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Zur politischen Akkulturation der vereinten Deutschen. Eine Analyse aus Anlaß der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl | APuZ 11-12/1991 | bpb.de

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APuZ 11-12/1991 Auf dem Weg zum politischen Alltag. Eine Analyse der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl vom 2. Dezember 1990 Zur politischen Akkulturation der vereinten Deutschen. Eine Analyse aus Anlaß der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl Eine in die unmittelbare Vergangenheit gerichtete Prognose Konsequenzen einer bundesweiten Kandidatur der CSU bei Wahlen Die Parteitage der GRÜNEN

Zur politischen Akkulturation der vereinten Deutschen. Eine Analyse aus Anlaß der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl

Ursula Feist

/ 20 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Mit der deutschen Einheit wurden zwei Gesellschaften aneinandergekoppelt, die sich 40 Jahre lang antagonistisch zueinander entwickelt haben. Die Übernahme des Grundgesetzes und freier Parteienwettbewerb nach westdeutschem Muster bedeuten aber noch lange keine politische Akkulturation. Untersucht wird, was die Deutschen in ihren Wertvorstellungen und in ihrem Vertrauen in politische Institutionen und in ihren Einstellungen zur politischen Partizipation unterscheidet, aber auch, worin sie ähnlich sind. Mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten stehen am Anfang der politischen Akkulturation der Deutschen. Im Osten mischen sich neue Leitvorstellungen noch stärker mit alten, als es im Westen der Fall ist. Klar abgegrenzte Wertmuster dominieren in der früheren Bundesrepublik, wo materielle und postmaterielle Werte mit dem Leistungsdenken konkurrieren. In der alten DDR herrschen pragmatischere, z. T. widersprüchliche Leitbilder vor; aber auch traditionelle Denkmuster sind anzutreffen, die als ökonomisch, autoritär und apolitisch zu bezeichnen sind. Ein neueres Politikverständnis stößt so auf ein Bewußtsein, das sich in alten Bahnen von Wachstum und Sicherheit bewegt. Das Vertrauen der Westdeutschen in die Institutionen von Staat und Gesellschaft ist weitaus intensiver als das der Ostdeutschen, die damit vermutlich krisenanfälliger sind. Im Osten trennt man auch nicht so scharf bestimmte Demokratiekonzepte voneinander; insbesondere das alte Führungsprinzip wird noch mit der Vorstellung von Interessendelegation verbunden. In der Existenz einer basisdemokratischen Bewegung, die hüben wie drüben als Agent der Demokratisierung auftritt, stimmen jedoch die beiden politischen Kulturen überein.

I. Die polarisierten Deutschen

Abbildung 1: Wertorientierungen

Vereint — und doch gespalten. So lautet weithin die Diagnose über die vereinten Deutschen nach 40 Jahren Teilung und Zweistaatlichkeit. Trennünien und Brüche durchziehen alle Ebenen des ungewohnten Zusammenlebens: von der Wirtschaft und dem Arbeitsmarkt bis zur Umwelt, von der sozialen Sicherung bis zum Gesundheitswesen, von der Wohn-und Lebensqualität in den Städten bis zur Finanzausstattung von Kommunen und Ländern, vom sozialen Klima bis zum Konsumstil, von der Selbstbestimmung in eigenen kulturellen Institutionen bis zum Selbstbewußtsein als Mitglieder einer Leistungsgesellschaft. In 40 Jahren Trennung war das Gefühl von deutscher Zusammengehörigkeit nicht verschwunden, wie Umfragen im Westen immer wieder belegt hatten. Es war wohl auch im Osten lebendig geblieben. Denn als sich in den Revolutionstagen vom Herbst 1989 die Parole „Wir sind das Volk“ in „Wir sind ein Volk“ wandelte, war es stark genug, die „Wende in der Wende“ zu erzwingen.

Trennung über die Dauer von zwei Generationen, politische Sozialisierung in konträren politischen Systemen, berufliche Anpassung und Eingliederung in unterschiedliche Wirtschaftssysteme, Teilhabe an politischer Entscheidung auf der einen, politische Bevormundung, ja Unterdrückung auf der anderen Seite haben allerdings zu unterschiedUchen Mentalitäten der Deutschen geführt — trotz des gemeinsamen Erbes, von dem aus die beiden deutschen Staaten jeweils ihren eigenen Weg nach dem Krieg nahmen. In seiner Studie über den autoritären Charakter hatte Adorno den deutschen Faschismus und den Aufstieg Hitlers mit dem deutschen Nationalcharakter in Verbindung gebracht Er sei psychosozial von Sekundärtugenden wie Ordnung, Sauberkeit, Pflichtbewußtsein und Gehorsam geprägt; seine politischen Dimensionen würden Autoritätsgläubigkeit, Intoleranz, Aggressivität, Gewaltbereitschaft bis zum Militarismus, aber auch Selbstaufgabe und idealistische Maßstablosigkeit heißen.

Während nach Kriegsende und der Kapitulation des Dritten Reiches die westlichen Alliierten den autoritär geprägten Deutschen in ihren Besatzungszonen ein demokratisches Umerziehungsprogramm verordneten, verpflichtete sich der unter sowjetischem Einfluß stehende SED-Staat mit seiner Gründung als Volksdemokratie auf eine antifaschistische Widerstandskultur. Noch Anfang der sechziger Jahre kamen die amerikanischen Politologen Almond und Verba in einer interkulturell vergleichenden Studie zu dem Schluß, die Westdeutschen akzeptierten zwar ihre demokratischen Institutionen, hätten also die demokratischen Lektionen gelernt; zur Demokratie und ihren Grundwerten hätten sie aber keine affektive Beziehung entwikkelt und seien im Alltagsleben arm an demokratischer Kultur geblieben. Zu diesem Zeitpunkt bezeichnete die SED-Staatsführung den Bau der Berliner Mauer, der die Flüchtlingsströme von Ost nach West unterbinden sollte, als antifaschistisches Bollwerk. Auch die intellektuelle Klasse in der DDR schloß sich weitgehend dieser Perspektive an.

Jahre später wurde — wiederum in einer amerikanischen Untersuchung — das Urteil über die Bonner Demokratie, nun gewandelt durch den Geist der Studentenunruhen und die anschließende Reformpolitik, revidiert Westdeutschland galt jetzt als Modell stabiler, sicherer Demokratie westlicher Prägung, die von einem breiten liberalen Konsens getragen wurde. Wachsender politischer Partizipationsdruck und die Herausbildung neuer postmaterieller Werte hatten nicht nur das alte Parteienkartell aus CDU/CSU, SPD und FDP gesprengt und eine neue Partei (Die GRÜNEN) entstehen lassen, sondern hatten auch insgesamt die Demokratie um eine streitbare Protestkultur bereichert, die sich in einer Vielzahl von sozialen Bewegungen und Forderungen nach politischer Mitbestimmung manifestierte.

Umgekehrt fand die politische Opposition in der DDR kein Sprachrohr gegen den alles beherrschenden Staatsapparat. Intellektuelle und künstlerische Eliten verließen freiwillig oder unfreiwillig das Land und berichteten von außen über die politischen Binnenverhältnisse. Eine Dissidentenbewegung, wie etwa in Polen oder in der Tschechoslowakei, trat in der DDR nicht in Erscheinung, wohl aber entwickelten sich in dem Freiraum der Kirchen Bewegungen für den Frieden, für Menschen-und Bürgerrechte. Sie waren es, die im Herbst 1989 vorübergehend die geistige Führung der Revolution übernahmen, bis sich die zuvor apathischen Massen in den Prozeß einschalteten.

Ist nun durch das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten zu befürchten, daß der demokratische Fortschritt, den die Westdeutschen über Jahrzehnte erarbeitet und den sich die Ostdeutschen in einer friedlichen Revolution erkämpft haben, Schaden erleidet? In einer Studie über die „heutigen Deutschen“, die sich der international vergleichenden Umfragen der EG-Kommission bedient und die demokratische Kultur der Bundesrepublik im Kontext ihrer Nachbarn analysiert, kommt Erwin Scheuch zu dem Schluß, nach Grundeinstellungen und -Orientierungen seien die Bundesbürger eine „mittlere“ Bevölkerung, ihr Staat ein eher „unauffälliges Objekt, bei dem in einem Zustand leicht apathischer und milder Mißvergnügtheit dennoch die Grundprinzipien seines politischen Systems und der Gesellschaft eindeutig akzeptiert werden“ Deutsche Überheblichkeit und Größenwahn seien heute eher Projektionen aus der Vergangenheit als reale Phänomene. Im Zuge des sich politisch vereinigenden Europas habe sich nicht vorrangig der deutsche Nationalstaat wiedervereinigt, vielmehr sei Europa um einige neue Regionen erweitert worden.

Folgt man Scheuchs Normalitätsthese, oder läßt man sich eher von der heute — angesichts des Golfkriegs — wieder aktuellen Furcht vor einem deutschen Sonderweg leiten, ist zunächst zu untersuchen, was die Deutschen in Ost und West nach 40 Jahren Trennung spaltet und was sie zugleich verbindet. Wie unterscheiden sich die Deutschen in ihrem Politikverständnis? In einer solchen komparativen Analyse wird die politische Kultur zu einem zentralen Erklärungsansatz. Die beiden deutschen Staaten haben mit ihren jeweils gültigen gesellschaftlichen Werten und Normen ihre Bürger politisch sozialisiert, so daß deren kollektive Erfahrungen und Lernerlebnisse nun das individuelle Politikverständnis prägen und prädisponieren. Die These ist, daß der getrennte Weg in der Nachkriegsgeschichte mentale Spuren hinterlassen hat, weshalb man im vereinten Deutschland durchaus von zwei politischen Kulturen auszugehen hat, unabhängig von unterschiedlichen Parteimilieus und deren Subkulturen.

Auf den ersten Blick mag es scheinen, als habe diese These weniger Bedeutung, da nach der staatlichen Einheit mit der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl auch so etwas wie eine politische Vereinigung vollzogen wurde. Bei oberflächlicher Betrachtung sieht es nämlich so aus, als sei das westdeutsche Parteiensystem nach Osten exportiert worden und unterstünde damit den Parametern, die sich im Laufe der bundesdeutschen Wahlgeschichte herausgebildet haben, als sei die DDR wie dem Grundgesetz auch unserer Wahldemokratie beigetreten. Tatsächlich kommen aber die meisten Wahl-analysen zu gegenteiligen Befunden und vermerken dabei in der ostdeutschen Eigenart des Wählerverhaltens eine beachtenswerte Kontinuität von der ersten freien Wahl zur Volkskammer über die Kommunal-und Landtagswahlen bis hin zur ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl

Ostdeutschland unterscheidet sich vom Westen insbesondere in folgenden Punkten: — Im Grad der Parteibindung. Nur ein Fünftel der Wahlberechtigten in Ostdeutschland fühlt sich an eine Partei gebunden. Dagegen sind es in der alten Bundesrepublik, auch durch die Kontrolle politischer Vorfeldorganisationen wie Kirchen und Gewerkschaften bedingt, nahezu zwei Drittel. Mithin war das Votum in der ehemaligen DDR jeweils „rationaler“ und weniger „sozial“ determiniert als im Westen. — In der sozialen Basis der Parteien. Im Unterschied zu Westdeutschland mobilisieren CDU und auch FDP in der früheren DDR große Teile der industriell arbeitenden Bevölkerung, integrieren also Stimmen aus einem ihnen wesensfremden Milieu. Umgekehrt hat die SPD keine spezifisch sozialen Schwerpunkte und fußt in der DDR mit ihrer klassenlosen Vergangenheit nicht auf den Traditionen der Arbeiter-und Gewerkschaftsbewegung. Die GRÜNEN, im Westen die Protestpartei der jungen, gut ausgebildeten Schichten, haben im Osten ein weniger scharfes Profil.

— In der Zersplitterung der Parteien links der Mitte. Während sich im Westen nur SPD und die nunmehr geschwächten GRÜNEN'dieses Wähler-spektrum teilen, konkurrieren im Osten SPD, PDS, GRÜNE sowie Bürgerbewegungen (Bündnis ‘ 90 und Neues Forum) um das Wählerpotential links der Mitte, wobei offensichtlich die PDS als Nachfolgerin der SED für Koalitionen tabu ist, aber voraussichtlich die zweitstärkste linke Kraft bleibt. — In der Funktion einer parlamentarischen Opposition. Als einzige kleine Oppositionsparteien schafften und Bündnis 90/GRÜNE es PDS ’ dank der in den beiden Wahlgebieten getrennt geltenden Fünfprozentklausel, in den Bundestag zu gelangen. Nicht westdeutsche, sondern zwei ostdeutsche Parteien, die ihre DDR-Identität betonen, haben damit Gelegenheit zur Entwicklung einer neuen, unkonventionellen Protestkultur im Deutschen Bundestag.

Dabei ist unterstellt, daß die westdeutsche Linke Liste aufgrund ihrer mageren Wahlresultate in der parlamentarischen Gruppe von PDS/Linke Liste weniger stark den Ton angibt.

Angesichts der vielfältigen Diskrepanzen stellt Konrad Schacht fest: „Die deutsche Vereinigung hat zwei Gesellschaften aneinander gekoppelt, die sich vierzig Jahre lang antagonistisch zueinander entwickelt haben. Mit der formalen Übernahme von verwaltungstechnischen Regelungen und Parteistrukturen im Osten ist noch lange keine . Akkulturation' erreicht.“ 6)

Die nachfolgende Analyse konzentriert sich auf die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Deutschen ihre Akkulturation vollziehen. Die Daten, die hier vorgestellt werden, stammen aus je drei Untersuchungen von etwa 1 000 Wahlberechtigten in der alten Bundesrepublik sowie in der ehemaligen DDR, die in den Monaten September bis November 1990 durchgeführt worden sind. Der Integration der Daten sind somit Grenzen gesetzt. Dieser offensichtliche Mangel wird aber kompensiert durch den Vorzug, daß diese Daten eine Bestandsaufnahme zum Zeitpunkt der deutschen Vereinigung darstellen. Als zentrale Elemente des Demokratie-und Politikverständnisses werden Fragen zu folgenden drei Bereichen untersucht:

— Gesellschaftliche Wertvorstellungen, — Vertrauen in Institutionen, — Einstellungen zu politischer Partizipation und Mitsprache.

Anhand von Faktorenanalysen wird nach dem Gemeinsamen in den Reaktionen auf die Befragungsinstrumente geforscht und das Trennende zugleich dargestellt. Speziell für die Demokratieskala wird die Betrachtung auch auf die politischen Lager in Ost und West ausgedehnt.

Mit dem Rekurs auf Wertorientierungen als Richtschnur für politisches Handeln, auf Vertrauen in Institutionen (unter deren Einfluß der demokratische Prozeß abläuft) und auf Einstellungen zu politischer Teilnahme an Entscheidungen als Gradmesser für Selbstbestimmung und Demokratisierung lehnt sich die Untersuchung konzeptionell an die Tradition der „Civic-Culture-Studien“ an. „Bundesrepublik“ und „DDR“ stehen in diesem Zusammenhang für die Kategorien der komparativen Systembetrachtung.

II. Wertvorstellungen

Abbildung 2: Vertrauen in Institutionen Quelle: infas Deutschland-Politogramm 39-40/1990

Mit Inglehart ist die Debatte um den Wertewandel in den Industriegesellschaften verknüpft, demzufolge materialistische Interessen wie Einkommen, soziale Versorgung, äußere und innere Sicherheit an Gewicht verlieren würden gegenüber post-materiellen Bedürfnissen wie Partizipation, Selbstentfaltung, Mitsprache und Emanzipation. In Anlehnung daran hat das Institut für angewandte Sozialwissenschaft (infas) eine Skala entwickelt, auf der verschiedene Wertbereiche unabhängig voneinander abgefragt werden. Dabei wird jeweils gefragt, wovon es in einer zukünftigen Gesellschaft mehr geben sollte.

Die Schwerpunkte dieser Werteskala sind: — autoritär (Pflichtbewußtsein, Sitte/Moral), — konservativ (Ordnung/Sicherheit), — sozial (Solidarität, soziale Gleichheit, soziale Gerechtigkeit), — ökonomisch (Wohlstand, Wachstum, Leistung), — gesellschaftsidealistisch (Demokratie, Freiheit für Andersdenkende, grundlegende Gesellschaftsreformen), — individualistisch (Freizeit, Selbstverwirklichung). Bei 15 abgefragten Items ergaben sich für Ost und West mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten (vgl. Abb. 1, S. 25). Denn die Befragten in der Demokratisierung und Sozialstaatlichkeit. Im Unterschied zur Bundesrepublik ist hier der Gesellschaftsidealismus mit konkreter Politikerwartung an eine sozial gerechte Gesellschaft verknüpft. Dem steht ein rein ökonomischer Faktor gegenüber, bei dem sich Leistung mit Wachstum und Wohlstand bündeln, ein Denkschema, das im Westen eher die siebziger Jahre und früher typisch war.

Isoliert werden zwei weitere Faktoren, die auf geringe Tendenz zu demokratischer Mitsprache schließen lassen: Autoritäre Neigungen, die sich verselbständigt haben und sich nicht einem Sicherheits-und Ordnungsdenken wie in der Bundesrepublik unterordnen, neben einer Tendenz zum privaten Rückzug, einer apolitischen Attitüde, die nicht einmal, wie in der Bundesrepublik, von Wohlstandserwartungen begleitet ist. Als weiteres, eher verblüffendes Denkmuster kombiniert sich in den Köpfen einiger Ostdeutscher die Sorge um den Umweltschutz mit der Sehnsucht nach Sicherheit und Ordnung. Man könnte vermuten, diese Sichtweise sei besonders auf die Krisenerfahrung zurückzuführen, die eine Zerstörung des bisher als sicher empfundenen Lebensalltags bedeutete, zugleich aber auch Aufklärung über die wahren Dimensionen der ökologischen Existenzgefährdung in der DDR mit sich brachte. Soziale Gleichheit, die das ideologische Dogma des SED-Staates war, löst heute kein Credo mehr aus und prägt folglich keine der Wertvorstellungen.

Resümiert man den Vergleich zwischen Ost und West, so ist sicher ein Modernitätsvorsprung bei den Westdeutschen festzustellen, insbesondere durch die klare Formulierung postmaterieller Gesellschaftsbilder im Kontrast zu materiellen. Die Perspektiven in der früheren DDR verweisen demgegenüber neben bestimmten Reformerwartungen auf eine Reihe von traditionellen Denkmustern (ökonomische, autoritäre, apolitische). Sie könnten in der politisch-geistigen Entwurzelung begründet sein, die trotz staatlicher Einheit und des Importes demokratischer Institutionen bislang nicht durch eine neue Bindung und Orientierung aufgehoben wurde. Entsprechend könnte sie Anfälligkeiten erzeugen für anomisches Verhalten, aber auch die Bereitschaft stärken, autoritäre Lösungen von oben zu akzeptieren. Diese würde verstärkt, wenn der Streß der Wirtschaftskrise und des soziopolitischen Umbruchs die ehemalige DDR dauerhaft zu einer Region zweiter Klasse degradiert.

III. Vertrauen in Institutionen

Abbildung 3: Einstellungen zur politischen Partizipation Quelle: infas Deutschland-Politogramm 38-41/1990.

Mit der Übernahme des Regelwerkes des Grundgesetzes und der Verwaltungsordnung, der Wahl von Volksvertretungen und der Einführung der Marktwirtschaft hat die Bevölkerung im Osten Deutschlands auch Bekanntschaft mit den Institutionen des westdeutschen politischen Alltags gemacht. In einer weiteren Befragung in Ost und West (vgl. Abbildung 2) hat infas das Vertrauen in 15 ausgesuchte Institutionen ermittelt, und zwar aus den Bereichen der Legislative, der Exekutive, der Rechtsprechung sowie der Medien und Großorganisationen der Gesellschaft mit entsprechendem politischen Einfluß.

Die Vertrauenswerte in Ost und West sind signifikant unterschiedlich. Der optische Kurvenverlauf vermittelt bereits das wesentliche Resultat. Während im Westen alle erfragten Institutionen Unterstützung von mindestens 50 Prozent und weit mehr erfahren und nur geringe Teile der Bevölkerung unentschlossen sind, ob sie Vertrauen oder Skepsis äußern sollen, ist das Bild in der DDR von Mißtrauen und Ratlosigkeit geprägt. Lediglich das Fernsehen, über Jahre das Schaufenster zur Welt des Westens, erfreut sich mit über 70 Prozent der Nennungen breiten Vertrauens. Um die 50 Prozent liegen die Meßwerte für die Bundesregierung, die Polizei und die Zeitungen, knapp darunter die Hochschulen, der Bundestag und das Bundesverfassungsgericht. In der Bundesrepublik sind die höchsten Vertrauenswerte bei über 80 Prozent angesiedelt und beziehen sich auf so disparate Institutionen wie Polizei, Bundesverfassungsgericht, Stadt-und Gemeindeverwaltung. Bundestag, Justiz und Bundeswehr. Selbst die Bundesregierung, obwohl durch die Politisierung ihrer Aufgaben stärker in die gesellschaftliche Polarisierung einbezogen, erhält noch einen Wert von 75 Prozent.

Bei dem verbreiteten Systemvertrauen, das in der Bundesrepublik anzutreffen ist und eklatant kontrastiert mit dem ostdeutschen Profil, kann man in der Tat davon sprechen, daß der Prozeß der demokratischen Bindung an die Verfassungsorgane und der externen Mobilisierung über traditionelle Massenorganisationen (Gewerkschaften, Kirchen, Parteien) hier abgeschlossen ist. Soziale und politische Spannungen werden zu institutionalisierten Konflikten kanalisiert und mit entsprechenden Regelmechanismen verarbeitet, wobei immer wieder Legitimationskrisen entstehen, wenn bestimmte so-B ziale Gruppen sich in diesen Konsens nicht mehr eingebunden fühlen.

In der ehemaligen DDR sind breit verankerte demokratische institutioneile Bindungen bisher ausgeblieben. Pappi spricht mit Blick auf die westdeutsche Gesellschaft von der „kognitiven Mobilisierung auf Individualebene“, die der abgeschlossenen externen Mobilisierung gefolgt sei. Für das alte, zusammengebrochene SED-Regime mit seiner totalen gesellschaftlichen Steuerung darf man einen ähnlichen Prozeß ebenfalls unterstellen. Die Aufmerksamkeit der Bürger, so Pappi, sei zunehmend den Eliten entglitten und durch freie kognitive Orientierung gelenkt worden. Breiterer Zugang zur Bildung sowie das Fernsehen übernahmen hier eine Leitrolle, möglicherweise aber auch die Vorbilder in den östlichen Nachbarstaaten. So hätten immer mehr und unkontrolliertere Informationen, vermittelt über die Medien (insbesondere über das Fernsehen, das höchstes Vertrauen genoß), sowie die wachsende geistige Emanzipierung durch Bildung die kognitive Mobilisierung gefördert, bis die alte Führung angesichts der vielfältigen Widersprüche die Kontrolle der Bevölkerung mit Hilfe der traditionellen Massenorganisationen verloren habe. Hierzulande führte die kognitive Wählermobilisierung zu wachsender Wählerfluktuation und vermehrt zu unkonventionellem Wahlverhalten.

Auch im Falle des Vertrauens in Institutionen förderte die getrennt errechnete Faktorenanalyse unterschiedliche Muster in Ost und West zutage. Je vier Gruppen von Institutionen und Organisationen werden in ihrer Vertrauenswürdigkeit von der Bevölkerung unterschieden. Diese Gruppen werden unabhängig voneinander bewertet; das heißt, wer der einen Gruppe Vertrauen ausspricht, ist eher skeptisch gegenüber den anderen. In der alten Bundesrepublik ergibt sich eine nahezu klassische Einteilung in politische und gesellschaftliche Institutionen. Ein Vertrauensfaktor richtet sich auf die Sicherheitsorgane, der zweite auf die Institutionen der Legislative und Exekutive, die die Politik bestimmen. Im dritten und vierten Faktor sind gesellschaftliche Instanzen repräsentiert, die Medien als vierte Gewalt sowie die Tarifparteien als Vertreter des Konflikts zwischen Kapital und Arbeit.

Faktor 1: Sicherheitsorgane (Bundeswehr, NATO [nur in Westdeutschland erfragt], Polizei);

Faktor 2: Politik (Bundesregierung, Bundestag, Bundesverfassungsgericht);

Faktor 3: Medien (Fernsehen, Zeitungen);

Faktor 4: Tarifpartner (Gewerkschaften, Großunternehmen). Trotz der großen Unterschiede in der Akzeptanz der Institutionen finden sich in den Bewertungsmustern der Ostdeutschen mehr Gemeinsamkeiten mit den Westdeutschen, als es auf den ersten Blick zu vermuten war. Zwei Faktoren sind mit denen in der Bundesrepublik identisch, nämlich „Politik“ und „Medien“. In den anderen beiden schlägt sich offenbar ein Stück alter DDR-Realität nieder: bei der Zusammenarbeit zwischen Justiz und Polizei — vielleicht eine Reminiszenz an den alten Überwachungsstaat — sowie in der Kombination von Gewerkschaften und Stadt-bzw. Gemeindeverwaltungen, wo in ortsnaher und primärer Erfahrung viele DDR-Bürger erlebten, wie die SED-Staatsmacht Betriebe und Gemeinden durchdrang.

Faktor 1: Politik (Bundesregierung, Bundestag, Bundesverfassungsgericht);

Faktor 2: Justiz (Polizei, Justiz);

Faktor 3: Medien (Fernsehen, Zeitungen); Faktor 4: Betrieb/Kommune (Gewerkschaften, Stadt-und Gemeindeverwaltungen).

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß weder Hochschulen noch Kirchen, weder Großunternehmen noch Arbeitsämter, ganz zu schweigen vom Verfassungsschutz, als bestimmende Komponenten Eingang in die Faktorenanalyse fanden. Offenbar wurden alte Institutionen zu sehr beargwöhnt, neuen hat man sich noch nicht genähert. Sie lassen sich aber auch im Westen keinem Syndrom zuordnen. Eine Ausnahme stellen die Großunternehmen dar, die zusammen mit den Gewerkschaften für die von den Westdeutschen akzeptierte Institutionalisierung und Regelung des Konflikts zwischen Kapital und Arbeit stehen.

Dem partiell zwischen Ost und West übereinstimmenden, in wesentlichen Punkten jedoch unterschiedlichen Verhältnis zu den Institutionen von Staat und Gesellschaft wohnen für das Zusammenleben im neuen Deutschland destabilisierende Tendenzen inne. Sie könnten zum Zuge kommen, wenn die schon jetzt nur mühsam gehaltene Balance zwischen Hoffnung auf Besserung und Krisentoleranz zerbricht. Eine derartige Krise aus Enttäuschung über die Utopie des modernen Kapitalismus, der sein Versprechen nicht gehalten hat, im Rahmen des demokratischen Kräftespiels zu bewältigen, könnte die schwachen institutionellen Bindungen in der ehemaligen DDR überfordern. Denn die wachsende kognitive Mobilisierung, die dem alten SED-Regime Massenloyalität entzog und zu dessen Zusammenbruch führte, aus dem eine demokratische Befreiung hervorging, könnte auch ihre unliebsame Kehrseite zeigen. Das auffällige Kennzeichen wäre eine große politische Entfremdung und Distanz dem Neuen gegenüber, die gesellschaftlich schwer steuerbar ist und Ausbrüche in Widerstand und Radikalität ebenso begünstigen könnte wie den Rückzug in Apathie. Die extrem niedrige Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen im Oktober 1990 gab davon bereits einen ersten Vorgeschmack, aber auch die jüngsten Kinderdemonstrationen in der ehemaligen DDR gegen den Golfkrieg, die deutlich auch Züge des Protests gegen den Westen, seine kapitalistischen Interessen und seinen zerstörerischen Way of Life tragen. Umgekehrt ermöglichte im Westen das trotz gewisser Legitimationskrisen stabile Systemvertrauen in die Funktionsfähigkeit des Staates und seiner Institutionen die Weiterentwicklung politischer Emanzipation, nämlich ein größeres Maß an Wählerfluktuation und rationalem Wählerverhalten, mithin mehr Freiheitsgrade bei politischen Entscheidungen und damit mehr Demokratie. Allerdings kann diese in eine ungewünschte Richtung tendieren, wenn man an die Erfolge von NPD und Republikanern in der jüngeren Vergangenheit denkt.

IV. Demokratieverständnis

Tabelle 1: Demokratieverständnis im Westen (Zustimmung in Prozent)

Mit der demokratischen Umerziehung nach dem Zweiten Weltkrieg sollten die Westdeutschen nicht nur lernen, die demokratischen Institutionen formal zu akzeptieren und sie damit stabil in der Gesellschaft zu verankern. Vielmehr sollte auch ein kultureller Wandel die innere Verfassung Deutschlands demokratisieren. Zur Debatte stand nicht nur, ob sich die Bonner Republik auf einen breiten demokratischen Konsens würde stützen können, sondern vielmehr, welche Demokratie sich in der Bundesrepublik entwickeln würde. Wie die Nachfolgegenerationen der westdeutschen Studentenbewegung für sich in Anspruch nehmen, eine neue demokratische Qualität erkämpft zu haben, so verweisen auch die ostdeutschen Revolutionäre vom Herbst 1989 auf ihre demokratische Leistung, sich auf friedlichem Weg aus politischer Vormundschaft selbst befreit zu haben. Die Avantgarde der einen oder anderen Seite kann allerdings nicht repräsentativ sein für das Demokratieverständnis, das die Massen an den Tag legen.

Mit einer Skala von zehn Statements, die zum Teil international verwendet werden, wurde in Ost und West der Grad an Zustimmung zu Prinzipien der politischen Partizipation ermittelt. Die Positionen mischen basisdemokratische Demokratievorstellungen mit Modellen der Delegation von politischen Interessen und der Prinzipien der politischen Führung von (unwissenden) Massen durch (aufgeklärte, kompetente) Eliten. Lange bevor die Bevölkerung verbreitet und chancengleich Zugang zu Bildungseinrichtungen hatte und Ideen der sozialen Gleichheit und das Prinzip allgemeiner Wahlen sich durchgesetzt hatten, war ohne Frage das Elitenmodell Vorbild für die Organisierung des politischen Prozesses. Das westdeutsche Grundgesetz verpflichtete sich aus den Erfahrungen mit der Weimarer Republik heraus auf das Prinzip der Repräsentation von politischen Interessen und ließ breite Volksbeteiligung nur bei Parlamentswahlen zu. Basisdemokratische Bewegungen, als die sich die GRÜNEN verstehen, haben an dieser Beschneidung politischer Mitsprache von Anfang an Kritik geübt.

Die Reaktionsmuster in Ost und West (vgl. Abbildung 3) sind auf den ersten Blick nicht vollkommen voneinander abweichend, aber auch nicht übereinstimmend. So erlangt die Befürwortung von Volks-entscheiden ähnlich große Zustimmung wie das Delegationsprinzip. Am stärksten abgelehnt werden Forderungen nach Einschränkung der demokratischen Mitsprache, sei es aufgrund der komplexen Materie oder wegen mangelnder Information. Größere Unterschiede zwischen Ost und West ergeben sich bei vier Statements: Die Bürger der ehemaligen DDR sprechen sich häufiger für den Schutz von Minderheiten aus (weil sie sich vielleicht selbst als solche begreifen), befürworten allerdings auch häufiger Einschränkungen des Wahlrechts aufgrund mangelnder Information und halten auch das Führungsprinzip durch Eliten eher für angemessen. Die Westdeutschen betonen konsequenterweise stärker das Prinzip „One Man — One Vote“, ohne Ansehen der Person und ihrer Qualifikation.

Getrennt errechnete Faktorenanalysen widerlegen die durch den Kurvenverlauf suggerierte Vermutung, das Demokratieverständnis in Ost und West sei im Prinzip sehr ähnlich. Auch hier gibt es grundlegende Diskrepanzen zwischen den beiden Teilen Deutschlands, wenn auch eine wesentliche Übereinstimmung.

Die Demokratievorstellungen in der alten Bundesrepublik lassen sich auf drei voneinander unabhängige Perspektiven zurückführen, die sich um folgende Prinzipien des politischen Zusammenlebens bündeln: Führung, Delegation. Partizipation. Das Faktorenmodell deckt damit — in deutlicher Abgrenzung von einer Stufe zur anderen — die ganze Spanne der Demokratieentwicklung ab, von der Bevormundung durch Eliten (Klassen oder Stände) über die anwaltschaftliche Interessenvertretung hin zur demokratischen Mitbestimmung. Wer dem einen Demokratiemodell huldigt, lehnt die anderen ab und umgekehrt. Damit sind die Positionen der Westdeutschen klar abgesteckt.

Während in der Bundesrepublik drei historisch unterschiedliche Modelle abgebildet werden, nämlich Führungsprinzip, Delegationsprinzip und Mitsprache der Basis, sind es im Osten nur zwei: Dabei finden sich die Dimensionen Führung und Delegation auf einem einzigen Faktor. Offenbar gelten diese beiden Prinzipien als wünschenswert und mischen sich folglich. Die basisdemokratische Mitsprache ist jedoch als eigenständiger Faktor in beiden politischen Kulturen anzutreffen — ein Hinweis auf die Konvergenz von politischen Gruppen in beiden Teilgebieten Deutschlands, die eine solche demokratische Selbstbestimmung fordern und mit ihrem praktischen Beispiel durchgesetzt haben. In der Tat finden die unterschiedlichen Demokratiekonzepte in den einzelnen politischen Lagern unterschiedlich starke Zustimmung, wie eine Analyse nach Parteianhängern zeigt. Dabei wurde für jeden Befragten errechnet, wie sehr er mit den einzelnen Faktoren übereinstimmt. Die Führung durch Eliten wird am nachhaltigsten von den westdeutschen GRÜNEN abgelehnt (vgl. Tabelle 1). In den Reihen der beiden großen Volksparteien gibt es ebensoviel Zustimmung wie Reserven gegenüber solchen veralteten Demokratievorstellungen, während FDP-Anhänger stärker die mittlere Position betonen. Das Repräsentationsmodell erfreut sich eines weitreichenden Konsenses bei CDU/CSU-, SPD-und GRÜNEN-Anhängem gleichermaßen. In diesem Fall streuen die Präferenzen der FDP-Sympathisanten stärker.

Die einzigen, die sich deutlich von dem gültigen Repräsentationsmodell distanzieren, sind bemerkenswerterweise Wahlberechtigte ohne parteipolitische Bindung, die damit ihre Skepsis gegenüber dem Etablierten zum Ausdruck bringen. Offen bleibt, ob die politische Praxis ihre Bindungsschwäche mitverursacht, oder ob sie aus Mißtrauen gegenüber den Parteien eine Interessendelegation für unzweckmäßig halten und sie deshalb verweigern. Die Forderung nach Plebiszit und Selbstvertretung schließlich ist in erster Linie ein Anliegen der GRÜNEN-Anhänger. während sich im Lager der übrigen Parteien Zustimmung und Reserve eher die Waage halten.

Auch im Osten (vgl. Tabelle 2) sind die Demokratiemodelle mit den politischen Lagern assoziiert. Hohe Zustimmung erfährt das Prinzip Führung durch Eliten und Delegation von Interessen bei den CDU/DSU-Anhängern; überwiegend skeptisch wird es beurteilt von Anhängern der kleinen Oppositionsparteien PDS und Bündnis ‘ 90/GRÜNE, die sich mehr und mehr als genuine DDR-Opposition verstehen. SPD-und FDP-Anhänger hegen in der Mitte. Umgekehrt verhält es sich mit der Zustimmung zu basisdemokratischen Prinzipien. Die Anhänger von CDU/DSU, am stärksten aber die der FDP, lehnen diese Form demokratischer Mitsprache ab. Sie findet dagegen starke Resonanz in Kreisen der Bürgerbewegungsparteien sowie der PDS, aber auch bei den zahlreichen politisch Ungebundenen. GRÜNE in der DDR und Anhänger der SPD reagieren mit ähnlichen Zustimmungsraten, wobei die Sozialdemokraten tendenziell etwas mehr Abneigung gegen eine basisdemokratische Praxis der Politik bekunden.

Größerer Partizipationsdruck geht also im Westen wie im Osten von den Anhängern der kleinen, oppositionellen Parteien aus, die sich durch diesen gemeinsamen Nenner wohl leichter zusammenfinden können als CDU, CSU, DSU, FDP und SPD, deren Anhänger in Ost und West recht unterschiedliche Demokratieerwartungen hegen.

V. Ost-und Westdeutschland im Vergleich

Tabelle 2: Demokratieverständnis im Osten (Zustimmung in Prozent) Quelle Tabellen 1 und 2: infas Repräsentativerhebung 9-10/1990.

Zieht man aus den drei Parallelbefragungen in Ost und West ein Fazit, so sind mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten festzuhalten. Sie signalisieren einen gewissen Modernitätsvorsprung und eine größere Krisenfestigkeit der Westdeutschen. Auf der Ebene der gesellschaftlichen Werte ist der kulturelle Wandel in Richtung Postmaterialismus in der alten Bundesrepublik weiter fortgeschritten. Im Verhältnis zu den Institutionen fehlt es den Bürgern in Ostdeutschland großenteils an Vertrauen, das eine Voraussetzung für eine demokratische, im Westen weitgehend abgeschlossene Integration ist. Während in bezug auf demokratische Mitbestimmung die Politikalternativen in Westdeutschland als Ergebnis eines langandauernden demokratischen Diskurses klar profiliert sind, konkurrieren und vermischen sich in der ehemaligen DDR moderne Vorstellungen über die Demokratie noch stärker mit traditionellen Denkschemata über politische Führung. Sie stehen Forderungen nach mehr basisdemokratischer Mitsprache gegenüber, die insbesondere von den ehemaligen Trägem der Revolution und von der gewendeten PDS erhoben werden. So könnten sich in Ostdeutschland Konflikte innerhalb der Bevölkerung anbahnen, weil mittlere und vermittelnde Positionen fehlen.

Begegnen sich in der deutschen Einheit eine stabile, sich perfektionierende, besserwisserische Demokratie und ein unterlegenes, sozialistisches Politik-experiment, das ökonomisch, ökologisch und sozial versagt hat? Dessen Bürger sich gefallen ließen, daß sie politisch eingeschüchtert und terrorisiert wurden und die nun deshalb auch selbst Versager sind?

Aus der rechthaberischen und demütigenden Attitüde vieler Westdeutschen gegenüber ihren Landsleuten läßt sich eine solche Sichtweise unschwer ablesen. Sie prägt inzwischen auch , Underdog‘-Gefühle der Bevölkerung in der ehemaligen DDR. Ein Drittel der Westdeutschen pflichtete der Aussage bei, die Bürger der ehemaligen DDR würden noch für einige Zeit Bürger zweiter Klasse bleiben. Sogar 75 Prozent in der ehemaligen DDR hielten dieses Statement für richtig. Bei 16 von 20 Eigenschaften schätzten sich die Westdeutschen als die besseren Deutschen ein 9). 91 Prozent im Westen waren überzeugt, die Menschen im Osten könnten sehr viel (38 Prozent) oder wenigstens einiges (53 Prozent) von ihnen lernen. Sie selbst hielten umgekehrt nur zu Prozent sehr viel bzw. zu 55 Prozent einiges an ihren Landsleuten für beherzigenswert Selbst innerhalb der PDS/Linken Liste stehen sich West-und Ostdeutsche, Berichten vom jüngsten Berliner PDS-Parteitag zufolge, fremd und mißtrauisch gegenüber, weil sie unüberwindliche kulturelle Barrieren verspüren Der Vorsitzende Gregor Gysi prägte den Begriff von den westdeutschen Besatzer-Allüren. Eine Frau bekannte in einem Interview, sie sei es satt, ständig von den Westdeutschen zu hören: „Ihr müßt alle noch viel lernen“.

Keine Frage, Ost-und Westdeutschland trennen heute große Mentalitätsunterschiede, die sich krisenhaft zuspitzen und das demokratische Zusammenleben gefährden können. Eine weitere Phase demokratischer und emotionaler Erziehung steht bevor, die die Deutschen — angesichts der Weltlage — wohl kaum noch introvertiert unter sich allein ausmachen werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Theodor W. Adorno, et al., The Authoritarian Personality, New York-London 1950.

  2. Vgl. Gabriel A. Almond/Sidney Verba, The Civic Culture: Political Attitudes and Democracy in Five Nations, Princeton-New York 1963.

  3. Vgl. David P. Conradt, Changing German Political Culture, in: Gabriel A. Almond/Sidney Verba (Hrsg.), The Civic Culture Revisited, Boston 1980.

  4. Erwin K. Scheuch, Die Suche nach der Besonderheit der heutigen Deutschen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 42 (1990) 4, S. 750.

  5. Vgl. Dieter Roth, Die Wahlen zur Volkskammer in der DDR. Der Versuch einer Erklärung, in: Politische Vierteljahresschrift, 31 (1990) 3, S. 369-393.

  6. Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles Among Western Publics, Princeton 1977.

  7. Vgl. Franz Urban Pappi, Von der stillen Revolution zum kulturellen Umbruch: Nimmt die Dramatik des Wertewandels zu?, in: Soziologische Revue. 14 (1991) 1. S. 21— 26.

  8. Vgl. Werner Harenberg, Vereint und verschieden, in: SPIEGEL Spezial, (1991) 1, S. 12, 16.

  9. Vgl. infas, Repräsentativerhebung im Bundesgebiet, November 1990.

  10. Vgl. Carl Christian Kaiser, Tiefe Risse am Rande, in: Die Zeit, Nr. 6 vom 1. Februar 1991. S. 13.

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Ursula Feist, Diplom-Psychologin; Leiterin der Abteilung Wahlforschung bei infas, Institut für angewandte Sozialwissenschaft, Bonn. Veröffentlichungen: Analysen zu Bundestags-und Landtagswahlen, zum Wandel des Parteiensystems, zu Parteimitgliedern und Parteieliten sowie zum Einfluß des Fernsehens auf das Wahlverhalten.