Aus alt mach neu? Arbeitsmarktpolitik und Gewerkschaftsstrategien in Frankreich
Ingo Bode
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Zusammenfassung
Frankreich ist, ähnlich wie die meisten anderen westlichen Industrieländer, von einer tiefgreifenden Beschäftigungskrise betroffen, wobei eine Reihe von Problemen -vor allem das Ausmaß an struktureller Erwerbslosigkeit, die hohen Eingliederungshürden für Jugendliche und eine vergleichsweise stark akzentuierte Spaltung von Kern-und Randarbeitsmarkt -besonders markant hervortreten. Ein Rückblick auf die Arbeitsmarktpolitik der vergangenen Jahre zeigt, daß Deregulierungen in Frankreich weitgehend unterblieben sind und statt dessen -unter Fortbestand des in der Nachkriegsepoche etablierten Wohlfahrtsmodells -ein aufwendiges arbeitsmarktpolitisches Instrumentarium entwickelt wurde, mit dem der Staat die Folgen der Beschäftigungskrise einzudämmen versuchte. Die Strukturprobleme wurden damit aber nicht gelöst. Auch von der in Frankreich ohnehin schwächeren Tarifpolitik gingen keine weiterführenden Impulse aus. Die Gewerkschaften mußten zur Kenntnis nehmen, daß weder eine Organisationspolitik, die schwerpunktmäßig auf die Beeinflussung der allgemeinen politischen Kräfteverhältnisse und die Regulierungskompetenz des Staates ausgerichtet ist, kurzfristig jedoch auf die Verteidigung von Besitzständen beschränkt bleibt, noch eine auf einseitige Zugeständnisse der Arbeitnehmerseite hinauslaufende tarifpolitische Verhandlungsstrategie als erfolgversprechende Problemlösungen taugten. Seit Mitte der neunziger Jahre scheint sich allerdings eine neue Konstellation einzustellen -was nicht zuletzt daran liegt, daß von verschiedenen Richtungsgewerkschaften Impulse für eine veränderte Arbeitsmarktpolitik ausgegangen sind. Dies gilt für das von dem eher gemäßigten Gewerkschaftsverband CFDT vorangetriebene Konzept eines staatlich flankierten, auf der Betriebsebene umgesetzten „Bündnisses für Arbeit“, aber auch für die Mobilisierungserfolge der radikaleren CGT, die dazu geführt haben, daß den politischen Eliten heute mutigere, die Grundprinzipien des französischen Wohlfahrtsmodells jedoch bewahrende Reformanstrengungen abverlangt werden. Aus dem Zusammenspiel beider Elemente ergeben sich wichtige Ressourcen für einen neuen Regulierungsansatz, der sich einerseits die Tradition des Staatsinterventionismus zunutze macht, andererseits aber darum bemüht ist, die in der Zivilgesellschaft aufkeimenden Innovationen und auch das Selbststeuerungspotential auf dem Gebiet der Arbeitsbeziehungen politisch zu aktivieren. Ob die Maßnahmen der Regierung Jospin -das neue Jugendbeschäftigungsprogramm und die durch öffentliche Subventionen flankierte Wochenarbeitszeitverkürzung -Erfolg haben werden, erscheint allerdings angesichts der Widerstände auf der Arbeitgeberseite und auch der allgemeinen wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen noch ungewiß.
I. Einleitung
Als im Juni 1997 der neugewählte französische Premierminister Jospin in seiner Regierungserklärung ankündigte, die Arbeitslosigkeit in seinem Lande durch staatliche Jugendbeschäftigungsprogramme und eine gesetzlich verordnete Verkürzung der Wochenarbeitszeit bekämpfen zu wollen, ließ das Urteil der Zeitbeobachter hierzulande nicht lange auf sich warten: Die Franzosen, so war zu vernehmen, griffen einmal mehr in die Mottenkiste des Staatsinterventionismus und verliefen sich damit noch weiter in der Sackgasse ihres eigentümlichen Sonderwegs. Blind gegenüber den tiefgreifenden ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen, die sämtliche westlichen Industrieländer heute unter einen globalen Anpassungsdruck zu setzen scheinen, schmiedeten sie einen nationalen „Verweigerungspakt“, um der gebotenen, aber schmerzhaften Kursänderung noch einmal aus dem Wege gehen zu können -allen voran die Gewerkschaften, die den fälligen Wandel durch ungezügelte Streikbewegungen und maximalistische Forderungsprogramme immer wieder zu blockieren versuchten. Kurzum: Im Westen nichts Neues.
In Frankreich sahen das viele ganz ähnlich -so etwa, stellvertretend für viele, der (mittlerweile verstorbene) Sozialhistoriker Francois Furet, der vor dem Hintergrund des letzten Regierungswechsels monierte, daß seine Landsleute allen internationalen Entwicklungen zum Trotz an der Idee des wohlfahrtsstaatlichen Voluntarismus festhalten wollten, um diesen Anachronismus dann als „französisches Rätsel“ zu bezeichnen. Doch gibt es aus dem Hexagon tatsächlich nicht mehr zu berichten, als daß die politischen Eliten neuerliche Trockenübungen veranstalten, um das Unumgängliche -nämlich den Sprung ins kalte Wasser der Globalisierung -auf unbestimmte Zeit zu vertagen?
Mit Bezug auf die Arbeitsmarktpolitik sowie die darauf ausgerichteten Gewerkschaftsstrategien soll in diesem Beitrag diskutiert werden, ob der aus der Ferne sich aufdrängende Eindruck, in Frankreich würden gegenwärtig -mit Hinzutun der maßgeblichen Gewerkschaftsorganisationen -alte Ladenhüter ausgegraben, nicht in so mancher Hinsicht trügt und wir statt dessen in den neuen Entwicklungen die Umrisse eines qualitativ veränderten Steuerungsansatzes erkennen können. Gerade dann aber wären die Hintergründe bzw. Umstände des besagten Rätsels nicht nur von akademischem Interesse; ihre Darlegung könnte vielmehr auch den einen oder anderen Impuls für die arbeitsmarkt-und sozialpolitische Debatte in Deutschland ergeben.
II. Arbeitsmarkt und Erwerbslosigkeit in Frankreich
Abbildung 4
Gewerkschaftsstrategien und Arbeitsmarktpolitik
1 Es handelt sich um die zweite Komponente des von Jospin angekündigten Jugendbeschäftigungsprogramms, die für 1998 geplant ist und den Grundstein für die Schaffung von 350 000 Arbeitsplätzen in der Privatwirtschaft legen soll.
Gewerkschaftsstrategien und Arbeitsmarktpolitik
1 Es handelt sich um die zweite Komponente des von Jospin angekündigten Jugendbeschäftigungsprogramms, die für 1998 geplant ist und den Grundstein für die Schaffung von 350 000 Arbeitsplätzen in der Privatwirtschaft legen soll.
Betrachtet man die Verhältnisse auf dem französischen Arbeitsmarkt sowie die Formen ihrer sozialpolitischen Regulierung, dann ähnelt die Konstellation in Frankreich insofern der deutschen, als in beiden Ländern -verglichen etwa mit dem angelsächsischen Raum oder den Niederlanden -bislang am lohnarbeitszentrierten Wohlfahrtsmodell der Nachkriegsepoche festgehalten wird und dabei zugleich eine hohe strukturelle Arbeitslosigkeit vorherrscht. Wir haben es also, um eine Formel von G. Esping-Andersen zu bemühen, in beiden Fällen mit „welfare States without work“ zu tun Die Konturen der französischen Konstellation lassen sich dabei wie folgt umreißen: Zum einen besteht seit vielen Jahren eine beträchtliche Erwerbslosigkeit -sie lag Ende 1997 bei 12,2 Prozent und damit nur knapp unter der Rekordmarke von 1996. Sie geht einher mit positiven Wachstumsraten (in den achtziger und neunziger Jahren meist zwischen und 3 Prozent) sowie einem -gemessen an der allgemeinen Einkommensentwicklung -überproportionalen Anstieg von Produktivität und Kapitalrentabilität 2. Zum zweiten verbleibt die Erwerbsquote -auch wenn sie im Falle der älteren wie auch der jugendlichen Generation (wegen früheren Renteneintritts bzw. längerer Ausbildungszeiten) zusehends abgenommen hat -insgesamt auf hohem, zuletzt sogar noch steigendem Niveau. Drittens ist augenfällig, daß gerade auch die Langzeitarbeitslosigkeit immer weiter zugenommen hat: Der Anteil der mehr als ein Jahr Erwerbslosen an der Gesamtzahl der Personen ohne Beschäftigung ist zwischen 1993 und 1997 von 31, 4 auf 38, 9 Prozent angewachsen, die mittlere Arbeitslosigkeitsdauer von 12, 4 auf 15 Monate Damit einher geht, viertens, auch eine Differenzierung der bestehenden Beschäftigungsverhältnisse: Ein wachsender Teil der Arbeitnehmer ist befristet beschäftigt oder übt eine Teilzeittätigkeit aus. Gab es im Jahre 1983 erst 266 000 Personen mit einem befristeten Arbeitsvertrag (in einer Stichtagsbetrachtung), und erreichte das Leiharbeitsvolumen zum gleichen Zeitpunkt den Umfang von 115 000 Vollzeitarbeitsplätzen, so haben sich beide Werte bis Mitte der neunziger Jahre in etwa verdreifacht. Auch die Bedeutung von Teilzeitverträgen nahm sprunghaft zu: von 8, 6 Prozent aller Arbeitsverhältnisse 1982 auf 17, 4 Prozent im Jahre 1997. Etwa die Hälfte davon entfällt auf unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung, was mit einer sukzessiven Zunahme der sogenannten „working poor“ korrespondiert Daran läßt sich ersehen, daß wir auch auf dem französischen Arbeitsmarkt längst einen Trend zu „niederländischen“ Verhältnissen, also zu einer Neuverteilung von Arbeit und Einkommen ausmachen können.
Einige Probleme treten nun in Frankreich besonders markant hervor Da ist zum einen die im europäischen Vergleich exorbitant hohe Jugenderwerbslosigkeit: Von den Personen unter 25 Jahren, die sich im Oktober 1997 dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellten, waren knapp 25 Prozent ohne Beschäftigung. Für einen Großteil der übrigen blieben nur prekäre Arbeitsverhältnisse. Zwar gelingt vielen jungen Menschen auf Dauer ein (verspäteter) Eintritt ins normale Erwerbsleben, aber der Prozeß der Berufseingliederung bzw.der Praxisaneignung erscheint nachhaltig gestört. Mit der millionenfachen Warteschleife sind zudem Verarmungsrisiken verbunden, weil Jugendlichen nur wenige der sozialstaatlichen Einkommensersatzsysteme offenstehen Besonders ausgeprägt ist im französischen Fall zum anderen die Spaltung zwischen Normal-und Randarbeitsmarkt. Nicht nur für die Jugendlichen gilt, daß der Eintritt in Normalarbeitsverhältnisse für Niedrigqualifizierte auch in längerfristiger Betrachtung zunehmend schwieriger wird. Alle Daten deuten darauf hin, daß wir es in Frankreich mittlerweile mit zwei vergleichsweise rigide getrennten Arbeitsmarktkreisläufen zu tun haben: Die Mehrheit der Beschäftigten befindet sich auf einem -allerdings seinerseits zunehmend instabilen -Kernsegment, während eine wachsende Minderheit sich in prekären Arbeitsverhältnissen einrichten muß -eine Konstellation, die nicht nur die Politik, sondern auch die Gewerkschaften vor große Herausforderungen stellt.
III. Die alten Rezepte: Verwaltung der Spaltung und Halbheiten der Gewerkschaften
Abbildung 5
Gewerkschaftsstrategien und Arbeitsmarktpolitik
Gewerkschaftsstrategien und Arbeitsmarktpolitik
Auch wenn sich die genannten Beschäftigungsprobleme in letzter Zeit verschärft haben: Beide Phänomene -die hohe Jugendarbeitslosigkeit sowie die zunehmende Spaltung zwischen Normal-und Randarbeitsmarkt -sind seit Anfang der achtziger Jahre offenkundig, und sowohl die verschiedenen Regierungen als auch die Gewerkschaften haben fortwährend nach Antworten auf die Frage gesucht, wie auf diese Entwicklung zu reagieren wäre. Rückblickend läßt sich indes resümieren, daß die Arbeitsmarktpolitik des Staates im Ergebnis auf eine „Verwaltung der Spaltung“ hinauslief, während die Rezepte der Gewerkschaften sich letztlich jeweils als Halbheiten entpuppten. 1. Arbeitsmarktpolitik in Frankreich In einem Land, in dem die Erwartungen der Bevölkerung an die Steuerungskompetenz des Staates von jeher hoch, die Tarifbeziehungen der kollektiven Akteure dagegen traditionell unterentwickelt sind, konnte die öffentliche Hand mit dem Aufkommen der Arbeitsmarktkrise nicht untätig bleiben. Seit Mitte der siebziger Jahre reihte sich dementsprechend ein arbeitsmarktpolitisches Programm an das andere. Von zwei „Ausreißern“ abgesehen -nämlich der gesetzlichen Einführung der 39-Stunden-Woche im Jahre 1981 und einigen Deregulierungsmaßnahmen der Regierung Chirac 1986 -blieb der Kurs der staatlichen Beschäftigungspolitik allerdings in ruhigem Fahrwasser: Zum einen setzte man auf die öffentliche Förderung befristeter Arbeitsbeschaffungs-und Fortbildungsmaßnahmen Mitte 1997 gab es über 70 solcher Einzelmaßnahmen, wobei viele von ihnen in den letzten Jahren, soweit sie für den Privatsektor eingerichtet wurden, mit Sozialabgabenerleichterungen zugunsten der Arbeitgeber verbunden wurden Die Subventionen für diese Arbeits-und Ausbildungsverträge -die sogenannten „emplois aides“ -machten 1996 knapp zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus und betrafen bei den Jugendlichen jeden dritten Arbeitsplatz
Damit nahm diese Form der Beschäftigungspolitik, die zunächst den jungen Arbeitslosen vorbehalten war, dann aber zunehmend auf ältere ausgedehnt wurde, einen im europäischen Vergleich relativ hohen Stellenwert ein. Eine zweite Achse der Beschäftigungspolitik ist bis heute die der Verkürzung der Lebensarbeitszeit: Diese erfreut sich in Frankreich einer hohen Popularität, und noch Ende 1996 -nach dem Abbruch des damaligen Fernfahrerstreiks -wurde nicht nur unter Gewerkschaftern über die Einführung eines Rentenalters von 55 Jahren diskutiert Mit der Arbeitsteilzeitrente sowie dem Frührentenprogramm der Arbeitslosenversicherung wurden noch in den neunziger Jahren neue Möglichkeiten einer vorzeitigen Inanspruchnahme von Sozialversicherungsbezügen geschaffen, und 1996 gab es unter den aus Normalarbeitsverhältnissen (wenigstens teilweise) ausscheidenden Personen über 55 Jahren erstmals mehr Rentenempfänger als Neuzutritte in Arbeitslosigkeit
Das Ergebnis dieser Arbeitsmarktpolitik läßt sich wie folgt zusammenfassen: Insofern sie für junge Menschen einen zweiten (Zeit-) Arbeitsmarkt einrichtete und die Älteren bei ihrem Rückzug aus dem Erwerbsleben unterstützte, förderte sie die Konzentration der Normalbeschäftigung auf die mittlere Generation (Personen zwischen 25 und 55 Jahren). Die Jugendlichen, aber zunehmend auch die Schwervermittelbaren aus älteren Jahrgängen wurden durch Arbeitsbeschaffungs-und Fortbildungsmaßnahmen geschleust, wobei offenkundig ist, daß es dabei weniger um die Beschäftigungswirkung (sie wird auf nicht mehr als 50 000 Vollzeitarbeitsplätze jährlich geschätzt) und -angesichts der insgesamt bescheidenen Qualifikationseffekte der Maßnahmen -auch kaum um eine Verbesserung der Angebotsstruktur am Arbeitsmarkt ging. Vielmehr wird man bestenfalls von einer Umstellung der Warteschlange vor dem Eintritt in Normalbeschäftigung, schlechtestenfalls von einer „Beruhigungspille“ für die Ausgegrenzten sprechen müssen Während also die Frühverrentung ein mit den vorherrschenden Wertvorstellungen in Frankreich durchaus kompatibles, wenn auch mittelfristig nur durch neue Finanzierungsmodelle tragfähiges Instrumentarium darstellt, führt die weitgehende Beschränkung der Arbeitsmarktpolitik auf die genannten Kurzzeitmaßnahmen de facto zu einer Bestätigung der vorherrschenden Segmentierungstendenzen -oder anders ausgedrückt: Sie ist kaum mehr als eine Verwaltung der Spaltung. Konnten sich die französischen Gewerkschaften damit zufriedengeben?
2. Gewerkschaften und Arbeitsmarktpolitik vor Jospin Die Gewerkschaftslandschaft in Frankreich erscheint für den außenstehenden Beobachter zunächst mehr als verwirrend, machen sich hier doch eine Vielzahl von Richtungsorganisationen, aber auch branchen-oder berufsgruppenbezogene Arbeitnehmervereinigungen gegenseitig das Feld streitig. Daß die -im Vorfeld von Betriebs-und Sozialwahlen mitunter heftig ausgetragene -Verbändekonkurrenz das Geschäft der organisierten Arbeitnehmervertretung nicht unbedingt optimiert, gilt in der frankreichbezogenen Gewerkschaftsforschung mittlerweile als Binsenweisheit. Noch in den siebziger Jahren war man indes zu durchaus anderen Befunden gelangt: Das Nebeneinander von konflikt-und verhandlungsorientierten Organisationen führe -so die damalige Beobachtung -zu einer produktiven Arbeitsteilung, bei der die einen die Kräfteverhältnisse bewegten und die anderen die Verhandlungsoperationen beförderten Das indes soll heute nicht mehr gelten: Aufgrund des rasanten Mitgliederschwunds, der abnehmenden Durchsetzungsstärke und der schwachen tarifpolitischen Handlungskompetenz sei, so der vorherrschende Tenor, die ideologische und strategische Differenzierung der Gewerkschaftsbewegung ein großes Hemmnis bei der Anpassung an die Herausforderungen von Globalisierung und Individualisierung.
Dafür scheint in der Tat einiges zu sprechen: so etwa das Fehlen einer halbwegs flächendeckenden gewerkschaftlichen Infrastruktur und -daraus ableitbar -der regulatorische „Wildwuchs“ in vielen Sektoren und Betrieben. Auch die Mitglieder-schwäche ist nicht von der Hand zu weisen, selbst wenn der Aderlaß vorerst gestoppt zu sein scheint: Die französischen Gewerkschaften haben -mit einer Organisationsquote von nur ca. 10 Prozent -diesbezüglich in Europa mittlerweile die „rote Laterne“ übernommen. Das bedeutet freilich nicht, daß sie von der Bühne der sozialen Auseinandersetzungen tatsächlich abgetreten sind -darauf hat jüngst die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) in ihrem Jahresbericht 1997 hingewiesen, als sie die nach wie vor hohe Mobilisierungsfähigkeit und öffentliche Reputation der Arbeitnehmerorganisationen in Frankreich herausstellte. Es lohnt deshalb, die gewerkschaftlichen Strategien der letzten Jahre Revue passieren zu lassen, um dann auch nach dem möglichen Zusammenhang zwischen diesen Strategien und den neuen Regulierungsansätzen des Staates Ausschau zu halten.
Die Darstellung beschränkt sich dabei auf die beiden größten Organisationen, die „Confederation generale du travail" (CGT) sowie die „Confederation franaise democratique du travail“ (CFDT). Dies liegt durchaus nahe, besteht doch heute weitgehend Übereinstimmung darin, daß sich aus der Gewerkschaftslandschaft zwei große Blöcke herausschälen, die de facto von eben diesen beiden Organisationen angeführt werden und sich in ein konflikt-und in ein verhandlungsorientiertes Lager unterscheiden lassen Während dabei die CGT ihren organisatorischen Schwerpunkt in traditionellen Industrien (Arbeiter) sowie in Teilen des öffentlichen Sektors (Beamte) hat und der kommunistischen Partei nahesteht, könnte man die CFDT, die das Erbe der christlichen Gewerkschaftsbewegung angetreten hat, heute als „modernistische“ Organisation mit einem hohen Anteil an Dienstleistungsbeschäftigten und post-materialistisch orientierter Klientel bezeichnen.
Vergleicht man die vorherrschenden Handlungsansätze beider Organisationen, so zeichnet sich die CFDT durch eine hohe Bereitschaft zum „concession bargaining" im Rahmen einer dezentralisierten Tarifpolitik aus, wohingegen die CGT bislang den Schwerpunkt auf die Verteidigung (und auch Verbreiterung) bestehender Arbeitnehmerrechte und Sozialstandards gelegt hat sowie alle Möglichkeiten ausschöpft, um die Arbeitgeber und den Staat durch Massenmobilisierungen und Streikaktionen unter entsprechenden Konzessionsdruck zu setzen. Aus diesen Grundorientierungen haben sich in der Vergangenheit dann auch die Positionen und Strategien beider Verbände im Bereich der Arbeitsmarktpolitik ergeben. Die Hauptziele der CGT in Sachen Beschäftigungsförderung waren dabei relativ konventionell: zum einen die Erhöhung der Massenkaufkraft, zum zweiten die Ausweitung der Beschäftigung im öffentlichen Sektor, drittens eine deutliche Verringerung der Arbeitszeit -möglichst in Form von Frühverrentungen, eher nachrangig auch in Gestalt einer Wochenarbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich. Der Dachverband und seine Unterorganisationen haben tarifpolitische Aushandlungsverfahren, die auf Zugeständnisse der Arbeitnehmerseite hinausgelaufen wären, meist abgelehnt und statt dessen auf den Druck der Straße bzw. die Intervention des Staates gesetzt.
Ganz anders die CFDT: Sie verfolgt seit Mitte der achtziger Jahre eine tarifpolitische Verhandlungsstrategie, die in den Branchen und Betrieben auf beschäftigungsfördernde Vereinbarungen mit den Arbeitgebern ausgerichtet ist und dabei zugleich qualitative Verbesserungen für die Kernbelegschaften bringen soll. Durch die Zulassung längerer Maschinenlaufzeiten möchte man die „interne“ betriebliche Flexibilität sowohl im Sinne der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen als auch des Selbstbestimmungsinteresses der Arbeitnehmer deutlich erhöhen -und damit dann auch eine Verminderung prekärer Arbeitsverhältnisse sowie, in Verbindung mit Arbeitszeitverkürzungen, mehr Beschäftigung erreichen. Die Praxis der CFDT-Vertreter orientiert sich relativ weitgehend an diesen Zielvorgaben, wenngleich die Ergebnisse in quantitativer Hinsicht insgesamt bescheiden blieben. Die Flankierung einer tarifpolitischen Arbeitszeitverkürzung durch den Staat stellte man sich -in der Schlußresolution des Gewerkschaftstags 1995 -so vor, daß dieser ein Rahmengesetz erläßt, welches eine Verhandlungspflicht ohne konkrete Zielvorgaben schafft, den Modus der Arbeitszeitverkürzung unbestimmt läßt und öffentliche Lohnsubventionen in Aussicht stellt. In bezug auf die Jugendbeschäftigung schließlich befürwortet die CFDT seit langem Sonderprogramme außerhalb des Normalarbeitsrechts, darunter auch den Ausbau der schon bestehenden Experimente mit Verleihunternehmen („entreprises intermediaires“), die sich in bisher „unentdeckten“ Beschäftigungsfeldern ansiedeln und Arbeitseinsätze mit Fortbildungsmaßnahmen verknüpfen.
Die Erfahrungen mit diesen beiden Strategiemustern fielen eher ernüchternd aus: Der CGT gelang es nicht, Staat und Arbeitgeber zu Maßnahmen in ihrem Sinne zu bewegen. Sie behauptete sich hier und da als sanktionsstarke Organisation, vor allem im öffentlichen Dienst. Die Kraft reichte aber allenfalls zur Sicherung von Besitzständen, weil die Gewerkschaft zuvorderst in dieser Rolle Gehör bei den Beschäftigten fand. Von einigen Streikerfolgen abgesehen, konnte sie weder Neu-einstellungen durchsetzen noch die Verringerung atypischer Beschäftigungsverhältnisse erreichen. Ungeachtet ihrer vielfältigen Anstrengungen bei der Organisierung von Arbeitslosen wurde sie de facto zu einer Verteidigungsagentur der zunehmend in ihrem sozialen Status bedrohten Normal-beschäftigten. Mit der taktischen Konzentration auf Protestallianzen von Unzufriedenen und die Strategie des „Alles oder nichts“ erzielte man zwar Mobilisierungserfolge -wie etwa während der großen Streikbewegung vom Herbst 1995 -, aber kaum konkrete Ergebnisse.
Aber auch die Politik der CFDT blieb in vielerlei Hinsicht erfolglos: Die intensiven Bemühungen um die „Internalisierung“ der Flexibilität (in Gestalt von Jahresarbeitszeitkonten, Wochenendarbeit etc.) führten zwar hier und da zum Abbau von Randbelegschaften, in den meisten Arbeitszeitverträgen (bis Mitte 1996) wurden indes keine Einstellungszusagen festgeschrieben Schlußendlich konnten auch die Leistungen der „entreprises intermediaires“ bzw.der übrigen Sondermaßnahmen zur Jugendbeschäftigung kaum zufriedenstellen Während dies ganz offensichtlich auf die Abschottung der Normalarbeitsmärkte zurückzuführen ist, fehlten der CFDT auf dem tarifpolitischen Terrain schlicht die nötigen Machtressourcen, um Lösungen im Sinne der Arbeitslosen und prekär Beschäftigten durchzusetzen; und selbst für die Normalbeschäftigten ging -was die Erhöhung ihrer Zeitsouveränität betrifft -die Rechnung nur selten auf.
So fehlte der CGT der Mut zu „unorthodoxen“ Vorschlägen und ein Konzept zur anschlußfähigen Umgestaltung, während die CFDT zwar viel Phantasie und Verhandlungsgeschick entwickelte, dabei aber über zu geringe Durchsetzungsressourcen verfügte -und deren Zustandekommen durch ihr Konzept wohl auch nicht beförderte. Kurzum: Beide Organisationen machten „halbe Sachen“, und die Aussichten auf einen Umschwung in der Arbeitsmarktpolitik blieben insgesamt mager.
IV. Kontinuität und Wandel: Arbeitsmarktpolitik und Gewerkschaftsstrategien in der Ära Jospin
Nach dem Antritt der neuen Linksregierung unter Jospin hat sich in Frankreich ganz offensichtlich eine veränderte Konstellation eingestellt: Wir sind Zeuge einer weiteren Variante des sozial-und arbeitsmarktpolitischen Voluntarismus „ä la franaise", die allerdings -verglichen mit ihren Vorgängerinnen -wichtige Akzentverschiebungen aufweist. Das korrespondiert mit bestimmten Veränderungen in den Gewerkschaftsstrategien, die sich nunmehr stärker ergänzen und dabei jede für sich zur Ressource einer neuen Politik avancieren.
Die möglichen Ursachen für diese Entwicklung können hier nur grob angedeutet werden: Zum einen hat in weiten Teilen der französischen Eliten die Überzeugung Verbreitung gefunden, daß die wohlfahrtsstaatlichen Institutionen des Landes ein kulturelles Kapital darstellen, welches den gegenwärtigen Globalisierungstendenzen bewußt und produktiv entgegengesetzt werden soll Zum zweiten läßt sich -ganz nach dem für Frankreich typischen Muster des „ideologischen“ Einflusses der Verbände auf die (politische) Öffentlichkeit -ein Zusammenhang feststellen zwischen den aktuellen Regierungskonzepten und der politischen Ausstrahlung von Impulsen aus den Reihen der Gewerkschaftsbewegung. Mit anderen Worten: Die aktuellen Konzepte stehen für einen neuen Politikansatz, der de facto auch auf bestimmte Vorleistungen der beiden genannten Arbeitnehmerorganisationen zurückzuführen ist. 1. Die neue Arbeitsmarktpolitik Die bisher von der Regierung in Angriff genommenen arbeitsmarktpolitischen Programme stellen einerseits die Fortschreibung klassischer Konzepte dar -das betrifft etwa die für bestimmte Gruppen neugeschaffenen Möglichkeiten der Frühverrentung wie auch den Bereich der Jugendbeschäftigung und der Arbeitszeitpolitik. Andererseits aber läßt sich vor allem bezüglich der letzten beiden Bereiche der Versuch erkennen, nicht nur an den besonderen französischen „Krankheiten“ anzusetzen, sondern darüber hinaus im Anschluß an Erfahrungen aus bereits bestehenden „Experimentierfeldern“ einen qualitativ und prozedural veränderten -und von seiner sozialpolitischen Philosophie her auch konsequenteren -Reform-weg zu entwickeln
Das gilt zunächst für das neue Jugendbeschäftigungsprogramm („Loi Aubry“ vom 16. 10. 1997): die sogenannten „emplois jeunes“ im Programm „nouveaux Services -nouvelles activites“. Es handelt sich hier zunächst um die staatliche Finanzierung von 350 000 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in der Tradition der bisherigen Sonderprogramme für jugendliche Arbeitslose im Bereich des öffentlichen Sektors. Abgesehen von der Größenordnung sind dabei jedoch folgende Elemente augenfällig: Zum einen ist das Projekt mit der systematischen Suche nach neuen, auf Dauer angelegten Dienstleistungsfeldern verknüpft und in dieser Funktion explizit auch auf den „Dritten Sektor“ (Vereine, Bürgerinitiativen, Sozialverbände) ausgerichtet. Dazu werden regionale Komitees eingesetzt, die die bereits vor Ort entstandenen Ansätze sammelnund ihnen zum Durchbruch verhelfen sollen, wobei entsprechende Anträge insbesondere daraufhin geprüft werden, ob Substitutionseffekte auszuschließen sind. Dabei kann man in Frankreich auf eine Reihe von Projekten zurückgreifen, die sich praktisch bzw. konzeptionell mit den Finanzierungs-und Organisationsproblemen in solchen neuen Beschäftigungsfeldern auseinandergesetzt haben Die Assoziationen des Dritten Sektors sitzen schon in den Startlöchern: Der Dachverband der Wohlfahrtsvereinigungen UNIOPSS z. B. hat bereits im Oktober 1997 eine auf der Befragung seiner Mitgliedsorganisationen beruhende Aufstellung veröffentlicht, der zufolge in diesem Bereich Projekte für ca. 100 000 Stellen vorliegen. Zunächst übernimmt indes der öffentliche Dienst die Vorreiterrolle: Ein Beispiel sind die ca. 40 000 „aides ducateurs“; sie sollen innerhalb von Schulen, die in sozialen Brennpunkten angesiedelt sind, für die Moderation von Freizeitaktivitäten eingesetzt werden. Für diese Posten hatten sich bereits im Herbst 1997 150 000 Interessenten beworben.
Die Attraktivität dieser neuen, unkonventionellen Stellen verdankt sich wohl auch dem für sie vorgesehenen arbeitsrechtlichen Status, der ein zweites Novum des Konzepts darstellt: Die Verträge werden in der Regel für fünf Jahre abgeschlossen, gezahlt wird wenigstens der gesetzliche Mindestlohn (zu 80 Prozent vom Staat). Auch soll versucht werden, systematisch Wege zu einer Professionalisierung bzw. längerfristigen Etablierung der neuen Tätigkeitsfelder zu eröffnen; Staat und Gebietskörperschaften stellen ferner Projektmittel zur Verfügung, die für die dazu erforderlichen Bildungsprogramme und für Markterschließungsstudien verwendet werden sollen. Auf diese Weise erhalten die neuen Beschäftigungsformen zumindest streckenweise den Charakter von Normalarbeitsverhältnissen, zumal der implizite Zwangscharakter vermieden wird, wie er etwa mit dem „New Deal“ -Programm der Regierung Blair in England verknüpft ist
Das zweite große Vorhaben der Regierung Jospin ist die gesetzliche Einführung der 35-Stunden-Wochebis zum Jahre 2000 (bzw. 2002 für kleine Unternehmen). Der Gesetzentwurf vom Januar 1998 sieht dabei vor, daß der Einkommensausgleich tarifpolitisch auszuhandeln ist und pauschale Lohnsubventionen (qua Sozialabgabenerleichterung) für diejenigen Betriebe gewährt werden, die vor dem 1. 1. 2000 ein Arbeitszeitabkommen in Verbindung mit Neueinstellungen abgeschlossen haben (Arbeitszeitverkürzung um 10 Prozent, Personalerhöhung um 6 Prozent); über die Fortführung der Zuweisungen wird in einem Nachfolgegesetz (1999) entschieden. Mit dem Vorhaben sollen zugleich Anreize zu einer Modernisierung von Organisationsstrukturen (also einem effizienteren Personal-und Maschineneinsatz) gegeben werden -nicht zuletzt dadurch, daß Tarifverträge (für bestimmte Beschäftigtengruppen) die Arbeitszeitverkürzung in Gestalt von Zeitkonten etc. von der Wochenarbeitszeit entkoppeln können. Gerade unter dieser Bedingung könnten Unternehmen an neuen Arbeitszeitverträgen interessiert sein. Ihnen bleiben im übrigen nach wie vor Flexibilitätsreserven in Gestalt von Überstundenkontingenten, wobei die gesetzlichen Zuschlagsregelungen zunächst moderat ausfallen dürften. In dem Konzept wird ferner davon ausgegangen, daß die Gewerkschaftsvertreter Kollektiv-vereinbarungen zur Arbeitszeitverkürzung auch dann unterstützen, wenn diese einen differenzierten (also: unvollständigen) Lohnausgleich vorsehen -etwa deswegen, weil Neueinstellungen ihrer Klientel von Nutzen sein könnten, soweit diese sich einer Intensivierung der Arbeit entziehen oder an Zeitsouveränität gewinnen will.
Nur auf den ersten Blick haben wir es hier also mit einer Neuauflage der Gesetzesmaßnahmen von 1981 zu tun. Eher ähnelt das Konzept den Vorstellungen der deutschen IG Metall zur Realisierung eines „Bündnisses für Arbeit“. Es verwertet dabei Erfahrungen aus in den Vorjahren bereits getroffenen Unternehmensvereinbarungen zur Arbeitszeitverkürzung, versucht aber, diese zu optimieren und zugleich zu generalisieren. Die bis dato existierenden Vereinbarungen stellten ebenfalls eine Verknüpfung von Flexibilitätszumutungen und Arbeitszeitverkürzungen (anstelle von Überstundenzuschlägen) her -und zwar in Teilen des öffentlichen Sektors (Krankenhauswesen, Elektrizitäts-und Gaswirtschaft), vor allem aber in den über 1 300 Betrieben, in denen zwischen Mitte 1996 und Ende 1997 „Bündnisprojekte“ nach dem „Loi Robien“ ausgehandelt wurden
Das neue Konzept soll allerdings die Mitnahme-und Deregulierungseffekte, die das Robien-Gesetz ermöglichte, einschränken. Die Lohnsubventionen fallen jetzt weniger großzügig aus, die Neueinstellungen sind nunmehr -anders als bei der Robien-Regelung -für den gesamten Zeitraum der Subvention und zudem in kürzerer Frist fällig. Schließlich werden die Deregulierungseffekte der bisherigen Vereinbarungen (z. B. von Jahresarbeitszeitsmodellen, die sowohl reduzierte Überstundenzuschläge als auch besonders hohe Flexibilitätszumutungen nach sich ziehen) besser kontrolliert, weil die Unternehmen in den Verhandlungen stärker unter Zugzwang stehen.
Der geplante tarifpolitische Mechanismus wird auch das Konzessionsniveau in bezug auf den Lohnausgleich begrenzen -ein durchaus erwünschter Effekt, denn die Regierung will eine weitere Verringerung der Massenkaufkraft auf jeden Fall umgehen (was sie auch durch andere Maßnahmen, wie z. B. die stärkere Einbeziehung von Kapitaleinkommen in die Finanzierung der Sozialversicherung, anstrebt). Gerade diesbezüglich haben wir es indes mit einem Balanceakt zu tun, bei dem versucht wird, flexibilitätsbedingte Produktivitätsgewinne der Unternehmen in Grenzen zuzulassen, negative Kaufkrafteffekte zu vermeiden und zugleich die Beschäftigung zu erhöhen. Vieles hängt deshalb davon ab, ob die Sozialparteien mitziehen und wie sie dies tun. 2. Neue Gewerkschaftsstrategien?
Für die Gewerkschaften war das Jugendbeschäfti -gungsprogramm keines großen Aufhebens wert: Der Regierungsplan wurde -wenn auch ohne Enthusiasmus -einhellig begrüßt. Die CFDT mahnte zwar an, daß Substitutionseffekte auf jeden Fall verhindert werden müßten, während die CGT zu bedenken gab, daß die privatrechtlichen, zumeist befristeten Verträge nicht den -aus ihrer Sicht unabdingbaren -Beschäftigungsnormen des öffentlichen Sektors entsprächen. Die Befürchtung, die „emplois jeunes“ könnten zum Trojanischen Pferd einer allgemeinen Deregulierung des öffentlichen Dienstes werden, trat aber angesichts der Hoffnungen auf eine effektive staatliche Förderung neuer Beschäftigungsfelder in den Hintergrund. Die Gewerkschaften konzentrierten sich vielmehr nach Antritt der Regierung Jospin auf die Frage, für welche Modalitäten sie sich bei der angekündigten Einführung der 35-Stunden-Woche im einzelnen stark machen wollten. Grundsätzlich war das Projekt sicherlich in ihrem Sinne, CFDT-Chefin Notat sprach sogar von einem „Sieg für die Beschäftigung“. Wesentlich ist aber, daß die verbandsübergreifende Akzeptanz des Konzepts erst auf der Grundlage gewisser programmatischer Akzentverschiebungen möglich wurde.
Gewiß: Noch immer bestehen wichtige Nuancen zwischen den Gewerkschaftspositionen. Die CFDT setzt nach wie vor auf tarifpolitische Aushandlungsprozesse, in denen Arbeitszeitverkürzungen gegen eine erhöhte Flexibilitätsbereitschaft der Beschäftigten und einen nach Lohngruppen differenzierten Einkommensverzicht „getauscht“ werden sollen. Im Zweifel habe -so die Verbandsführung -das Beschäftigungsziel absoluten Vorrang, und im Falle von Einstellungszusagen werde man, wenn damit die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe gestärkt würde, auch neue Jahresarbeitszeitmodelle mittragen. Die CGT wiederum lehnt solche Lösungen ab: Die Arbeitnehmer seien für weitere Flexibilitätszumutungen nicht zu gewinnen, die prosperierende Wirtschaft werde ohne Not geschont, und die Beschäftigungswirkungen seien wegen der negativen Rationalisierungs-und Kaufkrafteffekte gefährdet
Ist also alles beim alten geblieben? Nicht ganz, denn das Entscheidende liegt wie immer im Detail: Die CFDT unterstützt nun (in ihrer Öffentlichkeitsarbeit) die staatliche „Zwangsmaßnahme“ insofern, als sie in ihr ein wichtiges Druckmittel gegenüber den Arbeitgebern erkennt -sie gelangt an Ressourcen, über die sie zuvor in ihrem arbeitsmarktpolitischen Ansatz nicht verfügte und die sie mit diesem wohl niemals erlangt hätte. Die CGT-Spitze springt -nachdem sie diesbezüglich lange Zeit reserviert geblieben war -nun den auf Zug der Wochenarbeitszeitverkürzung auf, wohl wissend, daß an der Basis die Bereitschaft zu flexiblen Betriebsverhandlungen und „gemischten“ Lösungen deutlich gewachsen ist. Das wird allein daran deutlich, daß CGT-Vertreter zahlreiche Unternehmensvereinbarungen im Rahmen des „Loi Robien“ mitgetragen haben. Die CGT scheint den dezentralen Verhandlungsweg jetzt zu akzeptieren und will durch ihre Lobbyarbeit nur noch sicherstellen, daß in den Bestimmungen für Betriebsvereinbarungen Lohnabschläge und die Einrichtung von Jahresarbeitskonten ausgeschlossen, Über-stunden möglichst hoch belastet und Einkommens-subventionen lediglich für lohnintensive Sektoren und Betriebe sowie umsatzschwache Unternehmen gewährt werden Ferner sollen alle Betriebs-abkommen von den die Mehrheit der Belegschaft repräsentierenden Gewerkschaftsgruppen (undnicht von nur einer beliebigen Organisation) gebilligt werden müssen.
Die meisten dieser Forderungen wurden allerdings nicht erfüllt. Aber letztlich zählen bei beiden Gewerkschaften nur die Strategien der Betriebs-gruppen vor Ort; deren Freiheitsspielraum ist zuletzt immer größer geworden, so daß der politische Einfluß in Paris sich ohnehin nur auf die Gestaltung der institutionellen Rahmenbedingungen beziehen kann, nicht aber auf den konkreten Verhandlungsprozeß im Terrain. Und hier ist nun Wandel möglich.
V. Eine neue Synthese?
Betrachtet man nun die prinzipiellen Ansätze beider Gewerkschaften und das neue Regierungsprogramm, so läßt sich daraus schließen, daß letzteres den beiden Organisationen jeweils auf halbem Wege entgegenkommt. Was die Jugendbeschäftigung anbelangt, so läßt sich die neue Regierungspolitik zum einen von jenen Experimentierfeldern inspirieren, die bislang in einem vergleichsweise deregulierten Raum angesiedelt waren, aber von verschiedenen zivilgesellschaftlichen Akteuren (und darunter auch die CFDT) unterstützt wurden. Dadurch kann die Gefahr einer etatistischen Beschäftigungstherapie möglicherweise kontrolliert werden. Zum anderen aber bemüht man sich, die Standards des Normalarbeitsmarktes in wichtigen Grundzügen zu bestätigen -was den Vorstellungen der CGT entspricht -und durchbricht damit mindestens symbolisch die Grenze zwischen erstem und zweitem Arbeitsmarkt, die durch die vorhergehenden Programme eher stabilisiert worden war. Eine ähnliche Synthese läßt sich in bezug auf die Arbeitszeitverkürzung beobachten: Der Staatsinterventionismus begrenzt die „perversen“ Effekte, die im Rahmen des CFDT-Modells nicht vermieden werden konnten (hohe Flexibilitätszumutungen, geringe Beschäftigungswirkungen, Kaufkraftverluste). Er orientiert sich dennoch an der bahnbrechenden Erfahrung, die mit dem „Loi Robien“ verbunden und von der CFDT immer wieder hervorgehoben wurde: nämlich daß in der französischen Konstellation letztlich nur „gemischte“ Lösungen auf dezentraler Ebene Erfolg versprechen.
Die Gewerkschaften haben hier der Regierung Jospin wichtige Ressourcen vermittelt -die CFDT, indem sie unermüdlich ihr Konzept eines „Bündnisses für Arbeit“ politisch und auch praktisch vorantrieb, und die CGT, die mit ihrer Organisationspolitik vor allem im Zusammenhang mit der
Streikbewegung von 1995 maßgeblich daran beteiligt war, daß sich die Großwetterlage in der politischen Öffentlichkeit nachhaltig verändert hat und die Idee von der voluntaristischen Staatspolitik wieder salonfähig wurde. In bestimmter Weise hat also -ganz im Sinne der früheren, eingangs erwähnten These von der „produktiven“ Arbeitsteilung der französischen Gewerkschaften -das Zusammenspiel der alten Akteure neue Verhältnisse geschaffen.
Ob diese allerdings dazu führen, daß sich die Beschäftigungssituation tatsächlich bessert -und Frankreich damit, so wie es sich Arbeitsministerin Aubry vorstellt, einen neuen Weg zur Wahrung des europäischen Sozialmodells weist -, erscheint gegenwärtig ungewiß. Abgesehen von den Schwierigkeiten einer wirtschaftspolitischen „Quadratur des Kreises“, die das Nebeneinander von Arbeitszeitverkürzung, produktivitätssteigernder Flexibilisierung und kaufkraftstärkender Sozialpolitik bedeutet, sind auch die politischen Widerstände von Seiten der Arbeitgeber nicht zu unterschätzen. Deren Vertreter haben dem Konzept unverblümt den Kampf angesagt, und der Zentralverband CNPF empfahl seinen Mitgliedern den Verhandlungsboykott Andererseits halten sich nicht alle Unternehmen daran, und zudem genießen die Pläne der Regierung die mehrheitliche -wenn auch vorsichtige -Unterstützung der arbeitenden Bevölkerung Letzteres könnte sich freilich ändern, wenn die Arbeitszeitverkürzung nur um den Preis großer Zugeständnisse zu haben ist und die Beschäftigungseffekte gering ausfallen. Auch von daher ist dem Regierungschef nur beizupflichten, wenn er andeutet, daß er sich in ein riskantes Abenteuer hineinbegeben hat Doch noch ist das Ende offen.
Ingo Bode, Dr. rer. pol., geb. 1963; Hochschulassistent am Fach Soziologie der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit H. G. Brose und S. Voswinkel) Die Regulierung der Deregulierung. Zeitarbeit und Verbändestrategien in Frankreich und Deutschland, Opladen 1994; (zus. mit S. Voswinkel und S. Lücking) Im Schatten des Fordismus. Industrielle Beziehungen in der Bauwirtschaft und im Gast-gewerbe Deutschlands und Frankreichs, München -Mering 1996; Die Organisation der Solidarität. Normative Interessenorganisationen der französischen Linken als Auslaufmodell mit Zukunft, Opladen 1997.
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