westen wie im Osten überwältigend hoch. Im November 1989 hatten sich im Westen 70 Prozent für die Vereinigung ausgesprochen. Mitte August 1990, als die Forschungsgruppe Wahlen diese Frage zum letzten Mal stellte, votierten im Westen 85 Prozent dafür, 7 Prozent dagegen, weiteren 7 Prozent war das Thema gleichgültig. Bei dieser Grundtendenz war zwangsläufig die Zustimmung zur Wiedervereinigung auch in allen Parteilagern groß: Bei den Unionswählern hatten sich 91 Prozent für die Vereinigung ausgesprochen, von den SPD-und FDP-Wählern jeweils 85 Prozent und von den Anhängern der GRÜNEN 78 Prozent Im Osten war die Zustimmung zur Einheit noch eindeutiger ausgefallen. Die erste zuverlässige Erhebung in der damaligen DDR im März 1990, wenige Tage vor der Volkskammerwahl, hatte 91 Prozent Zustimmung zur Einheit erbracht; darunter waren auch knapp 80 Prozent der PDS-Wähler. Ende August lag die Zustimmung zur Vereinigung im Osten mit insgesamt 95 Prozent noch etwas höher 2. Die Parteien, die Kandidaten und das Thema der Wahl Der Wechsel zwischen Wahl und Nichtwahl wie auch der Wechsel in der Wahlentscheidung zwischen Parteien wird in der Wahlforschung überwiegend den Wahrnehmungen des allgemeinen Erscheinungsbildes der Parteien, den Spitzenkandidaten und den politischen Streitfragen der Zeit zugerechnet Entscheidend für das letztliche Votum für eine Partei ist dabei, wie diese Faktoren Zusammenwirken: Wie geht eine Partei mit ihrem Spitzen-kandidaten, wie dieser mit seiner Partei um; wie überzeugend repräsentieren Parteien und Spitzen-kandidaten ihre Positionen zu den wichtigsten Streitfragen der Zeit? Zu diesen klassischen Einflußgrößen treten in Deutschland seit langem als vierter, weitgehend unabhängiger Faktor die Koalitionsvorstellungen der Wähler hinzu, denn Bundestagswahlergebnisse haben in der Bundesrepublik mit der einzigen Ausnahme der Bundestagswahl von 1957 stets zu Wahlergebnissen geführt, die Koalitionsregierungen notwendig machten. Daraus hat sich die Erwartungshaltung der Wähler entwikkelt und verfestigt, daß Parteien vor der Wahl bereits klare Aussagen zu ihren Koalitionspräferenzen abgeben. Viele deutsche Wähler haben Koahtionsregierungen in der Zwischenzeit so weitgehend als wünschenswert, ja geradezu als notwendig verinnerlicht, daß sie selbst eine absolute Mehrheit ihrer eigenen Partei zugunsten einer Koalition ablehnen. So äußerten wenige Tage vor der Bundestagswahl 58 Prozent derjenigen, welche die CDU oder CSU wählen wollten, eine Ablehnung gegenüber der absoluten Mehrheit der Unionsparteien, eine Meinung, die von 67 Prozent aller Wahlberechtigten im Westen Deutschlands geteilt wurde
Bei der Erklärung des Ergebnisses der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl kann es an der überragenden Rolle der deutschen Vereinigung nicht den geringsten Zweifel geben. Wie die Politiker und Parteien in der bisherigen Bundesrepublik mit der unerwarteten Herausforderung der Vereinigungschance umgingen, hat das politische Klima Deutschlands 1990 nachhaltig geprägt und schon frühzeitig die Weichen zum Wahlsieg der Koalitionsparteien gestellt. Entscheidend war dabei, daß der Kanzlerkandidat der SPD, Oskar Lafontaine, die allgemeine Zustimmung zur Wiedervereinigung ignorierte, das nach seiner Meinung von der Bundesregierung vorgegebene zu hohe Tempo des Vereinigungsprozesses kritisierte und darüber eine Polarisierung zwischen Regierung und Opposition herbeiführte Bis zum Mai 1990 schien sich diese Politik sogar auszuzahlen. Am 13. Mai ging die SPD aus den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und in Niedersachsen als Siegerin hervor, wobei ihr in Niedersachsen gemeinsam mit den GRÜNEN die Ablösung der bisherigen CDU/FDP-Regierung gelang. Das gute Abschneiden der SPD wurde dabei von vielen Sozialdemokraten als Plebiszit gegen die Bonner Vereinigungspolitik ausgelegt, ohne daß es dafür allerdings überzeugende Belege gegeben hätte Die zu dieser Zeit durchgeführten Umfragen bestätigten eine für die Sozialdemokraten günstige Stimmung (vgl. Abbildung 2) in Form von Jahreshöchstwerten bei der Parteisympathie und einer großen Beliebtheit von Oskar Lafontaine (vgl. Abbildung 3). So stimmten 42 Prozent der Befragten der Vereinigungspolitik von Oskar Lafontaine zu, nur 29 Prozent der von Helmut Kohl. Die Gründe für dieses für die SPD und Oskar Lafontaine günstige Meinungsklima waren vielfältig; einen Einfluß darauf hatte zweifelsohne das Mitleid mit dem durch ein Attentat (25. April 1990) schwer verletzten SPD-Spitzenkandidaten, also ein im Kern unpolitischer Sachverhalt.
Im Mai war allerdings der Höhepunkt der Wahl-chancen der SPD erreicht; die Uneinigkeit der SPD in sich und mit ihrem Spitzenkandidaten über den ersten Staatsvertrag mit der DDR ließ das Pendel der öffentlichen Meinung erstmals zugunsten des amtierenden Bundeskanzlers und der Regierungsparteien zurückschwingen. Der Versuch der SPD, über Nachbesserungen zum Staatsvertrag das politische Einlenken der Sozialdemokraten in Bundesrat und Bundestag zu begründen, war in den Augen der Bevölkerung offensichtlich fehlgeschlagen. Ab Juni standen mehr Westdeutsche (39 Prozent) hinter der Vereinigungspolitik von Kohl als hinter der von Lafontaine (35 Prozent). In der Folgezeit stieg diese Zustimmung bis auf ein Verhältnis von 43: 27 zugunsten von Kohl im September kurz vor dem Vollzug der Vereinigung und betrug wenige Tage vor der Bundestagswahl schließlich 46: 25, wobei weitere 25 Prozent der Befragten keinen Unterschied in der Vereinigungspolitik beider Kandidaten erkennen konnten. Während sich Kohl im November auf 81 Prozent Zustimmung zu seiner Vereinigungspolitik aus den Reihen der CDU/CSU stützen konnte, stimmte — ein Ausdruck der inneren Zerrissenheit der SPD in dieser Frage — nur jeder zweite SPD-Anhänger mit Lafontaines Vereinigungspolitik überein. In der DDR hatten sich Ende August 40 Prozent der Ostdeutschen für die Vereinigungspolitik von Helmut Kohl ausgesprochen, 31 Prozent für die von Oskar Lafontaine
Parallel zu dieser Entwicklung veränderte sich die Zustimmung zu Kohl und zu Lafontaine als möglichen Bundeskanzler. Im Mai 1990 hatten sich in Westdeutschland 39 Prozent aller Befragten für Helmut Kohl, 50 Prozent aber für Oskar Lafontaine ausgesprochen. Im August bevorzugten in West wie in Ost 50 Prozent Helmut Kohl, während sich 42 Prozent der im Westen Befragten (41 Prozent im Osten) Oskar Lafontaine als Kanzler wünschten. Wenige Tage vor der Bundestagswahl schließlich lautete im Westen das Verhältnis 56: 37 und im Osten 57: 40 zugunsten von Kohl. Damit kam Helmut Kohl auf die höchste Zustimmung, die ein Kanzlerkandidat der Union seit 1969 erhielt, während Lafontaine immerhin noch etwas mehr Zustimmung fand als Hans-Jochen Vogel 1983 (vgl. Tabelle 7).
Der große Vorsprung Kohls vor Lafontaine kurz vor der Wahl zeigt deutlich, daß der von Lafontaine erhoffte Themenwechsel nach dem völkerrechtlichen Vollzug der Einheit nicht eingetreten war. Zwar war es der SPD und Lafontaine gelungen, die Finanzierung der deutschen Einheit und damit auch das Thema eventuell notwendig werdender Steuererhöhungen auf die Agenda zu bringen, Auswirkungen auf das Wahlergebnis der SPD hatte diese Kontroverse jedoch nicht. Im November 1990, zwei Wochen vor der Wahl, war die überwiegende Mehrheit der Wähler im Westen (66 Prozent) der Auffassung, daß man, um die deutsche Einheit zu finanzieren, ohne Steuererhöhungen nicht auskommen könne; gleichzeitig sprachen sich 53 Prozent aller Befragten gegen Steuererhöhungen aus. Innerhalb der verschiedenen Parteilager ergab sich dabei die groteske Situation, daß die Mehrheit der Unionsanhänger (53 Prozent) mit einer von der Bonner Regierung abgelehnten Steuererhöhung einverstanden gewesen wäre, während die Mehrheit der SPD-Anhänger (61 Prozent) gegen die von ihrer Partei geforderte Steuererhöhung votierte.
Entscheidender war hingegen, daß bei aller Skepsis über die künftige wirtschaftliche Entwicklung die Wähler im Westen wie im Osten, wenn es um die Bewältigung der Wirtschaftslage ging, der Bonner Koalition wesentlich mehr zutrauten als der SPD. Zwei Wochen vor der Wahl gaben jeweils 60 Prozent der Befragten im Osten wie im Westen an, eine CDU/CSU/FDP-Bundesregierung könne nach ihrer Meinung am besten dafür sorgen, daß „unsere allgemeine wirtschaftliche Lage gut ist“, während nur 22 Prozent eine SPD-geführte Regierung nannten. Innerhalb der SPD-Wählerschaft glaubten nur 49 Prozent im Weste Prozent eine SPD-geführte Regierung nannten. Innerhalb der SPD-Wählerschaft glaubten nur 49 Prozent im Westen und 41 Prozent im Osten an die Kompetenz einer von den Sozialdemokraten geführten Bundesregierung in wirtschaftlichen Fragen. Im Westen waren darüber hinaus 57 Prozent aller Befragten davon überzeugt, eine von der Union geführte Regierung sei auch am besten geeignet, dafür zu sorgen, daß sich durch die Vereinigung die Lebensbedingungen in Westdeutschland nicht verschlechterten 21).
Die Frage möglicher Koalitionen spielte bei dieser Wahl keine herausgehobene Rolle. Anders als im Wahlkampf 1986/87, als Johannes Rau den Eindruck zu vermeiden suchte, er strebe eine rot-grüne Koalition an und deswegen von der „eigenen Mehrheit“ sprach, stand vor der Bundestagswahl 1990 außer Frage, daß nur eine Koalition aus SPD und GRÜNEN die Alternative zur regierenden Koalition sein könnte 22). Den Anspruch auf eine eigene absolute Mehrheit hatten weder Lafontaine noch die SPD erhoben. Darüber hinaus stand für fast alle Wähler schon lange vor der Wahl fest, daß die Parteien der Bundesregierung die Wahl gewinnen würden Entsprechend war der Anreiz für koalitionstaktisches Wählen gering. Wenige Tage vor der Wahl äußerten außerdem 41 Prozent der im Westen Befragten, sie hätten am liebsten eine CDU/CSU/FDP-Koalition, jeweils 15 Prozent waren für eine große Koalition bzw. eine Koalition aus SPD und FDP, während 14 Prozent sich für eine Koalition unter Beteiligung von SPD und GRÜNEN aussprachen.
Die Unterthematisierung der Koalitionsfrage bei dieser Wahl dürfte im übrigen mit dazu beigetragen haben, daß die westdeutschen GRÜNEN den Einzug in den Bundestag knapp verpaßt haben; sie konnten dieses Mal kaum Anhänger der SPD gewinnen, die im Interesse einer rot-grünen Mehrheit ihre Stimme den GRÜNEN überließen. Hinzu kommt allerdings, daß die GRÜNEN in keiner Weise auf das Ereignis der deutschen Vereinigung vorbereitet waren. 3. Sozialstrukturelle Determinanten der Wahlentscheidung Aufgrund der Analysen des Wählerverhaltens bei Bundestagswahlen ist bekannt, daß unter längsschnittlicher Betrachtung die Wahlentscheidungen für die SPD wie für die Unionsparteien in bestimmten sozialstrukturellen Gruppen recht stabil ausfallen Die Gründe hierfür werden auf um die Jahrhundertwende entstandene Koalitionen zwischen politisch mobilisierten sozialen Gruppierungen und politischen Parteien zurückgeführt Auf diesem Hintergrund können die Unionsparteien (in der Nachfolge der Zentrumspartei) vor allem als Vertreter des religiösen Traditionalismus gelten, während die SPD in erster Linie die Interessen der unteren und mittleren Arbeitnehmerschichten vertritt. Als Folge des sozialen Wandels und der damit verbundenen gesellschaftlichen Modernisierung verändern sich die Größenordnungen der sozialstrukturellen Gruppen. Gleichzeitig findet eine allmähliche und kontinuierliche Entkopplung langfristiger Parteiloyalitäten solcher Gruppierungen statt. Beide Prozesse vergrößern die Möglichkeit kurzfristiger Wählerreaktionen auf politische Ereignisse und Stimmungen
Um festzustellen, ob sich die bisher beobachteten Prozesse fortgesetzt haben, wurden die Zeitreihen der Forschungsgruppe Wahlen zu den Wahlent
Scheidungen der theoretisch relevanten Gruppierungen für die Bundestagswahl 1990 fortgeschrieben. Bei den das westliche Wahlgebiet Deutschlands betreffenden Tabellen handelt es sich ausnahmslos um Befragungen jeweils kurz nach den Bundestagswahlterminen. Die Wahlentscheidung wurde dabei über eine Rückerinnerungsfrage erfaßt
Aufgrund der Volkszählung von 1987 ist bekannt, daß der Anteil der Katholiken in Westdeutschland (43, 7 Prozent) in etwa so groß ist wie der der Protestanten (44, 3 Prozent); ca. 10 Prozent sind ohne Konfession Unter den stark kirchengebundenen Katholiken liegt das Ergebnis der CDU/CSU mit 75 Prozent im Bereich bisheriger Ergebnisse, während in dieser Gruppierung im Vergleich zu den Wahlen seit 1976 die FDP überdurchschnittlich und die SPD unterdurchschnittlich abschneidet. Unter den nicht-kirchengebundenen Katholiken haben sich bei weitgehender Lagerkonstanz (CDU/CSUFDP und SPD-GRÜNE) im bürgerlichen Lager die Gewichte etwas zugunsten der FDP und im linken Lager zugunsten der SPD verschoben (vgl. Tabelle 8). In der sehr kleinen Gruppe der kirchengebundenen Nichtkatholiken wie auch unter den mäßig gebundenen Nichtkatholiken haben die bürgerlichen Parteien deutlich zugelegt und die SPD kräftig verloren. Unter den nichtkatholischen Wählern haben sich die GRÜNEN besser gehalten als unter den Katholiken.
Sowohl bei den Gewerkschaftsmitgliedern als auch bei den Nichtmitgliedern liegen die Ergebnisse für CDU/CSU und FDP durchaus im Rahmen bisheriger Bundestagswahlergebnisse (vgl. Tabelle 9); lediglich die SPD hat an Unterstützung eingebüßt. Betrachtet man die Arbeiter sowie die Angestellten und Beamten unter dem Gesichtspunkt der Mitgliedschaft bzw. Nichtmitgliedschaft in einer Gewerkschaft oder berufsständischen Organisation, dann zeigen sich vor allem in der Arbeiterschaft starke Veränderungen. Bei den organisierten Arbeitern haben SPD und GRÜNE deutlich verloren, während sich CDU/CSU und FDP ebenso deutlich verbessern. Bei den nichtorganisierten Arbeitern liegen die Unionsparteien ähnlich wie 1983 und 1976 vor der SPD. Bei den organisierten Angestellten hingegen hat die SPD keineswegs so stark verloren wie unter den organisierten Arbeitern. Bei organisierten wie nichtorganisierten Angestellten haben sich innerhalb des bürgerlichen Lagers die Gewichte zugunsten der FDP verschoben.
Betrachtet man die Berufsgruppen in einer Untergliederung nach Katholiken und Nichtkatholiken (vgl. Tabelle 10), so zeigen sich in der Arbeiterschaft wiederum vergleichsweise starke Veränderungen zu Lasten der SPD, wobei der Rückgang der SPD unter den katholischen Arbeitern besonders kräftig ausfällt. Unter den Angestellten und Beamten, und zwar sowohl unter katholischen wie nicht-katholischen, kann sich die SPD dagegen halten. Im bürgerlichen Lager ist dabei wiederum die Gewichtsverlagerung zugunsten der FDP deutlich erkennbar. Unter den Selbständigen kann sich die SPD offensichtlich zu Lasten der GRÜNEN deutlich verstärken, während ihre Position bei guter Behauptung der GRÜNEN unter den nichtkatholischen Selbständigen unverändert bleibt. Für das bürgerliche Lager gibt es unter den Selbständigen kaum Veränderungen.
Die theoretisch interessantesten Gruppierungen sind die organisierten und nichtorganisierten Arbeiter in der Aufgliederung nach Konfession (vgl. Tabelle 11), weil sich hier die verschiedenen sozialen Einflußkreise zugunsten der SPD und zugunsten der Unionsparteien überschneiden. Auch hier bestätigt sich, daß die SPD — gleichgültig, ob man die organisierten und nichtorganisierten Arbeiter nach Religion unterscheidet oder nicht — jeweils Stimmenanteile verliert, wobei unter den organisierten Arbeitern auch die GRÜNEN zurückgehen. Das bürgerliche Lager (CDU/CSU und FDP) vergrößert seine Anteile durchweg in allen Untergliederungen, wobei im Falle der katholischen, organisierten Arbeiter die Verbesserung ausschließlich zugunsten der FDP geht. Die Homogenität des Rückgangs der SPD in den untersuchten Gruppierungen legt die Schlußfolgerung nahe, daß die dominanten Themen der Wahl die Wählerschaft sehr gleichförmig erfaßt haben. Insgesamt bestätigen sich frühere Befunde, daß die Arbeiterschaft in ihrer Wahlentscheidung sehr stark von politischen Rahmenbedingungen beeinflußt wird, also keinesfalls als sicheres Stimmenpotential der SPD betrachtet werden kann. Daß dieses Potential bei dieser Wahl nicht annähernd ausgeschöpft werden konnte, lag sicherlich auch daran, daß die SPD mit Oskar Lafontaine einen Kanzlerkandidaten gewählt hatte, der nicht Repräsentant der „klassischen“ Arbeiterpartei SPD, sondern eher der „Neuen Linken“ in der SPD ist.
Im Hinblick auf das Wählerverhalten im Osten Deutschlands lassen sich die für Westdeutschland entwickelten sozialstrukturellen Erklärungsansätze aufgrund der langen Periode totalitärer politischer Herrschaft nicht ohne weiteres übertragen. Dennoch ist es von Interesse, zu beobachten, wie sich das Wählerverhalten in den sozialen Gruppierungen entwickelt, die in westdeutscher Theorieperspektive besondere Aufmerksamkeit finden. Um die Stabilität von eventuell sichtbar gewordenen Strukturen zu überprüfen, bietet sich ein Vergleich des Wählerverhaltens bei der Bundestagswahl 1990 und der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 an. Die Wahltagbefragungen der Forschungsgruppe Wahlen eignen sich besonders für diesen Vergleich, weil sie wegen der hohen Befragtenzahlen sehr zuverlässige und auch tiefgegliederte Ergebnisse liefern. Bei der Volkskammerwahl hatten knapp 11 000 Befragte beim Verlassen der Wahllokale verwertbare Angaben über ihre Wahlentscheidung sowie über die Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Gruppierungen gemacht. Anläßlich der Bundestagswahl wurden im östlichen Wahlgebiet über 8 000 Wählerinnen und Wähler in derselben Weise befragt.
Die atheistische Grundorientierung des SED-Regimes hatte dazu geführt, daß der größte Teil der Bewohner der ehemaligen DDR keine Konfessionsangehörigkeit mehr aufweist (ca. 55 Prozent). Von den verbleibenden 45 Prozent der Bevölkerung sind ca. 40 Prozent evangelisch und ca. 6 Prozent katholisch. Aufgrund der entschiedenen Ablehnung religiöser Inhalte durch das bisherige Regime kann bereits die Zugehörigkeit zu einer Kirche in der ehemaligen DDR als bedeutsame individuelle Entscheidung gelten, die eine religiöse Orientierung ausdrückt
Bei der Analyse der Volkskammerwahl hatte sich ergeben, daß sich religiös Orientierte in erster Linie für die CDU entscheiden, diese aber unter den Religionslosen ebenfalls eine (wenn auch knappe) Mehrheit besitzt. Dieser Befund hat sich auch für die Bundestagswahl bestätigt (vgl. Tabelle 12). In allen drei Gruppen verzeichnet die FDP starke Gewinne, während die SPD ihre Position vor allem unter Befragten ohne Religionszugehörigkeit verbessert. Die PDS kann sich praktisch nur auf Wähler ohne Religionszugehörigkeit stützen.
Der Vergleich der Wahlentscheidungen in den verschiedenen Berufsgruppen wird insbesondere unter den Angestellten durch den Umstand erschwert, daß anläßlich der Volkskammerwahl gemäß den in der DDR noch gültigen Berufskategorien gefragt wurde, die heute keine Bedeutung mehr haben. Über die starken Verluste der PDS unter den Arbeitern und den Angestellten sowie die erheblichen Gewinne der FDP in allen Gruppierungen hinaus ergeben sich keine Auffälligkeiten (vgl. Tabelle 13). Die stärksten Veränderungen gibt es unter denjenigen, die sich in der Ausbildung befinden, wobei hier besonders starken Verlusten der CDU besonders große Gewinne des Bündnis 90/GRÜNE gegenüberstehen. Als markantestes Ergebnis dieses Teils der Analyse bleibt festzuhalten, daß die CDU nach wie vor bei den Arbeitern — anders als in Westdeutschland — die mit Abstand stärkste Partei ist. Bei zukünftigen Wahlen wird von besonderem Interesse sein, inwieweit sich die Bindung zwischen der Arbeiterschaft und der CDU, die gleichsam gegen die klassische Theorie der Trennungslinien läuft, lockert und möglicher-weise — nicht zuletzt nach der Etablierung eines funktionsfähigen Gewerkschaftssystems — durch eine neue Bindung an die SPD ersetzt wird.
Vergleicht man die Wahlentscheidungen zur Bundestags-und zur Volkskammerwahl nach Altersgruppen (vgl. Tabelle 14), so zeigt sich insbesondere bei der CDU eine deutliche Akzentuierung der Unterschiede zwischen dem Verhalten der jüngeren und dem der älteren Wähler. Während bei der Volkskammerwahl die Unterschiede noch relativ gering waren, schneidet die CDU nun bei den ältesten Wählern um zwölf Prozentpunkte besser ab als in der jüngsten Altersgruppe. Im Gegensatz dazu kann sich die SPD vor allem unter den Wählern der Altersgruppe bis 49 Jahre verbessern. Die FDP hat durchweg hohe Zugewinne, die ihr insbesondere in der Altersgruppe der Vierzig-bis Neunundvierzigjährigen zu einem auffällig guten Ergebnis verhelfen. Bündnis 90 und GRÜNE können ihre Anteile bei den jungen Wählern verstärken, während die PDS aufgrund der starken Verluste unter den jüngeren Wählern nun eine weitgehend gleichmäßige Altersstruktur aufweist.
Insgesamt zeigen sich bezüglich des Wahlverhaltens der sozialen Gruppierungen im Osten Deutschlands leichte Tendenzen der Angleichung an das Wahl-verhalten dieser Gruppen in Westdeutschland. Es ist jedoch sicherlich zu früh, daraus bereits Schlüsse auf eine immanente Automatik einer solchen Angleichung zu ziehen.
V. Ausblick
Abbildung 5
Tabelle 5: Wahlergebnisse in den Bundesländern (Bundestagswahl 1990): Differenzen zur Vorwahl 1) in Prozentpunkten
Tabelle 5: Wahlergebnisse in den Bundesländern (Bundestagswahl 1990): Differenzen zur Vorwahl 1) in Prozentpunkten
Die Bundestagswahl 1990 ist von einer Vielzahl von wissenschaftlichen Untersuchungen begleitet worden. Diese werden die Feinanalysen ermöglichen, die in diesem Überblicksbeitrag noch nicht enthalten sein können. Hier konnte es nur darum gehen, die Konturen herauszuarbeiten, in die das Wahlergebnis einzuordnen ist.
Angesichts der extremen Politisierung der öffentlichen Meinung in Deutschland seit dem Herbst 1989 durch die Vereinigungsdiskussion und des überragenden nationalen und internationalen Stellenwerts des Themas der deutschen Vereinigung hätte man erwarten können, daß deren Vollzug in der kurz darauf folgenden Bundestagswahl noch einmal ein überzeugendes Votum in Form einer hohen Beteiligung an der Wahl erfahren würde. Dies ist jedoch nicht geschehen.
Da an der umfassenden Legitimation für die Vereinigung kein Zweifel besteht, kann vermutet werden, daß die lang andauernde Aktivierung des politischen Systems die Bürger in gewisser Weise politisch überfordert hat. So wäre die geringe Wahlbeteiligung als ein Ausdruck des Wunsches zu deuten, sich endlich wieder den anderen, „normalen“ Dingen des Lebens zuwenden zu können, von denen man weiß, daß sie den Bürgern wichtiger sind als Politik: Beruf, Familie und Freizeit. Eine andere Interpretation, die stärker die schon 1987 sehr niedrige Wahlbeteiligung berücksichtigt, würde unter übergreifender partizipationstheoretischer Perspektive auf den gesicherten Forschungsbefund verweisen, daß im politischen Repertoire der Bürger zunehmend andere Beteiligungsformen als das Wählen an Bedeutung gewinnen, und zwar vor allem bei Jüngeren und formal Hochgebildeten. Vor diesem Hintergrund wäre der Rückgang der Wahlbeteiligung ein säkularer Trend, der — in Überein-stimmung mit den in diesem Aufsatz präsentierten Daten — in erster ergreift, Linie jüngere Menschen die nicht mehr die persönliche Beziehung zu der Zeit direkt nach dem Zweiten Weltkrieg besitzen, als Wählen als zentrale Ausdrucksmöglichkeit demokratischer Gesinnung galt.
In Ostdeutschland mag darüber hinaus eine Rolle gespielt haben, daß im Dezember die Euphorie der Vereinigung einer gewissen Ernüchterung gewichen war, weil die Menschen die immensen, vor allem wirtschaftlichen Probleme zu realisieren begannen, die sich für sie aus der Vereinigung unzweifelhaft — neben den Chancen — ergeben.
Die zweite große Überraschung dieser Bundestagswahl ist sicherlich das schlechte Abschneiden der westdeutschen GRÜNEN. Die feste ideologische und wertmäßige Verankerung ihrer Wählerschaft im links-post-materialistischen Spektrum hätte an sich nahegelegt, daß die GRÜNEN trotz schlechter politischer Rahmenbedingungen — die „falschen“ Themen, die inneren Flügelkämpfe, die fortdauernde Ambivalenz gegenüber einem vorbehaltlosen Engagement in der demokratischen Tagespolitik — eine sichere Repräsentation im Bundestag erreichen würden. Bedenkt man, daß durchaus auch Teile der Anhängerschaft der GRÜNEN eine Ambivalenz zum System der parlamentarischen Demokratie aufweisen, dann ist zu vermuten, daß es den GRÜNEN nicht gelungen ist, ihre Anhängerschaft für diese besondere Wahl voll zu mobilisieren. In struktureller Perspektive allerdings gibt es wenig Grund zu der Annahme, daß mit dem Ausscheiden der westdeutschen GRÜNEN aus dem Bundestag bereits der Anfang vom Ende dieser Partei begonnen habe. Mit Interesse wird zu verfolgen sein, ob sich in der Normalität der politischen Tagesarbeit nicht auch eine nach ihrem Selbstverständnis basis-demokratische Partei auf lange Sicht entscheiden muß, ob sie sich der inneren Logik des politischen Prozesses in demokratischen Flächenstaaten stärker unterwirft als bisher.
Die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl markiert in vielerlei Hinsicht eine Zäsur von Politik und Gesellschaft in Deutschland. Die Ähnlichkeit bis Identität des Parteiensystems, der Wahlverfahren und der politischen Agenda konnte die notwendigerweise fortbestehenden tiefgreifenden Unterschiede zwischen den beiden Teilen Deutschlands nur für kurze Zeit überlagern. Sie treten schon jetzt wieder in voller Schärfe hervor und werden die deutsche Politik für die nächsten Jahre bestimmen.
Wolfgang G. Gibowski, Dipl. -Volksw., geb. 1942; Mitglied des Vorstands der Forschungsgruppe Wahlen e. V., Mannheim; Lehrbeauftragter an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Mannheim. Zahlreiche Veröffentlichungen zu den Themenbereichen Wahlsoziologie, Massenkommunikation und Methoden der empirischen Sozialforschung. I Max Kaase, Dr. rer. pol., geb. 1935; o. Professor für Politische Wissenschaft und International Vergleichende Sozialforschung an der Universität Mannheim; von 1974 bis 1980 Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA) in Mannheim. Zahlreiche Veröffentlichungen zu den Themenbereichen Wahlsoziologie, politische Partizipation, Demokratietheorie, vergleichende Regierungslehre (im Sinne der comparative politics), Massenkommunikation und Methoden der empirischen Sozialforschung.