Das Baltikum als eine Aufgabe für die integrative Gestaltgebung Europas
Peer H. Lange
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Zusammenfassung
Die baltische Subregion Europas ist nicht marginal und nebensächlich, sondern kennzeichnend für die künftige Gestaltwerdung des integrierten Europa. Hier treten Schlüsselprobleme der Transformation wie der Modernisierung exemplarisch zutage, die für die gesamte Strukturbildung Europas wichtig werden. Hier wird zudem das Verhältnis des künftigen abendländischen Europa zu Eurasien mit dessen Kernstaat Rußland essentiell gestaltet -in partnerschaftlicher Konkurrenz mit den USA, der führenden Modernisierungsmacht bei einer globalisierten Umgestaltung unserer Welt. Europa ist mithin herausgefordert, im Baltikum seine Position gegenüber der atlantischen wie der eurasischen Hemisphäre modellhaft zu bestimmen. Das Baltikum gewinnt zudem eine richtungweisende Bedeutung als Gestaltungsraum der nordeuropäischen EU-Erweiterung. Allen skandinavischen Nationen gilt der baltische Raum als integraler Teil der europäischen Gestaltwerdung. Das wird nicht lediglich räumlich, sondern im Sinn grundlegender Umstellungen in Wirtschaft, Sicherheitsgewährleistung und sozialen Strukturen verstanden -wodurch sich dieser Ansatz exemplarisch von traditionell geopolitischen Orientierungen unterscheidet, denen die Politik anderer, in dieser Subregion agierender Staaten folgt. In der bisherigen Entwicklung seit der wiedergewonnenen Souveränität 1991 zeigten sich allerdings sowohl schwerwiegende Beschränkungen und Schwierigkeiten auf baltischer Seite wie Unzulänglichkeiten der westlichen wie östlichen Außenwelt bei der Bewältigung anstehender Herausforderungen in diesem Raum. Dabei geht es nicht lediglich um die Transformierung des vordem sozialistischen Wirtschaftsund Sozialsystems, sondern um eine Neuausrichtung der Entwicklung an den Maßstäben und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Das betrifft die baltischen und die skandinavischen Nationen wie die anderen europäischen Regionen. Damit einhergehend ändert auch die vormalige Neutralitätshaltung Schwedens und Finnlands ihre Qualität. Diese Zusammenhänge außer acht zu lassen und sich auf eine regionale Sicht zu beschränken bedeutet, die eigentlich essentielle Problematik -nämlich die Gestaltgebung des ganzen Europa -zu verfehlen.
I. Nationalstaatliche Wiedergeburt versus Integrationserfordernis
Der Wiedereintritt der drei baltischen Nationen in den Kreis der Nationalstaaten Europas 1991 erfolgte historisch zu Beginn globalisierungsbedingter Integrationsentwicklungen in Technologie und Wirtschaft. Dieser noch andauernde Prozeß zieht politisch Funktionsverluste des Nationalstaats nach sich. Zum einen werden durch internationale Integration Funktionen an umfassendere Institutionen abgetreten, zum Beispiel an übernationale regionale oder subregionale Institutionen. Zum anderen nimmt grenzübergreifend Zusammenarbeit auch unterhalb des nationalstaatlichen Rahmens in Grenz-, Landschafts-oder Industrie-regionen zu. Parallel hierzu verläuft eine Tendenz zur Aufgliederung von Vielvölkerstaaten -wie des ehemaligen Jugoslawien und der Sowjetunion -in kleinere, national oder ethnisch bestimmte Einheiten, mithin zum Separatismus. In diese dialektische Spannung von Separation und Integration hinein gewannen die baltischen Staaten ihre Staatlichkeit neu -ohne für eine solche historische Neuorientierung infrastrukturell oder geistig vorbereitet zu sein. Im Gegenteil: Als durch das Sowjetsystem weithin Entmündigte und Benachteiligte erscheint ihre anfängliche Fixierung auf nationale Befreiung nur folgerichtig
1. Vielfalt historischen Erbes
Die drei baltischen Staaten erlebten die Wiedergewinnung ihrer Souveränität zuvörderst als Befreiung ihrer Nationen von sowjetisch-russischer Unterdrückung. Die fortwirkende Tragik dieser Wahrnehmung zeigte sich bereits darin, daß die entscheidenden plebiszitären Willensbekundungen zur Souveränität gegenüber der Sowjetunion mit einem hohen Stimmenanteil der russischsprachigen Einwohnerschaft zustande kamen -die sich schon bald darauf als nicht zur Nation gezählte zurückgesetzt fühlen mußte. Besonders in Lettland, aber auch in Estland wurde die Titularnation als von Überfremdung bedroht angesehen. Dem versuchte folgerichtig die erforderliche Gesetzgebung zu Staatsbürgerschaft und Minderheiten vorzubeugen. Die heutige (baltische wie westliche) Politik in bezug auf die sogenannte Minderheiten-problematik läßt weitgehend außer Betracht, daß seinerzeit bei der Abwendung von der Sowjetunion die Motive von nationaler und systemarer Befreiung zunächst miteinander einher-, später aber auseinandergingen -als nämlich sich in der Politik der baltischen Nationalstaaten das antirussische gegenüber dem antikommunistischen Freiheitsmotiv, die nationale Selbstbestimmung gegenüber einer Befreiung zu politischen Entscheidungsmöglichkeiten in den Vordergrund schob. Auch für diese Entwicklung sind die Ursachen nicht allein in den berechtigten baltischen Befürchtungen und der daraus folgenden Politik zu suchen, sondern in gleichem Maß in einer ungelenken russischen Politik, die sich der Lasten historischer Verantwortung kaum bewußt zeigte.
Gleichzeitig veränderte sich auch ein wesentliches Element baltischer Standortbestimmung im gesamteuropäischen Veränderungsprozeß: die gesamtbaltische Identität, die als Interessengemeinschaft der drei Nationen während der Loslösung von der Sowjetunion zunächst zum entscheidenden Merkmal für ihr Ansehen in der Welt geworden war. Für mehrere Jahre war anfänglich „das Baltikum“ ein Terminus technicus internationaler Politik geworden, der jedoch bald seine Bedeutung zugunsten der Individualität jedes der drei Nationalstaaten •einbüßte. Dieser außenpolitisch bedeutsame Orientierungswechsel wurde schließlich mit der EU-Erweiterung und der Entscheidung für eine individuelle Bewertung von Anwartschafts3 Staaten (mit dem Ergebnis der Einladung Estlands 1997) sowie einer Hintanstellung räumlicher Erfordernisse bei der Erweiterung der europäischen Integration deutlich. Die Folgen sind u. a. eine mögliche Partikularisierung von Erweiterungsräumen, etwa durch intrabaltische EU-Außengrenzen, sowie die Unverträglichkeit zwischenbaltischer Integrationsmaßnahmen mit einer längerwährenden abgestuften Erweiterung der EU im Baltikum.
Die Verschiedenartigkeit der drei baltischen Nationen hat tiefreichende historische und kulturelle Wurzeln. Die daraus resultierenden Differenzierungserfordernisse politisch zu würdigen gelang im Westen nur allmählich. Allein die andere Informationslage der Esten, die aufgrund ihrer Sprachenverwandtschaft mit den Finnen deren Rundfunk-und Fernsehprogramme verfolgen konnten, ergab eine wirksame Voraussetzung für die sofort einsetzende, enge finnisch-estnische Zusammenarbeit. Hingegen wurde eine ähnliche Affinität zwischen Litauern und Polen erst wirksam, als die Schatten der polnischen Besetzung des Wilnaer Gebiets zwischen den Weltkriegen im polnisch-litauischen Freundschafts-und Kooperationsvertrag vom 26. 4. 1994 überwunden werden konnten.
Die Gemeinsamkeiten hingegen liegen eher in teilweise gleichen historisch-politischen Schicksalen. Als solche können gelten: die soziale, seit dem 19. Jahrhundert ethnisch perzipierte Unterdrükkung durch fremdstämmige Oberschichten, die Unfreiheit unter russischer, deutscher und sowjetischer Okkupation sowie nunmehr die gruppenartige Anwartschaft auf Zugang zur europäischen und atlantischen Integration.
Die Baltikumpolitik der westlichen Staaten folgte dementsprechend lange Zeit hindurch schwerlich zu vereinbarenden Leitvorstellungen: Einerseits wurde eine zwischenbaltische Integration als Vorstufe für eine Einbeziehung in die gesamteuropäische Integration befürwortet. Andererseits erfolgten Schwerpunktsetzungen in der bilateralen Politik gegenüber einzelnen baltischen Staaten ohne harmonisierte Arbeitsteilung. Der Eindruck einer stringenten westlichen Baltikumspolitik konnte hieraus nicht entstehen. Eine solche wurde allenfalls von den problembewußteren skandinavischen Staaten entwickelt und verfolgt. Somit erschienen die traditionellen „alten Länder“ der europäischen Integration von einer in sieh schlüssigen und harmonisierbaren Baltikumpolitik weiter entfernt als die neu hinzugekommenen. Eine künftige Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik der Europäischen Union in dieser Region wird mithin sowohl deren nationalstaatliche Verschiedenheit als auch die Unterschiedlichkeit der bisherigen nationalstaatlichen wie auch euroregionalen Ansätze integrieren müssen.
2. Perestroika und baltische Westwendung
Der Wiedereintritt der drei Baltenstaaten in die europäische Familie von Nationalstaaten erfolgte im Kontext russischer Politik. Gorbatschows Perestroika, die faktisch die Lösung der baltischen Frage überhaupt erst ermöglichte, bezweckte im Grunde lediglich eine Modernisierung der Sowjetunion, einschließlich einer Abkehr von imperialer Unterdrückung im äußeren Kreis des Imperiums, d. h.des Warschauer Pakts und des RGW. Am Baltikum endete dieser Reformwille. Hier scheute Gorbatschow im Januar 1991 selbst vor Gewaltanwendung nicht zurück, um die erkennbar werdende Separierung von der Sowjetunion (statt einer konzedierten größeren relativen Selbstbestimmung im Rahmen der Sowjetunion) noch zu verhindern. Jelzin hingegen, der die Sowjetunion zugunsten einer für das engere Rußland aussichtsreichen Perspektive zerbrach, ermöglichte zu Beginn der neunziger Jahre letztentscheidend die Ablösung der baltischen Völker, wandte sich jedoch 1997/98 im Zuge einer Renaissance russischen Großmachtdenkens -das sich hauptsächlich, aber nicht ursächlich an der NATO-Erweiterung entzündete -auch im Baltikum wieder einer geopolitisch motivierten Politik der Reetablierung von Interessen-und Einflußsphären zu. Dies mündete 1997 in einem Wechsel der Stoßrichtung russischer Initiativen, die vom schwierigsten baltischen Gegenspieler -Estland -abließen und sich nun auf das schwächste Glied -Lettland -konzentrierten. Erklären läßt sich dieser neue Kurs durch einen Motivationswechsel russischer Politik. Mit der Stoßrichtung gegen Estland war das gesamte Baltikum mit seinen unerwünschten Tendenzen zu einer entschlossenen Westorientierung anvisiert worden. Demgegenüber verspricht die schwerpunktmäßige Einflußnahme auf die lettische Entwicklung eine Aufspaltung des baltischen Raumgefüges und damit eine erhebliche Komplizierung der NATO-wie der EU-Erweiterung. Dadurch wird auch der russische Handlungsspielraum zur Wahrung eigener Interessen gegenüber diesem Integrationsprozeß mit besserer Erfolgsaussicht offengehalten. Eine Offenhaltetaktik verfolgte die russische Außenpolitik bereits seit längerem instrumentell sowohl in der Frage der Grenzen gegenüber Estland und Lettland als auch vermittels der Minderheitenproblematik. Die ungelöste Grenzproblematik verhinderte bisher den Abschluß von Grundlagenverträgen mit den baltischen Staaten; die permanente Kontroverse um die russischsprachigen Minderheiten bildet einen zweiten Streitpunkt, der die Aufnahme in NATO und/oder EU nach deren eigenen Grundsätzen erschwert.
Die Wendung der russischen Baltikumpolitik folgte der Umorientierung von der „romantischen Phase“ einer Ausrichtung auf die USA unter Außenminister Kosyrev hin zu einer Suche nach „strategischen Verbündeten“ gegen eine Vorherrschaft der USA in der Weltpolitik unter seinem Nachfolger Primakov. Jelzin selber hat dieses Anliegen immer wieder artikuliert, besonders anläßlich seines Besuchs in China. Verschärft wurde dieser Kurswechsel durch die NATO-Erweiterung, der gegenüber die russische Führung argumentiert, daß eine Aufnahme der baltischen Staaten in die NATO diese in bedrohliche Nähe zum Zentrum Rußlands brächte. Da das russische militärische Denken der letzten Jahre von den im Golfkrieg zutage getretenen waffentechnischen Optionen beherrscht wird, dürfte auch dem baltischen Raum strategische Bedeutung vor allem im Blick auf die der NATO/den USA zu Gebote stehenden modernen Waffentechnologien zugemessen werden. Dies ist aus dem russischen Vorstoß abzulesen, in den NATO-Rußland-Kontakten prioritär die Frage der militärischen Infrastrukturen in den Erweiterungsräumen der NATO zu klären -hatten doch der baltische wie der polnische Raum schon für das sowjetische militärische Dispositiv herausragende Bedeutung als Bastion der operativen wie strategischen Luftkriegsführung und -Verteidigung.
Die unkonstruktive, ja vorwiegend antagonistische Haltung Rußlands, der sich die baltischen Staaten ausgesetzt sehen, erscheint neben den strategischen Interessen zum einen durch Verleugnung eigener historischer Schuld und der Pflicht, bei der Abtragung der Folgen mitzuwirken, bestimmt, zum anderen durch ein hartes Interesse, sich hier bietende Einflußmöglichkeiten auf die fortschreitende Integration Europas rückhaltlos zu nutzen. So hat sich die russische Politik unter Jelzin zu keinerlei vertrauensbildendem historischem Schuld-eingeständnis bereit gefunden, obwohl die Sowjet-herrschaft die baltischen Nationen jeweils annähernd ein Drittel der Bevölkerung und den weitgehenden Verlust der nationalen Eliten kostete. Deshalb hätte eine tiefwurzelnde Russophobie in den baltischen Ländern von der russischen Politik ebenso berücksichtigt werden müssen. wie dies bezüglich der ehemaligen „Volksdemokratien“ der Fall war.
Das Gegenteil geschah: So, wie lange Zeit hindurch die Existenz des die Teilung der Einflußsphären zwischen dem Dritten Reich und der Sowjetunion festlegenden geheimen Zusatzprotokolls zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939 geleugnet wurde, wird bis zum heütigen Tag entgegen vorliegender historiographischer Evidenz und zwingender völkerrechtlicher Wertung die Einverleibung der drei baltischen Staaten in die Sowjetunion von der offiziellen russischen Politik als freiwilliger Akt ausgegeben Auf baltischer Seite steht dem nicht minder fixiert die zwar begründbare, aber den Sachverhalt breiter Kollaboration kaum berücksichtigende „Okkupations“. -These entgegen. Im Hinblick auf die beiden unvereinbaren Positionen erscheinen denn auch die miteinander zusammenhängenden Fragen eines Fortwirkens der Souveränitätsverträge von 1919, die den baltischen Staaten „auf ewige Zeiten“ Unabhängigkeit von Rußland garantierten, und die Territorialveränderungen zur Sowjetzeit zuungunsten Estlands und Lettlands schwerlich lösbar. Dies, obschon sowohl Estland als auch Lettland in den bilateralen Verhandlungen mit Rußland frühzeitig signalisiert hatten, zu einem Verzicht auf die abgetrennten Gebiete bereit zu sein, wenn eine Anerkennung der Souveränitätsverträge in hinnehmbarer Kompromißformulierung zu erreichen wäre.
Die für Rußlands Haltung gegenüber dem Baltikum gewichtige Problematik der Integrationsausweitung von NATO und EU ist demgegenüber neueren Datums. Während der sog. „romantischen“ Frühphase der russischen Reformpolitik zu Zeiten Gorbatschows und Schewardnadses hoffte man in Moskau auf ein enges Zusammengehen mit dem Westen, vor allem mit den USA. Das schloß Illusionen in bezug auf einen engen Anschluß Rußlands an die westlichen Integrationsstrukturen ein. Zu dieser Zeit waren weder die NATO-noch die EU-Erweiterung und erst recht nicht die Einbeziehung der baltischen Staaten aktuell, sondern in den baltischen Staaten wurden zu Beginn der neunziger Jahre bei allem Bekenntnis einer Zugehörigkeit zu den westlichen Demokratien noch Vorstellungen eines qualifizierten Neutralitätsstatus diskutiert, die nach russischem Verständnis einen „Finnlandstatus“ für die baltischen Staaten am naheliegendsten erscheinen ließen. Mit der ab 1993/94 aktualisierten NATO-Erweiterung und dem sich versteifenden russischen Widerstand hiergegen gewann die Frage der Einbeziehung der baltischen Länder -wie auch die Kompromißlösung eines vorgezogenen EU-Beitritts -an Bedeutung. Gegen letzteren setzte sich die russische Politik nicht gleichermaßen erbittert zur Wehr wie gegen das Ausgreifen des atlantischen Bündnisses. Der Qualitätswandel der von Moskau in dieser Frage verfolgten Linie ist vielmehr darin zu suchen, daß ab 1997 in einer Reihe von Grundsatzpapieren zur russischen Baltikumspolitik auf die sich hier eröffnenden Möglichkeiten zur Wahrung russischer Interessen gegenüber der europäischen Integration verwiesen wurde
Damit hat sich die außen-und sicherheitspolitische Konstellation um das Baltikum zu einem Knotenpunkt des russischen Verhältnisses zum Westen entwickelt. Hier werden sowohl amerikanische, vermittels der NATO und ihres Programms „Partnerschaft für den Frieden“ verfolgte Interessen am Aufbau stabiler Sicherheitsstrukturen gegenüber einer noch immer unwägbaren russischen Entwicklung wie auch die Gestaltwerdung des integrierten Europa in einer neu zu gestaltenden Subregion manifest. Rußlands wechselnde Haltung gegenüber den USA als einer für die globalen Interessen Rußlands ausschlaggebenden Macht einerseits und dem werdenden Europa als einer potentiellen Ausgleichsmacht andererseits, tritt in seiner Baltikumspolitik in besonderer Weise hervor.
II. Integrationsmotive: Schutz und Wertegeborgenheit
Abbildung 2
Makroökonomische Entwicklung in den baltischen Ländern 1992-1998 Quellen: Nationale Statistiken; EBRD; BMWi-Dokumentation Nr. 420: Wirtschaftslage und Reformprozesse in Mittel- und Osteuropa; Bank of Estonia: Monetary Developments & Policy Survey, Tallinn 1998; EBRD Transition Report Update, 1998. Quelle: Wochenbericht des DIW 23/98, S. 412
Makroökonomische Entwicklung in den baltischen Ländern 1992-1998 Quellen: Nationale Statistiken; EBRD; BMWi-Dokumentation Nr. 420: Wirtschaftslage und Reformprozesse in Mittel- und Osteuropa; Bank of Estonia: Monetary Developments & Policy Survey, Tallinn 1998; EBRD Transition Report Update, 1998. Quelle: Wochenbericht des DIW 23/98, S. 412
1. Existenzangst als Motiv neuer Staatlichkeit
Die politische Entwicklung der baltischen Nationen kann nur unter Berücksichtigung des fortwirkenden Okkupationstraumas verstanden werden. Die Übermacht der dem benachbarten Rußland zu Gebote stehenden Gewalt resultiert im Bewußtsein, daß die eigene Sicherheit auf verläßlichen Schutz durch Protektionsmächte angewiesen sei. Die politisch virulente Existenzangst hat darüber hinaus in Estland und Lettland einen weiteren Grund in der Gefährdung der ethnisch definierten nationalstaatlichen Existenz durch die Bevölkerungsumschichtungen im Gefolge der stalinistischen Siedlungspolitik.
Hieraus ergab sich folgerichtig, daß die Politik der baltischen Staaten -abgestuft nach dem Ausgesetztsein gegenüber Rußland -zunächst schwerpunktmäßig Sicherheit vor Rußland anstrebte und damit tendenziell in Widerspruch zu einer von der Konfrontation des Kalten Kriegs befreiten und um Kooperation mit Rußland bemühten westlichen Politik geriet. Ferner zeigte sich in der Minderheitenproblematik eine Inkompatibilität der baltischen und der westeuropäischen politischen Ansätze: Während die richtungbestimmende Politik des Minderheitenbeauftragten der OSZE, Max van der Stoel, darauf abzielt, die baltische Minderheiten-und Menschenrechtsgesetzgebung derjenigen in den westeuropäischen Staaten anzugleichen, mußte das lettische und auch das estnische Interesse sich zunächst darauf richten, eine durchaus reale Gefährdung staatlicher Stabilisierung durch die unverhältnismäßig starken, ehedem bevorrechtigten und daher mit westlichen Verhältnissen eben nicht vergleichbaren „Minderheiten“ auszuschließen. Als einzig mögliche Lösung hierfür erscheint heute eine allmähliche Assimilierung im Verlauf einer durch Modernisierung zu erreichenden neuen gesellschaftlichen und staatlichen Identitätsfindung -eine Zielsetzung, die mit derjenigen eines konservierenden und protegierenden Minderheitenschutzes nicht ohne weiteres kompatibel erscheint Die Folge hiervon ist in einer sich über die Jahre hinziehenden außenpolitischen Virulenz der sogenannten „Minderheiten“ -Proble-matik zu erkennen, die bis heute Rußland instrumentelle Handhaben dafür bietet, auf die Annäherung der baltischen Staaten an die westeuropäische Integration Einfluß zu nehmen.
Schließlich mußten sich beide Motive auch auf die innerbaltische Integration auswirken: Litauen, das aus mehreren historischen Gründen der stalinistischen Russifizierung weit weniger ausgesetzt war als Lettland und Estland, hat mit einer russischsprachigen Minderheit von nur acht Prozent keine mit Lettland und Estland vergleichbaren Probleme. Die Minderheitenproblematik in ihren oben beschriebenen Auswirkungen mußte folgerichtig für Litauen einen ganz anderen Stellenwert einnehmen als für Estland und Lettland -und mit ihr die Einschätzung der Stabilität der jeweiligen baltischen Partner. Für die militärische Kooperation der drei baltischen Staaten spielte darüber hinaus auch die unterschiedliche politische Charakteristik eine wesentliche Rolle: Für Litauens Westbindungen wurde es von großer Bedeutung, daß diesem volk-reichsten und ethnisch am wenigsten beeinträchtigten der drei jungen Staaten der Aufbau einer eigenen Armee am raschesten und vergleichsweise unkompliziertesten gelang. Die beschwichtigende Rußlandpolitik unter Brazauskas wie auch seine zögerliche Reformpolitik riefen hingegen im Westen zeitweilig den Eindruck hervor, daß Litauen -das in der Zwischenkriegszeit wegen seines Konflikts mit Polen hinsichtlich des polnisch besetzten Gebiets um Wilna enge Beziehungen zu Sowjetrußland unterhalten hatte -sich weniger verläßlich als die beiden anderen baltischen Nationen von sowjetischen Traditionen abwende.
Die Fixierung auf Rußlands Bedrohlichkeit bestimmte -wenn auch nicht allein entscheidend -maßgeblich die politische Haltung der baltischen Staaten. Neben der Schutzsuche vor dem als alleinige potentielle Bedrohung wahrgenommenen Rußland gründete eine von Anbeginn an radikale Westorientierung in dem Selbstverständnis, dem westlichen Kulturkreis zuzugehören -allerdings durchaus im Bewußtsein einer Grenz-oder Front-lage. Das von Samuel Huntington gezeichnete Bild des „Zusammenpralls der Kulturen“ illustriert diese Konstellation insofern treffend, als in allen drei baltischen Völkern eine Identifizierung mit westlicher Kultur und Geschichte politisch dominiert, die als mit dem russischen, orthodoxen, sowjetischen Osten unvereinbar verstanden wird. Dies geht jedoch einher mit einem ethnisch motivierten und heute gelegentlich antiquiert nationalistisch historisierenden Unabhängigkeitsbewußtsein gegenüber der „westlichen“ (deutschen adligen und bürgerlichen) Oberschicht, die diesen Kultureinfluß früher trug. Demgegenüber hat die orthodox bestimmte Kultur Rußlands -ungeachtet der relativ liberalen Herrschaft in den sog. „deutschen Provinzen des Zarenreichs“ sowie der gerade hier unübersehbar erfolgreichen Industrialisierung um die Jahrhundertwende und einer moderaten Gewährung begrenzter „Westlichkeit“ während des Sowjetregimes -keinen bewußtseinsprägenden Einfluß hinterlassen.
Aus diesem oszillierenden Verhältnis von Nähe und Distanz resultierte eine anfängliche Verkennung der tiefgreifenden Veränderungen, von denen die „Westlichkeit“ Europas heute bestimmt ist -insbesondere des Bedeutungsschwundes der Nationalstaatlichkeit einerseits und des Vorrangs von Integration unter modernen Entwicklungsbedingungen andererseits. Ein gerade erst wiederbefreites baltisches Nationalgefühl mußte sich damit schwer tun, nahezu unvermittelt ein Aufgehen nationalstaatlicher Eigenbestimmung in Integrationsstrukturen anzusteuern. Dennoch sind angesichts der Aussicht auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union die hierfür geforderten Anstrengungen von Regierungsseite willig in Angriff genommen worden -allerdings ohne daß in der Bevölkerung ein breites politisches Verständnis der Möglichkeiten, vor allem aber auch der Anforderungen hätte erreicht werden können.
Die Herangehensweise an die Integration auf baltischer und westeuropäischer Seite setzte unterschiedliche Schwerpunkte. Die baltische Politik fixierte sich -weitgehend ohne Erörterung der Konsequenzen und Vorleistungen und in einem eher statischen Ansatz -sowohl hinsichtlich der NATO-wie auch der EU-Erweiterung auf den Status der Mitgliedschaft. Das westliche Herangehen gab dagegen einer prozessualen Stabilisierung von politisch wichtigen Strukturelementen den Vorzug vor den Formalien der Mitgliedschaft.
III. Das Baltikum -die Achillesferse der NATO-Öffnung
1. „Unschützbarkeit“ -ein Trugschluß
Weil die baltischen Staaten in der westlichen Integration zuvörderst Schutz vor Rußland suchten, haben sie in den Jahren 1993 bis 1997 zunächst mit aller ihnen zu Gebote stehenden Energie versucht, bei der ersten Teilerweiterung der NATO dabei zu sein. Das blieb ihnen versagt, weil sowohl im deutschen wie auch im amerikanischen Kalkül russische Empfindlichkeiten als zu erfolgsgefährdend eingeschätzt wurden, die Potentiale der drei baltischen Nationen wenig Zugewinn an militärischer Kapazität versprachen, aber auch, weil Sicherheitsgarantien für die drei baltischen Staaten wegen der Unmöglichkeit von deren (konventioneller) Verteidigung uneinlösbar schienen. Alle drei in der Diskussion um die NATO-Erweiterung zutage getretenen Argumentationslinien haben erkennen lassen, daß das Verhältnis zu Rußland als bestimmend gilt Im Unterschied zur Konstellation des Kalten Kriegs, als schwieriger zu verteidigende Positionen wie Westberlin, Nordnorwegen oder Bornholm der Sicherheitsgarantie durch atomare Abschreckungsstrategien unterlagen, ist hinsichtlich einer Einbeziehung der baltischen Staaten in die sicherheitspolitische Integration im Rahmen der NATO nicht von einer konfrontativen, sondern allenfalls von einer konkurrierenden Lagecharakteristik ausgegangen und demgemäß nur die Erweiterung strukturbedingter Stabilität anvisiert und propagiert worden.
In der Logik dieses Ansatzes gewann denn auch für diese Anwärterstaaten das Programm „Partnerschaft für den Frieden“ („Partnership for Peace“, PfP) ausschlaggebende Bedeutung. Hierdurch wurden die drei baltischen Staaten in eine fünfteilige Kooperationsstruktur einbezogen, die heute eine so tiefgreifende faktische Sicherheitsvernetzung darstellt, daß sie geeignet erscheint, eine unmittelbare militärische Gefährdung weithin zu neutralisieren. Hierzu gehören im einzelnen: 1. ein Baltisches (Friedenswahrungs-) Bataillon („BALTBAT“ = BALTic BATtalion mit Standort und Hauptquartier in Riga/Lettland und Dänemark als Leitnation); 2. ein von den USA finanziertes und in den 1994 entworfenen Rahmenplan einer „Regionalen Luftkontrollinitiative“ (Regional Aircontrol Intitiative) für den Bereich der ehemaligen Volksdemokratien gehörendes subregionales System für die Kontrolle des Luftraums („BALTNET" = BALTic Air Surveillance NET work mit Position in Wilna [Vilnius]/Litauen und Norwegen als NATO-Leitnation); 3. eine Baltische Marineflottille („BALTRON“ = BALTic SquadRON mit Sitz in Reval [Tallinn]/Estland und Deutschland als NATO-Leitnation); 4. eine koordinierende Dach-Institution („BALTSEA“ = BALTic SEcurity Assistance, die von Schweden geleitet wird) und 5. die Baltische Verteidigungsakademie („BALTDEFCOL“ = BALTic DEFense COLlege in Dorpat [Tartu]/Estland).
Hiermit ist auch ein Rahmen dafür geschaffen worden, die erheblichen Umstellungsschwierigkeiten aus sowjetischen in westliche militärische Verhaltens-und Leistungsnormen -die als langfristige Schwierigkeiten in den Armeen aller ehemaligen Volksdemokratien zutage traten -beim komplizierten Neuaufbau baltischer Armeen in einem mittelfristigen Adaptionsprozeß zu umgehen.
2. PfP: Ersatzsicherheiten für ein strategisches Glacis
Damit hat das Programm „Partnerschaft für den Frieden“ eine vergleichbare Stabilisierung sicherheitspolitischer Strukturbildung bewirkt, wie sie hinsichtlich der übrigen politischen Felder für die europäische Integration mit den sogenannten „Heranführungsstrategien“ bezweckt wird. In diese vormitgliedschaftlichen Kooperationsstrukturen sind zugleich modern verstandene strategische Interessen von NATO-Partnerländern an der baltischen Sicherheitspolitik eingeflossen, die im Effekt einen nicht weniger funktionalen Schutz bewirken können, als ihn eine formale Mitgliedschaft bietet.
Der für diese vorsichtige Politik zu entrichtende Preis liegt zum einen im Verzicht auf die von einer vollendeten Mitgliedschaft ausgehende innere Stabilisierungswirkung auf Mitgliedstaaten, wie sie etwa mit der Aufnahme Spaniens in die NATO bezweckt wurde. Zum anderen kann er in den Möglichkeiten zutage treten, die der russischen Politik nach Jelzin für eine Einflußnahme auf zukünftige Entwicklungen offenbleiben. Damit wird absehbar, daß für die baltischen Risikoperzeptionen zwar die Okkupations-bzw. Invasionsgefahr in den Hintergrund tritt, mögliche Destabilisierungen durch politische Dominanz -durch welche auch die Integrationseignung des einen oder anderen der baltischen Staaten infrage gestellt würde -hingegen wichtiger werden. Damit verschiebt sich zugleich das Gewicht der hierfür geeigneten Mittel von herkömmlichen militärischen Optionen zu solchen hochtechnologischer Konfliktaustragung.
Das bedeutet, daß der als längerfristig einzuschätzende Prozeß der baltischen Annäherung an die europäische und atlantische Integration auf modernem sicherheitspolitischem Gebiet Gefahr laufen könnte, sich konfrontativ zu entwickeln, wenn zur Entschärfung dieser Möglichkeit nicht adäquat moderne Ansätze in der Rüstungskontrollpolitik angesteuert werden. Neben einer Befassung mit bisher aufgrund tradierter Normen noch nicht erprobten Bereichen der Vertrauensbildung bestünde eine zusätzliche Herausforderung darin, noch immer wirksame Vorbehalte in den skandinavischen Ländern gegen Rüstungskontrollansätze mit Regionalspezifik zu überwinden.
IV. EU-Öffnung: Verlegenheitslösung oder Gesetzmäßigkeit?
1. Die eigentlichen Probleme liegen im Westen
Im Baltikum blieb nicht unbemerkt, daß bereits 1994 in der ersten Studie der amerikanischen RAND-Corporation, die auch in Zuarbeit für das deutsche Verteidigungsministerium die Konzeption für die NATO-Erweiterung erarbeitete, Estland als voraussichtlich erster Anwärter auf eine EU-Mitgliedschaft benannt wurde. In der Tat haben sich die Studien der RAND-Corporation erst im zweiten Anlauf dem Baltikum als schwierigem Teilproblem der NATO-Öffnung zugewandt und frühzeitig eine Lösung des Problems im Zugang zur EU-Integration gesehen
Schienen bereits die Schwierigkeiten einer NATO-Mitgliedschaft beträchtlich, so mußte dies für die wirtschaftlichen, sozialen und soziostrukturellen Anforderungen, die eine Aufnahme in die EU für die noch immer schweren Folgeschäden aus der Sowjetzeit ausgesetzten baltischen Staaten stellte, um so mehr gelten. Deren Drängen auf Aufnahme machte infolgedessen eine Klärung der auf Seiten der europäischen „Altländer“ zu erbringenden Lasten immer dringlicher erforderlich. Hierin bestand der Kern der jahrelangen Erörterungen auf politischer wie gesellschaftspolitischer Ebene über die Frage „Vertiefung vor Erweiterung oder Erweiterung vor Vertiefung“. Sie ist letztlich durch die folgerichtige Losung von der Gleichzeitigkeit beantwortet worden, weil ein zwingender innerer Zusammenhang beider Vorgänge vorliegt. Das aber bedeutet, daß die Entwicklung einer integrativen Erweiterung zeitlich vom Fortschritt bei der Vertiefung abhängig und somit hochgradig verwundbar gegenüber Komplikationen bleibt. Dieser letztere Aspekt einer gemeinsamen oder doch zumindest harmonisierten Außen-und Sicherheitspolitik der Europäischen Union gewinnt unübersehbar durch jüngste Entwicklungen des russischen wie des amerikanischen Engagements an Aktualität.
2. Heranführung und fehlende Orientierung
Die Haltung der baltischen Staaten zu ihrem EU-Beitritt zeigte gelegentlich eine aus ihren Besonderheiten verständliche Zwiespältigkeit: Einerseits setzten sie auf das Gewicht der baltischen Gemeinsamkeit (Gruppen-/Startlinienmodell) und andererseits auf Chancen für eine individuelle Aufnahme, die sie aus der einzelstaatlichen Leistung ableiteten -wofür insbesondere Estland stand. Die deutsche Politik hat als Lösung das „Stadionmodell“ (mögliches Überholen von Erstverhandlern durch leistungsstärkere Zurückgesetzte) kreiert -das der Leistungsfähigkeit der Heranführungspolitik wie auch der Verhandlungsfähigkeit der Kommission erhebliche Lasten aufbürdet.
Als noch schwieriger erwies sich die Einhaltung des Versprechens, ausschließlich „objektive“ Kriterien der Beurteilung einer Beitrittsreife zugrunde zu legen. Bereits die Bewertung der drei baltischen Staaten mit dem Entscheid, Estland zu Beitrittsverhandlungen zuzulassen, ist für Uneingeweihte aus dem Text der Agenda 2000 allenfalls mit Mühe herauszulesen. Die darauffolgenden ersten Erfahrungen aus den Beitrittsverhandlungen mit Polen und bei den Heranführungsaktivitäten mit Litauen verwiesen eindringlich auf die Schwierigkeiten der Beitrittswilligen Gleichzeitig wurde nicht zuletzt anläßlich der jüngsten Initiativen südeuropäischer Staaten sichtbar, daß sich als Preis der Erweiterung Anforderungen an die Integrationskohäsion der EU abzeichnen, die diese an ihre Belastungsgrenze zu führen drohen. Das konnte nur eintreten, weil die Regierungen der Europäischen Union deren Erweiterung anvisierten, ohne neben dem moralischen Solidaritätsmotiv auch die ökonomischen, vor allem aber die integrationspolitischen Belastungen einvernehmlich zu deklarieren
Somit zeichnet sich seit 1998 verstärkt ab, daß der Fortgang des europäischen Einigungsprozesses nicht weniger von den deformationsbegründeten Unzulänglichkeiten in den Kandidatenländern abhängt als von der Fähigkeit der integrierten EU-Mitglieder zu eigenen grundlegenden Reformen in der Agrarpolitik, der integrierten Finanzpolitik und der politischen Struktur der Union. Hierzu gehört, daß sich die europäische Politik (zumal die Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik) deklaratorisch darauf festlegt, welche essentiellen Funktionen neue Erweiterungsräume und Länder -und hierunter auch das Baltikum oder auch dessen einzelne Bestandteile -für eine prosperierende Position Europas in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts zu übernehmen hätten. Ohne eine solche einigende Richtungsbestimmung müssen die binneneuropäischen Interessendivergenzen unüberbrückbar und als zu Mißbrauch einladende Schwäche erscheinen. Erweiterungsräume wie der baltische würden dadurch wieder zu Objekten rivalisierender Einflußnahme statt zu Verzahnungen korrespondierender Modernisierung, die das kommende Jahrhundert verlangt.
V. Regionale Integration zwischen Skandinavien, Ostseeraum und Mitteleuropa
1. Regionalisierung der Integrationen?
Zum atlantischen und europäischen Integrationsprozeß ist faktisch ein regionaler bzw. subregionaler hinzugetreten. Der Ostseeraum gilt transregional als musterhaft für erfolgreiche regionale Kooperation Als seine wichtigste Institution hat sich der 1992 auf Initiative des dänischen und des deutschen Außenministers gegründete „Rat der Ostseestaaten“ etabliert. Er schließt Rußland mit einem besonderen Sitz für das Gebiet Königsberg/Kaliningrad ein und ist mit ökonomischen, ökologischen, kommunalen und potentiell auch mit entwicklungspolitischen Fragen befaßt, nicht aber mit sicherheitspolitischen. Mit der Hinzuziehung Rußlands geht diese Institution über ihre Vorbilder -den „Nordischen Rat“ der skandinavischen Länder und den „Baltischen Rat“ der baltischen, der unter Rückgriff auf den in der Zwischenkriegszeit gleichnamigen Rat nach der Wiedergewinnung der Souveränität wieder ins Leben gerufen wurde -intentionell hinaus, indem sie statt einer sich als zusammengehörig empfindenden Staatengruppe eine solche mit bis dahin divergierenden, aber räumlich-subregional fokussierenden Interessen zusammenführte. Neu ist ferner, daß hier eine regionale Vormacht (bei aller gegenwärtigen Schwäche) beteiligt ist
Die Entwicklung in der Region mit unterschiedlichen Anlehnungen baltischer Staaten an Nachbar-nationen und einem wachsenden schwedischen Interesse, sich der NATO und den USA anzunähern, sowie deren zunehmendes Engagement im nördlichen Europa, insbesondere in Lettland, führten 1997 zu amerikanischen Sondierungen bezüglich einer Teilnahme am Rat der Ostseestaaten. Bei aller Nützlichkeit des in der OSZE erprobten Prinzips „offener“ Beteiligung drohte damit der Regionalcharakter dieser Institution überlastet und die gewünschte Balance regionaler und europaweiter Integration gestört zu werden. Hier war eine Grenze zwischen (sub-) regionalen und gesamteuropäischen (oder atlantischen — im Kontext sicherheitspolitischer Aspekte) Interessensphären erreicht, deren Überschreitung erhebliche strukturelle Unsicherheiten für die Gestaltwerdung Europas barg.
Die finnische Außenpolitik hat es in dieser Lage mit ihrem im Herbst 1997 aktualisierten Vorschlag einer „Nördlichen Dimension“ unternommen, die nordeuropäische Entwicklung wieder auf die Gleise gesamteuropäischer integrierter Politik zurückzuleiten Hierin werden ökologische und wirtschaftliche Entwicklungsanliegen des europäischen Nordens als Anliegen von gesamteuropäischer Bedeutung vorgetragen und damit die Regionalentwicklung zur Sache europäischer Gestaltungspolitik gemacht
2. Zu viele Institutionen -zu wenig Eliten
Diese finnische Initiative verlangt von europäischer Gestaltungspolitik Entscheidungen über die Strukturenbildung im Verhältnis von subregionalen zu regionalen Institutionen. Finnland als eine kleine Nation hatte selbst den Spagat zwischen nördlichen Anliegen (im Nordischen Rat und im Rat der Barentssee-Anrainer) und den komplizierten Entwicklungen südlich seiner Grenzen zu leisten gehabt. Es mußte sich am ehesten darüber klar werden, daß insbesondere kleine Nationen durch diesen institutioneilen , Artenreichtum 1 des nördlichen Europa an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit hinsichtlich der dafür erforderlichen Eliten gebracht wurden. Auch zeichnete sich ein Ende der Leistungsfähigkeit dieser subregionalen Kooperation gegenüber einer rapide zunehmenden Involvierung der außerregionalen Vormächte USA und Rußland ab -die auszubalancieren lediglich durch eine Funktionsverlagerung auf Institutionen der europäischen Integration möglich erscheint.
VI. Divergierende Zeithorizonte und transregionale Erschwerungen
Vor den baltischen Nationen liegt eine längerwährende Periode der Annäherung an die europäische Integration. Allein der Anschluß an die Eurowährung dürfte ein bis zwei Dezennien in das nächste Jahrhundert hineinreichen. Dementsprechend groß sind die Anpassungs-und Umwandlungserfordernisse -die aus den eigenen, geschwächten Kräften nur schwierig und folglich auch langfristig erreichbar erscheinen. Die Globalisierung, in der Europa seine Position einnehmen muß, läuft aber so rapide ab, daß hierbei die Zeit-horizonte eher kurz bemessen erscheinen. Um diesen Widerspruch zu überwinden, kann Europa die Potentiale seiner osteuropäischen „neuen Länder“ folglich nur rasch mobilisieren und für sich nutzbar machen, wenn diese bewußt und planvoll entwikkelt werden. Die Verantwortung für eine solche planvolle Orientierung der baltischen Integrationsentwicklung (als eines spezifischen Teils derjenigen in Osteuropa) liegt ganz überwiegend auf Seiten des westlichen Europa -seiner intergouvernementalen Politik noch mehr als derjenigen der Europäischen Kommission.
Hierfür scheint der Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik der Europäischen Union nur wenig Zeit belassen zu sein. Die USA setzten mit solcher Dynamik und Effektivität neue Wegmarken der Modernisierung und weltweiten Technisierung, aber auch der Standards in sicherheitspolitischen Strukturen innerhalb der europäischen Entwicklung, daß demgegenüber die Gestaltungserfolge auf europäischer Seite eher zurückzubleiben scheinen.
Im baltischen Raum und dem der Ostsee insgesamt beansprucht das Verhältnis zu Rußland dabei zweifelsohne zunehmende Bedeutung, je rascher die Nach-Jelzin-Phase russischer Instabilitäten näherrückt. Die USA sind dabei seit einer Reihe von Jahren immer mehr davon abgegangen, sich auf dieses Kernland Eurasiens zu konzentrieren, und haben sich statt dessen der Stabilisierung seiner Peripherie zugewandt. Demgegenüber gilt die deutsche, von Kanzler Kohl personifizierte Ostpolitik -im Unterschied etwa zu der der skandinavi11 sehen Länder -als immer noch auf Rußland als vorrangiges Ziel gerichtet -und dies in kaum einer anderen Subregion deutlicher als in der baltischen.
Der baltische Raum wird also in der vor ihm liegenden längeren Phase der Annäherung an die westliche Integration davor bewahrt werden müssen, zu einem brisanten Interaktionsraum transregionaler Interessen zu werden, weil er als konzeptionelles Vakuum europäischer Politik erscheint.
VII. Die Rahmenbedingungen der modernen Integration: Das Informationszeitalter, die Globalisierung, die Strukturebenen
1. Charakteristika der westeuropäischen Reform
Die die Integration tragenden „alten Länder“ Westeuropas müssen zu neuen Kräften kommen, um die Erweiterung als eine Investition in die Zukunft leisten zu können. Die Umwandlung der durch die Modernisierung der Arbeitsverhältnisse bedingten Arbeitslosigkeit in völlig neue Arbeitsverhältnisse -mit weitreichenden Folgen für die soziale, mentale und politische Architektur Europas -erscheint als dringlichstes Ziel. Mit dem Versuch einer Wiederherstellung der Vollbeschäftigung vergangener Zeiten kann dieses Ziel nur verfehlt werden. Nicht minder gerät dabei außer Sicht, daß es gerade die in der veralteten Industriestruktur des stalinistischen Sozialismus ganz andersartig begründete Arbeitslosigkeit im Osten Europas ist, die zugleich mit derjenigen im Westen in zukunftsfähige Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt werden muß.
Das erscheint ohne Installierung funktionstüchtiger neuer Formen europäischer politischer Willensbildung und ihrer Durchsetzung -also ohne die politische Vertiefung der Integration -kaum möglich. Um sie zu erreichen, wird in den bisher noch nationalstaatlich formulierten Zielsetzungen die Klarstellung der Gemeinsamkeit der künftigen Schicksale der europäischen Nationen unabdingbar. Aber Europapolitiker -allen voran die Europaparlamentarier -sind in den Parteien der alten’ Nationalstaaten immer noch nachrangige Außenseiter. Dabei können die nationalstaatlichen Potentiale Europas den globalisierten Konkurrenzanforderungen schon längst nicht mehr genügen. Die Wirtschaftsintegration läuft daher der politischen weit davon. Noch weniger genügen diese Potentiale dem Erfordernis, für die Errei-chung prosperitätsbegründender Positionen im weltweiten Wettbewerb zur Standardsetzung in wegweisenden Technologien fähig zu sein. Noch ist keine europäische Entsprechung für Bill Gates auszumachen.
2. Charakteristika der osteuropäischen Transformation
Im Osten Europas hingegen -und auch hierfür ist das Baltikum als ehemaliger Teil der Sowjetunion kennzeichnend -erwachsen Arbeits-und Produktionslosigkeit aus den Transformationserfordernissen, für die es nirgends überzeugende Erfolgsrezepte gegeben hat. Die Abkehr von der vom Stalinismus geprägten, plangefesselten und zentralistisch-arbeitsteiligen Industriestruktur und Wirtschaftsform erbrachte zunächst nur eine Wiederbelebung der Dienstleistungen überwiegend auf einfachem Niveau, nicht jedoch industrielle Arbeitsplätze in früherem Umfang oder ein ausgewogenes Verhältnis von individuellem Unternehmertum, Mittelstand und wettbewerbsfähigen Industrien. Eine soziale und politische Stabilität kann von der nach wie vor lückenhaften volkswirtschaftlichen Leistungskraft noch nicht getragen werden. Hierfür sind zum mindesten konzeptionelle Entwicklungsperspektiven erforderlich.
Die europäische Integration verheißt in den Kandidatenländern illusorisch zuvörderst Wohlstand. Ein Verständnis von Mitgliedschaft als Wohlstandsteilhabe läßt aber außer acht, daß die Grundlagen des westlichen Wohlstands austausch-bedürftig sind -die alten Grundlagen also nicht als Entwicklungsperspektive für die Beitrittskandidaten taugen. Auch eine alleinige Fixierung auf die volkswirtschaftlichen Funktionen von Markt und Handel bietet keine Lösung der staatlichen und gesellschaftlichen Probleme der Baltenstaaten. So wird etwa Lettland seine sozioökonomischen Probleme strukturell und durchgreifend nicht lediglich vermittels russischen Energiestofftransits und Holzexports lösen können.
Angesichts der westeuropäischen Strukturänderungen kann die Zukunft der baltischen Staaten und ihre künftige Funktion für Europa also nicht lediglich auf Zwischenhandel mit dem eurasischen Raum gegründet werden. Das wird im 21. Jahrhundert keine entscheidende Funktionskategorie mehr sein. Diese Nationen würden dann in der europäischen , Funktionsgemeinschaft 1 statt zu integrierten Gleichen unter Gleichen lediglich zu , Ersatzdienstleistenden‘. Die europäische Heran-führungsaufgabe kann also nicht darin bestehen, daß in den baltischen Staaten lediglich eine Transformation stalinistischer Wirtschaft in die alter-probten Formen westlicher Wirtschaften betrieben wird. Erforderlich wird vielmehr, sich sofort -ausgehend von der noch weitgehend unverfestigten gegenwärtigen Gestaltgebung -an den neuen Zielsetzungen und Strukturerfordernissen unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts auszurichten. Für das ganze Europa steht eine Integration der Zielsetzungen an.
3. Das „Tertium dafür“: Modernisierung
Welche Veränderungen und Herausforderungen das nächste Jahrhundert birgt, ist im Westen -nicht im Osten -bewußt geworden. Weder die Perestroika noch Jelzins Reformpolitik setzten geistige Kräfte frei, die hierzu Wesentliches beitrugen. Ex occidente lux: Es gibt ein Modernisierungsgefälle von West nach Ost. Von dorther müssen also die Wegweisungen kommen, die auch vom Baltikum nicht erwartet werden können. Die Modernisierung des ganzen Europa liegt konzeptionell in der Verantwortung seines Westens.
Aber die anderen Voraussetzungen des Modernisierungsbedarfs im Osten erlauben keine einfache Übertragung von im Westen greifenden Konzepten. Im Baltikum wurden bereits eigene Modernisierungswege eingeschlagen, für die es keine Vorbilder gab. Das „Tigersprung“ -Programm des estnischen Außenministers zur breiten Einführung von Computerunterricht an Schulen folgte der entschlossenen Modernisierung der Kommunikations-Infrastruktur in Estland. Der lettische Staats-präsident vermittelte seinen Landsleuten, daß „Modernisierung“ für die besonderen Probleme seines Landes nicht minder wichtige ethnische und soziale als technische Inhalte habe.
Aus dem Erfordernis, die Zielsetzungen europäischer Modernisierung zu integrieren, erwachsen einer gemeinsamen europäischen Gestaltungspolitik entscheidende Herausforderungen. Die vorgesehene Planungszelle bei der Europäischen Kommission steht vor rasch anwachsenden Aufgaben. Ohne Nutzung zusätzlicher Kapazitäten -zumeist regierungsunabhängiger Institutionen -kann das Ende ihrer Leistungsfähigkeit allzu rasch erreicht sein. Hier erfordert die Modernisierung Integration auf neuen Ebenen und in europaweit zu bündelnden Dimensionen. Erst unter diesem Blickwinkel wird deutlich, daß solch neue Subregionen Europas wie das Baltikum nicht nur kleine Völker in peripheren Winkeln des Kontinents bedeuten, sondern daß sie zugleich Schlüsselemente einer funktionalen Neugestaltung des Kontinents und seiner Zukunft ausweisen.
Peer H. Lange, Dr. phil., geb. 1932; 1971-1997 wissenschaftlicher Referent in der Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen. Veröffentlichungen u. a.: The Russian Factor in Regional Security, in: Talavs Jundzis (Hrsg.), The Baltic States at Historical Crossroads, Riga 1998; In wichtiger Transmissionsrolle für eine strukturierende Ostpolitik der EU, in: Das Parlament, 47. Jg., Nr. 32/97; Baltikum, Perestroika und europäische Sicherheit, SWP AP 2666, Eben-hausen 1990.
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