Eine in die unmittelbare Vergangenheit gerichtete Prognose Konsequenzen einer bundesweiten Kandidatur der CSU bei Wahlen
Jürgen W. Falter/Siegfried Schumann
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Zusammenfassung
Der Artikel befaßt sich mit den Konsequenzen, welche eine bundesweite Ausdehnung der CSU und, im Gegenzug, eine Kandidatur der CDU auch in Bayern mit sich brächten. Akut wurde dieses Thema zuletzt im Jahre 1990, als der bayerischen CSU im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung ein deutlicher Verlust an bundespolitischem Gewicht drohte. Untersucht wird das Problem in Form eines fiktiven Gutachtens anhand einer bundesweiten, repräsentativen Umfrage für die alten Bundesländer und West-Berlin aus dem Frühjahr 1990 mit etwa 2 000 befragten Wahlberechtigten. Dabei wird insbesondere der Frage nachgegangen, welche parteipolitischen Verschiebungen in diesem Fall zu erwarten wären und welche sozialstrukturellen Differenzen und Einstellungsunterschiede zwischen den Anhängern einer bundesweiten CDU und einer bundesweiten CSU aufträten. Die Ergebnisse zeigen, daß außerhalb Bayerns insgesamt keine nennenswerte Verbreiterung der Unionsbasis erfolgt wäre, d. h. die CSU-Gewinne außerhalb Bayerns wären dort fast ausschließlich zu Lasten der CDU gegangen. Innerhalb Bayerns wären die außerbayerischen CSU-Gewinne dabei aus der Sicht der CSU weitestgehend durch ihre Verluste an die dort nun auch antretende CDU kompensiert worden. Die Verluste der CSU innerhalb Bayerns würden dabei landespolitisch das sichere Ende von christlich-sozialen absoluten Mehrheiten bedeuten — mit allen Konsequenzen für den Charakter dieser Partei. Sie würde wohl auch einen Teil ihrer bayerischen Identität verlieren, die nicht zuletzt ihre Stärke ausmacht. Die Anhängerschaften der beiden bundesweit auftretenden Unionsparteien würden sich den weiteren Analysen zufolge weder sozialstrukturell noch weltanschaulich nennenswert unterscheiden. Differenzen bestünden praktisch nur im Bereich der Parteibindungen und der Parteiwahrnehmungen, d. h.der Zuschreibung von Parteieigenschaften. Wahlkämpfe müßten gegebenenfalls von den beiden Unionsparteien in Konkurrenz zueinander um mehr oder weniger ein und dieselbe Klientel geführt werden. Als Gesamtfazit der Untersuchung stellt sich heraus, daß die Probleme einer bundesweiten CSU-Kandidatur wohl erheblich größer wären als gemeinhin angenommen. So gesehen ist auf eine Ausdehnung über die bayerischen Grenzen hinaus seitens der CSU wohl zurecht verzichtet worden.
I. Fragestellung und Materialgrundlage
Es kann kein Zweifel daran bestehen: Durch die Wiedervereinigung hat die CSU auf Bundesebene politisch an Gewicht verloren. Dies wurde bereits am Abend der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl deutlich, als sich herausstellte, daß die CSU bundesweit nur 7, Prozent der gültigen Stimmen erhalten hatte. Im Jahre 1987 waren es (auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik) noch 9, 8 Prozent gewesen. Damit wurde sie von der FDP deutlich überflügelt, der es gelang, ihren Stimmenanteil von 9, 1 auf 11 Prozent zu steigern. Selbst wenn sie in Bayern nicht so viele Stimmen verloren hätte (sie schnitt dort um 3, 3 Prozentpunkte schlechter ab als 1987), wäre unter sonst gleichen Umständen 1) allein durch die Vergrößerung des Bundestags um 160 Abgeordnete ihr Mandatsanteil um etwa ein Viertel gesunken. Wären 1990 nicht so viele Wählerstimmen wegen der Sperrklausel von der Mandatsverteilung ausgeschlossen worden, läge der Anteil der CSU-Abgeordneten aufgrund des deutlich zurückgegangenen Wähleranteils ihrer Partei in dieser Legislaturperiode sogar noch niedriger als 7, 7 Prozent. Er nahm jedoch aufgrund der vielen nicht in die Mandatsverrechnung einbezogenen Stimmen „nur“ um rund 22 Prozent ab. Das geringere bundespolitische Gewicht der CSU schlug sich prompt im Ergebnis der Koalitionsverhandlungen nieder, an deren Ende die CSU nicht nur einen Ministerposten an die FDP verlor, sondern auch zwei allgemein als wichtiger empfundene gegen zwei weniger wichtige Ministerien eintauschen mußte.
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Tabelle 5: Die parteipolitische Herkunft der neuen CSU-und CDU-Wähler Quelle: Vgl. Tabelle 1.
Tabelle 5: Die parteipolitische Herkunft der neuen CSU-und CDU-Wähler Quelle: Vgl. Tabelle 1.
Dieser Bedeutungsverlust war bereits im Frühjahr und Frühsommer 1990 von der Parteiführung der CSU prognostiziert worden. Die Frage möglicher Gegenstrategien wurde zunächst im CSU-Partei-vorstand, dann aber zunehmend auch in der Öffentlichkeit diskutiert, wobei sich eine Gruppe um Minister Stoiber und den damaligen Staatssekretär Gauweiler für eine bereits vor Jahren von Franz Josef Strauß ins Spiel gebrachte bundesweite Kandidatur der CSU aussprach, während eine andere Gruppe um den Parteivorsitzenden Waigel und Generalsekretär Huber angesichts der absehbaren politischen Kosten eines solchen Schrittes für eine Unterstützung der DSU in den östlichen Bundesländern plädierte, die als inoffizieller CSU-Ableger das Gewicht der Partei im kommenden Gesamt-deutschland vergrößern helfen sollte. Bekanntlich hat sich die zweite Linie durchgesetzt. Durch das Scheitern der DSU bei den Landtagswahlen in den neuen Bundesländern und der ersten gesamtdeutschen Wahl kam es dennoch zu dem befürchteten Bedeujungsverlust der CSU.
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Tabelle 6: Die soziale Zusammensetzung von „neuer“ CDU und CSU und die Wahl der Unionsparteien durch die verschiedenen Sozialgruppen Quelle: Vgl. Tabelle 1.
Tabelle 6: Die soziale Zusammensetzung von „neuer“ CDU und CSU und die Wahl der Unionsparteien durch die verschiedenen Sozialgruppen Quelle: Vgl. Tabelle 1.
Im folgenden wird in Form eines fiktiven Gutachtens, d. h. einer wahlsoziologischen Analyse ohne Auftraggeber, Financier und Abnehmer untersucht, was eine bundesweite Kandidatur der CSU im Jahre 1990 erbracht hätte. Insbesondere wird geprüft, mit welchem Zugewinn, falls überhaupt, zu rechnen gewesen wäre, wo mögliche Gewinne und Verluste der beiden Schwesterparteien aufgetreten wären, welche Konsequenzen eine CDU-Kandidatur für die Position der CSU innerhalb Bayerns gehabt hätte und worin sich die Wähler der beiden miteinander konkurrierenden christlichen Parteien unterschieden hätten. Abschließend wird im Lichte einiger zusätzlicher partei-und organisationssoziologischer Überlegungen abgewägt, ob eine bundesweite Kandidatur der CSU zu dem gewünschten Ergebnis geführt hätte oder ob angesichts der nicht intendierten Konsequenzen dieses Schrittes die bedingte Empfehlung angebracht gewesen wäre, Heber zum damaligen Zeitpunkt auf eine Ausweitung der CSU über die Grenzen Bayerns hinaus zu verzichten.
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Tabelle 7: Die präsumtiven Wähler der CSU und der CDU nach ihrer Kirchenbindung, Schichtzugehörigkeit und Gewerkschaftsmitgliedschaft — ein Kontrastgruppenvergleich (Angaben in Prozent)
Tabelle 7: Die präsumtiven Wähler der CSU und der CDU nach ihrer Kirchenbindung, Schichtzugehörigkeit und Gewerkschaftsmitgliedschaft — ein Kontrastgruppenvergleich (Angaben in Prozent)
Die nachstehende Analyse stützt sich auf die Daten einer Umfrage, die im Frühjahr 1990 im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes über „Erklärungsmodelle von Wählerverhalten“ auf dem Gebiet der (damaligen) Bundesrepublik einschließlich West-Berlins durchgeführt worden ist. Es handelt sich um eine Zufallsstichprobe von insgesamt 2 deutschen Staatsbürgern über 18 Jahren, von denen rund 1 850 in die Auswertung für diese Untersuchung gelangten. Die Umfrage wurde vom Bielefelder EMNID-Institut getätigt. Innerhalb des üblichen statistischen Fehler-spielraums können die Daten dieser Umfrage als repräsentativ für die wahlberechtigte Bevölkerung der alten Bundesländer und West-Berlins angesehen werden. Eine analoge Untersuchung auf dem Gebiet der neuen Bundesländer wird zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Studie durchgeführt.
II. Parteipolitische Verschiebungen bei einer Ausdehnung der CSU
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Tabelle 2: Die Stärke von CDU und CSU innerhalb und außerhalb Bayerns im Falle einer bundesweiten Kandidatur der CSU und einer Kandidatur der CDU innerhalb Bayerns (in Prozent) Quelle: Vgl. Tabelle 1.
Tabelle 2: Die Stärke von CDU und CSU innerhalb und außerhalb Bayerns im Falle einer bundesweiten Kandidatur der CSU und einer Kandidatur der CDU innerhalb Bayerns (in Prozent) Quelle: Vgl. Tabelle 1.
Für eine Ausdehnung der CSU über Bayern hinaus sprach nach Ansicht der Befürworter die tendenziell zutreffende Befürchtung, daß eine auf Bayern beschränkte CSU im vereinten Deutschland zwangsläufig an Gewicht verlieren müßte. Zwar würde sie auf absehbare Zeit nicht in Gefahr geraten, an der Sperrklausel des Bundeswahlgesetzes zu scheitern, da es ihr immer möglich sein sollte, mit Hilfe ihrer Direktmandate als Partei selbst dann in den Bundestag einzuziehen, wenn sie einmal — deutschlandweit — unter fünf Prozent der gültigen Stimmen geraten sollte; doch wäre selbst bei steigenden Stimmenanteilen in Bayern ihr Mandatsanteil im vergrößerten gesamtdeutschen Bundestag zwangsläufig beträchtlich geringer als bisher. Die Protagonisten einer bundesweiten Kandidatur argumentierten, daß die CSU zusammen mit der CDU bundesweit mehr Stimmen mobilisieren könne als dies beim jetzigen Gebietsmonopol beider Parteien der Fall sei. Zugunsten dieser Position spreche, so das Argument weiter, daß eine deutschlandweit kandidierende CSU das christlich-konservative und nationalkonservative Lager besser abdecke , als dies die CDU zur Zeit vermag, da sich die CSU derzeit als umfassende — wenn auch auf Bayern begrenzte — Volkspartei in ihrer Programmatik und praktischen Politik stärker an den Wählern der Mitte und der rechten Mitte orientieren müsse. Es erscheine mehr als plausibel, daß im Falle einer Ausdehnung die Republikaner auch in
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Tabelle 8: Politische Einstellungen von präsumtiven CDU* und CSU-Anhängern Quelle: Vgl. Tabelle 1
Tabelle 8: Politische Einstellungen von präsumtiven CDU* und CSU-Anhängern Quelle: Vgl. Tabelle 1
Bayern nicht mehr in der Lage wären, so viele nationalkonservative und protestorientierte Wähler zu mobilisieren wie bisher, was wiederum die CSU stärken könnte.
Im Gegenzug sei eine auf dem konservativen Flügel gewissermaßen durch die CSU entlastete CDU in der Lage, sich intensiver um die liberale und liberal-christliche Klientel zu kümmern, was im Klartext vermutlich zu einer Durchsetzung der in der Öffentlichkeit als Geißler-Süssmuth-Linie apostrophierten Öffnung der Partei zur linken Mitte führen würde. Der Hauptleittragende wäre voraussichtlich die FDP, die dann auch bundesweit Schwierigkeiten hätte, die Fünfprozenthürde zu überspringen. Sie würde, so das Kalkül der Ausdehnungsbefürworter weiter, wohl längerfristig daran scheitern und allmählich mit ihrem sozialliberalen Flügel in der SPD, ihrem wirtschaftsliberalen in der CDU und ihrem nationalliberalen in der CSU aufgehen. Insgesamt würde folglich eine bundesweite Kandidatur der CSU zu einer stärkeren Ausschöpfung des liberalen, christlichen und nationalkonservativen Lagers durch die beiden Schwesterparteien führen. So plausibel diese Überlegungen zunächst klingen mögen, so unsicher ist doch ihre faktische Basis, wie sich im folgenden herausstellen wird.
In der genannten Umfrage wurden die Untersuchungspersonen unter anderem nach ihrem Verhalten im Falle einer bundesweiten Kandidatur der CSU (und, im Gegenzug, einer Kandidatur der CDU innerhalb Bayerns) befragt 3). Tabelle 1 zeigt, daß die beiden Unionsparteien zusammen im Falle einer bundesweiten Kandidatur der CSU um die 48 Prozent der gültigen Stimmen erhalten hätten, im Falle des Status quo dagegen nur rund 45 Prozent. Was zunächst wie ein kleiner Stimmen-gewinn des Unionslagers aussieht, ist jedoch nur mit gewagten Zusatzannahmen als eine Erweiterung des Stimmenpotentials zu deuten, denn die Vertrauensintervalle beider Werte überlappen sich aufgrund des statistischen Fehlers, der solchen Zufallsstichproben notwendigerweise anhaftet. Weiter weisen die Werte (vgl. Tabelle 1) darauf hin, daß sich auch bei einer Expansion der CSU über die bayerischen Grenzen hinaus die Gewichte zwischen den beiden C-Parteien nicht nennenswert verschieben dürften. In beiden Fällen würde die CSU ein knappes Viertel aller Unionsstimmen umfassen.
Dies deutet auf ein sogenanntes Nullsummenspiel hin, in dem der eine Partner immer nur so viel gewinnen kann, wie der andere verliert. Daß diese Vermutung zumindest der Tendenz nach zutrifft, belegt Tabelle 2, in der die Stärke von CDU und CSU für den Fall einer bundesweiten Kandidatur beider Parteien innerhalb und außerhalb Bayerns wiedergegeben wird. Es zeigt sich, daß es der CSU durchaus gelingen könnte, auch außerhalb Bayerns Fuß zu fassen, der Preis dafür wäre jedoch ein deutlicher Rückgang innerhalb Bayerns, von dem in erster Linie die bayerische CDU profitieren würde. Etwa ein Drittel der bayerischen Unionsstimmen entfiele unserer Umfrage zufolge auf die CDU. Dagegen würde die CSU außerhalb Bayerns (zumindest in den alten Bundesländern) nur rund zehn Prozent der Unionsstimmen auf sich vereinen.
Das Süd-Nord-Gefälle der CSU-Stimmen ist unübersehbar: Nördlich der Mainlinie erhielte die CSU nur sehr niedrige Stimmenanteile. Nur in Süd-und Südwestdeutschland hätte sie, wie Tabelle 3 belegt, wohl eine gewisse Chance, bei Landtagswahlen über die Fünfprozenthürde zu kommen. In den norddeutschen Küstenländern, aber auch im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen, wären ihre Aussichten, in den Landtag einzuziehen, dagegen äußerst gering. Aus der Perspektive der alten Bundesländer läge ihr Schwergewicht nach wie vor in Bayern, von wo auch nach einer bundesweiten Ausdehnung der Partei über zwei Drittel ihrer Wähler kämen. Unter Berücksichtigung der neuen Bundesländer, für die demnächst analoge Ergebnisse vorliegen werden, würde sich das Gewicht stärker zugunsten der außerbayerischen Gebiete verschieben, falls die CSU dort ein umfangmäßig ähnliches Potential mobilisieren könnte wie in Westdeutschland. Eine solche Entwicklung würde nicht ohne Rückwirkungen auf den Charakter und die Politik der CSU bleiben. Wir werden darauf, ebenso wie auf den ebenfalls aus Tabelle 3 ersichtlichen Verlust der Mehrheitsposition der Partei innerhalb Bayerns, am Ende dieser Analyse zurückkommen.
Innerhalb Bayerns deutet, wie Tabelle zeigt, einiges darauf hin, daß eine getrennte Kandidatur von CSU und CDU zwar zu erheblichen Einbußen der CSU führen würde, daß aber beide Unionsparteien zusammen sich möglicherweise noch einmal leicht gegenüber dem jetzigen Stand steigern könnten. Unsere Umfrageergebnisse erlauben den vorsichtigen Schluß 4), daß das Unionspotential innerhalb Bayerns größer ist als das der CSU allein. Erstaunlicherweise scheint dabei die CDU in den drei alt-bayerischen Regierungsbezirken sogar etwas besser abzuschneiden als in den neubayerischen Gebie-ten In beiden Landesteilen könnte sie sich voraussichtlich auf rund ein Viertel bis ein Fünftel der Wähler stützen und würde so zwangsläufig zum Dauerkoalitionspartner der CSU auf Landes-ebene
Es ist zu fragen, welche Parteien besonders von einer bundesweiten CSU-Kandidatur betroffen wären. Regional verlaufen die CSU-Zugewinne und CDU-Verluste außerhalb Bayerns sowie die CDU-Gewinne und innerhalb Bayerns CSU-Verluste weitgehend parallel. Um auf der Ebene der einzelnen Wähler die vermutlichen Stimmenabflüsse und -gewinne zu ermitteln, bietet es sich an, die in Anmerkung 3 zitierte Fragestellung mit der nach dem Stimmverhalten, wenn demnächst Bundestags-wählenstattfänden (der üblichen Wahlsonntagsfrage also), zu kreuzen. Dies geschieht in Tabelle 5.
Aufgrund des von Franz Josef Strauß geprägten Bildes der CSU in der Öffentlichkeit könnte man vermuten, daß sich innerhalb Bayerns eine Reihe von SPD-und wohl auch FDP-Wählern der neugegründeten bayerischen CDU anschließen würden. Denn für viele Liberalkonservative dürfte die CSU wegen ihres betont christlich-konservativen Kurses und ihrer Politik des starken Staates bisher nicht wählbar gewesen sein. Ihnen bliebe innerhalb Bayerns gar nichts anderes übrig, als nicht zur Wahl zu gehen oder der SPD, FDP oder einer der anderen kleineren Parteien die Stimme zu geben. So plausibel diese Überlegung zunächst erscheinen mag, so wenig stimmt sie mit unseren Daten überein: Nur jeder fünfzehnte bayerische Befragte mit CDU-Wahlabsicht im Falle einer bundesweiten CSU-Kandidatur optierte bei der „normalen“ Wahlsonntagsfrage für die SPD oder die FDP oder gab sich als Nichtwähler zu erkennen. Über 90 Prozent dagegen bezeichneten sich als CSU-Wähler. Von den übrigen Parteien gab es nach unseren Umfrageergebnissen überhaupt keinen Wechsel zur neuen bayerischen CDU. Im Gegenzug würden kaum Anhänger der Republikaner (die jedoch bezeichnenderweise in der Umfrage sehr viel schwächer vertreten waren, als sie bei den Wahlen im Herbst tatsächlich abschnitten), wohl aber einige SPD-Wähler zur CSU stoßen — ein Ergebnis, das mit der skizzierten Überlegung von den verhinderten bayerischen Christdemokraten schlecht zusammenpaßt. Derartige unerwartete Resultate machen einen nicht geringen Teil des Charmes von Meinungsbefragungen aus.
Außerhalb Bayerns könnte man vermuten, daß verstärkt Anhänger der kleineren Parteien, vor allem der Republikaner, für die erstmals zur Wahl stehende CSU votieren würden. Knapp 10 Prozent der CDU-Wähler der Wahlsonntagsfrage würden unseren Ergebnissen zufolge CSU wählen; das wären rund drei Viertel aller außerbayerischen CSU-Anhänger. Etwa ein Siebentel käme von der SPD, die nach unserer Umfrage knapp 2 Prozent ihrer Anhänger an die CSU verlieren würde. Nur etwa jeder zwanzigste CSU-Wähler außerhalb Bayerns stammte von den Republikanern. Keinerlei Austauschbeziehungen träten zwischen der FDP und der Bundes-CSU auf. Dagegen könnte, was nicht ganz unplausibel erscheint, die CDU einige wenige Wähler von den Liberalen und der SPD abziehen. Es handelt sich hierbei jedoch um verschwindend geringe Wähleranteile, die nicht nur prozentual sehr viel niedriger hegen, als von der Ausgangshypothese unterstellt wird, sondern auch wegen der äußerst geringen Fallzahlen in ihrer Aussagefähigkeit außerordentlich vorsichtig interpretiert werden sollten.
Als Fazit kann festgehalten werden, daß die Austauschbeziehungen zwischen den Parteien wahrscheinlich komplexer verlaufen würden als zunächst angenommen. Den Löwenanteil machten Verschiebungen innerhalb des Unionslagers aus. Es würden vermutlich keine nennenswerten Zugewinne der beiden C-Parteien zu Lasten der anderen politischen Lager auftreten. Wahrscheinlich käme nur jeder fünfte bis zehnte CSU-Neuwähler und sogar nur jeder zwanzigste neue CDU-Wähler von außerhalb des Unionslagers. Es scheint sich in der Tat um ein — zumindest approximatives — Nullsummenspiel zu handeln, das aus der Sicht der Union keinen eindeutigen Gewinner kennt.
III. Soziale und mentale Unterschiede zwischen den Anhängern einer „neuen“ CDU und CSU
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Tabelle 3: Der Anteil tatsächlicher und präsumtiver CDU-und CSU-Wähler in den alten Bundesländern (in Prozent) Quelle: Vgl. Tabelle 1.
Tabelle 3: Der Anteil tatsächlicher und präsumtiver CDU-und CSU-Wähler in den alten Bundesländern (in Prozent) Quelle: Vgl. Tabelle 1.
Im nächsten Schritt des Gutachtens wird die Zusammensetzung der beiden präsumtiven Unionsklientelen sowie eventuelle Einstellungsunterschiede zwischen „neuer“ CSU und „neuer“ CDU untersucht. Hierdurch werden Hinweise darauf erhofft, welche Einflußfaktoren die Entscheidung von Unionsanhängern, der einen oder der anderen Partei die Stimme zu geben, bestimmen; zum anderen werden Indizien dafür erarbeitet, ob aufgrund der sozialen und mentalen Struktur ihrer Anhängerschaft die CSU wirklich verstärkt konservative, die CDU im Gegenzug liberalere Positionen einnehmen würde als bisher. Derartige Informationen könnten zugleich den Ausgangspunkt für eine gezielte Wählerpolitik der Parteien darstellen, also einen Fingerzeig dafür liefern, welche Gruppen man in Wahlkämpfen bevorzugt ansprechen und welche Positionen man gegebenenfalls prononciert vertreten sollte.
Zunächst wird ein Blick auf eventuelle sozialstrukturelle Unterschiede der beiden hypothetischen Unionswählerschaften geworfen, bevor mögliche Einstellungsdifferenzen untersucht werden. Dabei sind verschiedene Vergleichsperspektiven denkbar, etwa die Konfrontation von (jeweils neuer) Bundes-CDU und -CSU, von neuer und alter CSU, neuer bayerischer und neuer außerbayerischer CSU, alter und neuer bayerischer CSU etc. Es erfolgt eine Konzentration auf die erstgenannte Perspektive, also den Vergleich von Bundes-CSU und Bundes-CDU, um zu sehen, ob sich anhand sozialstruktureller und mentaler Unterschiede tatsächlich Hinweise für die aufgrund des Parteiimages und der symbolischen Politikdarstellung von CDU und CSU zu erwartende Ausdifferenzierung der Unionsanhängerschaft in eine eher katholisch-konservative und eine stärker liberal-konservative Richtung ergeben. 1. Sozialstrukturelle Unterschiede Tabelle 6 enthält zwei Typen von Informationen: Zum einen bietet sie in den ersten beiden Werte-spalten einen Vergleich zwischen der Anhängerschaft der (neuen) CDU und der (neuen) CSU im Bund; die Prozentuierung erfolgt hierspaltenweise. Zum anderen gibt sie die Affinität der verschiedenen Sozialgruppen zu beiden Parteien wieder, wobei die Prozentuierung in diesem Falle zeilenweise stattfindet. Uns interessiert zunächst nur die aus den ersten beiden Spalten abzulesende soziale Zusammensetzung der Anhänger beider Parteien.
Es zeigt sich, daß im Bundesdurchschnitt zwischen CDU (neu) und CSU (neu) nur relativ geringe sozialstrukturelle Unterschiede bestehen. Im Vergleich zu den CDU-Wählern erweist sich die CSU-Anhängerschaft als deutlich katholischer, doch bestehen hinsichtlich der Kirchenbindung ebensoweB nig signifikante Differenzen wie hinsichtlich der Gewerkschaftsmitgliedschaft, dem Schulabschluß, dem Beruf, dem Flüchtlingsstatus oder dem Alter. Signifikante Unterschiede zwischen beiden Gruppen treten lediglich noch in einzelnen Kategorien des Wohnorttyps und des Haushaltsnettoeinkommens auf. Diese Differenzen sind jedoch in erster Linie darauf zurückzuführen, daß etwa zwei Drittel der CSU-Anhänger aus Bayern stammen, wo deutlich mehr Katholiken und Bewohner von Klein-und Mittelstädten leben als im Durchschnitt der übrigen Bundesländer. Beschränkt man seinen Vergleich zwischen den beiden Unionsparteien auf die außer-bayerischen Gebiete der alten Bundesrepublik, was schon wegen der geringen Fallzahlen und abnehmenden statistischen Genauigkeit nicht durch eine eigene Tabelle dokumentiert wird, so verschwinden diese Unterschiede fast vollständig. Das gleiche gilt der Tendenz nach für einen Vergleich beider Parteien innerhalb Bayerns.
Daraus ergibt sich, daß von der sozialen Zusammensetzung der Anhänger her gesehen keine nennenswerten Differenzen zwischen den beiden Parteien aufträten. Dieses wird auch durch Tabelle belegt, wo die Wähler der zwei Unionsparteien noch einmal nach der Überlagerung der wichtigsten Sozialmerkmale aufgegliedert sind, was sehr viel realitätsgerechter sein dürfte als die in Tabelle 6 erfolgte bloße Darstellung einfacher Zusammenhänge; denn kein Wähler ist nur Katholik oder Protestant, nur Arbeiter oder Selbständiger bzw. nur Mitglied einer Gewerkschaft oder Nicht-Mitglied, sondern er ist gleichzeitig Katholik, Arbeiter und Gewerkschaftsmitglied oder Protestant, Mittelschichtangehöriger und nicht Mitglied einer Gewerkschaft. Es zeigt sich, daß die Anhängerschaft von Bundes-CDU und Bundes-CSU auch bei stärkerer Untergliederung sehr ähnlich strukturiert sein würde. Die meisten Prozentpunktdifferenzen sind zu gering, um noch statistisch signifikant zu sein, und dort, wo etwas größere Differenzen auftreten wie etwa bei Mittelschichtangehörigen mit starker Kirchenbindung, sind diese vermutlich wieder auf das Übergewicht kirchentreuer Bayern unter den CSU-Wählern zurückzuführen 7).
Was die Affinität der unterschiedlichen Sozialgruppen zu beiden Parteien angeht, zeigen sich die üblichen, aus vielen Wahlstudien bekannten Musterder Unionsnähe und -ferne: Ältere Wähler stimmen deutlich häufiger als jüngere Wähler für die CDU und CSU, wobei die relative Differenz zwischen den Altersgruppen im Falle der CSU sogar noch deutlich höher ist als bei der CDU; Katholiken votieren prozentual sehr viel stärker für die Unionsparteien als Protestanten, praktizierende Christen häufiger als nicht-praktizierende. Das gleiche gilt für Selbständige, Freiberufler und Bauern, die eine fast doppelt so starke Unionsaffinität äußern wie Facharbeiter, ebenso für besser und schlechter Verdienende, die stärker als Personen mit mittlerem Einkommen den C-Parteien zuneigen. Es versteht sich angesichts der nun schon über ein Jahrhundert bestehenden Konfliktlinien der deutschen Politik fast von selbst, daß Personen, die nicht Mitglied einer Gewerkschaft sind, sehr viel häufiger CDU oder CSU wählen als Gewerkschaftsmitglieder. Die Affinität der einzelnen Sozialgruppen zur CDU und CSU unterscheidet sich somit, wie Tabelle 6 belegt, zwar in der Größenordnung, nicht jedoch hinsichtlich der jeweiligen Tendenz: Sozialgruppen, die überdurchschnittlich zur CDU neigen, tendieren dazu, auch der CSU überdurchschnittlich die Stimme zu geben und umgekehrt.
Als Fazit dieses Unterabschnitts läßt sich folglich festhalten, daß im Falle einer bundesweiten Kandidatur der CSU ein sozialstrukturell beschreibbarer Einbruch in die Kemklientel der jeweils anderen Unionspartei nicht stattfände. CDU wie CSU blieben auch bei einer Ausdehnung in das bisherige Monopolgebiet des anderen von der Zusammensetzung ihrer Anhänger her die Parteien, die sie jetzt sind. Indizien für einen größeren Konservativismus der CSU-Anhängerschaft und einen größeren Liberalismus der CDU-Wähler ergeben sich aus dem von uns durchgeführten Sozialstrukturvergleich nicht. 2. Einstellungsunterschiede zwischen CSU und CDU Die soziale Lage des einzelnen scheint es folglich nicht zu sein, die für die (zunächst natürlich nur hypothetische) Entscheidung zugunsten der einen oder anderen Unionspartei den Ausschlag gibt. Sind vielleicht eher tiefgreifende Einstellungsunterschiede sozial ansonsten gleich gelagerter Personen für die Wahl der CSU oder CDU verantwortlich? Dieser Möglichkeit wird durch Blick auf eine Batterie von Einstellungen zur Wirtschaftslage, zu grundlegenden politischen Streitfragen, zu politischen Grundpositionen, zu prominenten Politikern und zum Image der Parteien nachgegangen. Dieses geschieht mit Hilfe von Tabelle 8, in der analog zur Aufgliederung von Tabelle 6 wiederum in den ersten beiden Spalten die Wähler von „neuer“ CDU und CSU hinsichtlich der ausgewerteten Einstel-B lungsdimensionen miteinander verglichen werden, während die nächsten zwei Spalten die Affinität von Personen zu den beiden Unionsparteien wiedergeben, welche die jeweils aufgeführte Einstellung äußerten.
Hinsichtlich der Einschätzung der allgemeinen und der eigenen Wirtschaftslage bestehen ebenso wenig statistisch signifikante Unterschiede zwischen den beiden Unionswählerschaften wie hinsichtlich der politischen Grundpositionen und der meisten in der Umfrage angesprochenen politischen Streitfragen. Bemerkenswert ist sicherlich die nahezu perfekte Übereinstimmung der Selbsteinstufung als „sehr rechts“: Jeweils zwischen einem Viertel und einem Fünftel der CDU-und CSU-Anhänger trugen sich auf der elfstufigen Links-Rechts-Skala auf den drei am weitesten rechts liegenden Positionen ein. Insgesamt ergeben sich wenig Indizien für einen größeren Konservativismus oder gar eine grundlegend andere Weitsicht von CSU-Anhängem.
Bedeutsamere Unterschiede treten lediglich bei stark parteibezogenen Einstellungen auf. So stufen CSU-Anhänger im Vergleich zu den CDU-Anhängern Helmut Kohl deutlich weniger, ihren Parteivorsitzenden Theo Waigel dagegen sehr viel häufiger als sehr positiv ein, betrachten mehr CDU-als CSU-Wähler die Union als kompetenteste Partei für die Lösung der wichtigsten politischen Sachprobleme, identifizieren sich vier Fünftel der CDU-Anhänger mit ihrer Partei, während sehr viel weniger, nämlich nur etwa die Hälfte der präsumtiven CSU-Wähler, eine affektive Bindung an die CSU äußerten. Immerhin 20 Prozent der hypothetischen CSU-Wähler bezeichneten sich als längerfristige Anhänger der CDU. Auch bei den meisten anderen parteibezogenen Einstellungen ergeben sich deutliche, manchmal sogar sehr starke Unterschiede zwischen den Anhängern der beiden C-Parteien, z. B. bei der Frage, ob zur CDU oder zur CSU das Schlagwort „klare Verhältnisse“ besser passe.
Ein solches Ergebnis stellt eine eindrucksvolle neuerliche Bestätigung der Wichtigkeit des Merkmals „Parteibindung“ und damit verbundener parteibezogener Einstellungen für die Erklärung von Wählerverhalten dar. Wie groß die Bedeutung dieser Merkmalsgruppe für die Entscheidung zugunsten der CSU oder CDU wäre, belegt auch der perspektivisch etwas andere Blick auf die Affinität von Personen mit bestimmten Einstellungspositionen zur einen oder anderen Unionspartei. Signifikante Abweichungen vom Durchschnitt aller Befragten treten, wie aus der dritten und vierten Wertespalte von Tabelle 8 abzulesen ist, fast ausschließlich bei den parteibezogenen Einstellungen auf. So gab mehr als ein Viertel der Befragten, die Theo Waigel sehr positiv einstuften, eine CSU-Wahlabsicht zu erkennen; das sind rund zweieinhalb mal mehr als im Durchschnitt der Stichprobe. Vier von fünf Personen mit CSU-Parteiidentifikation wollten dieser Partei ihre Stimme geben. Schließlich kam die CSU bei Befragten, die der Ansicht waren, das Schlagwort „klare Verhältnisse“ passe zur CSU, auf eine Wahlabsicht von rund 36 Prozent. Die wenigen Personen, welche die CSU als die beste Interessenvertretung für Frauen einstuften, wollten sogar fast zur Hälfte CSU wählen.
Insgesamt schätzen CSU-Anhänger die CDU und CDU-Anhänger die CSU deutlich schlechter ein als ihre eigene Partei. Wird eine — zumindest tendenzielle — Rationalität des politischen Handelns unterstellt; wird ferner für einen Moment davon ausgegangen, daß Einstellungen und politische Präferenzen das Wahlverhalten bestimmen; wird schließlich unberücksichtigt gelassen, daß auch vorhergehende Verhaltensentscheidungen die Einstellungen aufgrund irrationaler Prozesse prägen können, dann dürfte es sich bei der Parteibindung und, Hand in Hand damit gehend, bei der Einschätzung der Leistungsfähigkeit von CDU und CSU sowie ihres Führungspersonals um den ausschlaggebenden Grund für die Entscheidung zugunsten der einen oder der anderen Unionsalternative handeln. Welche der beiden Parteien im Falle einer bundesweiten Kandidatur gewählt würde, hinge folglich weder von der sozialen Lage des einzelnen noch von seinen politischen Grundeinstellungen oder seiner Haltung gegenüber bestimmten politischen Streitfragen ab, sondern primär von dem Bild, das er sich von der jeweiligen Partei, ihrer Entschlossenheit und Handlungskompetenz, ihrem Führungspersonal und dessen Durchsetzungsfähigkeit macht
IV. Schlußfolgerungen
Abbildung 26
Tabelle 4: Der Anteil tatsächlicher und präsumtiver CDU-und CSU-Wähler in den bayerischen Landesteilen (in Prozent) Quelle: Vgl. Tabelle 1.
Tabelle 4: Der Anteil tatsächlicher und präsumtiver CDU-und CSU-Wähler in den bayerischen Landesteilen (in Prozent) Quelle: Vgl. Tabelle 1.
Im Jahre 1990 stand die CSU im Zusammenhang mit dem Wiedervereinigungsprozeß vor der strategischen Grundsatzentscheidung, ob sie weiterhin auf Bayern begrenzt bieiben oder eine Ausdehnung über die Grenzen Bayerns hinaus anstreben sollte. Die vorliegende Untersuchung hat sich zum Ziel gesetzt, in einer Art retrospektivem, in die Vergangenheit hinein prognostizierenden Gutachten die Vor-und Nachteile eines solchen Schrittes aus der Perspektive der Wahlforschung zu analysieren. Als erste und wichtigste Frage war zu prüfen, ob überhaupt die Grundvoraussetzung eines solchen Schrittes, ein Anstieg der Wahlchancen der CSU durch eine außerbayerische Kandidatur, zutrifft. Daneben galt es, die Erfolgsaussichten einer CDU-Kandidatur in Bayern und damit die zu erwartenden Stimmenverluste der CSU in ihrem Stammland abzuschätzen. Diesen Problemstellungen wurde im Frühjahr 1990 mit Hilfe einer Umfrage unter den Wahlberechtigten der damaligen Bundesrepublik (einschließlich West-Berlins) nachgegangen, die neben der üblichen Wahlsonntagsfrage auch eine Frage nach der Wahl der CSU außerhalb Bayerns und der CDU innerhalb Bayerns im Falle einer bundesweiten Kandidatur der CSU enthielt.
Als Ergebnis kristallisierte sich heraus, daß außerhalb Bayerns keine nennenswerte Verbreitung der Unionsbasis erfolgt wäre. Die zu erwartenden CSU-Gewinne wären fast ausschließlich zu Lasten der CDU gegangen. Überdies wären sie durch die innerbayerischen Verluste der CSU an die CDU praktisch kompensiert worden. In Bayern wäre der Unionsanteil insgesamt möglicherweise leicht angewachsen. Allerdings sind die Prozentdifferenzen zwar optisch durchaus eindrucksvoll, statistisch aber sind sie nicht signifikant. Unzweifelhaft ist jedoch, daß die zugunsten der CDU auftretenden beträchtlichen CSU-Verluste ein sicheres Ende aller Chancen der Christlich-Sozialen auf absolute Mehrheiten bei künftigen bayerischen Landtagswahlen bedeuten würden. Die derzeitige CSU-Klientel würde sich etwa im Verhältnis zwei zu eins auf die CSU und die neue CDU aufteilen. Das würde wahrscheinlich einen CSU-Anteil in Bayern von etwas unter 38 Prozent und einen CDU-Anteil von rund 20 Prozent bedeuten. Eine Koalition aus CDU und CSU wäre damit unumgänglich. Sie besäße in Bayern zwar unzweifelhaft die realistische Chance einer dauerhaften sicheren Mandatsmehrheit. aber die CSU wäre nicht mehr die bayerische „Staatspartei“.
In den übrigen alten Bundesländern — aus den neuen Bundesländer liegen zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Beitrags noch keine einschlägigen Umfragedaten vor — sprachen sich zwar vor einiger Zeit in einer Untersuchung der Forschungsgruppe Wahlen über 50 Prozent der Befragten für eine bundesweite Kandidatur der CSU aus; wählen jedoch würde sie nur jeder zwanzigste oder fünfundzwanzigste Bürger. Der Stimmenanteil der CSU läge also vermutlich außerhalb Bayerns bei nur vier bis fünf Prozent. Da die außerbayerischen CSU-Wähler analog zu den bayerischen CDU-Wählern hauptsächlich aus dem Unionslager stammten, würde dies tendenziell eine Schwächung der CDU bedeuten. Denn bei Landtags-und wohl auch den meisten Kommunalwahlen würde die CSU nördlich des Mains nur relativ geringe Chancen haben, aus eigener Kraft die Fünfprozenthürde zu überwinden. Sie würde zum Beispiel in den norddeutschen Küstenländern, voraussichtlich aber auch in Nordrhein-Westfalen, nicht in den Landtag einziehen. Die bei solchen Wahlen für sie abgegebenen Stimmen gingen dem Unionslager mithin verloren. Überdies würde wahrscheinlich der erwartete Effekt einer Schwächung von FDP und SPD nicht eintreten, so daß die Grundvoraussetzungen für eine außerbayerische Kandidatur der CSU zumindest in den alten Bundesländern nicht hinreichend erfüllt wären.
Die weitere Analyse hat gezeigt, daß sich die Anhängerschaften der beiden Unionsparteien bundesweit weder sozialstrukturell noch weltanschaulich nennenswert unterscheiden dürften. Die Überein-stimmung zwischen den beiden Unionsklientelen ist geradezu verblüffend. Differenzen bestehen praktisch nur im Bereich der Parteibindungen und Parteiwahrnehmungen, d. h. im Bereich der zugeschriebenen Parteieigenschaften. Damit ist auf der Anhängerebene weder eine soziale noch eine mentale Basis für einen Rechtsruck der CSU oder einen Linksruck der CDU gegeben. Als Konsequenz für die Wählerpolitik der beiden Unionsparteien würden aller Voraussicht nach die Wahlkämpfe — mit den üblichen Spannungen und Verwerfungen — vor allem gegeneinander geführt werden müssen; es würde um das gleiche Wählerpotential gerungen, ohne daß die Union insgesamt nennenswert zu-nähme.
Eine bundesweite Kandidatur der CSU müßte überdies zu erheblichen organisatorischen Friktionen führen: Ganze Orts-und Kreisverbände der CSU würden sich nahezu geschlossen der bayerischen CDU angliedern. Im übrigen Bundesgebiet erfolgte mit umgekehrten Vorzeichen ein Einbruch der CSU in die CDU-Organisationsstruktur. Ohne eine detaillierte, aufeinander abgestimmte Vorarbeit beider Parteien müßte eine solche gegenseitige Landnahme zunächst einmal zu einer Lahmlegung der Parteiarbeit in weiten Gebieten führen. Selbst dann wäre es fraglich, ob beide Parteien, vor allen Dingen aber die prozentual erheblich stärker in Mitleidenschaft gezogene bayerische CSU, angesichts der Abwanderung wichtiger Eliten zum christdemokratischen Konkurrenten, eines zumindest teilweisen Verlustes ihrer Großstadtbasis und einer organisatorischen Ausdünnung in ganzen Regionen, diesen Schritt unbeschadet überstehen könnte.
Schließlich wäre zu bedenken, daß eine über Bayern hinausgreifende CSU notwendigerweise einen Teil ihrer bayerischen Identität verlieren müßte, die nicht zuletzt ihre Stärke ausmacht. Außerbayerische Kräfte würden schnell auf der Wähler-und Führungsebene der Partei an Gewicht gewinnen und so möglicherweise die bayerische Kern-CSU längerfristig in die Minderheit drängen. Damit verschwände ein nicht gering zu schätzendes Element der raison d’etre der CSU. Hinzu käme aufgrund des Wählerrückgangs ein geradezu zwangsläufiger Verlust des Charakters einer Quasi-Staatspartei mit allen damit verbundenen Funktionsvorteilen. Absehbare Folge wäre eine künftige Dominanz bundespolitischer, außerbayerischer Themen. Damit jedoch liefe die CSU Gefahr, zu einer rein konservativen Partei nach Art der DSU zu werden, d. h. einer Partei ohne sichere Regionalbasis mit ungewissem politischem Schicksal.
Als Gesamtfazit dieser Untersuchung ist festzuhalten, daß die Probleme einer bundesweiten CSU-Kandidatur erheblich größer wären als es von den Protagonisten eines solchen Schrittes zunächst wohl vermutet worden war. Sie wäre mit so vielen, schwer zu lösenden organisatorischen Problemen und Wahlrisiken verbunden, daß die bedingte Empfehlung dieses zugleich fiktiven und retrospektiven Gutachtens folglich lauten müßte: Unter der Voraussetzung, daß man den bayerischen Sondercharakter der CSU erhalten und die Basis ihrer Partei-stärke sichern wollte, ist auf die Ausdehnung über die bayerischen Grenzen hinaus wohl zurecht verzichtet worden.
Jürgen W. Falter, Dr. rer. pol., geb. 1944; Professor für Politikwissenschaft und Vergleichende Faschismusforschung an der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen: Hilflos wählen, München 1991; zahlreiche weitere Veröffentlichungen zu den Themenbereichen empirische Wahlforschung, Methodologie der Sozialwissenschaften sowie historische Wahlforschung. Siegfried Schumann, Dr. phil., geb. 1957; Mitarbeiter am DFG-Projekt „Wählerverhalten“; 1984 bis 1988 wiss. Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin, Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung. Veröffentlichungen u. a.: Wahlverhalten und Persönlichkeit, Opladen 1990; Politische Einstellungen und Persönlichkeit. Ein Bericht über empirische Forschungsergebnisse, Frankfurt/M. u. a. 1986.