Die Niederlande haben in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten ein Beschäftigungswachstum realisiert, das selbst das der USA übertrifft; zugleich wurde die Arbeitslosigkeit halbiert. Dies geschah bei weitgehender Aufrechterhaltung des relativ generösen Wohlfahrtsstaates. Generell werden diese Leistungen in Zusammenhang gebracht mit den zurückhaltenden Lohnforderungen der Gewerkschaften während dieser Phase. Eine nähere Betrachtung zeigt jedoch nicht nur, daß in den Niederlanden -verglichen mit anderen Ländern -ein Beschäftigungsrückstand aufgeholt wurde, vor allem von den Frauen, und daß die meisten der neuen Arbeitsplätze Teilzeitstellen sind. Der Vergleich macht auch deutlich, daß der Zusammenhang von Lohn-und Beschäftigungsentwicklung weniger eindeutig ist, als dies oftmals angenommen wird. Dennoch bleibt die erstaunliche Mäßigung der Gewerkschaften an der Tariffront erklärungsbedürftig. Die Hintergründe, so wird argumentiert, sind zu suchen in der Wiederbelebung spezifischer niederländischer Traditionen der Unterordnung von Partikularinteressen unter ein (in erster Linie) staatlich definiertes Gemeinwohl in Kombination mit veränderten Machtverhältnissen am Arbeitsmarkt und einer von liberaler Dominanz gekennzeichneten politisch-ideologischen Großwetterlage.
I. Einleitung
Seit 1996 werden die Niederlande wegen ihrer erfolgreichen Bekämpfung der Arbeitslosigkeit von ausländischen Medien und Politikern mit Lob überschüttet und als Beispiel hingestellt. Den Höhepunkt dieser Anerkennungswelle bildete vielleicht die Verleihung des Carl-Bertelsmann-Preises 1997 an die „Stiftung der Arbeit“, jenes Organ der Arbeitgeber-und Arbeitnehmerdachverbände, in dem diese regelmäßig mittel-und langfristige Ziele der Arbeitsbeziehungen und Tarifpolitik zu vereinbaren versuchen. Neben der enormen Ausweitung der Teilzeitarbeit, der Anpassung des Sozialstaats und der Reduzierung der Staatsschulden ist es diese korporatistische Orientierung am Gemeinwohl, insbesondere die maßvolle Haltung der Gewerkschaften, die es ausländischen Beobachtern angetan hat. Im Land selbst hat sich wirtschaftliche Zufriedenheit, wenn nicht gar ein gewisser Stolz verbreitet. Die gegenwärtig häufigen Nachrichtenmeldungen von zunehmender Arbeitslosigkeit in Deutschland und Frankreich werden daher oft von der Mitteilung begleitet, daß der -sinkende -Prozentsatz der Menschen ohne Arbeit im eigenen Land sich nur auf ungefähr die Hälfte belaufe. Das anhand der Geographie der Niederlande umschriebene „Deltamodell“ der wirtschaftlichen Entwicklung wird rundum als Erfolg gesehen -Opposition gibt es kaum. Da hilft es wenig, daß der Wirtschaftsminister selbst zur Feder greift und dieses Modell auf der Diskussionsseite einer führenden Tageszeitung als „Fiktion“ beschreibt und hinweist auf den großen Umfang verborgener Arbeitslosigkeit
Tatsächlich ergibt sich bei genauerer Betrachtung ein weniger rosiges Bild. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist nur wenig gefallen, der Prozentsatz der Bezieher einer Invaliditätsrente ist doppelt so hoch wie in anderen Ländern, und die Altersgruppe über 55 Jahre ist -da in hohem Maße frühverrentet -nur noch spärlich auf dem Arbeitsmarkt vertreten. Die „breite Arbeitslosigkeit“ ist denn auch immer noch höher als in Deutschland, und insgesamt ist das Beschäftigungsniveau mit dem der neuen Bundesländer zu vergleichen. Positiv zu beurteilen sind daher weniger die absoluten Daten der aktuellen Beschäftigungslage als vielmehr die Entwicklung der vergangenen 15 Jahre wie auch bestimmte Aspekte dieser Entwicklung. Dies betrifft vor allem die Umverteilung der Arbeit zugunsten der Frauen, die wichtige Rolle privater Arbeitsvermittlungsagenturen und nicht zuletzt die Erhaltung eines vergleichsweise generösen Systems sozialer Sicherung. Im letzten Punkt weicht das niederländische „Jobwunder“ grundsätzlich ab vom amerikanischen. Im folgenden werden die angesprochenen Entwicklungen und Veränderungen seit ca. 1980 in vergleichender Perspektive beschrieben, wird gefragt nach ihren Hintergründen und eingegangen auf den niederländischen Korporatismus. Im Kontext spezifischer Traditionen sowie des allgemeinen politisch-ideologischen Klimas gebührt dabei den Gewerkschaften besondere Aufmerksamkeit.
II. Der Sprung vorwärts
Abbildung 2
Tabelle 5: Wirtschaftswachstum und Lohnkosten der Niederlande im Vergleich (in Prozenten)
real und inkl. Lohnnebenkosten; 2) nominal; 3) 1987-1994; 4) 1987-1994 bzw. 1992-1996; 5) 1986-1994 bzw
Tabelle 5: Wirtschaftswachstum und Lohnkosten der Niederlande im Vergleich (in Prozenten)
real und inkl. Lohnnebenkosten; 2) nominal; 3) 1987-1994; 4) 1987-1994 bzw. 1992-1996; 5) 1986-1994 bzw
Die Ausgangslage der jüngeren niederländischen Beschäftigungsentwicklung ist die wirtschaftliche und soziale Situation zu Anfang der achtziger Jahre. 1983 erreichte die Arbeitslosigkeit mit 12 Prozent ihren Höhepunkt, seitdem verringert sich dieser Prozentsatz kontinuierlich; 5, Prozent war der Stand Ende 1997 2. Härter als andere Länder wurden die Niederlande, so liest man oft, von der sogenannten zweiten Ölkrise (1980/81) getroffen; ferner, daß die desaströse Entwicklung nach 1980 einen Lernprozeß bei den Gewerkschaften ausgelöst habe, der dann im November 1982 zum Abkommen von Wassenaar mit den Unternehmern führte und in der Folge zu sehr bescheidenen Lohnabschlüssen Zwischen 1985 und 1995 betrug der jährliche nominale Lohnzuwachs nur 2, 6 Prozent und war damit nur geringfügig höher als die Inflation Diese Lohnentwicklung -auch darüber herrscht beinahe einhelliger Konsens -bildete dann die Grundlage für die Ausweitung der Beschäftigung bis heute um mehr als 20 Prozent.
Diese Theorie vom außergewöhnlich harten Schlag der Ölkrise auf den niederländischen Arbeitsmarkt ist jedoch nicht uneingeschränkt zutreffend. Zwar wurde die Arbeitslosigkeit von 12 Prozent im Jahre 1983 von keinem der vergleichbaren Länder übertroffen, und ihre relative Zunahme von 1979 auf 1983 war nur geringfügig höher in der Bundesrepublik und Großbritannien (vgl. Tabelle l Betrachtet man die Erwerbsquote (vgl. Tabelle 2), dann ergibt sich jedoch ein differenzierteres Bild. Diese fiel von 1979 auf 1983 in einigen europäischen Ländern einschließlich der Bundesrepublik.
Die Ursache der unterschiedlichen Veränderungen von geringem Beschäftigungseinbruch und großer Zunahme der Arbeitslosigkeit kann nur sein, daß die Ölkrise und eine Steigerung des Arbeitskräfteangebotes zusammenfielen. Genau dies geschah: Nach einem Anlauf seit Mitte der siebziger Jahre erstürmten die Frauen im erwerbsfähigen Alter jetzt geradezu den Arbeitsmarkt. So verdoppelte sich auch ihre Erwerbsquote (vgl. Tabelle 3) zwischen 1973 und der Gegenwart.
Bis zur Mitte der sechziger Jahre waren die Niederlande ein sehr konservatives Land mit -ähnlich wie Italien, Spanien und Irland -starkem christlichen Einschlag. Alles hatte seine Ordnung und seinen Platz, und mehr noch als in den angrenzenden Ländern war es hier selbstverständlich, daß der Arbeitsplatz der Frauen der Haushalt war. Bis 1957 verloren weibliche Beamte bei Heirat sogar automatisch ihren Arbeitsplatz Da verheiratete Frauen also weitgehend abwesend waren auf dem Arbeitsmarkt, war die weibliche Erwerbsquote entsprechend niedrig.
Die Wende wurde eingeläutet durch die kulturellen Veränderungen der sechziger Jahre, die in kaum einem Land so heftig waren wie in den Niederlanden. Die christlich-konservative Ordnung wurde von der „permissive society“ abgelöst, die Säkularisierung machte die Gesellschaft innerhalb zweier Jahrzehnte zu einer der am wenigsten religiösen Europas, und Feminismus sowie Frauenbewegungen erstarkten Wirtschaftliche Unabhängigkeit für die Frau war eine ihrer zentralen Forderungen, und mit einer gewissen Zeitverzögerung erfaßten diese Veränderungen auch den Arbeitsmarkt.
In allen Publikationen zu diesem Thema wird hingewiesen auf die Expansion weiblicher Beschäftigung sowie auf den Rückstand gegenüber vergleichbaren Ländern, den die Niederlande diesbezüglich aufzuholen hatten. Dieselbe positive Resonanz wie die Zurückhaltung der Gewerkschaften an der Lohnfront erhält die Beschäftigungsexpansion der Frauen jedoch kaum. Immerhin erschienen mit ihnen Arbeitskräfte auf dem Markt, die durchschnittlich nur etwa drei Viertel des Männerlohns verdienen. Mit der Ausnahme Skandinaviens ist dies in etwa in allen vergleichbaren Ländern anzutreffen, aber in diesen Ländern hat die Erwerbstätigkeit von Frauen weniger stark zugenommen oder, wie in der , alten 1 Bundesrepublik, mehr oder weniger stagniert. In Dänemark, Schweden und Finnland hat sie seit 1990 sogar abgenommen, wenn auch von einem hohen Ausgangsniveau und im Einklang mit der Entwicklung bei den Männern.
Die Erwerbsquote der niederländischen Frauen nahm seit 1979 um ca. 70 Prozent zu. Dieser Zuwachs ist jedoch keiner in Vollzeitstellen, sondern in erster Linie eine Folge der außergewöhnlichen Ausweitung der Teilzeitarbeit. Bereits 1979 arbeiteten 44 Prozent der Frauen in Teilzeit, gegenwärtig sind es mehr als 65 Prozent (vgl. Tabelle 4). Und bei den Männern entspricht die aktuelle Teilzeitrate einer Verdreifachung des Standes von 1979. All dies heißt, daß das Arbeitsvolumen (Beschäftigung gemessen in Vollzeitstellen) über die gesamte Phase des Beschäftigungszuwachses nur geringfügig gestiegen ist, und dies auch erst in den letzten Jahren.
III. Umverteilung der Arbeit
Bei einem aktuell erreichten Stand der Beschäftigung, der den der Bundesrepublik nur leicht übertrifft, bedeutet die wesentlich höhere Teilzeitrate der Niederlande, daß das Arbeitsvolumen insge-samt dort, niedriger ist als in Deutschland. Dies soll keineswegs eine negative Qualifikation sein, denn wahrscheinlich muß man Abschied nehmen vom Ziel der Vollzeit-Vollbeschäftigung. Wenn man will, dann kann man die Niederlande als Freizeitgesellschaft par excellence bezeichnen. Denn nirgendwo -mit Ausnahme vielleicht von Belgien (mit einer Erwerbsquote von 56, 6 Prozent und Teilzeitbeschäftigung in deutscher Größenordnung) -wird so wenig gearbeitet wie in diesem Land. Nicht nur ist die Teilzeitarbeit weit verbreitet, die Standardarbeitswoche bei Vollzeitbeschäftigung beträgt 38 Stunden, und in vielen Bereichen werden es 1998 36 Stunden sein. Im Durchschnitt aller Voll-und Teilzeitstellen arbeitete ein Erwerbstätiger im Jahre 1996 1 372 Stunden, in Deutschland (mit ähnlichen Arbeitszeiten, aber etwas längerem Urlaub und mehr Feiertagen) hingegen waren es 1 508 Stunden und in den USA 1 951 Stunden.
Bei solch geringer Beschäftigung mag die Arbeitslosigkeit von nur etwas mehr als 5 Prozent nicht so sehr überraschen. Dies ist allerdings nur der Prozentsatz der „offiziellen“ Arbeitslosenzahl von 1997, ca. 350 000 Menschen. Wie wenig aussagekräftig diese Zahl ist, zeigen allein schon die mehr als 700 000 Empfänger von Arbeitslosengeld. Die Arbeitslosen in der Sozialhilfe sind dabei noch nicht mitgezählt Die Manipulierung von Arbeitslosenzahlen ist jedoch in allen Ländern mehr oder weniger gang und gäbe.
Ein spezifisch niederländisches Phänomen ist das sehr hohe Maß der Umverteilung der Beschäftigung zugunsten jüngerer und damit meist auch billigerer und produktiverer Arbeitskräfte. Invaliden-und Frühverrentung sind hier die Stichworte. Die Anzahl der Invalidenrentenempfänger entspricht etwa 15 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung. In Belgien, Deutschland, Dänemark und Schweden sind dies dagegen nur ca. 8 Prozent, in Großbritannien sogar nur 6 Prozent Da es für einen im internationalen Vergleich schlechteren Gesundheitszustand der Niederländer keinen Hinweis gibt, bedeutet dies, daß zumindest die Hälfte der Frühinvaliden versteckte Arbeitslose sind.
Entsprechendes gilt für die Frühverrentung, zusammen mit der niedrigen (obwohl im letzten Jahrzehnt von 9 auf 15 Prozent gestiegenen) Erwerbsquote älterer Frauen. Frühverrentung kann ein freiwilliger Akt sein, aber oftmals werden ältere Arbeitnehmer einfach abgeschoben. Daß die Frührentner zusammen mit den Frühinvaliden und den Arbeitslosen die am wenigsten zufriedene Gruppe der Bevölkerung sind, scheint u. a. mit diesem letzteren Sachverhalt zusammenzuhängen
Die sogenannte breite Arbeitslosigkeit -eine Größe, die auch Frührentner und z. T. Frühinvaliden, nicht registrierte Arbeitslose, in ABS-Programmen sowie notgedrungen nur geringfügig Beschäftigte umfaßt -in den Niederlanden ist mit ca. 27 Prozent immer noch etwas höher als in der Bundesrepublik (obwohl diese auch hier zunimmt) Insgesamt ist die Beschäftigungsexpansion durch Umverteilung den Arbeitslosen wenig zugute gekommen. Die Zahl der Empfänger von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe ist seit 1983/84 um ca. 10 Prozent gestiegen der Anteil der Langzeitarbeitslosen an den Arbeitslosen insgesamt hat sich in dieser Phase kaum verändert, sondern eingependelt auf fast 50 Prozent. In scharfem Kontrast zu den USA (9, 5 Prozent) und Schweden (17 Prozent) ist dieser Prozentsatz auch in der Bundesrepublik gegeben. Diese Relativierungen des niederländischen „Jobwunders“ ändern jedoch nichts an der Tatsache der insgesamt positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt dieses Landes.
IV. Die Anpassung des Sozialstaats
Neben der Beschäftigungsentwicklung wird oft die Anpassung des niederländischen Sozialstaates an die internationalen Konkurrenzverhältnisse als nachahmenswert beschrieben Unabhängig von der Frage, ob diese Anpassung der Beschäftigung förderlich gewesen ist, muß zunächst festgestellt werden, daß der niederländische Sozialstaat auch nach einigen Kürzungen in seinen Leistungen immer noch generöser ist als der der übrigen EU-Staaten mit Ausnahme von Dänemark und Schweden. Als Beispiel für Länder, die ihre bescheideneren Leistungen noch weiter einschränken wollen, kann er daher nicht herhalten.
Der Sozialstaat ist die Summe von politischen Maßnahmen und Regelungen, die die Marktrisiken abfedern und dem freien Spiel des Marktes u. a. durch das Steuer-und Bildungssystem, aber auch durch die Beschäftigungspolitik entgegenwirken. Unterscheidet man zwischen passivem und aktivem Sozialstaat -wobei letzterer sich auszeichnet durch die Förderung der Beschäftigung und ihrer sozialen Vorraussetzungen -, dann nähern sich die Niederlande eher dem ersten Typus an. Staatliche Beschäftigungsprogramme schwedischen Stils hat es nie gegeben, und die Expansion weiblicher Beschäftigung hat stattgefunden ohne nennenswerte Ausweitung der (nur wenigen) Betreuungsplätze für Kleinstkinder und Schüler Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Jugendliche und Langzeitarbeitslose erreichen (1996) ca. 2 Prozent der Erwerbstätigen und haben damit einen etwas geringeren Umfang als in der Bundesrepublik
Das progressive Einkommenssteuersystem der Niederlande ist im Prinzip auf Umverteilung angelegt; de facto wird die Progression allerdings unterhöhlt von Möglichkeiten der Steuerrückerstattung. Nach der Reform von 1990 gibt es drei Steuerklassen von 37, 50 und 60 Prozent, wobei die erste Klasse (bis ca. 47 000 Gulden Jahreseinkommen) zu mehr als der Hälfte aus einkommensunabhängigen Sozialabgaben besteht und die höchste Steuerklasse (früher 72 Prozent) bei ca. 108 000 Gulden Jahreseinkommen beginnt. Wichtige Veränderungen setzten jedoch schon Anfang der achtziger Jahre ein. Abgesehen von der Gleichstellung von Beamten (jeder öffentlich Bedienstete ist Beamter) bezüglich der Steuern und Sozialabgaben ist hier vor allem der Beginn der Individualisierung des Steuersystems zu nennen. , Ernährer 4, in der Regel Familienväter, verloren einen Teil ihrer Steuervorteile zugunsten von Zweitverdienern und Alleinstehenden. Der Teilzeitbeschäftigung von Ehefrauen war dies förderlich. Ähnliches gilt für die vollständige Einbindung der Teilzeitarbeit -inklusive der Minimalbeschäftigungen (das niederländische Äquivalent der 610-Mark-Jobs) -in das System der sozialen Sicherung im Jahre 1993. Und für , Flexarbeiter‘ (Abrufkräfte und Beschäftigte mit Kurzzeitverträgen) wurde kürzlich -im Tausch gegen eine vereinfachte Entlassungsprozedur -geregelt, daß sie nach zweijähriger Beschäftigung ebenfalls ins Sozialversicherungsnetz aufgenommen werden
Das vergleichsweise immer noch generöse System sozialer Sicherung ist das Kernstück des niederländischen Wohlfahrtsstaates Dessen wichtigste Elemente sind eine in den fünfziger Jahren eingeführte Grundrente für alle Bürger über 65 Jahre und der seit 1967 bestehende Mindestlohn. Die Grundrente, die Sozialhilfe sowie die Mindestsätze der Leistungen bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und Invalidität sind allesamt orientiert am Mindestlohn. Dieser beträgt 1998 monatlich umgerechnet ca. DM 2 000, netto ca. DM 1 750. Der Höchstbetrag der Sozialhilfe (für Ehepaare oder Zusammenlebende) entspricht dem Netto-Mindestlohn, der Höchstbetrag der Grundrente entspricht in etwa dem Brutto-Mindestlohn. Bei anderen Haushalts-zusammensetzungen gelten Sätze von 70 bzw. 50 Prozent mit einer maximalen Zuschlagmöglichkeit von 20 Prozent. Die Arbeitslosen-und Invaliditätsunterstützung beträgt 70 Prozent des zuletzt verdienten Bruttolohns, aber nicht weniger als der Mindestlohn, und das gesetzliche Krankengeld beträgt 80 Prozent dieses Lohns (tarifvertraglich können 100 Prozent vereinbart werden).
Neben den steuerlichen Neuregelungen betreffen die Veränderungen des vergangenen Jahrzehnts vor allem den Mindestlohn, die Unterstützungssätze und -dauer sowie die Kriterien, aufgrund deren man Anspruch auf Sozialleistungen erheben kann. Der Mindestlohn wurde losgelöst von der durchschnittlichen Lohnentwicklung und fiel dadurch von ca. 80 Prozent des Durchschnittslohnes im Jahre 1983 auf derzeit unter 70 Prozent. Die Sozialhilfe sowie der absolute Mindestbetrag des Arbeitslosengeldes haben diese Entwicklung automatisch nachvollzogen. Unter anderem bedingt durch die Veränderung der Zusammenstellung der Haushalte (Zunahme der Haushalte mit zwei Einkommen) hat sich die im internationalen Vergleich niedrige Armut jedoch nur geringfügig erhöht Außer den genannten Reformen wurde der Unterstützungssatz im Falle von Arbeitslosigkeit von 80 auf 70 Prozent gesenkt, die Arbeitslosenhilfe gestrichen und die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld gekürzt, wenn man nicht in vier von fünf der Arbeitslosigkeit vorangehenden Jahre beschäftigt war. Auch wurde der Zugang zu einigen Sozialleistungen erschwert. Nachdem sich die Anzahl der Frühinvaliden 1990 der Millionengrenze näherte und der damalige Premierminister Lubbers die Niederlande als „krankes Land“ bezeichnete, ist insbesondere der Zugang zu dieser Kategorie schwieriger geworden. „Arbeitsunfähig“ ist seit 1991 nur noch, wer keine „normale“ Arbeit mehr annehmen kann, und nicht mehr, wer unfähig ist, seiner vorangehenden Tätigkeit nachzugehen. Auch können Sozialhilfeempfänger seit 1996 zur Annahme einer Arbeitsstelle gezwungen werden.
Als Hintergrund dieser Veränderungen können drei Faktoren genannt werden: Die Auffassung einiger Politiker der Regierungsparteien, daß allzu generöse Sozialleistungen die Leute von der Arbeit abhalten, ist dabei vielleicht die am wenigsten relevante Ursache. Wichtiger erscheint das Haushaltsdefizit, das 1983 die 10-Prozent-Marke überschritten hatte und das im Kontext von Lohn-zurückhaltung kaum durch Steuererhöhungen zu stopfen war. Im Gegenteil -und das ist der dritte Faktor -, die Gewerkschaften waren zu dieser Zurückhaltung nur zu bewegen, wenn ihr Steuererleichterungen (z. B. durch Erhöhungen des steuerfreien Grundbetrags) gegenüberstanden. Der Zwang zur Sparsamkeit der öffentlichen Haushalte verstärkte sich also Die Sozialausgaben -aber nicht nur sie -waren eines der Opfer. Ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) fiel von 1985 bis 1997 von 19, 5 Prozent auf 16, 2 Prozent Insgesamt verringerte sich die Staatsquote seit Anfang der achtziger Jahre von fast 60 Prozent auf etwa 50 Prozent, womit sie sich dem deutschen Niveau angeglichen hat
V. Beschäftigung durch Lohnmäßigung?
Daß die Lohnmäßigung die Grundlage der niederländischen Beschäftigungsexplosion ist, wird oft verkündet. Das Wirtschaftsforschungsinstitut Nyfer veranschlagt die kumulativen Vorteile der Niederlande durch zurückhaltende Tarifabschlüsse allein gegenüber dem wichtigsten Handelspartner Deutschland auf 15 Prozent seit 1983 Und das „Centraal Planbureau“ der Regierung hat ausgerechnet, daß die Hälfte des Beschäftigungswachstums in den letzten 15 Jahren eine direkte Folge der Lohnmäßigung sei Die Modelle, anhand derer solche Resultate errechnet werden, sind jedoch abhängig von bestimmten theoretischen Annahmen. Bei den genannten Berechnungen ist es das neoklassische Theorem, dem zufolge die Lohnkosten die Beschäftigungsentwicklung bestimmen. Dieses Theorem soll hier nicht diskutiert werden. Wohl aber können einige relativierende Bemerkungen gemacht werden, insbesondere anhand von Daten zu anderen Ländern.
In der Bundesrepublik -wie auch in den Niederlanden -werden beide Länder oft miteinander verglichen. Die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland wird in Zusammenhang gebracht mit den hohen Lohnkosten und die niedrige niederländische Arbeitslosigkeit mit den zurückhaltenden Lohnabschlüssen dort. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch ein weit weniger eindeutiges Bild. Die Schere zwischen beiden Ländern öffnete sich bei der Arbeitslosigkeit erst in den frühen neunziger Jahren (siehe Tabelle 1). Von 1990 bis einschließlich 1994 sind die realen Lohnkosten (einschließlich der Lohnnebenkosten) in Deutschland mit 4, 1 Prozent aber nur geringfügig mehr gestiegen als im Nachbarland (3, 9 Prozent; in den folgenden Jahren hat sich der Unterschied kaum verändert). Über den längeren Zeitraum von 1985 bzw. von 1987 an werden die Unterschiede mit 14, 1 Prozent bzw. 7, 3 Prozent dann zwar größer (vgl. Tabelle 5), aber bis 1990 übertraf die deutsche Arbeitslosenrate die der Niederlande keineswegs. Ferner kann man Österreich und die Schweiz zum Vergleich heranziehen -beides Länder mit stabiler Arbeitslosigkeit auf relativ niedrigem Niveau (1996 5, 3 Prozent bzw. 3, 8 Prozent), in denen die Lohnzuwachsraten aber höher ausfielen als in den Niederlanden und sogar höher noch als in der Bundesrepublik. Letzteres trifft auch zu auf Großbritannien, das außerdem in den vergangenen zwei Jahren, in denen die Arbeitslosigkeit stark fiel, mit einer Aufwertung des Pfundes um ca. 25 Prozent konfrontiert wurde. Nimmt man die Relation von Lohnstückkosten (nicht inflationsbereinigt in der Tabelle 5) und Arbeitslosigkeit hinzu, dann bestätigen die vier von den Inflationsraten her vergleichbaren Länder, daß der Zusammenhang zwischen Lohn-kosten und Beschäftigung nicht eindeutig ist: In Deutschland sind von 1984 bis 1994 sowohl die Lohnstückkosten als auch die Arbeitslosigkeit stärker gestiegen als in den Niederlanden, aber in den vergangenen Jahren der explodierenden Arbeitslosigkeit in Deutschland ist die Zunahme der Lohnstückkosten hier hinter der der niederländischen geblieben. In Österreich und der Schweiz sind die Lohnstückkosten durchgängig stärker gestiegen als in den beiden anderen Ländern, ohne daß dies Einfluß gehabt zu haben scheint auf die Höhe der Arbeitslosigkeit.
Schließlich ist festzustellen, daß das Wirtschaftswachstum der Niederlande dem anderer Länder keineswegs davongelaufen ist. Die angebotstheoretische Denkfigur: Lohnzurückhaltung -verbesserte Konkurrenzfähigkeit -höhere Profitabilität -Zunahme der Investitionen hätte eigenlich ein höheres Wachstum erwarten lassen müssen. Die Gewinne sind zwar gestiegen, aber die Investitionen seit 1983 weichen nur unwesentlich ab vom Durchschnitt der EU; und der Beitrag des NettoExports zum Wirtschaftswachstum war 1995 -als die Beschäftigung stieg und die Arbeitslosigkeit sank -nicht nennenswert Einen erheblichen Umfang (1996 ca. 2, 5 Prozent des BIP; Deutschland ca. 1 Prozent) haben jedoch die Auslandsinvestitionen angenommen
Die Lohnmäßigung und zudem ein etwa zehnprozentiger Wertverlust des Guldens gegenüber der DM haben also kaum zu einer Beschäftigungsausweitung durch Exporte und Wirtschaftswachstum geführt Dies besagt nicht, daß die Lohnmäßigung kein wichtiger Faktor im niederländischen „Beschäftigungswunder“ gewesen ist. Es besagt nur, daß der Zusammenhang von Lohnentwicklung und Beschäftigung komplizierter ist, als einfache Korrelationen im Vergleich zu Deutschland es vermuten lassen.
Ein anderer, oft genannter Faktor ist die Flexibilität des niederländischen Arbeitsmarkts Aber auch in diesem Punkt widerspricht eine genauere Betrachtung den oberflächlichen Eindrücken. Eine Untersuchung in den EU-Staaten von 1996 weist aus, daß die Niederlande nur in einem von neun Kriterien eine Spitzenposition einnehmen: der Teilzeitarbeit. Bei der „Flexarbeit" liegt man oberhalb des europäischen Durchschnitts, bei Kriterien wie der Verbreitung von Schicht-, Nacht-und Wochenendarbeit, Überstunden sowie Heimarbeit jedoch darunter Dem steht gegenüber, daß die Kündigungsschutzregeln einfacher sind als in meisten EU-Staaten, obwohl dem amerikanischen „hire & fire“ -System noch längst nicht vergleichbar
Die Lohnflexibilität ist in den Niederlanden wiederum nur eher durchschnittlich ausgeprägt. Dies liegt am relativ hohen Mindestlohn, an der großen Reichweite der Tarifverträge (81 Prozent, in vielen Ländern inklusive Deutschlands ist diese noch größer) sowie an deren Verbindlichkeit. Die Untersuchung von Els Vogels, der diese Daten entstammen, zeigt jedoch auch, daß es eine Mär ist, von größerer Lohnflexibilität einen Abbau der Arbeitslosigkeit wenig Qualifizierter zu erwarten. In den USA war 1994 die Arbeitslosenrate dieser Gruppe mit 12, 6 Prozent (dort allgemein: 5, 8 Prozent) etwa anderthalbmal so hoch wie in den Niederlanden, und das bei unverbindlichen Tariflöhnen in den USA, die nur ein knappes Fünftel der Beschäftigten erreichen, sowie einem Mindestlohn, der nur 63 Prozent des niederländischen beträgt
Abgesehen von speziellen konjunkturellen und an die niederländische Produktpalette gebundenen Faktoren sind es vielleicht doch die Ersetzung von Vollzeit-durch Teilzeitstellen, das enorme Wachstum der Anzahl letzterer sowie -damit zusammenhängend -die große Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit, die der positiven Beschäftigungsentwicklung den größten Auftrieb gegeben haben. Wenn das so ist, dann ist ein Faktorenbündel ausschlaggebend gewesen, das keinem Plan und keiner Vereinbarung entsprang. Das massive Erscheinen der Frauen auf dem Arbeitsmarkt ist einem Wertewandel geschuldet, und die Teilzeitarbeit entwickelte sich „von unten“, speziell im öffentlichen Dienst. „It just came our way“, wird ein niederländischer Beamter zitiert Und während die Gewerkschaften anfänglich keineswegs Befürworter der Teilzeitarbeit waren, machten die nach flexiblen Arbeitskräften Ausschau haltenden Unternehmer Gebrauch von der sich bietenden Gelegenheit
Wegen der Komplexität der Materie sind vorsichtige Formulierungen geboten bei der Beschreibung und Gewichtung der Ursachen der Beschäftigungsausweitung. Aber immerhin sind drei Viertel der seit 1983 hinzugekommenen Arbeitsplätze Teilzeitarbeitsplätze, während die Beschäftigung in Vollzeitäquivalenten kaum gewachsen ist. Zudem werden weibliche Erwerbstätige wesentlich schlechter bezahlt als männliche, und Teilzeitbeschäftigte -ungeachtet ihres Geschlechts -erhalten zudem einen schlechteren Stundenlohn als Vollzeitbeschäftigte -1993 um 5 Prozent Und schließlich sind sowohl die Teilzeitstellen als auch die weiblichen Erwerbstätigen in dem zumeist weit weniger der internationalen Konkurrenz ausgesetzten Dienstleistungssektor konzentriert. Dies mag erklären, warum die Zunahme der Beschäftigung auch ohne spektakuläres Wirtschaftswachstum stattfand.
VI. Zum Pragmatismus der Gewerkschaften
Die Lohnmäßigung ist -wie bereits erwähnt -möglicherweise weniger wichtig für die Entwicklung des niederländischen Arbeitsmarkts, als oftmals angenommen wird. Soweit sie jedoch wichtig ist, ist sie in hohem Maße bestimmt durch die Haltung der Gewerkschaften, die in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten zurückhaltender und kooperativer waren als die meisten ihrer Schwesterorganisationen in anderen Ländern. Bis heute hat sich hieran wenig geändert.
Das Jahr 1997 wurde von den Medien in den Niederlanden zum „Jahr des Geldes“ erklärt (Gewinnsteigerungen, exorbitante Börsengewinne -der Index verdoppelte sich zwischen Sommer 1996 und Sommer 1997). Lodewijk de Wal, der Vorsitzende des gewerkschaftlichen Dachverbandes FNV, sprach vom „Jahr der Habgier der hohen Herren“ und fügte hinzu, daß auch der Durchschnittsverdiener 1998 seinen Anteil haben will Der erste Tarifabschluß des Jahres weist jedoch • hin auf eine Fortschreibung der Lohnmäßigung. Im Bankensektor hatten die Gewerkschaften vier Prozent gefordert, und drei Prozent für neun Monate sind es geworden. Dies ist außerordentlich bescheiden, wenn man bedenkt, daß in den vergangenen vier Jahren Nullrunden stattgefunden hatten und die Gewinne derartig gestiegen sind, daß Übernahmen ausländischer Banken durch die beiden großen niederländischen Geschäftsbanken auf der Tagesordnung stehen Auch gibt es im Bankensektor -im Gegensatz z. B. zur Metallindustrie -keine Kleinbetriebe, auf die besondere Rücksicht genommen werden müßte.
Woher kommt diese Zurückhaltung der Gewerkschaften? Drei Möglichkeiten zur Erklärung dieses Sachverhalts bieten sich an: Die erste ist, das Verhalten der Gewerkschaften als Ausfluß der niederländischen Traditionen von Korporatismus und Elitismus zu begreifen. Letzterer ist kein Spezifikum der Niederlande, aber die Tatsache, daß die „Regentenherrschaft“ bis in die sechziger Jahre nie ernsthaft in Frage gestellt wurde, ist sehr wohl eine Besonderheit. Obwohl die Niederlande die älteste bürgerliche Gesellschaft Europas sind und der Parlamentarismus bereits 1848 installiert wurde, war die Idee der Volkssouveränität lange Zeit unterentwickelt
Die Dominanz der christlichen Parteien, die mit dem allgemeinen Wahlrecht von 1917/19 einsetzte und ihnen bis 1963 zur absoluten Mehrheit sowie bis 1994 zu permanenter Regierungsbeteiligung verhalf, verstärkte den -allerdings paternalistischen -Elitismus: Die Regierung ist von Gott, dient dem Allgemeinwohl, und die Untertanen mit ihren partikularistischen Interessen haben sich dem anzupassen Der christdemokratischen Dominanz, vor allem deren katholischem Flügel, ist auch die herausragende Rolle des niederländischen Korporatismus zu verdanken. Das dazu gehörige Credo ist, daß die Gesellschaft eine natürliche hierarchische Ordnung darstellt, deren Teile in Harmonie miteinander zu leben haben. Besonders gilt dies für Arbeit und Kapital, die miteinander -nicht gegeneinander -an der wirtschaftlichen Zukunft des Landes zu arbeiten haben. Nach Ansätzen vor dem Krieg kamen aus diesem Geiste kurz danach korporatistische Institutionen wie die „Stiftung der Arbeit“ und der „Sozialökonomische Rat“ zustande. Unter staatlicher Führung zeichneten sich diese Institutionen dann bis in die frühen sechziger Jahre durch ihre Politik der Lohnmäßigung im „Allgemeininteresse“ aus. Erst als die Diskrepanz zwischen Gewinnen und Löhnen selbst den passiven niederländischen Arbeitnehmern unakzeptabel wurde, kam es 1962 zum Bruch der Entwicklung: 1963 bis 1965 stiegen die Löhne um 12, 17 bzw. 10 Prozent Mit der Gesamtgesellschaft radikalisierten sich in der Folge auch die Gewerkschaften; Übereinkünfte mit den Unternehmerverbänden wurden immer schwieriger, oft sogar unmöglich. Die Regierung sah sich dadurch zu wiederholten Malen gezwungen, „Lohnmaßnahmen“ zu treffen, d. h., den Arbeitsmarktparteien -de facto den Gewerkschaften -bindende Lohnrichtlinien aufzuerlegen.
Unter dem Einfluß der Krise kehrte nach 1981 dann der „Geist der fünfziger Jahre“ wieder zurück. Die Phase der Radikalisierung näherte sich ihrem Ende, und die Gewerkschaften akzeptierten, daß Profitabilität eine Grundbedingung eines gesunden Arbeitsmarktes ist. Der pragmatische Realismus, der sich eng am Machbaren orientiert und Verhandlungen gegenüber Konflikten bevorzugt, gelangte zu neuer Blüte. Das Repertoire dazu lieferte die fünfzigjährige Amtszeit von Regierungen der Mitte sowie die noch viel ältere Tradition der niederländischen Republik des 17. und 18. Jahrhunderts, in der Beschlüsse nur einstimmig gefaßt werden konnten. Die Frage ist allerdings, ob Einsicht -hervorgerufen von der Wirtschaftskrise -und die kulturelle Tradition eine ausreichende Erklärung des abrupten Strategiewechsels bieten. Sicherlich ist dabei zu berücksichtigen, daß die christlichen Gewerkschaften, denen immerhin 19 Prozent der organisierten Arbeitnehmer angehören, die Kontinuität zu den fünfziger Jahren weit mehr gewahrt hatten als die allgemeinen, eher sozialdemokratischen Gewerkschaften, die 64 Prozent der organisierten Arbeitnehmer vertreten
Die alternative Erklärung stellt die veränderten Machtverhältnisse auf dem Arbietsmarkt in den Mittelpunkt Die Argumentation lautet, daß die Gewerkschaften einfach keine andere Wahl hatten. Mitgliederschwund und Arbeitslosigkeit sowie die wachsende internationale Mobilität des Kapitals hätten die Gewerkschaften in eine defensive Position gebracht, aus der heraus nur bescheidene Lohnforderungen möglich waren. Der Vergleich mit anderen Ländern macht diese Argumentation jedoch fragwürdig, denn die genannten Faktoren waren nahezu allgemeine Erscheinungen der frühen achtziger Jahre. Dennoch sind beispielsweise die deutschen und englischen Gewerkschaften weit weniger zur Lohnmäßigung übergegangen (bis vor einigen Jahren zumindest). Die Kombination beider Faktoren -die spezifisch niederländischen Traditionen und die Situation auf dem Arbeitsmarkt -ergibt eher eine befriedigende Erklärung. Ein dritter Faktor von Bedeutung sind die politisch-ideologischen Verhältnisse, in denen sich die Niederlande seit anderthalb Jahrzehnten befinden. Die Wende bei den Gewerkschaften wird auf das Jahr 1983 datiert. In etwa ist dies auch der Zeitpunkt des Endes der wirtschaftspolitischen Diskussion zwischen Keynesianern und Neoliberalen. Seitdem beherrschen letztere beinahe unwidersprochen die Szene. Und damit dominiert eine Theorie, die die Anpassung der Löhne an die Verhältnisse des Weltmarkts zum Programm hat.
Die Sozialdemokraten, die von 1972 bis 1977 die prägende politische Kraft gewesen waren, befanden sich (mit einem Intermezzo 1981/82) bis 1990 in der Opposition gegenüber christlich-liberalen Regierungen. Fast die gesamte Zeit bis einschließlich 1994, dem Jahr des Antritts der gegenwärtigen sozial-liberalen Koalition mit sozialdemokratischem Premier, war eine Zeit sozialdemokratischer Wahlniederlagen. Dies war kein erfolgversprechender Kontext für die Gewerkschaften. Dazu kam seit Ende der achtziger Jahre die deutliche Verbesserung der Beschäftigungslage. War dies nicht der Beweis für die Richtigkeit des Maßhaltens? Diese Frage kann -wie gezeigt wurde -nicht eindeutig beantwortet werden; aber es ist durchaus möglich, daß die Gewerkschaften gegenwärtig die Gefangenen des ihnen zugeschriebenen Erfolges sind.
VII. Von den Niederlanden lernen?
Sollte die Langzeit-Lohnmäßigung trotz aller Relativierungen tatsächlich der Hauptgrund der günstigen Beschäftigungsentwicklung in den Niederlanden sein, dann ist diese Strategie dennoch gebunden an die Bedingung, daß nicht alle Länder sie befolgen. Die Konkurrenzvorteile würden sonst verfallen. Insofern sind die Niederlande also kein Vorbild. Auch würde Zynismus dazugehören, anderen Ländern zu empfehlen, das Reservoir der ungerechtfertigterweise billigeren weiblichen Arbeitskräfte noch effektiver auszuschöpfen -es geht nicht nur um Arbeitsplätze, sondern um die Übereinstimmung von Beschäftigungswachstum mit Gleichheitsregeln. Grundsätzlich scheinen Frauen-und Teilzeiterwerbstätigkeit und damit die Umverteilung der Arbeit jedoch beschäftigungsträchtig zu sein. Die Gleichstellung der Beamten sowie der Abbau der Steuervergünstigungen für Familienernährer sind ebenfalls nachahmenswert. Schließlich: Die Niederlande demonstrieren, daß trotz verschärfter Konkurrenz innerhalb Europas und auf dem Weltmarkt ein relativ generöser Sozialstaat aufrechterhalten werden kann, von dem einige Aspekte, z. B. die Grundrente, auch für Deutschland erwägenswert sind.
Uwe Becker, Dr. rer. pol., geb. 1951; Studium der Politikwissenschaft an der FU Berlin und der Universität von Amsterdam; seit 1979 Universitätsdozent am Fachbereich Politikwissenschaft der Universität Amsterdam. Veröffentlichungen u. a.: Kapitalistische Dynamik und politisches Kräftespiel. Zur Kritik des klassentheoretischen Ansatzes, Frankfurt a. M. 1986; Maatschappij, macht, Nederlandse politiek, Amsterdam 1990; (Hrsg.) Nederlandse politiek in historisch en vergelijkend perspectief, Amsterdam 1993.
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