Agrarwirtschaft und ländliche Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Eine Bilanz der Jahre 1945-1965
Arnd Bauerkämper
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Zusammenfassung
In der Agrarwirtschaft und ländlichen Gesellschaft hat sich in Deutschland seit dem späten 18. Jahrhundert ein tiefgreifender Wandel vollzogen. Dabei wurde die Agrarproduktion rationalisiert und intensiviert, so daß die Erträge und die Arbeitsproduktivität stiegen, während der Anteil der Beschäftigten tendenziell deutlich sank. Mit dem allgemeinen Bedeutungsverlust der Landwirtschaft gingen eine beschleunigte Urbanisierung und Migration einher, die langfristig eine Dynamisierung der Sozialstruktur auf dem Lande herbeiführten. Nach dem Zweiten Weltkrieg hielten vor allem die Zerstörungen, der Flüchtlingszustrom und die allgemeine Not diese Modernisierungsprozesse in Deutschland zunächst auf. In der Sowjetischen Besatzungszone führte die erzwungene Bodenreform sogar einen abrupten Übergang zu einer kleinbetrieblichen Agrarstruktur mit arbeitsintensiver landwirtschaftlicher Erzeugung herbei. Mit dem Wiederaufbau der Industrie und der Städte setzte in der Bundesrepublik Deutschland und DDR in den späten vierziger Jahren aber erneut eine rapide Transformation der Agrarwirtschaft und der ländlichen Gesellschaft ein. Während der Strukturwandel in der Bundesrepublik durch ökonomische Anpassungsprozesse gekennzeichnet war und die familienbetriebliche Agrarverfassung nicht beseitigte, wurde die Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR durch den politischen Druck des SED-Regimes ausgelöst und von einem fortschreitenden Zerfall der Einheit von Wohn-und Arbeitsraum auf dem Lande begleitet. Die Modernisierungstrends wiesen in den beiden deutschen Staaten gleichwohl beträchtliche Affinitäten auf. Seit den sechziger Jahren trieben die zunehmenden agro-industriellen Verflechtungen, die Bildung landwirtschaftlicher Großbetriebe und die Steigerung der Mobilität den Wandel der Agrarwirtschaft und der ländlichen Gesellschaft weiter voran. Spätestens in den achtziger Jahren traten in beiden deutschen Staaten -allerdings in unterschiedlichem Ausmaß -jedoch die unvorhergesehenen Folgeschäden der technizistischen, einseitig auf Wachstum zielenden Konzepte agrarischer Modernisierung zutage.
I. Abgrenzung und Gemeinsamkeiten
Der Strukturwandel der Landwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland und die Kollektivierungspolitik in der DDR wurden in den beiden deutschen Staaten bis 1989 weithin als diametral gegensätzliche Transformationsprozesse interpretiert. Die seit den siebziger Jahren tendenziell abgebaute, aber bis zum Zusammenbruch der DDR und der staatlichen Vereinigung 1989/90 fortbestehende wechselseitige Abgrenzung legte eine dichotomische Sicht der Entwicklung von Agrarwirtschaft und ländlicher Gesellschaft in Ost-und Westdeutschland nahe. Der Strukturwandel und die Kollektivierung wurden weitgehend als konstitutive Merkmale eines umfassenden und letztlich nicht beizulegenden Systemkonflikts dargestellt. Die Unterschiede zwischen den Wandlungsprozessen in den beiden deutschen Staaten wurden deshalb akzentuiert, während Affinitäten insgesamt unterbelichtet blieben
In der Bundesrepublik Deutschland deuteten Politiker, Publizisten und Wissenschaftler die Kollektivierung bis zu den sechziger Jahren überwiegend als , Sowjetisierung‘ oder , Bolschewisierung‘. Diese Topoi suggerierten einen weitgehend bruchlosen und durch taktische Konzessionen lediglich ver-deckten zielgerichteten Transfer des sowjetischen Kollektivierungsmodells auf die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) und DDR. Die Kategorie der , Sowjetisierung‘ wurde in der Bundesrepublik Deutschland erst in den siebziger und achtziger Jahren sukzessive durch differenziertere Deutungen verdrängt Die tief verwurzelte Vorstellung von der Übertragung des kollektivwirtschaftlichen , Modells'der Sowjetunion auf die SBZ/DDR beeinflußt aber auch nach der Vereinigung Deutschlands noch die wissenschaftliche und politische Diskussion Der Strukturwandel in der Bundesrepublik wird dabei der Kollektivierung diametral entgegengesetzt und figuriert in dieser Sicht durchweg als eine deutlich überlegene Politik agrarischer Modernisierung.
Auch in der DDR wurden -mit umgekehrten Konnotationen -die Unterschiede zwischen der östlichen Kollektivierung und dem westlichen Strukturwandel hervorgehoben. Politiker und Agrarwissenschaftler verurteilten die in der Bundesrepublik Deutschland seit den fünfziger Jahren rapide zunehmende Konzentration der landwirtschaftlichen Erzeugung in fortschreitend größeren Betrieben und die damit einhergehende Aufgabe kleinerer, unrentabel gewordener Höfe als neues „Bauernlegen“ in einer auf Konkurrenz basierenden kapitalistischen Marktökonomie. Die Kollektivierung wurde demgegenüber zu einer zukunftsweisenden Modernisierungsstrategie stilisiert. Das kollektivwirtschaftliche Ideal war mit dem Anspruch verknüpft, Reibungsverluste durch die zentrale und administrativ koordinierte Steuerung der Agrarökonomie zu minimieren und zugleich einen schnellen, mit gesamtgesellschaftlichen Umbrüchen einhergehenden Wandel der Beschäftigtenstruktur zu vermeiden
In beiden deutschen Staaten wurde der jeweiligen Agrarprogrammatik vor 1989/90 insgesamt ein überragender Stellenwert für die sozioökonomische Entwicklung auf dem Lande zugewiesen, zumal die Systemkonkurrenz im Ost-West-Konflikt einen erheblichen Legitimationsdruck ausübte. Die agrarwissenschaftliche Forschung und die öffentliche Diskussion konzentrierten sich deshalb auf die Landwirtschaftspolitik in beiden deutschen Staaten. Demgegenüber wurden gemeinsame Problemlagen und die politische Abgrenzung übergreifende Herausforderungen der Modernisierung in den beiden hochentwickelten Industriegesellschaften tendenziell verdeckt
Nach der Vereinigung bietet sich die Möglichkeit, die gesamtdeutschen Dimensionen der Nach-kriegsgeschichte präziser zu erfassen. Ausgehend von dieser forschungsleitenden Absicht, werden im folgenden der Strukturwandel in der Bundesrepublik Deutschland und die Kollektivierung als Varianten der Transformation von Agrarwirtschaft und ländlicher Gesellschaft in modernen Industrie-gesellschaften dargestellt. Diese Deutung akzentuiert die Affinitäten zwischen agrarwirtschaftlichen und -gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen in den beiden deutschen Staaten als Folge durchaus ähnlicher Problemlagen und Anpassungszwänge, ohne dabei die beträchtlichen Unterschiede völlig auszublenden. Der Modernisierungstrend in der Agrarwirtschaft war sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik Deutschland von den fünfziger bis zu den achtziger Jahren durch die beschleunigte Herausbildung einer großbetrieblichen, zunehmend konzentrierten und spezialisierten Intensiv-produktion mit wachsender agro-industrieller Verflechtung gekennzeichnet. Allerdings divergierten die Triebkräfte, Mechanismen und das Ausmaß dieses Prozesses in den beiden deutschen Staaten
Seit dem 19. Jahrhundert war der Stellenwert der Agrarwirtschaft in den westeuropäischen Staaten erheblich zurückgegangen. So nahm der Beitrag des primären Sektors (die Land-und Forstwirtschaft) zum Volkseinkommen tendenziell ebenso ab wie der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten. Die Agrarproduktion wurde darüber hinaus fortschreitend rationalisiert, intensiviert und spezialisiert, verbunden mit einem zunehmenden Kapitaleinsatz. Diese Prozesse führten zu einer enormen Steigerung der Arbeitsproduktivität und Erträge. Eine großbetriebliche Struktur setzte sich aber nur begrenzt durch, da die seit dem späten 19. Jahrhundert wachsende Nachfrage nach Veredlungsprodukten die Erzeugung auf kleinen Höfen begünstigte. Die Urbanisierung erfaßte -zumindest durch Migrationsprozesse -auch die ländliche Gesellschaft, die insgesamt zusehends von diesen säkularen Wandlungsprozessen erfaßt wurde. Damit nahmen auch die Verflechtungen zwischen Agrar-und Industriewirtschaft sowie zwischen Stadt und Land zu. Diese hier nur skizzierten Entwicklungstrends können als wichtige Richtungskriterien agrarischer Modernisierung gelten
Nach einem Rückblick auf den Modernisierungsstau, der sich aus den exzeptionellen gesamtwirtschaftlichen und -gesellschaftlichen Bedingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit ergab, wird in diesem Beitrag die rapide Transformation der Agrarwirtschaft und ländlichen Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR in den fünfziger Jahren behandelt. Die Ambivalenzen agrarischer Modernisierung werden in dem abschließenden Ausblick auf die Industrialisierung der Landwirtschaft in den beiden deutschen Staaten seit den sechziger Jahren deutlich.
II. Die unterbrochene Modernisierung
Abbildung 2
Tabelle 2: Entwicklung der LPGs 1952-1956Quelle: Dieter Schulz (Anm. 27), S. 244.
Tabelle 2: Entwicklung der LPGs 1952-1956Quelle: Dieter Schulz (Anm. 27), S. 244.
Während die langfristige Modernisierung der Landwirtschaft in Deutschland in der unmittelba ren Nachkriegszeit zunächst aufgehalten wurde, beschleunigte sich der gesellschaftliche Wandel. Die Zerstörung von Wohnraum und gewerblichen Betrieben in den Städten drängte die Bevölkerung in ländliche Regionen. Darüber hinaus vertiefte die allgemeine Not die Unterschiede zwischen Stadt und Land und konstituierte neue gesellschaftliche Konfliktlinien, die traditionelle soziale, sektorale, räumliche und konfessionelle Abgrenzungen zumindest zeitweise überlagerten. Besonders der Zugang zu Nahrungsmitteln wurde zu einer wichtigen Determinante gesellschaftlicher Ungleichheit, so daß sich scharfe, bis zu den späten vierziger Jahren anhaltende Auseinandersetzungen zwischen den Konsumenten und Produzenten von Nahrungsgütern herausbildeten. Die Schwarzmarkt-und Kompensationsgeschäfte vor der Währungsreform verliehen besonders den Bauern als Nahrungsmittelproduzenten eine beträchtliche ökonomische Macht, steigerten ihr gesellschaftliches Prestige und erhöhten ihren politischen Einfluß als lokale Führungsgruppen Der Zustrom von Evakuierten und Flüchtlingen veränderte zwar mittelfristig die wirtschaftliche und gesellschaftliche Struktur der Dörfer, reduzierte den sozialen Einfluß und die ökonomische Stärke der alteingesessenen Landwirte in der unmittelbaren Nachkriegszeit insgesamt aber nicht Die Zwangsmigration, die schon 1943 mit den Evakuierungen aus den durch Luftangriffe bedrohten Großstädten eingesetzt hatte, bevor der Vorstoß der sowjetischen Armeen 1944/45 eine breite Fluchtwelle auslöste, führte in allen Regionen zu einem sozioökonomischen Problem-druck, der besonders die Agrarwirtschaft und die ländliche Gesellschaft erfaßte. Im Januar 1945 wurden im Deutschen Reich rund 7, 2 Millionen Evakuierte registriert, die von den Behörden besonders aus Berlin und aus dem Raum Köln-Aachen umquartiert worden waren. Ende Oktober 1946 hatten mehr als zehn Millionen Flüchtlinge und Vertriebene die Besatzungszonen Deutschlands erreicht; im September 1950 wurden insgesamt 11, 2 Millionen gezählt, davon 7, 9 Millionen in der Bundesrepublik Deutschland Der Flüchtlingszustrom wies allerdings deutliche regionale Unterschiede auf. So stellten die Vertriebenen, die in der SBZ seit Herbst 1945 offiziell „Umsiedler“ genannt wurden, dort im Dezember 1947 24, 3 Prozent der Bevölkerung; in der amerikanischen Zone betrug der Anteil der Flüchtlings-bevölkerung 17, 7 Prozent und im britischen Besatzungsgebiet 14, 5 Prozent, in der französischen Zone -aufgrund der Weigerung der französischen Militärregierung, Flüchtlinge und Vertriebene aufzunehmen -dagegen nur ein Prozent. Da die Vertriebenen in den zerstörten Großstädten weder untergebracht noch versorgt werden konnten, ließen sie sich zunächst überwiegend auf dem Lande nieder, wo sie zumindest saisonal in der Landwirtschaft beschäftigt werden konnten und einen direkten Zugang zu Lebensmitteln gewannen. Deshalb wurde in vor dem Zweiten Weltkrieg dünn besiedelten, agrarisch geprägten Regionen in den späten vierziger Jahren der höchste Bevölkerungszuwachs verzeichnet. Die Länder Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg wiesen jeweils besonders hohe Flüchtlingsanteile auf. So wohnten in der SBZ 1947 47 Prozent der „Umsiedler“ in Dörfern mit bis zu 2 000 Einwohnern; in Westdeutschland fanden rund 85 Prozent der Flüchtlinge in Landgemeinden Unterkunft. Hier lebten noch im September 1950 47, 2 Prozent der Vertriebenen in Gemeinden mit weniger als 3 000 Einwohnern. Die schnelle Zuwanderung und die allgemeine Notsituation führten in den Dörfern zu einem soziokulturellen Gegensatz zwischen der alteingesessenen Bevölkerung und den Flüchtlingen; sie lösten anhaltende Konflikte über die Zuteilung knapper Ressourcen -hier besonders der völlig unzureichende Wohnraum -aus Die auf dem Lande lebenden Vertriebenen arbeiteten zunächst vor allem in der Agrarwirtschaft, überwiegend als Landarbeiter. In Ostdeutschland erhielten aber bis März 1950 mehr als 91 000 „Umsiedler“ auch Landparzellen, nachdem das Zentralkomitee (ZK) der SED Ende August 1945 die Durchführung der Bodenreform angeordnet hatte. Die Ausstattung der Flüchtlingsneubauern mit Vieh, Maschinen, Geräten und Gebäuden blieb allerdings trotz der Hilfsmaßnahmen der staatlichen Verwaltung und sowjetischen Besatzungsadministration unzulänglich. Deshalb gaben die Vertriebenen ihre Betriebe zunehmend zurück, als die Landflucht in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren erneut einsetzte In den westlichen Besatzungszonen war die arbeitsmarkt-politische Pufferfunktion der Flüchtlingsbeschäftigung in der Agrarwirtschaft noch signifikanter. In Westdeutschland stellten Vertriebene 1950 im primären Sektor nur 1, 1 Prozent der Erwerbstätigen in selbständiger Stellung, denn ein weitreichender Eingriff in die bestehende agrarische Besitzstruktur durch eine Bodenreform war unterblieben -nicht zuletzt aufgrund des hier weniger vorhandenen Großgrundbesitzes. Von 1945 bis 1966 erhielten zwar rund 175 000 Flüchtlinge 700 000 ha Land, besonders nach dem 1949 verabschiedeten und 1953 in das Bundesvertriebenengesetz integrierten Flüchtlingssiedlungsgesetz; jedoch waren etwa 70 Prozent der neuen Höfe Nebenerwerbsstellen, und trotz eines Finanzaufwands von fast 7 Mrd. DM erwiesen sich nur 30 000 Betriebe als rentabel
Die politischen und sozioökonomischen Rahmenbedingungen begünstigten in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine arbeitsintensive, kleinbetrieb liehe landwirtschaftliche Erzeugung. Obwohl die alliierten Reagrarisierungskonzepte schon vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs weitgehend aufgegeben worden waren, hatte besonders der von der nationalsozialistischen Propaganda verurteilte „Morgenthau-Plan“ die Wahrnehmung der alliierten Besatzungspolitik in Deutschland nachhaltig geprägt. Umfassende Demontagen, besonders in der SBZ, wurden daher unmittelbar als Beleg einer alliierten Deindustrialisierungspolitik wahrgenommen, so daß eine -auch im Kommunique der Potsdamer Konferenz festgelegte -Schwerpunktverlagerung auf die Landwirtschaft nahelag
In der SBZ gingen aus der Bodenreform bis Anfang 1949 mehr als 209 000 Neubauernstellen hervor, und nahezu 170 000 gewerbliche Arbeiter erhielten Landparzellen, die ihre Ernährung sicherten. Die Enteignung der Großgrundbesitzer und die Aufteilung ihres Landes führten besonders in den traditionell gutsherrschaftlich geprägten Ländern Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, wo die Bodenreform bis Januar 1949 52 bzw. 38 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche (LN) erfaßt hatte, zu einem abrupten Über-gang von einer großbetrieblichen zu einer klein-bäuerlichen Agrarstruktur. Insgesamt wuchs in der SBZ der Anteil der Betriebe mit fünf bis fünfzig Hektar an der gesamten LN von 1939 bis 1946 von 54, 2 auf 77, 4 Prozent. Hier bewirtschafteten Bauern mit jeweils 5 bis 20 Hektar 1946 60 Prozent, 1951 sogar 80 Prozent mehr landwirtschaftliche Nutzfläche als 1939. Dagegen entfielen von der LN 1946 nur noch 12, 9 Prozent auf Betriebe mit mehr als 50 Hektar, die 1939 noch über 36, 7 Prozent der LN verfügt hatten
Die agrarischen Kleinbetriebe ermöglichten eine arbeitsintensive Veredlungsproduktion, waren Großbetrieben aber in der pflanzlichen Erzeugung deutlich unterlegen *Die Neubauernbetriebe durften zudem nicht verkauft, verpachtet, belastet oder verpfändet werden und sollten nur fünf bis zehn Hektar Land umfassen. Auch wenn diese Restriktionen, die in den Bodenreformverordnungen festgelegt worden waren, vielfach umgangen wurden, blieb die Wirtschaftskraft der Neubauernstellen wegen des anhaltenden Mangels an Vieh, technischem Inventar und Gebäuden begrenzt. Die Rückgabe von Neubauernbetrieben beschleunigte sich deshalb in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren, als die expandierende Industriewirtschaft zunehmend attraktivere Arbeitsplätze bereitstellte. So verließen bis 1952 mehr als 80 000 Neubauern ihre Höfe. Auch viele Frauen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit Höfe übernommen hatten, um das Überleben ihrer Kinder und ihre eigene Ernährung zu sichern, gaben ihre Neubauernstellen zurück, nachdem sich die Hoffnung auf die Rückkehr ihrer kriegsgefangenen oder vermißten Ehemänner nicht erfüllt hatte
Die Kriegszerstörungen in der Industriewirtschaft, der weitgehende Zusammenbruch der Infrastruktur und der sozialpolitische Problemdruck, der sich aus dem Flüchtlingszustrom ergab, verliehen Reagrarisierungskonzepten auch in Westdeutschland Auftrieb, unterbrachen den langfristigen Urbanisierungstrend und verzögerten den Strukturwandel in der Landwirtschaft. In der unmittelbaren Nachkriegszeit gewannen vielmehr kleinbetriebliche Agrarkonzepte an Attraktivität. So sollte die Errichtung von fünf Millionen Kleinsthöfen mit einer LN von jeweils 1, 5 Hektar nicht nur den Übergang zur landwirtschaftlichen Veredlungsproduktion vorantreiben, sondern auch Arbeitskräfte binden und eine Fusion von „Sozialismus“ und „Kapitalismus“ erreichen. Dieser „Kleinsthofplan“, der vom traditionellen deutschen Agrarromantizismus geprägt war, wurde jedoch schnell aufgegeben, als in den späten vierziger Jahren die Landflucht und eine beschleunigte Abwanderung aus der Agrarwirtschaft einsetzte
Die geringe Ausstattung der Agrarbetriebe mit technischem Inventar förderte in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Zunahme des Arbeitskräftebesatzes in der Landwirtschaft. Das durch den Flüchtlingszustrom sprunghaft gewachsene Angebot an Beschäftigten verzögerte in Westdeutschland die Mechanisierung der Bauernhöfe, auch als die Landmaschinenindustrie in den späten vierziger Jahren ihre Erzeugung erweitern konnte. Obwohl die Landwirte aus den Schwarzmarkt-und Kompensationsgeschäften eine beträchtliche Liquidität gewannen, blieben die Investitionen in die Rationalisierung der Agrarproduktion begrenzt. Die Landwirtschaft in Westdeutschland geriet deshalb unter einen beträchtlichen Anpassungsdruck, als nach der Währungsreform die Diskrepanz zwischen den Einkommen aus der agrarischen Erzeugung und den Aufwendungen für Betriebsmittel rapide zunahm und die Anbindung Deutschlands an den Weltmarkt in den frühen fünfziger Jahren den Preisdruck durch Nahrungsmittelimporte erhöhte
III. Die beschleunigte Modernisierung
Abbildung 3
Tabelle 3: Sozialstruktur der LPGs 1952-1956 Quelle: Dieter Schulz (Anm. 27), S. 245.
Tabelle 3: Sozialstruktur der LPGs 1952-1956 Quelle: Dieter Schulz (Anm. 27), S. 245.
In der DDR führten die überstürzt durchgesetzte Bodenreform, die wirtschaftliche Schwäche der Neubauern und die geringe Rentabilität ihrer Betriebe in den frühen fünfziger Jahren zu einer akuten Problemkumulation und zu einem anhaltenden Modernisierungsstau. Die ökonomische Krise der Neubauernbetriebe schränkte 1951/52 die Agrarproduktion ein, die nach dem im Juli 1950 verabschiedeten Fünfjahresplan bis 1955 erheblich gesteigert werden sollte. Besonders berufsfremd arbeitende Neubauern, die ihre Höfe nicht festigen konnten, wanderten zusehends in die Industrie ab. Im April 1952 wurden rund 235 000 Hektar nicht oder nur extensiv bewirtschaftet. Diese verlassenen Flächen waren ein massiver „Bremsklotz“ der landwirtschaftlichen Produktion in der DDR. Zudem sicherten viele Neubauernbetriebe, die nicht aufgegeben worden waren, zwar die Selbstversorgung ihrer Inhaber, waren aber keineswegs zu einer über die Pflichtablieferung hinausgehenden Marktproduktion geeignet. Außerdem blieben viele Neubauern in den dörflichen Milieus isoliert, und auf ihren Höfen wuchs die Arbeitsbelastung, besonders für Frauen und Kinder Schon bevor die SED auf ihrer 2. Parteikonferenz im Juli 1952 die Kollektivierung offiziell als agrarpolitisches Ziel verkündete, hatten wirtschaftsschwache Neubauern deshalb die ersten Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPGs) gegründet. So wurde der 1951 vollzogene, aber anschließend von der SED-Landesleitung in Thüringen aufgehobene Zusammenschluß von Bauern zu einer Produktionsgenossenschaft in Merxleben zu einem Modell, nachdem der Chef der Sowjetischen Kontrollkommission in Deutschland, Wassili I. Tschuikow, am 14. April 1952 in einem Gespräch mit dem Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, die Kollektivierung erwähnt und Walter Ulbricht am 3. Juni eine entsprechende Entscheidung des Politbüros herbeigeführt hatte. Der Kollektivierungsbeschluß ist damit zwar vorrangig auf die herrschaftspolitischen Ziele der SED-Führung zurückzuführen, verweist aber auch auf eine Problemlage, die das Regime mit der erzwungenen und abrupt durchgesetzten Bodenreform sowie durch die rigorose Verdrängung der „Großbauern“ selber herbeigeführt hatte
Der Druck zur Bildung von LPGs wurde durch die wirtschaftlichen Restriktionen der SED-Führung gegen die Landwirte mit jeweils mehr als 20 Hektar erhöht, die als „Großbauern“ galten. Schon von 1950 bis 1952 gaben 5 000 von ihnen ihre Höfe auf. 1952/53 erlassene Verordnungen sahen die Einsetzung staatlicher Treuhänder in Betrieben vor, deren Eigentümer ihre -fortschreitend erhöhten -Ablieferungsverpflichtungen nicht mehr erfüllten. Landwirte, die sich dem ökonomischen Druck durch Flucht entzogen oder der , Sabotage'verdächtigt wurden, konnten sogar ent-eignet werden. Insgesamt wurden allein von Juli 1952 bis Juni 1953 mehr als 2 200 Höfe konfisziert. Die , devastierten‘ Flächen wurden überwiegend von „Örtlichen Landwirtschaftsbetrieben“ (ÖLBs) bewirtschaftet und anschließend in die LPGs integriert
Seit den späten vierziger Jahren bildeten die allgemeine Landflucht -besonders der Flüchtlinge und Vertriebenen -und der damit einhergehende Abzug von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft in beiden deutschen Staaten wichtige Triebkräfte der betrieblichen Konzentration und Rationalisierung. Während die Zahl der in der Agrarwirtschaft Beschäftigten auf dem Territorium der SBZ von 1939 bis 1946 von 1, 7 Mio. auf 2, 4 Mio. gewachsen war, ging sie bis 1950 auf 2, 1 Mio. und bis 1952 sogar auf 1, 6 Mio. zurück. Nachdem in der DDR schon 1950 bei der Ernte ein akuter Mangel an Saisonarbeitskräften aufgetreten war, wurden in den fünfziger Jahren Jugendliche, Hausfrauen und Rentner zum Einsatz in der Landwirtschaft aufgerufen. Die Werbekampagnen konnten den Arbeitskräftemangel aber ebensowenig beseitigen wie das 1951 vom ZK beschlossene „Parteiaufgebot der Industriearbeiter zur Demokratisierung des Dorfes“ (das allerdings vorwiegend auf einen Austausch der ländlich-agrarischen Funktionseliten zielte) und die 1954 von der SED-Führung proklamierte Aktion „Industriearbeiter aufs Land“. Die unzureichende Unterbringung und die schlechten Arbeitsbedingungen führten in der DDR vielmehr zu einer beträchtlichen Fluktuation von Beschäftigten in der Landwirtschaft In der Bundesrepublik sank die Zahl der Erwerbstätigen im primären Sektor von 1950 bis 1960 von 5, 1 Mio. auf 3, 3 Mio. Die Abwanderung war in kleinen Betrieben mit Viehhaltung und Futterbau besonders hoch, weil diese Höfe nur über geringe Produktivitätsreserven verfügten und der Ersatz von Arbeitskräften hier einen relativ hohen Kapitalaufwand erforderte. Diese „Grenzbetriebe“, die nicht gefestigt werden konnten und zum Nebenerwerb übergehen mußten, verloren vor allem ihre familienfremden Arbeitskräfte. Während die Zahl der voll-und teilbeschäftigten Familienarbeitskräfte in der Landwirtschaft zwischen 1950/51 und 1965/66 um mehr als 40 Prozent zurückging, sank die Zahl der familienfremden Beschäftigten in der Bundesrepublik um über 60 Prozent. Damit erhöhte sich die Belastung der bäuerlichen Familien, so daß unrentable Betriebe zunehmend verpachtet wurden
Die Abwanderung der Erwerbstätigen aus der Landwirtschaft ging in beiden deutschen Staaten mit einer Produktivitätssteigerung einher, die in der Bundesrepublik vor allem durch die wachsende Differenz zwischen Erlösen und betrieblichen Aufwendungen erzwungen wurde. Der Abbau von Arbeitsplätzen und die Abstockung oder Aufgabe kleiner landwirtschaftlicher Betriebe sollten den in der Agrarwirtschaft verbleibenden Beschäftigten ein Einkommensniveau sichern, das den in der Industrie und im Dienstleistungsbereich erzielten Löhnen entsprach („Parität“)
Ebenso wie in der DDR wurde das schnelle Wachstum der Arbeitsproduktivität in der Bundesrepublik durch den zunehmenden Einsatz von Maschinen, Dünge-und Pflanzenschutzmitteln, die Verbesserung des Saatguts sowie Fortschritte bei der Züchtung von Tierrassen ermöglicht und vorangetrieben. So erweiterte sich der Schlepper-bestand in der Bundesrepublik von 1949 bis 1960 um mehr als das Neunfache, und in der DDR stieg die Zahl der in den Maschinen-Ausleih-Stationen (MAS) bzw. Maschinen-Traktoren-Stationen (MTS) bereitgestellten Traktoren von 1950 bis 1955 um mehr als das Dreifache. Der anhaltende Mangel an Ersatzteilen und Traktoristen erschwerte in der DDR allerdings einen effizienten Einsatz der Maschinen Die Mechanisierung der Agrarproduktion führte in beiden deutschen Staaten zu einer rapiden Steigerung der Arbeitsproduktivität. Dabei blieb das Wachstum in der DDR hinter der Zunahme in der Bundesrepublik Deutschland zurück, vor allem in der Viehwirtschaft. In Westdeutschland stieg zwar das Einkommen der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft, aber auch die finanzielle Belastung der zur beschleunigten Rationalisierung gezwungenen Betriebsinhaber.
Insgesamt wurden die Agrarwirtschaft und die ländliche Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland in den fünfziger Jahren von einem beispiellosen Strukturwandel erfaßt. Besonders Klein-und Kleinstbauern, deren Betriebe nicht aufgestockt werden konnten, mußten zum Zu-oder Nebenerwerb übergehen oder ihre Höfe völlig aufgeben. So sank die Zahl der Betriebe mit einer LN von ein oder zwei Hektar von 1949 bis 1960 um 25 Prozent; die Zahl der Kleinbauernstellen mit einer Fläche von zwei bis fünf Hektar ging sogar um 30 Prozent zurück, und die Zahl der Höfe mit einer Größe von fünf bis zehn Hektar nahm um 15 Prozent ab. Dagegen stieg die Zahl der Betriebe mit einer Fläche von jeweils über 20 Hektar. Der Strukturwandel wurde durch die Pacht, die eine flexible Auf-bzw. Abstockung von Höfen ermöglichte, und das Wachstum der Industriewirtschaft, die in der Landwirtschaft freigesetzte Arbeitskräfte aufnahm, abgefedert und durch den 1956 verabschiedeten ersten „Grünen Plan“ vorangetrieben
Der Strukturwandel ging mit einer beschleunigten Flurbereinigung und einer Aussiedlung von Agrar-betrieben aus beengten Ortslagen einher. In den späten fünfziger Jahren belief sich die Zusammenlegung von landwirtschaftlichen Flächen jährlich auf etwa 200 000 Hektar, und von 1956 bis 1963 wurden mehr als 14143 Aussiedlungsverfahren durchgeführt. Bauernhöfe prägten deshalb immer weniger das Ortsbild, und der Einfluß von Landwirten als traditionelle dörfliche Honoratioren ging sukzessive zurück. Nachdem schon in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren viele Evakuierte und Flüchtlinge, die nicht in den ländlichen Lebensbereich integriert worden waren, eine Arbeitsstelle in der Industrie angenommen hatten, verließen danach auch fest im dörflichen Milieu verwurzelte Erwerbstätige die Landwirtschaft. Der Ausbau des Verkehrssystems, besonders die in den späten fünfziger Jahren rapide zunehmende Motorisierung, ermöglichten eine Pendelarbeit, und die Ansiedlung von Industriebetrieben auf dem Lande führte tendenziell zu einer agrarisch-gewerblichen Mischstruktur. Die aus der Landwirtschaft ausscheidenden Erwerbstätigen mußten deshalb die ihnen vertraute ländliche Lebenswelt vielfach nicht verlassen, so daß auch abgestockte Kleinbetriebe weiterhin im Neben-oder Zuerwerb bewirtschaftet werden konnten
Die Herausbildung von Pendler-Einzugsräumen und ländlichen Industriegebieten förderte die Verflechtung zwischen Stadt und Land. Nachdem schon der Flüchtlingszustrom dörfliche Milieus verändert hatte, beschleunigte die Kombination von gewerblicher Berufstätigkeit mit landwirtschaftlichem Zu-oder Nebenerwerb durch die „Arbeiter-Bauern“ die soziokulturelle Annäherung von städtischer und ländlicher Lebenswelt. Die tendenzielle Angleichung der Lebensverhältnisse in urbanen und dörflich-agrarischen Siedlungsräumen wurde in den fünfziger und sechziger Jahren von Politikern und Verwaltungsbeamten -besonders durch die Förderung der Industrieansiedlung und den Ausbau des Bildungssystems auf dem Lande -vorangetrieben und auch von Agrarsoziologen zu einem Modernisierungsideal stilisiert. Dennoch lösten sich ländlich-agrarische Milieus keineswegs völlig auf. Die traditionelle bäuerliche Kultur gewann vielmehr eine Kompensationsfunktion gegenüber dem abrupten Wandel der Beschäftigtenstruktur und Lebenswelt in den Dörfern.
Die Kollektivierung in der DDR griff noch tiefer in die ländliche Gesellschaft ein. Obwohl die SED auf ihrer 2. Parteikonferenz den Zusammenschluß von Bauern und Landarbeitern zu Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften „auf völlig freiwilliger Grundlage“ verkündet hatte, drängten Parteiorganisationen und staatliche Behörden auf eine schnelle Kollektivierung. Dieser Druck ergab sich nicht nur aus dem politischen Ziel der Durchsetzung des „Sozialismus auf dem Lande“, sondern auch aus der technokratischen Illusion, mit der zentralen Planwirtschaft und der Einparteienherrschaft der SED über ein Modernisierungskonzept zu verfügen, das eine breite Mobilisierung der Gesellschaft ermöglichte und eine Konzentration der ökonomischen Ressourcen erlaubte. Die zentrale Steuerung des Modernisierungsprozesses schien eine Überlegenheit der kollektivierten Landwirtschaft gegenüber den marktwirtschaftlichen Ordnungen und den pluralistisch strukturierten Gesellschaften westlicher Staaten zu verbürgen
Ende 1952 bewirtschafteten in der DDR bereits mehr als 1 900 LPGs mit 37 000 Mitgliedern 3, 3 Prozent der LN (vgl. Tab. 2). 1952 wurde überwiegend nur eingebrachtes Ackerland in den Produktionsgenossenschaften kollektiv bewirtschaftet (Typ I). In anderen LPGs nutzten die Mitglieder außer den Feldern auch Maschinen und Geräte gemeinsam (Typ II). Die SED-Bezirksleitungen propagierten Anfang 1953 aber den LPG-Typ III als Leitbild der Agrarpolitik. Die für diese Produktionsgenossenschaften vorgesehene Integration aller landwirtschaftlichen Betriebsmittel einschließlich des Viehs und der Wirtschaftsgebäude wurde von den Bauern aber überwiegend abgelehnt, zumal der Übergang zur vollständigen Kollektivwirtschaft gravierende Anpassungsprobleme aufwarf * *
Schon im Mai 1953 entschied die SED-Führung, die Bildung von LPGs vorerst einzustellen. Nach Intervention der UdSSR gestand das Politbüro der SED in einem Kommunique, das am 9. Juni veröffentlicht wurde, geflohenen Bauern sogar die Rückgabe ihres enteigneten Besitzes zu. Außerdem versicherte der erst kurz zuvor ernannte Landwirtschaftsminister Hans Reichelt wenige Tage später, daß auch bestehende LPGs aufgelöst werden konnten. Daraufhin zerfielen allein schon bis zum 15. Juli 1953 217 Produktionsgenossenschaften; in weiteren 277 stand die Auflösung unmittelbar bevor, und über 400 waren durch Massenaustritte erheblich geschwächt worden. Insgesamt ging die Zahl der LPGs in der DDR von Mitte Juni 1953 bis Ende Januar 1954 um mehr als 400 zurück
Nachdem die SED-Führung aber ihre Macht gefestigt hatte, forcierten Partei-und Staatsorgane die Kollektivierung erneut. 1954 wurden 635 neue LPGs gebildet, aber 558 dieser Produktionsgenossenschaften gingen aus ÖLBs hervor, die zumeist unzureichend mit Vieh und Gebäuden sowie technischem Inventar ausgestattet waren und darüber hinaus nur über wenige Arbeitskräfte verfügten Insgesamt erhöhte sich die Zahl der LPGs von Anfang 1954 bis Ende 1956 um rund 1 600.
Da die Wirtschaftskraft vieler Produktionsgenossenschaften gering blieb und die Kritik am Stalin-Kult auf dem XX. Parteitag der KPdSU (Februar 1956) sowie die darauffolgenden Unruhen in Polen und Ungarn auch den Herrschaftsanspruch des SED-Regimes erschüttert hatten, trat der Direktor des Instituts für Agrarökonomik in der Deutschen Akademie der Landwirtschaftswissenschaften (DAL), Kurt Vieweg, Ende 1956 für eine dualistische Agrarstruktur von bäuerlichen Familienbetrieben und einem staatlich-genossenschaftlichen Sektor ein; Fred Oelßner, der dem Politbüro angehörte, forderte auf ZK-Tagungen im August und November 1956, den Kollektivierungsdruck zurückzunehmen und unrentable LPGs sowie MTS aufzulösen. Nachdem das ZK der SED das Konzept eines Dualismus von staatlicher und privatbäuerlicher Landwirtschaft jedoch auf seinem 30. Plenum Anfang 1957 scharf verurteilt hatte, wurde die Kollektivierungspolitik wieder forciert. Der Start des ersten Sputnik (5. Oktober 1957) stärkte die Modernisierungsillusionen der SED-Führung, so daß Ulbricht. auf der 33. ZK-Tagung Ende Oktober 1957 eine erhebliche Steigerung der Agrarproduktion forderte. Der V. Parteitag der SED beschloß im Juli 1958 sogar, den in der Bundesrepublik erreichten Verbrauch wichtiger Lebensmittel bis zu den frühen sechziger Jahren zu übertreffen
Anfang 1960 entschied die SED-Führung offenbar, die Kollektivierung in wenigen Wochen abzuschließen. Im Februar schickten die Bezirks-und Kreisleitungen Agitationstrupps in die Dörfer, um die Gründung von LPGs zu erzwingen. Da auch die Polizei-und Justizorgane eingesetzt wurden, beschleunigte sich die Kollektivierung. Im „sozialistischen Frühling“ traten den Produktionsgenossenschaften von März bis Mai 1960 schließlich mehr als 498 000 Bauern bei. Danach bewirtschafteten in der DDR 19 345 LPGs mit 945 020 Mitgliedern 84, 4 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche
Die Produktionsgenossenschaften wiesen eine überaus heterogene Sozialstruktur auf (vgl. Tab. 3). Nachdem 1952/53 Neubauern rund drei Viertel der LPG-Mitglieder gestellt hatten, wuchs von 1954 bis 1956 der Anteil ehemaliger Landar-beiter deutlich. Auch Frauen schlossen sich zunehmend den Produktionsgenossenschaften an. Sie wurden überwiegend in der Milchviehwirtschaft und als Buchhalterinnen eingesetzt, waren in Führungspositionen insgesamt unterrepräsentiert und konnten die traditionelle geschlechterspezifische Arbeitsteilung in der Landwirtschaft auch in den LPGs nur sukzessive überwinden. Obwohl eine LPG-Konferenz im Dezember 1954 das Beitritts-verbot für Großbauern aufgehoben hatte, blieben alteingesessene Landwirte gegenüber den Produktionsgenossenschaften zurückhaltend. Erst 1957/58 stieg der Anteil von Altbauern in den LPGs von 19 auf 32 Prozent. Aber auch Ende 1958 waren erst weniger als sieben Prozent der alteingesessenen Landwirte den LPGs beigetreten
Unter den Produktionsgenossenschaften dominierte 1960 in scharfem Kontrast zur Entwicklung der LPG-Typen in den fünfziger Jahren (vgl. Tab. 2) der Typ I, und nur wenige LPGs verfügten über eine so große Nutzfläche, daß sie über die jeweilige Gemeinde hinausreichten. So gehörten im Bezirk Potsdam nach dem Abschluß der Kollektivierung zwei Drittel der Produktionsgenossenschaften dem Typ I an, und noch in einem Fünftel der Gemeinden bestanden drei oder mehr LPGs. Auch die Umstellung auf die Kollektivwirtschaft mit Arbeitsbrigaden erwies sich als schwierig. Im Bezirk Potsdam wurde im August 1960 erst in 6, 5 Prozent der im Frühjahr neugegründeten LPGs genossenschaftlich, aber noch in rund 39 Prozent individuell gearbeitet
Insgesamt führte die Kollektivierung nicht unmittelbar zum Zerfall dörflicher Milieus. Die Errichtung neuer Wirtschaftsgebäude und Wohnhäuser für die LPG-Mitglieder beschleunigte aber den Wandel des dörflichen Siedlungsgefüges und löste die Einheit von Wohnen und Arbeiten zusehends auf. Darüber hinaus veränderten die Zuwanderung von Industriearbeitern und der Wechsel des Führungspersonals in den LPGs -allerdings lokal variierend -die gesellschaftlichen Beziehungen in den Dörfern. Die Kollektivierung hatte auch neue soziale Gegensätze konstituiert. Da die LPGs bei der Versorgung mit landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und bei den Leistungen der MTS bevorzugt wurden, kam es zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen Genossenschafts-und Einzelbauern. Damit dynamisierte die Kollektivierung nicht nur die ländliche Gesellschaft, sondern steigerte in den Dörfern auch traditionelle Konflikte
IV. Das Janusgesicht der Moderne
Die ländliche Gesellschaft war schon im späten 19. Jahrhundert von der industriewirtschaftlichen Dynamik erfaßt worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg beschleunigte sich die Abwanderung von Arbeitskräften aus der Agrarwirtschaft enorm, und die Migration zwischen städtischen und ländlichen Regionen weitete sich erheblich aus. Da sich der wirtschaftliche Austausch und die gesellschaftliche Kommunikation zwischen Stadt und Land damit intensivierten, vollzog sich eine Annäherung der Lebensverhältnisse. Die Kollektivierung in der DDR und der Strukturwandel in der Bundesrepublik Deutschland waren in dieser Perspektive unterschiedlich erfolgreiche Pfade agrarischer Modernisierung in antagonistischen politischen Ordnungen.
Der Modernisierungsstau der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte in West-und Ostdeutschland eine Problemlage herbeigeführt, die mit der Abwanderung von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft und der nachhaltigen Einbeziehung des dörflichen Sozialgefüges in die gesamtwirtschaftliche und -gesellschaftliche Transformation hervortrat. Als sich der langfristige Trend zur urbanen Industriegesellschaft in beiden deutschen Staaten in den fünfziger Jahren erneut durchsetzte, wurde die agrarische Produktion zunehmend rationalisiert und intensiviert, besonders durch die Mechanisierung, den großbetrieblichen Zusammenschluß und die Spezialisierung. Damit konnte der -in der Bundesrepublik auch durch die wachsende Einkommens-disparität herbeigeführte -Arbeitskräfteverlust kompensiert und die landwirtschaftliche Erzeugung erheblich gesteigert werden. Die durch politischen Druck ausgelöste Kollektivierung in der DDR nahm den Bauern ihre berufliche Selbständigkeit, und in der Bundesrepublik zwang der sozioökonomische Strukturwandel viele Bauern zur Aufgabe ihrer unrentablen Betriebe. Damit veränderten sich seit den fünfziger Jahren auch die Sozialstruktur und gesellschaftlichen Beziehungen in den Dörfern erheblich
Insgesamt unterschieden sich jedoch in den beiden deutschen Staaten der Verlauf, die Triebkräfte, das Ausmaß und die Auswirkungen des Umbruchs in der Agrarwirtschaft und ländlichen Gesellschaft. Besonders der Wandel traditioneller dörflicher Sozialbeziehungen und die Transformation der bäuerlichen Kultur mit ihrem überlieferten Werte-kanon war in der DDR offenbar erheblich tiefgreifender als in der Bundesrepublik. In Westdeutschland führte vor allem der Anpassungsdruck, der von der sich festigenden Marktökonomie ausging, einen umfassenden Strukturwandel der Landwirtschaft herbei. Dabei erschütterte der Umbruch in der Beschäftigtenstruktur und die Ansiedlung von Industriebetrieben auf dem Lande dörfliche Milieus, so daß sich der Unterschied zwischen städtischen und ländlichen Lebensräumen verringerte. Dennoch wurden auf dem Lande Restbestände traditioneller gesellschaftlicher Strukturen, sozialer Beziehungen und bäuerlicher Kultur konserviert. So beseitigte der Strukturwandel in Westdeutschland die familienbetriebliche Struktur der Agrarwirtschaft nicht; damit wurde hier -anders als in der DDR -die für das Leben der Bauern traditionell konstitutive Einheit von Wohn-und Arbeitssphäre weitgehend bewahrt. In der Bundesrepublik blieb auch die Orientierung an spezifisch industriewirtschaftlichen und -gesellschaftlichen Modernisierungsmodellen schwächer als in der DDR Die flexible Abstockung unrentabler Höfe -besonders durch die Verpachtung an andere Betriebe, die so ihre Wirtschaftsflächen erweitern konnten -erleichterte in den fünfziger und sechziger Jahren den flexiblen Übergang zum landwirtschaftlichen Zu-oder Nebenerwerb, und die Motorisierung ermöglichte die Aufnahme einer hauptberuflichen Erwerbstätigkeit in der gewerblichen Wirtschaft, ohne den Wohnsitz auf dem Lande aufzugeben.
In der DDR wurde die Kollektivierung von der SED-Führung oktroyiert, die nicht nur sowjetischen Anweisungen folgte, sondern auch auf den Problemstau reagierte, der sich aus der Bodenreform ergeben hatte. Nachdem die Neubauernbetriebe in der „Zusammenbruchgesellschaft“ der unmittelbaren Nachkriegszeit zur Selbstversorgung beigetragen und Arbeitskräfte -darunter über 90 000 Flüchtlinge und Vertriebene -gebunden hatten, zeigte sich ihre begrenzte Rentabilität, als die Landwirtschaft in die sich herausbildende zentralistische Planökonomie integriert wurde und die industriewirtschaftliche Rekonstruktion zunehmend Arbeitskräfte aus dem primären Sektor absog. Die Kollektivierung reflektierte aber auch die technizistischen Modernisierungsillusionen des SED-Regimes, die mit einem weitreichenden Führungs-und Regelungsanspruch einhergingen *
Obwohl die beschleunigte Bildung von Groß-LPGs unmittelbar nach dem Abschluß der Kollektivierung scheiterte, wurden in den sechziger Jahren zunehmend über-und zwischenbetriebliche Kooperationsgemeinschaften geschaffen, die sich zu agro-industriellen Komplexen entwickelten. Die Vernetzung der Volkseigenen Güter (VEGs) und LPGs mit Zulieferer-und Weiterverarbeitungsbetrieben beschleunigte sich in den siebziger Jahren. Die Trennung von Tier-und Pflanzenproduktion führte darüber hinaus zu einer ausgeprägten Spezialisierung, und auch der Zusammenschluß von LPGs trieb, die sozioökonomische Transformation auf dem Lande voran, die durch die Bodenreform 1945 und die Vertreibung der Großbauern in den späten vierziger Jahren eingeleitet worden war. Die Zahl der Produktionsgenossenschaften ging in der DDR von rund 19 000 1960 auf etwa 9 000 1970 und weniger als 4 000 1984 zurück. Die Konzentration der landwirtschaftlichen Erzeugung in großen, über die Gemeinde-grenzen hinausreichenden Betrieben trug in den siebziger und achtziger Jahren maßgeblich zur Auflösung dörflicher Traditionsmilieus bei. Dieser Erosionsprozeß wurde durch die Politik des SED-Regimes, das diese Auflösung sowie eine Angleichung der Lebensverhältnisse in Stadt und Land anvisierte, gezielt gefördert
Die in der DDR seit den sechziger Jahren als agrarpolitisches Ziel proklamierte Herausbildung „industriemäßiger Produktionsmethoden“ in der Landwirtschaft und die ausgeprägte Gigantomanie der SED-Führung fanden in der Bundesrepublik kein Pendant. Aber auch hier bestimmte die mit dem Strukturwandel einhergehende Konzentration der landwirtschaftlichen Erzeugung den Entwicklungstrend, obwohl das Leitbild des bäuerlichen Familienbetriebs -in Abgrenzung zur Kollektivwirtschaft in der DDR -in der Agrarpolitik der Bundesregierungen einflußreich blieb. Die Zahl der Vollerwerbshöfe ging in der Bundesrepublik von 1960 bis 1988 von 1 385 000 auf 666 000 zurück. Der Übergang zur tierischen Veredlungswirtschaft förderte zudem die enge Kooperation von landwirtschaftlichen Großbetrieben mit vor-und nachgelagerten Unternehmen, besonders in der Viehmast und Legehennenhaltung. Dabei bildeten sich vertikal integrierte agro-industrielle Komplexe heraus. Die Annäherung der dörflichen
Milieus an städtische Lebensformen wurde in der Bundesrepublik noch bis zu den späten siebziger Jahren durch die ländliche Strukturpolitik flankiert
Erst in den achtziger Jahren trat in beiden deutschen Staaten die Ambivalenz des Modernisierungsprozesses in der Agrarwirtschaft und ländlichen Gesellschaft deutlich hervor. Die Intensivierung und Konzentration der Produktion hatten zu einer erheblichen Belastung der natürlichen Umwelt geführt. In der DDR manifestierte sich der technokratische Voluntarismus der SED-Gerontokratie, die nahezu ungebrochen ihr Selbst-bild der „Avantgarde“ kultivierte, weiterhin in direkten Eingriffen, die auf den weitreichenden Herrschafts-und Gestaltungsanspruch des Regimes verwiesen. Demgegenüber wurden die durch diese politischen Interventionen in die Agrarwirtschaft und ländliche Gesellschaft herbeigeführten Probleme und Rückkopplungseffekte kaum beachtet. Interne Analysen -z. B.der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften -hoben zwar die aus der Intensivlandwirtschaft in agro-industriellen Komplexen resultierenden Schäden hervor, besonders die Erosion und Verdichtung der Böden sowie die Eutrophierung der Gewässer; die SED-Führung reagierte aber nur langsam auf die sich immer deutlicher abzeichnende Problemlage. Allerdings ordnete sie auf ihrem X. Parteitag (1981) eine begrenzte Korrektur der Agrarpolitik an. Daraufhin wurden Ackerschläge verkleinert, Baumschutzstreifen angepflanzt und Fruchtfolgen vermehrt, um die Bodenerosion einzudämmen. Außerdem beschloß das Politbüro im Oktober 1983, die zunächst rigoros vollzogene Trennung von Tier-und Pflanzenproduktion durch die Bildung von Kooperationsräten wieder einzuschränken
In der Bundesrepublik entwickelte sich, gefördert durch den Einflußgewinn der Umweltbewegung und die Renaissance eines kleinräumigen „Heimat“ -Bezugs, eine kontroverse Debatte über die Folgen der landwirtschaftlichen Intensivproduk-tion in Großbetrieben und über die Zukunft der ländlichen Lebenswelt.
Mit dem zunehmenden Problembewußtsein verlor das technokratische Modell in beiden deutschen Staaten seine undifferenziert positiven Konnotationen, und die seit dem späten 19. Jahrhundert herausgebildeten Paradigmen agrarischer Modernisierung wurden zusehends in Frage gestellt. Die Transformation der Agrarwirtschaft und der ländlichen Gesellschaft in den Industriegesellschaften der Bundesrepublik Deutschland und der DDR war damit von der Ambivalenz und Reflexivität der Moderne eingeholt worden
Arnd Bauerkämper, Dr. phil., geh. 1958; Studium der Geschichtswissenschaft und Anglistik in Bielefeld und Oxford; wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam. Veröffentlichungen u. a.: Die „radikale Rechte“ in Großbritannien. Nationalistische, antisemitische und faschistische Bewegungen vom späten 19. Jahrhundert bis 1945, Göttingen 1991; (Hrsg.) „Junkerland in Bauern-hand“? Durchführung, Auswirkungen und Stellenwert der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone, Stuttgart 1996; (Hrsg. zus. mit Jürgen Danyel, Peter Hübner und Sabine Roß) Gesellschaft ohne Eliten? Führungsgruppen in der DDR, Berlin 1997.
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