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Ein neuer Ausgleich von Eigenverantwortung und Solidarität. Internationale Beispiele zur Sozial-und Tarifpolitik | APuZ 11/1998 | bpb.de

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APuZ 11/1998 Ein neuer Ausgleich von Eigenverantwortung und Solidarität. Internationale Beispiele zur Sozial-und Tarifpolitik Beschäftigungswunderland Niederlande? Aus alt mach neu? Arbeitsmarktpolitik und Gewerkschaftsstrategien in Frankreich Arbeitsmarktpolitische Reformen unter New Labour

Ein neuer Ausgleich von Eigenverantwortung und Solidarität. Internationale Beispiele zur Sozial-und Tarifpolitik

Andreas Esche

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Notwendigkeit sozial-und tarifpolitischer Reformen in Deutschland ist unbestritten. Während aber hierzulande viele Reformvorhaben steckenbleiben und widerstreitenden Interessen zum Opfer fallen, führt die Suche nach erfolgreichen Ansätzen im Ausland oftmals durchaus zum Erfolg. Dies ist das Ergebnis einer Analyse der Gesundheits-und Rentenpolitik, der aktiven Arbeitsmarktpolitik, der Arbeitslosenversicherung und der Tarifbeziehungen, die für elf Länder durchgeführt wurde. Die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips hat sich als eine wesentliche Erfolgsvoraussetzung erwiesen -dadurch wird ein neuer und tragfähiger Ausgleich zwischen Eigenverantwortung und Solidarität möglich gemacht. Für Deutschland heißt diese Erfahrung anderer Staaten Abschiednehmen vom bequemen Glauben, die drückenden Probleme der Tariflandschaft, des Arbeitsmarktes und des Sozialstaates seien ohne tiefgreifende Anpassungen zu überwinden. Alle müssen hier ihren Teil beitragen: der Staat durch die Schaffung förderlicher Rahmenbedingungen, die Tarifpartner durch die Wahrnehmung ihrer überbetrieblichen Verantwortung und gleichzeitige Erweiterung betrieblicher Spielräume, die Unternehmen durch Delegation von Verantwortung zur Steigerung der Effizienz und der Motivation ihrer Mitarbeiter und schließlich die Bürger durch die Bereitschaft, mehr Verantwortung für das eigene Schicksal zu übernehmen.

I. Einleitung

In vielen westlichen Industrienationen drohen die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fundamente aus den Fugen zu geraten. In einem Teufelskreis verstärken sich wechselseitig Wachstums-schwächen, hohe Arbeitslosigkeit, überbordende Sozialausgaben und Haushaltsdefizite; sie lassen die Machbarkeitsträume vergangener Jahrzehnte endgültig der Vergangenheit angehören. Um diese Abwärtsspirale zu verlassen, sind durchgreifende Reformen in der Sozial-und Tarifpolitik sowie -hierin eingeschlossen -in der Beschäftigungspolitik notwendig; ordnungspolitische Orientierungslosigkeit, mangelnde politische Führungsfähigkeit und kurzatmiges Krisenmanagement müssen überwunden werden. Als Leitbild bedarf es hierzu eines neuen Grundkonsenses über eine Balance von Eigenverantwortung und solidarischer Verpflichtung. Eine Rückbesinnung auf das Prinzip der Subsidiarität ist zur Überwindung der herrschenden Probleme gefordert und betrifft alle Verantwortungsebenen. Idealtypisch bedeutet dies für -den Staat: sich weitestmöglich auf das Setzen von Rahmenbedingungen zu beschränken, Kompetenzen klar zuzuordnen und durch Deregulierung die notwendigen Gestaltungsspielräume zu schaffen; -die Tarifparteien: konsensorientierter Zusammenarbeit den Vorzug vor gegenseitiger Blokkade zu geben, bei Tarifabschlüssen die gesamtwirtschaftliche Leistung zu berücksichtigen und sich überbetrieblich auf die Festlegung von Eckwerten zu beschränken; -die Unternehmen: Führungsverantwortung zu delegieren und durch mehr Mitsprachemöglichkeiten zu motivieren; -die Bürger: Ansprüche durch Leistung und verstärkte Eigenvorsorge zu begründen, Mitsprachemöglichkeiten aktiv wahrzunehmen und sich für das Gemeinwesen zu engagieren.

Diese allgemeinen Leitlinien müssen ergänzt werden durch eine konkrete Ableitung subsidiären Handelns für die einzelnen Politikbereiche:

Subsidiäre Sozialpolitik muß -nach dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung die großen Risiken Alter, Invalidität, Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Arbeitslosigkeit für alle Bürger -und damit nicht nur die abhängig Beschäftigten -absichern, die Bewahrung des Lebensstandards aber dem einzelnen anvertrauen;

-anstelle von Einheitsleistungen Wahlmöglichkeiten bieten und den Wettbewerb zwischen sozialen und gesundheitlichen Diensten ermöglichen.

Subsidiäre Arbeitsmarktpolitik muß -im Bereich aktiver Arbeitsmarktpolitik bedarfsgerechte berufliche Qualifizierungsmaßnahmen bieten, öffentliche Beschäftigung auf Problemgruppen beschränken und Arbeitsbeziehungen durch klare und sparsame Regeln gestalten;

-im Bereich passiver Arbeitsmarktpolitik die Höhe der -im Zeitverlauf degressiv zu gestaltenden -Unterstützungsleistungen so ansetzen, daß die finanziellen Voraussetzungen der Mobilität geschaffen werden, ohne dabei das Lohnabstandsgebot zu verletzen.

Subsidiäre Tarifpolitik muß -auf betrieblich-dezentraler Ebene Freiräume für Vereinbarungen schaffen und die Anpassungsfähigkeit der Betriebe, die Leistungsorientierung wie auch partnerschaftliche Strukturen fördern;

-auf überbetrieblicher Ebene zwischen den Tarifpartnern gemeinsame Lösungen initiieren, einzelne Verhandlungsbestandteile standardisieren, den Arbeitsfrieden wahren und die gesamtwirtschafliche Perspektive berücksichtigen.

Dies war der Kriterienrahmen, nach dem die Prognos AG Basel die Ergebnisse einer im Jahr 1997 durchgeführten internationalen Recherche in elf Ländern ermittelte und bewertete Die Resultate dieser Untersuchung bildeten die Entscheidungsgrundlage für die Verleihung des mit 300 000 DM dotierten Carl-Bertelsmann-Preises 1997. Mit dem Preis hatte sich die Bertelsmann Stiftung zum Ziel gesetzt, international gelungene und beispielhafte Reformansätze aufzuspüren, die sich durch eine Rückbesinnung auf das Subsidiaritätsprinzip auszeichnen und damit die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für einen dauerhaft tragfähigen Ausgleich zwischen individueller und kollektiver Verantwortung herstellen. Der Beitrag stellt im folgenden zunächst die Befunde dieser internationalen Untersuchung zur Sozial-, Arbeitsmarkt-und Tarifpolitik in gestraffter Form vor und resümiert anschließend mögliche Lehren für Deutschland

II. Ergebnisse des internationalen Vergleichs

1. Sozialpolitik Angesichts schwacher Wirtschaftsentwicklung, hoher Arbeitslosigkeit und demographischer Alterung wurden sozialpolitische Korrekturen in allen untersuchten Ländern vorgenommen. Bemerkenswert ist jedoch, daß Änderungen an der Grund-konzeption der jeweiligen sozialen Sicherungssysteme bislang nahezu überall am Widerstand der Interessengruppen gescheitert sind. Dies unterstreicht die außerordentlich hohe Beharrungskraft einmal eingeführter sozialpolitischer Konzepte.

Bei aller sozialpolitischen Unterschiedlichkeit scheint es zulässig, die Länder in drei Gruppen einzuteilen:

-Eine Überbetonung der Eigenverantwortung und zu wenig solidarische Elemente finden sich in Neuseeland, den USA und teilweise auch in Großbritannien. In diesen Ländern tritt die bedürftigkeitsabhängige Sozialhilfe tendenziell an die Stelle allgemeiner Sozialversicherungsleistungen. -In Dänemark, den Niederlanden, der Schweiz und Japan ist die Vorsorge an der Existenzsicherung orientiert. Gleichzeitig wurden dort geeignete Steuerungsinstrumente vor allem für das Gesundheitswesen entwickelt.

-In Deutschland, Portugal, Österreich und Schweden dominiert dagegen die Lebensstandardsicherung, während es dort in anderen Bereichen (Bürger-oder Arbeitnehmervorsorge, Gesundheitswesen u. a.) nur partiell Gemeinsamkeiten gibt.

Im folgenden werden einzelne Bereiche dargestellt.

Alters-und Invalidenrenten In allen untersuchten Ländern existieren an den Wohnbürgerstatus bzw. an die Erwerbstätigkeit gekoppelte staatliche Altersrenten. In etwa der Hälfte der Länder besteht sie aus einer Mischung aus Grundrente und beitragsbezogener Zusatz-rente. Die Höhe der Alters-, aber auch der Invalidenrenten ist in den meisten Ländern eher an der Existenz-als an der in Deutschland geltenden Lebensstandardsicherung orientiert.

Als Beispiel für ein subsidiäres Rentenversicherungssystem kann das schweizerische „Drei-Säulen-Prinzip" gelten. Die erste Säule bildet dort eine stark sozial orientierte und umlagefinanzierte staatliche Altersrente. Die zweite Säule besteht aus obligatorischen betrieblichen Pensionsfonds, die aus individuellen Beiträgen kapitaldeckend gespeist werden. Steuerlich gefördertes individuelles Alterssparen kommt schließlich als dritte Säule hinzu. Im Notfall gibt es steuerfinanzierte Ergänzungsleistungen, so daß die Sozialfürsorge praktisch nicht benötigt wird.

Krankengeld Nicht alle Länder kennen einen gesetzlich geregelten Einkommensersatz bei Krankheit. Wo ein solcher besteht, ist meist der Arbeitgeber für einige Wochen zur Zahlung verpflichtet (nur in Österreich zu 100 Prozent). Die Höhe des Krankengeldes, das an die Lohnfortzahlung des Arbeitgebers anschließt, liegt zwischen rd. 33 Prozent (Großbritannien) und 75 Prozent (Schweden) des Lohnes. Gesetzliche Regelungen werden aber in vielen Ländern von tarifvertraglichen Überboten.

Eine Zuständigkeit der Arbeitgeber für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ordnet die Verantwortlichkeiten richtig zu, da der Krankenstand nicht unwesentlich auch von den Arbeitsbedin-gungen und dem Betriebsklima abhängt. Ähnliches gilt für die Verantwortung der Unternehmen für Vorruhestand und Invalidität.

In den Niederlanden wurde durch Verlagerung der Kosten von den Sozialkassen auf private Versicherungen wirksam dem Problem hoher Kranken-stände und der enormen Zahl an Personen, die als erwerbsunfähig erklärt wurden, begegnet. Mit dieser erfolgreichen Reform werden die Kosten für die Unternehmen unmittelbar spürbar gemacht, auch wenn auf tarifvertraglichem Wege die Auswirkungen dieser gesetzlichen Maßnahmen nachträglich entschärft wurden.

Gesundheit Die Gesundheitssysteme der einzelnen untersuchten Länder sind sehr unterschiedlich. Den USA mit einer nur minimalen Regulierung der gesundheitlichen Versorgung bzw.der Krankenversicherung stehen Großbritannien, Schweden und Portugal mit einem staatlichen Gesundheitsdienst gegenüber. Dazwischen besteht ein breites „Mittelfeld“, in dem die meisten Länder dem Prinzip der Volksversicherung folgen -private (Zusatz-) Versicherungen spielen hier nur eine geringe Rolle.

In nahezu allen Ländern gibt es Krankenhausbedarfsplanungen, zumeist auch Zulassungsbeschränkungen für ambulant tätige Ärzte. In Österreich, Deutschland, der Schweiz und Japan wird schließlich auf die Vergütung von Einzelleistungen gesetzt, während etwa die Niederlande und Dänemark dem Hausarztprinzip mit Kopfpauschalen den Vorzug geben.

Von besonderem Interesse ist wiederum das Beispiel der Schweiz. Dort sind 250 Krankenkassen aktiv, deren Beiträge ausschließlich von den Bürgern erhoben werden. Der Staat legt Pflichtleistungen fest, finanziert die Hälfte der Krankenhauskosten und subventioniert zum Teil die Beiträge. Im Jahr 1995 durchgeführte Reformen schaffen einen Leistungs-und Prämienwettbewerb zwischen den Versicherern und vermeiden dabei z. B. durch Kontrahierungszwang eine negative Risikoselektion. Die Grundversicherung deckt alles medizinisch Notwendige ab, darüber hinausgehende Leistungen sind in die Privatversicherung verwiesen. Sonderverträge zwischen Kassen und Ärzten bzw. Krankenhäusern siedeln die Steuerung dort an, wo sie hingehört: bei den Leistungsanbietern und den Krankenkassen. So erhalten die am sogenannten „HMO“ -Modell (Health Maintenance Organization) beteiligten Ärzte Kopfpauschalen für jeden Versicherten, die die gesamten medizinischen Leistungen abdecken. Ihr Interesse ist es damit nicht mehr, möglichst viele Leistungen abzurechnen, sondern die Versicherten möglichst gesund zu erhalten bzw. möglichst effizient zu versorgen. 2. Arbeitsmarktpolitik Trotz ihrer Unterschiede lassen sich in den untersuchten Ländern Ansätze zu einer Konvergenz der konkreten arbeitsmarktpolitischen Aktivitäten und Instrumentarien erkennen. Regierungen in Schweden oder Dänemark, die früher auf Qualifikation und Arbeitsbeschaffung setzten, betonen heute die Befristung staatlicher Hilfen und die Bekämpfung des Leistungsmißbrauchs. Im Gegenzug beschränken sich Länder wie Großbritannien und die USA nicht mehr auf die Schaffung marktwirtschaftlicher Rahmenbedingungen, sondern verstärken ihre Qualifizierungsinitiativen und legen sogar öffentliche Beschäftigungsprogramme auf. Schließlich nimmt sogar in Japan das arbeitsmarktpolitische Engagement des Staates zu. In den achtziger und neunziger Jahren haben viele Länder vor allem in der aktiven Arbeitsmarktpolitik Reformen eingeleitet, während die Reform-schritte bei der passiven Arbeitsmarktpolitik, d. h.den finanziellen Unterstützungsleistungen für Arbeitslose, sowie im arbeitsrechtlichen Bereich meist deutlich zaghafter ausfielen.

Aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen In nahezu allen Staaten wurden in den vergangenen 15 Jahren aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zur Förderung der Wiederbeschäftigungschancen und -bereitschaft schwer vermittelbarer Arbeitsloser verstärkt. Großbritannien, die Niederlande, Österreich und die Schweiz haben dabei auch die öffentliche Arbeitsvermittlung einer grundlegenden Reform unterzogen, um deren Effizienz durch Dezentralisierung von Entscheidungskompetenzen und Leistungskontrolle zu steigern. Vielerorts fiel das Vermittlungsmonopol der Arbeitsverwaltung, was vor allem in den Niederlanden und -mit Abstrichen -auch in Dänemark zur erfolgreichen Etablierung privater Arbeitsvermittler führte, obwohl deren Tätigkeit in Österreich, Japan und Schweden weiterhin beschränkt ist. In Deutschland blieben ähnliche Deregulierungsschritte bislang allerdings weitgehend wirkungslos. Schwer vermittelbare Arbeitslose gehören indes kaum zur Klientel gewinnorientiert arbeitender Agenturen; deren Unterstützung bleibt also weiterhin Aufgabe eines subsidiären Staates.

Die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik sind insbesondere in Schweden, Dänemark und -bedingt durch die Wiedervereinigung -auch in Deutschland überdurchschnittlich hoch. Am Bei-5 spiel Schwedens zeigt sich, daß übertriebenes arbeitsmarktpolitisches Engagement auch negative Beschäftigungseffekte zeitigen kann: Dort ersticken allgegenwärtige staatliche Programme die Eigeninitiative der Arbeitslosen und entlasten die Tarifpartner von den negativen Folgen einer verfehlten Lohnpolitik.

Qualifizierung steht für die meisten Länder im Vordergrund. Nur in Großbritannien und Japan stehen Lohnsubventionen bei der Einstellung (schwer vermittelbarer) Arbeitsloser an erster Stelle, während in Dänemark, den Niederlanden, Schweden und in Deutschland auch öffentliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen große Bedeutung haben. In diesen Unterschieden spiegelt sich die jeweilige Problemspezifik, die pauschale Urteile verbietet. In Neuseeland müssen beispielsweise Arbeitnehmer mit niedriger, zumeist landwirtschaftlicher Qualifikation auf die Anforderungen des internationalen Wettbewerbs vorbereitet werden. Dies erfordert andere Maßnahmen als beispielsweise die Reintegration der eher zur Passivität erzogenen niederländischen Arbeitslosen.

Bei aller Unterschiedlichkeit bleibt die Fokussierung der Maßnahmen auf Problemgruppen des Arbeitsmarktes eine vordringliche Aufgabe, an der es insbesondere in Schweden und -trotz Reformen -auch noch immer in Deutschland mangelt. An die Schweiz angelehnt sollten Auswahl und Zuschnitt der Maßnahmen im engen Kontakt mit den Betroffenen erfolgen und am regionalen Bedarf ausgerichtet sein. Hierbei hilft eine Dezentralisierung der Arbeitsverwaltung und die Einbindung der regionalen Tarifparteien und Arbeitgeber, wie dies vor allem in den Niederlanden bereits versucht wird.

Arbeitslosenversicherung Das Niveau der finanziellen Transfers für Arbeitslose blieb in den untersuchten Ländern weitgehend unverändert -lediglich in Großbritannien, Neuseeland und in Schweden kam es zu einer deutlichen Leistungsabsenkung. Die Schweiz dagegen hat erst 1977 eine obligatorische Arbeitslosenversicherung eingeführt und sie seitdem kontinuierlich ausgebaut. Druck auf Arbeitslose zur Wiederaufnahme einer Beschäftigung charakterisiert die Situation in den USA (durch extrem niedrige finanzielle Unterstützung) sowie in Japan und Großbritannien (durch sehr enge zeitliche Leistungsbefristung). Der Staat wird in diesen Ländern seiner subsidiären Verpflichtung zur Hilfe nicht gerecht. Sehr hohe, dem Lohnabstandsgebot widersprechende Leistungen werden demgegenüber in Dänemark, den Niederlanden, Schweden und der Schweiz gewährt.

Zur Stimulierung der Eigeninitiative dient eine stetige und merkliche Absenkung des Leistungsniveaus bei fortdauernder Arbeitslosigkeit (Portugal, Deutschland) bzw. die Kopplung pekuniärer Hilfen an nachweisbare eigene Anstrengungen zur Wiederbeschäftigung (Schweiz). Ansonsten beschränken sich die Reformansätze auf eine Verschärfung der Mißbrauchskontrolle in nahezu allen Ländern sowie eine Reduzierung der außergewöhnlich großzügigen Absicherung für Arbeitslose (Dänemark und Schweden). Die Erneuerung von Leistungsansprüchen durch Teilnahme an staatlichen Arbeitsmarktprogrammen ist nur noch in Deutschland möglich.

Arbeitsmarktregulierung Das gesetzliche Reglement der Arbeitsmärkte besteht vor allem in Dänemark und der Schweiz aus klaren Mindeststandards und Rahmenvorgaben, die Entscheidungssicherheit bieten und gleichzeitig eine flexible Ausdifferenzierung ermöglichen. Die Arbeitsmärkte in Deutschland, Österreich, Portugal und Schweden erscheinen dagegen überreguliert. Fehlen wiederum gesetzliche Normen, steigt die Rechtsunsicherheit der Akteure am Arbeitsmarkt. So lehrt das Beispiel Großbritannien, daß Deregulierung allein die Probleme nicht lösen kann: Trotz Liberalisierung des Arbeitsmarktes ließ sich dort der Anstieg der Arbeitslosigkeit nicht verhindern. 3. Tarifbeziehungen In nahezu allen untersuchten Ländern läßt sich ein Trend hin zu größerer Betriebsnähe der Tarifverhandlungen feststellen: Bereits im Verlauf der achtziger und verstärkt zu Beginn der neunziger Jahre wurden Entscheidungskompetenzen von der gesamtwirtschaftlichen auf die Branchenebene bzw. von der Branchen-auf die Betriebsebene verlagert, womit die Bedeutung kollektiver Regelungen abnimmt. In besonderem Maße gilt dies für -Neuseeland, wo in den neunziger Jahren ein zuvor sehr zentralisiertes und politisiertes Tarifsystem drastisch dereguliert wurde, indem die Ausgestaltung der Arbeitsverträge einer tarifpolitischen Kontrolle entzogen wurde und dadurch direkte Vereinbarungen zwischen individuellen Arbeitnehmern und Arbeitgebern dominieren;

-Großbritannien, wo sich der Staat im Verlaufe der achtziger Jahre ebenfalls vollständig aus einem zuvor hoch regulierten Tarifsystem zurückgezogen hat und heute in aller Regel betriebsnahe Verträge geschlossen werden; -die skandinavischen Länder, deren traditionell sehr zentralisierte Tarifsysteme in den achtziger Jahren zunehmend unter Druck gerieten und in denen der Umbruch -entgegen dem internationalen Trend -zunehmende Konflikte zwischen den Tarifparteien auslöste.

Obwohl dezentrale Elemente in der Tarifpolitik notwendig sind, um den Unternehmen ausreichende Handlungsspielräume zu eröffnen, bleibt eine freiwillige, überbetriebliche Koordination der Tarifparteien weiterhin erforderlich. Die untersuchten Länder lassen sich wiederum drei Gruppen zuordnen:

-Länder, in denen Arbeitsbeziehungen individuell verhandelt werden oder Firmentarifverträge dominieren, in denen eine überbetriebliche Koordination fehlt und die Gewerkschaften nur eine untergeordnete Rolle spielen (Großbritannien,Neuseeland und die USA);

-Länder, in denen Tarifverhandlungen formal zwar auf der Betriebsebene stattfinden, gleichzeitig aber eine überbetriebliche Festlegung von Rahmenbedingungen erfolgt (die Schweiz.

und Japan, wobei dort auch der Staat in den Abstimmungsprozeß eingebunden ist);

-schließlich Länder, in denen die Arbeitsbeziehungen im wesentlichen auf der Branchen-oder gesamtwirtschaftlichen Ebene geregelt werden und in denen ein vorhandener Dezentralisierungstrend von den Tarifparteien kontrolliert wird (Dänemark und die Niederlande mit ihrer „zentralisierten Dezentralisierung“

sowie Deutschland, Österreich, Portugal und Schweden, in denen bei weiterem Beharren der Tarifpartner auf dem Status quo einer allumfassenden Regelungskompetenz betriebliche Ausweichreaktionen zum Zusammenbruch des Tarifsystems führen könnten).

Ein Tarifmodell, das sich durch eine gut funktionierende Arbeitsteilung zwischen betrieblicher und überbetrieblicher Verhandlungsebene auszeichnet, ist das der Schweizer Maschinenbauindustrie. Es bietet breiten Spielraum für betriebsspezifische Vereinbarungen, die sowohl die Festsetzung der Löhne, der Arbeitszeit (innerhalb eines über-betrieblich vereinbarten Korridors) als auch Notfallklauseln zur Überwindung wirtschaftlicher Schwierigkeiten (z. B. durch Aussetzung des 13. Gehaltes oder befristetes Verlassen des Arbeitszeitkorridors) beinhalten.

Branchenweite Rahmenvereinbarungen gelten demgegenüber dort, wo rein betriebliche Verhandlungen keine optimalen Ergebnisse erwarten lassen.

So werden überbetrieblich die Strategien zur Konfliktlösung vereinbart (absolute Friedens-pflichtmit Verzicht auf Streiks und Aussperrungen sowie mehrstufiges Schlichtungsverfahren), gemeinsame Aus-und Weiterbildungsinitiativen beschlossen und zentrale Festlegungen zu den Mindeststandards betrieblicher Sozialpolitik getroffen (z. B. Mutterschaftsurlaub, Lohnfortzahlung, Kindergeld etc.).

Eine der wesentlichen Aufgaben überbetrieblicher Koordination besteht schließlich in der Förderung gesamtwirtschaftlich verantwortlichen Handelns der Tarifparteien. Voraussetzung für eine solche Koordination ist eine Verständigung zwischen Arbeitnehmer-und Arbeitgebefseite über gesamtwirtschaftliche Probleme und Ziele.

Ein erfolgreiches Modell hierfür stellt die niederländische „Stiftung der Arbeit“ dar. Diese von Gewerkschaften und Arbeitgebern paritätisch geführte private Einrichtung dient den Sozialpartnern zunächst als Plattform dazu, sich gemeinsam ein Bild über drängende Probleme zu machen und die jeweiligen Standpunkte zu deren Lösung auszutauschen. In paritätisch besetzten Arbeitsgruppen werden tarifpolitische Leitlinien als Empfehlungen für die Tarifverhandlungen auf Branchen-bzw. Betriebsebene formuliert. Die Stiftung dient schließlich als Schnittstelle zwischen den Tarifparteien und der Politik und wird regelmäßig zur Klärung aktueller wirtschafts-und sozialpolitischer Fragen in Anspruch genommen. In den vergangenen fünfzehn Jahren wurden etwa 80 derartige Empfehlungen ausgearbeitet, die das wirtschaftliche und tarifpolitische Handeln in den Niederlanden entscheidend geprägt haben (so z. B.der „Akkord von Wassenaar“ im Jahr 1982 und „Der neue Kurs“ aus dem Jahr 1993), die jeweils mit Erfolg zur Lohnmäßigung bei gleichzeitiger Schaffung von Beschäftigung aufriefen.

Der ähnlich verfaßte „Ständige Rat für Sozialpolitische Vereinbarungen“ in Portugal wird nicht in gleicher Weise von den Tarifparteien unterstützt, während es der „Paritätischen Kommission“ in Österreich mit ihren quasi-gesetzlichen Funktionen an der in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzenden Freiwilligkeit mangelt. Eine enge informelle Abstimmung zwischen den Tarifparteien auf gesamtwirtschaftlicher Ebene gibt es auch in Japan, während in allen übrigen Ländern Arbeitnehmer-und Arbeitgeberseite auf überbetrieblicher Ebene nicht in einem regelmäßig stattfindenden Dialog über tarifliche Strategien stehen. Koordination findet hier -wenn überhaupt -nur innerhalb beider Parteien statt.

Rolle des Staates Konsens zwischen den Sozialpartnern kann nur dann zum Erfolg führen, wenn er die gesamtwirt schaftlichen Erfordernisse berücksichtigt. Um einer Anpassung an sich ständig ändernde Rahmenbedingungen so wenig wie möglich im Weg zu stehen, sollte der Staat auf diesem Feld nur mit größter Zurückhaltung aktiv werden. Ein wünschenswert neutraler gesetzlicher Rahmen besteht in Großbritannien, Neuseeland und der Schweiz. In Deutschland, den Niederlanden, Portugal und den USA ist es dagegen Arbeitgebern per Gesetz verboten, formale Lohnverhandlungen mit (nicht gewerkschaftlich organisierten) betrieblichen Arbeitnehmervertretungen zu führen; in Österreich darf ein einzelner Arbeitgeber außerhalb seines Verbandes überhaupt keinen Firmentarifvertrag abschließen, und in Portugal kann ein geltender Tarifvertrag nur dann durch einen neu ausgehandelten Vertrag abgelöst werden, wenn dieser die Arbeitnehmer besser stellt als sein Vorgänger. Auch in anderer Hinsicht nimmt der Staat vielerorts auf Tarifverhandlungen in einer Weise Einfluß, die einer kompetenzgerechten Aufgabenteilung widerspricht -sei es, indem er an Stelle der Tarifparteien Mindestlöhne (Japan, Neuseeland, Niederlande, USA), Schlichtungsmodalitäten (Dänemark) oder betriebliche Mitbestimmung (Deutschland, Niederlande, Österreich) gesetzlich regelt oder indem er -vor allem in Dänemark und Schweden -mit Beschäftigungs-und Ausbildungsplatzgarantien die Tarifpartner aus der Verantwortung entläßt.

Mit dem Prinzip der Tarifautonomie wird ein Verschwimmen der Verantwortlichkeiten verhindert. Dennoch kann auch eine Zusammenarbeit zwischen Staat und Tarifpartnern, wie sie in Dänemark, Japan oder den Niederlanden herrscht, mit subsidiärem Politikverständnis vereinbar sein, sofern der Staat seinen Einfluß nutzt, um klare Zielvorgaben für die Tarifparteien zu definieren, klare Verantwortlichkeiten zuzuweisen und den Tarifpartnern die Kosten einer Zielverfehlung aufzuzeigen. Insbesondere die niederländische Regierung versteht ihre einflußreiche Position im Tarifprozeß in dieser Weise.

III. Lehren für Deutschland

1. Die Position Deutschlands im internationalen Vergleich Wie in nahezu allen anderen untersuchten Ländern hat auch in Deutschland die Belastung der öffentlichen Haushalte durch Sozialausgaben ständig zugenommen, ohne daß es hierzulande je ein ähnlich ausgeprägtes Ideal einer umfassenden sozialen Fürsorge gab wie in den skandinavischen Ländern. Im Mittelfeld findet man Deutschland, wenn man die Indikatoren für Wirtschaftswachstum und Arbeitsmarkt, soziale Leistungen und Abgabenbelastung sowie die Tarifbeziehungen und die Unternehmenskultur als Maßstab nimmt: -Trotz eines leicht überdurchschnittlichen Wirtschaftswachstums entwickelte sich die Beschäftigung hierzulande mit am schlechtesten. Die vom internationalen Wettbewerb bedrängten Unternehmen schienen ihr Heil vor allem in Kostensenkungsprogrammen zu suchen und nutzten die in unserem Sozialsystem gegebenen Möglichkeiten der Frühverrentung und der sozialabgabenfreien „geringfügigen Beschäftigung“ zur Straffung ihres Personalbestandes. Diese Anstrengungen spiegeln sich im Anstieg der Arbeitsproduktivität wider, der in den letzten Jahren der zweithöchste unter den betrachteten Ländern war. -Staatliche Leistungen für Arbeitslose, wie z. B. Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung oder zur Umschulung in den neuen Bundesländern, sind in Relation zum Bruttoinlandsprodukt vergleichsweise hoch. Bei den Renten-und Invaliditätsausgaben liegt Deutschland im Mittelfeld, hingegen bei den Ausgaben für Gesundheit an zweiter Stelle. Insgesamt liegt die Sozialausgabenquote damit etwas über dem Durchschnitt. Das gleiche gilt für die gesamtwirtschaftliche Abgabenquote sowie für die Steuer-und Abgabenbelastung eines mittleren Arbeitnehmerhaushalts. -Obwohl Arbeitgeber wie Gewerkschaften die hohen Lohnnebenkosten in Deutschland beklagen, haben sie bis in die jüngste Zeit einvernehmlich die negativen Beschäftigungsfolgen ihrer Tarifvereinbarungen den sozialen Sicherungssystemen zugeschoben -die geringe Streikhäufigkeit dokumentiert diese stille Übereinkunft. Bei notwendigen Maßnahmen zur Erhaltung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit wird dagegen nicht an einem Strang gezogen. Schließlich erhält die deutsche Wirtschaft auch für die praktizierte Unternehmenskultur (Ausnahme: Weiterbildung) nur durchschnittliche Noten.

Der Reformeifer in Deutschland kann nicht zufriedenstellen. Zwar herrscht Einigkeit über die Notwendigkeit, nicht aber über Art und Umfang von Reformen. Der Umbau des Sozialstaats blieb in den Anfängen stecken, vielfach werden punktuelle Eingriffe und Krisenmanagement noch immer für ausreichend gehalten. So steht statt einer grundlegenden Rentenreform die Suche nach Sparmöglichkeiten oder die Ausgliederung der sogenannten „versicherungsfremden Leistungen“ und deren Steuerfinanzierung im Vordergrund. Letzteres würde das eigendynamische Wachstum der soziai len Sicherungssysteme nicht stoppen und die Beschäftigung möglicherweise noch zusätzlich belasten, wenn die Mehrausgaben in den öffentlichen Haushalten zu Lasten wachstumsnotwendiger Infrastrukturinvestitionen gingen. Ein Reform-stau läßt sich auch bei den Tarifparteien ausmachen, die sich noch immer schwer damit tun, beschäftigungspolitische Verantwortung zu übernehmen und mit einer Selbstbeschränkung auf die Vereinbarung von Rahmenvorgaben den betrieblichen Anpassungserfordernissen mehr Spielraum zu lassen. Viel zu tun bleibt nicht zuletzt auch in den Führungsetagen der Unternehmen, wo es häufig noch immer an der Bereitschaft fehlt, überkommene Hierarchien zu überdenken und Flexibilitätsspielräume zu nutzen. 2. Was kann Deutschland vom Ausland lernen?

Bei dem Versuch, auf diese Frage praktikable Antworten zu geben, kann man nicht auf allgemein-gültige Patentrezepte setzen und internationale Erfolgsbeispiele als Blaupausen für den gewünschten Fortschritt heranziehen. -Die Reformen Neuseelands beeindrucken vor allem durch die mutige Konsequenz, mit der die allumfassende wirtschaftliche Regulierung aufgegeben wurde, wie auch durch die Bereitschaft der Gesellschaft, Reformen anzustoßen und durchzuhalten sowie in der Folge deutlich mehr Verantwortung für das eigene Schicksal zu übernehmen. Die Kleinheit des Landes, die existentielle Staats-krise als Auslöser der radikalen Neuorientierung, das Fehlen einer Verfassung ebenso wie einer zweiten Kammer bis hin zu dem bis 1995 geltenden Mehrheitswahlrecht lassen eine Übertragbarkeit auf Deutschland aber zweifelhaft erscheinen. -In den USA gelingt es besser als in den meisten anderen Ländern, aus dem Wirtschaftswachstum häufig auch gut bezahlte Arbeitsplätze entstehen zu lassen. Niedrigen Abgabenbelastungen und geringen staatlichen Interventionen in Wirtschaft und Gesellschaft stehen allerdings gravierende soziale Verwerfungen und die nicht unerheblichen Kosten gegenüber, die der Mangel an einem institutionalisierten Interessenausgleich -nicht zuletzt in der Tarifpolitik -mit sich bringt. -Auch in Großbritannien führte der Rückzug des Staates seit Anfang der achtziger Jahre zu einer positiven gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Die gewachsene Kluft zwischen Arm und Reich und die vor allem durch Qualifizierungsdefizite begründeten strukturellen Probleme am Arbeitsmarkt relativieren aber den Vorbildcharakter. -Der wirtschaftliche Erfolg der Schweiz (hohes Pro-Kopf-Einkommen und niedrige Arbeitslosigkeit) spricht gleichermaßen für die Konsensorientierung und die traditionelle Zurückhaltung des Staates in allem, was Wirtschaft, Tarifparteien und Bürger eigenverantwortlich regeln können. Das geringe Wirtschaftswachstum seit Beginn der neunziger Jahre läßt aber auch für die Schweiz Reformbedarf erkennen.

Auch wenn sich somit keines der genannten Ländermodelle uneingeschränkt als Muster für Deutschland empfiehlt, so können und sollten ausländische Beispiele dennoch sehr wohl als Vorbild für spezifische Reformen dienen: -Im Bereich der Sozialpolitik gilt das etwa für das Schweizer Beispiel der Altersversorgung und Krankenversicherung. Solidarische Elemente der Grundsicherung werden dort mit einer Stärkung der Eigenvorsorge verknüpft. Im Fall der Gesundheitsversorgung wurden darüber hinaus die Steuerungsmechanismen verbessert, indem sie heute bei den Leistungsanbietern und Krankenkassen ansetzen. Daß hohe Krankenstände und die Invaliditätshäufigkeit gesenkt werden können, wenn Kostentransparenz die Prävention fördert, macht die Ablösung der staatlichen Absicherung durch private Versicherungen mit risikoabhängigen Prämien in den Niederlanden deutlich. Die arbeitsmarktpolitischen Reformen in Dänemark und auch in der Schweiz liefern schließlich Anschauungsunterricht dafür, wie Anreize, aber auch Hilfen zu gestalten sind, die eine Wiedereingliederung von Arbeitslosen in den regulären Arbeitsmarkt fördern. -Auch die Tarifparteien können von ausländischen Beispielen lernen. Das bereits angeführte Tarifsystem der Schweizer Maschinenbauindustrie kann ebenso hiesige Überlegungen zur Reform der Flächentarifverträge befruchten wie die niederländische „Stiftung der Arbeit“, die als paritätische Einrichtung von Gewerkschaften und Arbeitgebern für eine gleichermaßen flexible wie gesamtwirtschaftlichen Erfordernissen verpflichtete Tarifpolitik sorgt, daneben eine wichtige Schnittstelle zur Politik darstellt und damit Funktionen übernimmt, für die es in Deutschland kein Pendant gibt. -Unternehmer schließlich können sich ein Beispiel am „New Zealand Business Roundtable" in Neuseeland nehmen, wenn sie lernen wollen, wie man sich durch eigenes Engagement aus der Abhängigkeit von staatlicher Protektion und Bevormundung löst und seinen Teil dazu beitragen kann, Reformen in Wirtschaft und Gesellschaft voranzubringen. Ein Umdenken ist auf allen Ebenen notwendig. Je mehr sich jeder einzelne für sein Fortkommen und für seine Absicherung gegenüber den Wechselfällen des Lebens selbst verantwortlich fühlt, je mehr die Unternehmen durch Förderung der Motivation ihrer Mitarbeiter für die Sicherung ihrer Innovationskraft im internationalen Wettbewerb tun und je mehr die Tarifparteien auf die Anpassungserfordernisse eingehen, vor die der Strukturwandel die Betriebe in unterschiedlichem Ausmaß stellt, desto leichter machen sie es der Politik, sich Reformen der kollektiven Sicherungssysteme nicht nur vorzunehmen, sondern auch in die Tat umzusetzen. Wenn die ausländischen Beispiele etwas lehren, so ist es vor allem dies. 3. Wie die Lehren umzusetzen sind Umdenken setzt in den internationalen Erfolgsbeispielen das Aufgeben von Illusionen voraus, wie z. B.der Glaube, die Krise des Sozialstaats ließe sich beheben, ohne daß dies grundlegende Verhaltensänderungen erfordere. Eine Strategie der Besitzstandswahrung führt zwangsläufig in die Sackgasse. Beschränkungen des internationalen Wettbewerbs sind ebensowenig geeignet, mehr Beschäftigung hervorzubringen und die soziale Sicherung auf eine dauerhaft tragfähige Basis zu stellen, wie Konzepte, die auf eine kollektive Umverteilung von Arbeit setzen. Ebenso können wir uns als Exportweltmeister keine Importbarrieren leisten. Auch die Angleichung der Sozialstandards in anderen Ländern an das deutsche Niveau kann als gänzlich illusorisch gelten. Sie würde schon eine Reihe von EU-Ländern überfordern und massive innereuropäische Einkommenstransfers zur Folge haben. In noch stärkerem Maße gilt das für die osteuropäischen Länder, von den Ländern der Dritten Welt gar nicht zu reden. Von generellen Arbeitszeitverkürzungen schließlich sind positive Beschäftigungseffekte nur zu erwarten, wenn die Beschäftigten nicht nur die Arbeit, sondern auch den Lohn mit den Unbeschäftigten teilen. Darüber hinaus machen gerade die strukturellen Probleme am Arbeitsmarkt deutlich, daß generelle Arbeitszeitverkürzungen dazu führen könnten, expandierenden Wirtschaftsbereichen Wachstumschancen zu verbauen, ohne den Arbeitslosen aus schrumpfenden Branchen zu nutzen, weil deren Qualifikation oft eine ganz andere ist als die, die in den Wachstumsbranchen gebraucht wird.

Wenn Deutschland nicht vor dem internationalen Wettbewerb kapitulieren und sich das Einkommensniveau am Ende von Schwellenländern diktieren lassen will, muß es zu Reformen kommen, die auf die Bereitschaft zu Leistung, Eigeninitiative und Wettbewerb sowie auf ein Zusammenspiel von Wirtschafts-, Sozial-und Tarifpolitik setzen, das sicherstellt, daß die marktwirtschaftlicher Antriebskräfte gestärkt werden.

Dies deutlich zu machen ist zunächst der Part des Staates. Daß weite Bevölkerungskreise einsichtsbereiter sind, als viele Politiker es ihnen zutrauen, zeigen die Beispiele aus anderen Ländern, allen voran wiederum Neuseeland und die Niederlande, die ihre Reformen über Parteigrenzen hinweg vorangetrieben haben. Beide Beispiele belegen auch, daß grundlegende ordnungspolitische Reformen ihre Wirkung nicht von heute auf morgen entfalten und daß sie sich deshalb für wahltaktische Vorteilskalküle nicht eignen. Um so wichtiger ist es, daß weder Regierung noch Opposition die Bürger im unklaren darüber lassen, daß -in der Alterssicherung mehr Eigenvorsorge unumgänglich ist; -in der gesetzlichen Krankenversicherung effizientere Steuerungsmechanismen eingeführt werden müssen; -in der Arbeitsmarktpolitik die Anreize zur Wiedereingliederung von Arbeitslosen in eine reguläre Beschäftigung zu verstärken sind und -Arbeitsplätze, die nicht mehr wettbewerbsfähig sind, nicht auf Dauer subventioniert werden können.

Glaubwürdig werden Regierung wie Opposition um so eher sein, je weniger sie sich als Sachwalter von Partikularinteressen präsentieren. Mit Erfolgen können sie -ausweislich der Erfahrungen im Ausland -um so eher rechnen, je mehr sie die sozialstaatliche Hauptaufgabe im Befähigen statt im Versorgen sehen. Auf den Prüfstand sind daher auch alle anderen staatlichen Aktivitäten zu stellen, die ebenso gut oder besser von Privaten erbracht werden können. Zu überprüfen ist nicht zuletzt aber auch, wie sich der Beitrag der Bildungspolitik zur Verbesserung der Beschäftigungschancen steigern läßt und wie Erwerbsarbeit und Familienarbeit besser miteinander vereinbar gemacht werden können.

An den Tarifparteien liegt es sodann, verteilungspolitische Interessen und beschäftigungspolitische Erfordernisse miteinander in Einklang zu bringen. Ihre Handlungsmöglichkeiten sind dabei keineswegs nur auf die Lohnpolitik im engeren Sinne beschränkt. Die sektorale Differenzierung der Lohnabschlüsse ist geringer, als es den Unterschieden im internationalen Wettbewerbsdruck und den Möglichkeiten, sich mit Produkt-und Verfahrensinnovationen gegen die Konkurrenz zu behaupten, entspricht. Noch schlechter ist es um den Spielraum auf der betrieblichen Ebene bestellt. Ähnliches gilt für die Differenzierung nach Qualifikation und Leistung. Darüber hinaus muß der Weg der Arbeitszeitflexibilisierung konsequent fortgesetzt werden. Den Beschäftigten und den Arbeitssuchenden bietet das die Möglichkeit, die Zeit, in der sie arbeiten wollen oder können, nach eigenem Ermessen zu wählen. Den Arbeitgebern wiederum hilft es, Kostensenkungspotentiale zu nutzen, die in einer stärkeren Entkoppelung von Maschinenlaufzeiten und betrieblichen Arbeitszeiten liegen. Vorbehalte dagegen sind nicht nur auf Gewerkschaftsseite zu überwinden; auch viele Unternehmen scheinen noch den Aufwand einer entsprechenden Umgestaltung der betrieblichen Abläufe zu scheuen.

Die Tarifparteien müssen -dies entspricht auch volkswirtschaftlichen Erfordernissen -stärker als bisher den steigenden Qualifikationsanforderungen Rechnung tragen. In ihrem ureigenen Interesse muß es liegen, daß jeder ausbildungswillige Jugendliche einen Ausbildungsplatz findet und daß die Beschäftigten ihre beruflichen Kenntnisse und Fertigkeiten ständig weiterentwickeln. Mit mehr Offenheit als bisher müssen die Tarifpartner schließlich die Möglichkeiten zu einer Beteiligung der Mitarbeiter am Erfolg und Kapital des Unternehmens eröffnen. Nicht nur ausländische Beispiele zeigen, daß beide Seiten hiervon profitieren würden: Die Arbeitnehmer müßten nicht befürchten, bei der Einkommensverteilung ins Hintertreffen zu geraten, wenn sie zur Verbesserung der Beschäftigungschancen in mäßige Lohnsteigerungen einwilligen, und die Unternehmen wiederum könnten das Beteiligungskapital für Investitionen nutzen.

Die Unternehmen müssen zu all dem ihren Teil beitragen. In sich ständig wandelnden Märkten sind sie gefordert, ihre Wettbewerbsfähigkeit durch Innovationen zu sichern. Erfolgreiche Produkt-und Verfahrensentwicklungen erfordern nicht nur einen stetig steigenden Aufwand für Forschung und Entwicklung, sondern die koordinierte Leistung der Mitarbeiter in allen Unternehmensbereichen. Wer Kreativität und Identifikation mit den Unternehmenszielen auf allen Unternehmensebenen will, muß deshalb Unternehmenskultur praktizieren, Verantwortung delegieren und die Mitarbeiter so ein Stück weit zu Mitunternehmern machen.

Alles kommt schließlich auch darauf an, daß der einzelne Bürger in die Lage versetzt wird und dazu bereit ist, das in seinen Kräften Stehende beizutragen, um die Allgemeinheit durch Eigenvorsorge wirkungsvoll zu entlasten. Die Zeichen für eine Veränderung des Bewußtseins und für eine Abkehr von der Versorgungsmentalität werden immer deutlicher. Die Einsicht, das notwendige Eigenengagement leisten zu müssen, um das Ganze funktionsfähig zu erhalten, hat sich bei den Bürgern möglicherweise sogar schon stärker durchgesetzt, als dies von Politikern, Gewerkschaftlern und Arbeitgebern bisher erkannt wurde.

Nicht um Strategien für magere Jahre geht es bei all dem, sondern um offensive Strategien, die der Eigeninitiative wieder mehr Raum geben, damit das, was für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft an Solidarität notwendig ist, auf Dauer tragfähig bleibt. Darüber Konsens herzustellen und dann bereit zu sein, neue Wege in der Sozial-und Tarifpolitik zu gehen -das ist die gemeinsame Aufgabe, die zu lösen ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Neben Deutschland waren in die Untersuchung einbezogen:. Dänemark, Großbritannien, Japan, Neuseeland, die Niederlande, Portugal, Österreich, Schweden, die Schweiz und die USA.

  2. Der Verfasser dankt an dieser Stelle den Projektverantwortlichen der Prognos AG Basel, Frau Rita Baur, Herrn Hans J. Barth und Herrn Oliver Lang, deren Beiträge für diesen Artikel zusanunengefaßt wurden. Die vollständige Publikation mit umfassenden länderspezifischen statistischen, Daten (S. Empter/A. Esche (Hrsg.), Eigenverantwortung und Solidarität -Neue Wege in der Sozial-und Tarifpolitik) kann vom Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh, bezogen werden.

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Andreas Esche, Dipl. -Volksw., geb. 1962; 1990 bis 1995 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter bei der Prognos AG Basel; bis 1996 Projektleiter im MEANS-Programm der Europäischen Kommission, Centre for European Evaluation Expertise, Lyon; seit 1996 Projektleiter im Bereich Wirtschaft der Bertelsmann Stiftung. Zahlreiche Studien und Evaluierungen vor allem im Bereich der Wirtschafts-, Technologie-und Beschäftigungspolitik.