Litauen hat auf seinem Weg nach Westen seit 1990 eine beachtliche Strecke zurückgelegt. Innerhalb von acht Jahren wurden die institutioneilen und gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen, die eine innere Staatsordnung nach westlichem Vorbild ermöglichen. Im politischen Bereich ist der System-wechsel inzwischen vollzogen. Demokratische Machtwechsel belegen, ebenso wie ein inzwischen ausdifferenziertes Parteiensystem die politische Stabilität. Die wirtschaftliche Transformation, die in eine tiefe Krise Anfang der neunziger Jahre führte, weist inzwischen ermutigende makroökonomische Werte auf, doch gibt es nach wie vor auch negative Indikatoren wie etwa eine ausgeprägte Schattenwirtschaft, administrative Mängel und Schwächen im Privatisierungsprozeß. Bedenklich sind die tiefgreifenden sozialen Folgen der Transformation. Eine paternalistische Gesellschaft machte innerhalb kürzester Zeit Erfahrungen mit einem kapitalistisch ausgerichteten System. Viele Litauer mußten eine Verringerung ihres Lebensstandards hinnehmen; Inflation und bislang unbekannte oder vernachlässigbare Nebenkosten (Miete, Heizung usw.) dominieren die Ausgaben der litauischen Haushalte in massiver Weise. Trotz der sich konsolidierenden Lage lastet eine große soziale Hypothek auf dem neuen Staat. Noch vermag die wiedergewonnene Unabhängigkeit die junge Republik zu stabilisieren, doch mittelfristig kann nur eine Hebung des Lebensstandards für breite Bevölkerungsteile den „Weg nach Westen“ absichern. Die soziale Schichtung spiegelt diese Entwicklung wider, denn ein breiter Mittelstand existiert nicht. Neben dem gesunkenen Lebensstandard ist es bislang nicht gelungen, gegen Korruption und Kriminalität einschneidende Maßnahmen zu ergreifen. Direkt mit den sozialen Umbrüchen verbunden, schadet diese Entwicklung dem litauischen Staat sowohl nach innen wie nach außen. Die Außenpolitik Litauens ist geprägt durch gutnachbarschaftliche Beziehungen mit den Anrainerstaaten. Offene territoriale Fragen existieren nicht. Litauen hat sich klar nach Westen orientiert, das Land strebt die Mitgliedschaft in der NATO und der EU an. Die letzten Entscheidungen des Westens haben in Litauen zwar Enttäuschung ausgelöst, doch hofft man, das Ziel im zweiten Anlauf zu erreichen. Die Beziehungen zur Bundesrepublik sind gut, doch hat Deutschland in letzter Zeit deutlich an Bedeutung verloren, da Litauen mehr Unterstützung in den USA, Skandinavien und Polen findet und dementsprechend seine Außenpolitik orientiert. Das Ansehen der Bundesrepublik in der litauischen Öffentlichkeit leidet derzeit massiv unter der Weigerung, einen visumfreien Reiseverkehr mit Litauen aufzunehmen.
Geschichtlicher Rückblick
Als einziges baltisches Land verfügt Litauen über eine historische Staatlichkeit. In seiner größten Ausdehnung umfaßte das Großfürstentum Litauen Gebiete zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer. Die immer stärker werdende polnische Einflußnahme führte schließlich zur Gründung des polnisch-litauischen Doppelstaates (Union von Lublin 1569). Damit war das Schicksal des Landes mit dem Polens verknüpft, so daß Litauen im Gefolge der polnischen Teilungen zum Territorium des Zarenreiches gehörte Der erst spät im 19. Jahrhundert entstandenen litauischen Nationalbewegung galt das historische Großfürstentum als Legitimationsquelle der eigenen Ansprüche. Die Epoche nach der Union von Lublin wurde als Phase des Niederganges verstanden, so daß die Abgrenzung gegenüber Polen das Selbstverständnis der litauischen Intelligentsia noch mehr als die teilweise scharfe Russifizierungspolitik prägte.
Während des Ersten Weltkrieges besetzten deutsche Truppen im Herbst 1915 Litauen. Von Beginn an war das Land Objekt der unterschiedlichen deutschen politischen Zielsetzungen. Die Bevölkerung litt unter der Besatzungsmacht, die die Ressourcen des Landes ausplünderte, Männer in Arbeitsbataillone zwang und obligatorisch bereits in der Grundschule den Deutschunterricht einführte. Erst 1917 vermochte die deutsche Politik in Litauen mehr als den Teil eines zukünftigen polnischen Königreiches zu erkennen. In Vilnius wurde die Gründung eines litauischen Landesrates gestat, in dem die Militärs allerdings nicht mehr als einen Erfüllungsgehilfen der eigenen Pläne und ein willfähriges Instrument sahen. Die Taryba, so die litauische Bezeichnung, sollte sich jedoch rasch emanzipieren. Während die Deutschen die indirekte Annexion Litauens planten, strebten die litauischen Politiker nach einer wirklichen Unabhängigkeit. Als Anfang 1918 die deutschen Pläne allzu offensichtlich wurden, entschloß sich die Taryba zu einem symbolischen Schritt: Am 16. Februar 1918 proklamierte sie die Unabhängigkeit. Das zukünftige Staatswesen sollte auf demokratischer Basis aufgebaut sein; einer frei gewählten Nationalversammlung blieb es jedoch vorbehalten, die endgültige Staatsform zu entscheiden. Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches im November 1918 machte den Weg endgültig frei. Zwar mußte sich der junge Staat noch gegen deutsche Freikorps sowie gegen die nach Westen marschierende Rote Armee und polnische Truppen verteidigen, aber 1920 konnte die litauische Republik als endgültig gesichert betrachtet werden.
Außenpolitisch war Litauen mit zwei Hypotheken belastet: Bereits während der ersten Sitzungen der Taryba stand unumstößlich fest, daß Vilnius -die alte Metropole des Großfürstentums -auch die Hauptstadt des neuen Staates werden sollte. Doch Polen besetzte im Oktober 1920 handstreichartig die Stadt und das umliegende Gebiet. Damit wurden die historischen Vorbehalte der litauischen Politiker gegen diesen Nachbarn durch die Gegenwart in eindeutiger Weise bestätigt. Litauen weigerte sich, das polnische Vorgehen anzuerkennen und beharrte auf seinen Ansprüchen auf Vilnius. Es gab fast während der gesamten Zwischenkriegszeit keine diplomatischen Beziehungen zwischen Litauen und Polen, der Konflikt um Vilnius zerstörte jegliche Hoffnung auf ein gemeinsames Vorgehen der 1918/19 in Ostmitteleuropa entstandenen Staaten.
Die zweite territoriale Konfliktzone lag an der Grenze des Deutschen Reiches. Im Versailler Vertrag war das Memelgebiet von Deutschland abgetrennt und alliierter Hoheit unterstellt worden. In Ostpreußen lebte eine als Preußisch-Litauer oder Kleinlitauer bezeichnete Minderheit, so daß Litauen sich den Anschluß des Memelgebietes erhoffte. Als sich diese Aspirationen auf diplomatischem Wege nicht zu erfüllen schienen, wurde ein angeblich von Kleinlitauern durchgeführter „Aufstand“ im Memelgebiet inszeniert, um die Region unter eigene Kontrolle zu bekommen. Der Einmarsch im Januar 1923 schuf zwar vollendete Tatsachen, doch mußte Litauen der Entente einen besonderen Status des Gebiets zugestehen (eigener Landtag, Zweisprachigkeit usw.). Die deutsch bestimmte Führungsschicht des Memelgebietes verhinderte in Zusammenarbeit mit der diplomatischen Vertretung des Reiches in Memel und gestützt auf das Memelstatut, daß Litauen in der Region wirklich Fuß fassen konnte
Die litauische Außenpolitik befand sich in einem Teufelskreis. Zum einen gehörte man in Vilnius zu den revisionistischen Mächten, zum anderen vertrat man in Memel den durch Versailles geschaffenen Status quo. Dieser Widerspruch war unlösbar, verhinderte eine klar definierte Zielsetzung und kulminierte Ende der dreißiger Jahre in der Katastrophe der ersten Republik. Drei Ultimaten besiegelten Litauens Schicksal: Im März 1938 nutzte Polen einen Grenzzwischenfall, um Litauen endlich zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu zwingen, was mehr oder weniger als Offenbarungseid in der Vilniusfrage zu verstehen war; im März 1939 erzwang das Deutsche Reich den litauischen Rückzug aus Memel, und im Juni 1940 annektierte die Sowjetunion im Gefolge des Hitler-Stalin-Paktes die drei baltischen Staaten.
Innenpolitisch hatte das Land bereits 1926 der Demokratie den Rücken gekehrt. Als eine linksliberale Regierung die bisherige christdemokratisch-konservative Regierungskoalition ablöste und erste Schritte unternahm, den Einfluß der katholischen Kirche einzudämmen, polnischsprachige Minderheitenschulen einzurichten und politische Häftlinge (meist Bolschewiki) zu amnestie-ren, putschten am 17. Dezember 1926 unter stillschweigender Duldung der Konservativen Offiziere der Garnison in Kaunas. Unter Führung eines der bekanntesten Politiker Litauens, Antanas Smetona, etablierte sich ein autoritäres Präsidialregime, das bis Juni 1940 an der Macht bleiben sollte.
Die sowjetische Herrschaft, unterbrochen durch das nicht minder entsetzliche Zwischenspiel der zweiten deutschen Besatzung (1941-1944), sollte zum traumatischen Erlebnis der litauischen Gesellschaft in diesem Jahrhundert werden. Tausende wurden deportiert und im stalinistischen Gulag-System ermordet. Bis ca. 1954 kämpften litauische Partisanen, die Waldbrüder, in gnadenlosen Auseinandersetzungen gegen die Sowjets. In Litauen gibt es keine Familie, die nicht Opfer der frühen Sowjetphase zu beklagen hat. Für das heutige litauische Selbstverständnis kommt diesen Ereignissen verständlicherweise eine exzeptionelle
Bedeutung zu. Bis Ende der achtziger Jahre totgeschwiegen, genießen die Überlebenden heute einen besonderen Status als Symbol des litauischen Freiheitskampfes.
Doch zeichnete sich bereits in den sechziger Jahren ein Trend ab, der für die Wiedererringung der Unabhängigkeit große Bedeutung besitzt. Der Anteil der litauischsprachigen Mitglieder der Kommunistischen Partei Litauens betrug konstant zwischen 70 und 80 Prozent Trotz der teilweise scharfen Kirchenpolitik und der periodisch auftretenden Sowjetisierungsmaßnahmen verstanden sich große Teile der KP als litauische Kommunisten.
Der Kampf um die Unabhängigkeit
Ende 1989 übernahm Litauen die Führung der baltischen Staaten im Kampf um die Unabhängigkeit. Die litauische KP (LKP) erklärte sich im Dezember 1989 als erste sozialistische Partei der Sowjetunion für unabhängig von der KPdSU. Die große Mehrheit der LKP trug diese Entscheidung mit; unzweideutig hatte man sich für Litauen und gegen Moskau entschieden. Im Rahmen der Volksfrontbewegung der baltischen Staaten war es auch'in Litauen zur Gründung einer Nationalbewegung gekommen. Sjudis („Bewegung“) wurde immer mehr zum Konkurrenten der KP, obwohl der Großteil ihrer Mitglieder auch der kommunistischen Partei angehörte. Die ersten freien Wahlen zum Obersten Sowjet brachten einen klaren Sieg von Sajudis; Vytautas Landsbergis wurde zum Parlamentspräsidenten gewählt.
Bereits am 11. März 1990 proklamierte das Parlament die Wiederherstellung der litauischen Unabhängigkeit Moskau antwortete mit einer Wirtschaftsblockade, um die „unbotmäßige“ Republik in die Knie zu zwingen. Anfang Januar 1991 eskalierte die Situation dann endgültig: Vilnius wurde durch sowjetische Truppen mehr oder weniger von der Außenwelt abgeschnitten; vor dem Parlament und dem Fernsehturm in Vilnius standen Tag und Nacht Demonstranten, um die legitime Regierung und die Medien vor den permanent durch die Stadt fahrenden Armeeeinheiten zu schützen. Am 13. Januar 1991 stürmten sowjetische Spezialeinheiten den Fernsehturm und richteten dabei ein Blutbad unter den unbewaffneten Demonstranten an: 13 Litauer, darunter eine 24jährige Frau, wurden von Panzern überrollt oder erschossen.
Obwohl die Hintergründe dieser Aktion bis heute nicht völlig geklärt sind, dürfte feststehen, daß der Überfall auf den Fernsehturm die Initialzündung für die Etablierung einer Präsidialherrschaft Gorbatschows in Litauen sein sollte. Neben der westlichen Reaktion verhinderte jedoch das eindrucksvolle Verhalten der litauischen Bevölkerung diese Pläne. Hunderttausende aus dem ganzen Land gaben den Toten das letzte Geleit und demonstrierten damit für die Unabhängigkeit des Landes. Trotz der angespannten Atmosphäre hielten Bevölkerung und Regierung am gewaltfreien Widerstand fest, nicht ein sowjetischer Soldat wurde angegriffen. Friedlich erkämpften sich die Balten ihre Souveränität. Dieser Prozeß fand im August 1991 mit dem mißlungenen Moskauer Putsch seinen Abschluß, der die internationale Anerkennung der baltischen Staaten beschleunigte.
Der wiedergegründete litauische Staat umfaßt ein Territorium von 65 200 km 2; in ihm leben ca. 3, 7 Millionen Menschen, von denen mehr als 80 Prozent litauischsprachig sind. Die größten Minderheiten stellen Russen (8, 3 Prozent) und Polen (7 Prozent) dar. Ein Minderheitenproblem wie in Estland und Lettland existiert daher nicht, zumal Litauen 1989 in einem bemerkenswerten Schritt allen nichtlitauischen Einwohnern freistellte, innerhalb einer Frist von zwei Jahren die litauische Staatsangehörigkeit ohne jegliche Bedingungen erwerben zu können
Transformation: Von der Planwirtschaft zum freien Markt
Nach den dramatischen Ereignissen der Jahre 1989-1991 hatte Litauen zwar die staatliche Souveränität errungen, doch die Ökonomie stand noch ganz im Zeichen der 50 Jahre staatlich gelenkter Wirtschaftsentwicklung. Erst während der Sowjetperiode kann wirklich von einer Industrialisierung Litauens gesprochen werden; die erste Republik war in ökonomischer Hinsicht noch deutlich agrarisch geprägt. 40 Prozent der Unternehmen waren allerdings als All-Unions-Betriebe klassifiziert, was auf ein besonderes Problem hinweist: Die enge Verflechtung mit der Sowjetunion stellte eine zusätzliche Erschwernis für die wirtschaftliche Transformation dar. Litauen entschied sich für einen graduellen Weg der Systemtransformation, um die sozialen Kosten möglichst gering zu halten. Das alte System wollte man nicht zerstören, ohne zugleich neue Strukturen aufgebaut zu haben. Die zukünftige Wirtschaftsordnung sollte auf freier Marktwirtschaft basieren, wobei der Staat eine starke soziale Komponente sicherzustellen hatte (Wohlfahrtsstaat)
Einen Schlüsselbereich stellt die Privatisierung dar. In Litauen stand dabei zunächst die Bodenreform im Mittelpunkt. Die Probleme waren auf administrativer Ebene gewaltig, denn das Land sollte den ehemaligen Besitzern bzw.deren Erben entweder zurückgegeben oder eine Abfindung gezahlt werden. Zunächst konnte man nicht mehr als 50 ha erwerben, bis schließlich durch mehrere Nachfolgegesetze die Parzellengröße bis auf 150 ha angehoben wurde. Mehr als 80 Prozent des Landes befinden sich nunmehr wieder in privater Hand, wobei sich in den letzten Jahren ein Effekt zeigte, der zukünftig negativ zu Buche schlagen kann: Zwischen 1994 und 1996 sank die Durchschnittsgröße der landwirtschaftlichen Betriebe von 8, 5 auf 7, 6 ha, was die Konkurrenzfähigkeit dieser Betriebe bei einem EU-Eintritt in Frage stellen dürfte.
Die Privatisierung der staatlichen Betriebe erfolgte zunächst über Privatisierungsgutscheine. Jeder Bürger konnte einen solchen Investitionsscheck erhalten, wobei auch der Gedanke mitspielte, allen Staatsangehörigen gleiche Startmöglichkeiten in die neue Zeit zu verschaffen. Erst 1995 (faktisch erst ab August 1996) begann die zweite Phase, die nun in-und ausländischen Investoren den kompetitiven Zugriff auf die großen staatlichen Betriebe ermöglicht. Ein abschließendes Urteil über den Prozeß ist derzeit noch nicht möglich; quantitativ beträgt der Anteil der Privat-wirtschaft inzwischen mehr als 80 Prozent, wobei allerdings darauf hinzuweisen ist, daß diese Zahl auch viele neugegründete Betriebe und Unternehmen umfaßt Im Sommer 1993 führte Litauen den Litas als Landeswährung ein. Um die Konvertierbarkeit zu sichern, wurde die Landeswährung durch ein currencyboard fest an den US-Dollar gebunden (4 Litas = 1 US $), was Spekulationen verhindern half und eine restriktive Finanzpolitik gestattete. Allerdings führt der fixe Wechselkurs zu einem Defizit in der Leistungsbilanz, so daß sich der Ruf nach einer Freigabe der Währung in letzter Zeit verstärkte. Von Regierungsseite wurde jüngst bestätigt, daß innerhalb der nächsten zwei Jahre eine Auflösung des currency board geplant sei Die Reform des Geld-und Finanzwesens erlitt Ende 1995/Anfang 1996 einen herben Rückschlag, als kurz hintereinander einige der größten litauischen Geschäftsbanken zusammenbrachen und viele Litauer ihre Einlagen verloren. Die Krise eskalierte in einen Regierungsskandal, dem schließlich der damals amtierende Ministerpräsident Adolfas Sleeviius zum Opfer fiel Inzwischen hat sich die Lage, nicht zuletzt aufgrund der positiven Trends der letzten Jahre, wieder konsolidiert. Die ersten Jahre nach 1991 brachten einen dramatischen Einbruch in allen Wirtschaftsbereichen: Allein 1992 fiel die Produktion im Vergleich zum Vorjahr um 51, 6 Prozent, die Inflationsrate lag in diesen Jahren zwischen 20 und 30 Prozent. Liberalisierung und Privatisierung führten zeitgleich zu einem rapiden Anstieg von Mieten und Nebenkosten, so daß das Land in eine tiefe Krise geriet. Noch 1993 fiel das Bruttoinlandsprodukt gegenüber 1992 um 30 Prozent! 1994 zeigten sich erste Hoffnungsschimmer; inzwischen ist von einer anhaltenden wirtschaftlichen Erholung und konstantem Wachstum auszugehen. Im Jahresdurchschnitt 1997 blieb die Inflationsrate erstmals unter Prozent, was -verbunden mit Lohnerhöhungen -zu einer deutlichen Entlastung der litauischen Privathaushalte führte. Auch eine Konsolidierung des Staatshaushaltes ist in den letzten Jahren erreicht worden.
Als Gesamtindikator der Situation kann das Bruttoinlandsprodukt (BIP) angesehen werden, das 1996 um 4, 2 Prozent und 1997 um 6 Prozent stieg (1998 geschätzt: 8 Prozent). Die Wachstumsdynamik ist unverkennbar, zumal die Anteile des privaten Sektors am BIP sehr große Zuwachsraten aufweisen (1992: 37 Prozent; 1996: 68 Prozent). Private Betriebe dominieren inzwischen den Handel und die Landwirtschaft; 70 Prozent der gesamten Agrarproduktion werden auf privatem Land erzeugt" 10. Die ökonomische Abhängigkeit von Rußland wurde massiv abgebaut. Zwar ist Ruß-land sowohl im Import als auch im Export weiterhin der Haupthandelspartner Litauens, doch bereits an zweiter Stelle der Ausfuhrländer steht die Bundesrepublik. Westliche Direktinvestitionen werden in den nächsten Jahren weiter zunehmen, da sich das Investitionsklima deutlich verbessert hat.
Zwar bleiben noch viele Aufgaben im politisch-administrativen Bereich (etwa Abbau der Schattenwirtschaft, Reform der Steuererhebung, Zollgesetzgebung, Ausbau der Infrastruktur usw.) zu lösen, doch ist offensichtlich, daß Litauen die schwierigste Phase der ökonomischen Umgestaltung hinter sich gebracht hat. Statistisch scheint die Talsohle durchschritten, doch ist die weitaus wichtigere Frage, welche Wirkungen die Transformation auf die Bevölkerung hat.
Die sozialen Folgen der Transformation
Im Jahre 1996 begingen von je 100000 Litauern 46 Menschen Selbstmord -eine der höchsten Selbstmordraten in der Welt Auch wenn die Motive für eine solche Tat sicherlich vielschichtig sind, so weist der massive Anstieg seit 1990 doch auf die schwierigen Lebensbedingungen großer Teile der Bevölkerung hin. Mit der hohen Inflation und den steigenden Preisen konnte das Lohnniveau trotz der positiven gesamtwirtschaftlichen Entwicklung der jüngsten Zeit nicht Schritt halten. Allein der Brotpreis stieg zwischen 1993 und 1995 um 135 Prozent. Besonders schmerzhaft für die Bevölkerung sind die inzwischen hohen Wohnungs-Nebenkosten. Heizung, Elektrizität und Wasser zehren große Teile des Monatseinkommens auf Für eine vor kurzem noch sowjetischpaternalistisch ausgerichtete Gesellschaft sind dies neue, schmerzhafte Erkenntnisse, die die Erfahrungen mit der Systemtransformation in bestim-mender Weise prägen. Als wichtigstes Problem sehen daher auch 77 Prozent der Litauer den Rückgang des Lebensstandards an, 72 Prozent halten es für die bedeutendste Aufgabe des Staates, materiellen Wohlstand zu garantieren
Dabei zeigt sich immer mehr ein Auseinanderklaffen innerhalb der litauischen Gesellschaft. Während diejenigen, die im privaten Sektor tätig sind, in der Regel mit der Entwicklung zufrieden sind, gibt es klare Verlierer des Systemwechsels: Zu ihnen zählen die Rentner, die Landbevölkerung und Angestellte des öffentlichen Dienstes. Deutlich wird dies, wenn man den Durchschnittslohn im Banken-und Finanzwesen (1471 Litas) mit dem in der Landwirtschaft (279 Litas) vergleicht Der hohe Lohnunterschied belegt die derzeit unausgewogene Einkommensstruktur und die damit verbundenen sozialen Folgen in drastischer Weise.
Das reformierte Sozialsystem steht bereits heute am Rande seiner Belastbarkeit. Für sozialpolitische Maßnahmen existiert daher nur ein eng begrenzter Spielraum, der zu Recht für Rentenanhebungen genutzt wird. Auch wenn die offiziellen Arbeitslosenzahlen ein relativ niedriges Niveau ausweisen (1997: 5, 6 Prozent belasten auch sie das Sozialsystem in zunehmendem Maße.
Im Bildungswesen zeigen sich inzwischen Auswirkungen in besonders deutlicher Weise. Da Pädagogen zu den am schlechtesten bezahlten Arbeitnehmern zählen, ist die Abwanderung in den privaten Sektor (z. B. als Dolmetscher oder Reiseleiter) eine verlockende Alternative. Daher sind insbesondere Lehrkräfte für westeuropäische Sprachen inzwischen schwer zu finden. Rund ein Drittel der Studienabgänger strebt von vornherein nicht an, in den Schuldienst zu gehen
Die strikte Haushaltspolitik verhindert eine rasche Besserung der Lage. Zwar wurden in den letzten Jahren Löhne und Pensionen kontinuierlich erhöht, doch reicht dies längst noch nicht aus, um großen Teilen der Bevölkerung einen -wenn auch niedrigen -Lebensstandard zu sichern, den sie zur Sowjetzeit genossen. Die Lage hat sich allerdings durch die Konsolidierung seit etwa 1996 entspannt:
Durch die niedrige Inflation schloß sich die Schere zwischen Einkommen und Preisen etwas
Die Unzufriedenheit mit dem Einkommen in staatlichen Diensten führt dazu, daß Korruption weit verbreitet ist. Obwohl alle litauischen Regierungen der Bestechlichkeit den Kampf angesagt haben, ist dem Übel wohl nicht allein durch administrative Maßnahmen beizukommen. Die hohe Anfälligkeit staatlicher Bediensteter für private Zuwendungen ist auf deren soziale Lage zurückzuführen, wobei auch die alte Sowjetmentalität eine Rolle spielt. Unter diesen Umständen kann sich ein Vertrauen der Bevölkerung in die Verwaltung nicht einstellen; nur 2 Prozent der Litauer sind stolz auf ihre Regierung und nur 37 Prozent halten sie für vertrauenswürdig
Daß die Geduld der Menschen inzwischen erschöpft ist, zeigte sich jüngst im Fall der litauischen Telefongesellschaft. Als bekannt wurde, daß für die bislang kostenfreien Ortsgespräche Gebühren erhoben werden sollten, kam es zu den größten Massenprotesten in Litauen seit der Unabhängigkeit Schließlich wurde sogar das Parlament zu einer Sondersitzung einberufen, und alle politischen Parteien gaben ihre Stellungnahme zum Telefonstreit ab. Besonders bedenklich war, daß die Tariferhöhung im Zusammenhang mit der Privatisierung der litauischen Telefongesellschaft stand. Man glaubte, ein übles Spiel zwischen Regierung und den Käufern der Lietuvos Telekomas zu erkennen, das auf Kosten der Bevölkerung ausgetragen wurde. Die Demonstrationen wandten sich daher nicht nur gegen die Erhebung einer Gebühr für Ortsgespräche, sondern auch gegen die Privatisierung der Telefongesellschaft. Der stellvertretende Parlamentspräsident meinte sogar, sicherlich sei die geplante Maßnahme nicht populär, aber es gebe keinen anderen Weg, wenn Litauen in die Europäische Union aufgenommen werden wollte Unter dem öffentlichen Druck wurden schließlich Tariferhöhung und Privatisierung der Telefongesellschaft aufgeschoben.
Der Vorfall zeigt aber auch, daß die litauische Gesellschaft sich in den vergangenen acht Jahren in vielfacher Hinsicht verändert hat. Die Öffentlichkeit hat inzwischen ihren Platz in der politi-sehen Kultur Litauens gefunden. Das hohe Interesse an der Politik resultiert auch aus der Presse-landschaft. Die litauischen Zeitungen haben mit investigativem Journalismus in den letzten Jahren so manchen Skandal aufgedeckt und nehmen ihre Rolle als „vierte Gewalt“ durchaus ernst. Als im Bankenskandal 1995/96 ruchbar wurde, daß Ministerpräsident Sleeviius aufgrund von Insiderwissen seine Privatkonten kurz vor dem Zusammenbruch einer der größten litauischen Banken geleert hatte, erhob sich massiver öffentlicher Protest, dem der keineswegs rücktrittswillige Ministerpräsident schließlich weichen mußte So überrascht es nicht, daß die Medien bei Umfragen von mehr als 70 Prozent der Bevölkerung für vertrauenswürdig gehalten werden und damit regelmäßig die Spitzenposition einnehmen
Ein weiteres Problem, das die Öffentlichkeit bewegt, ist der massive Anstieg der Kriminalität. Neben dem sinkenden Lebensstandard halten die Litauer die Verbrechensbekämpfung für die drängendste Frage Wurden 1988 noch 21 337 Straftaten registriert, so betrug deren Zahl 1996 68 053. Die allgemein verbesserte Lage führte zwar auch im Bereich der Kriminalität zu einem gewissen Rückgang (vor allem bei Schwer-verbrechen), doch bleibt die Situation bedenklich. Hinzu kommt, daß ein besonders massiver Anstieg der Jugendkriminalität zu beobachten ist: Fast die Hälfte der ermittelten Täter ist zwischen 14 und 24 Jahre alt. Daneben sieht sich das unabhängige Litauen mit bislang unbekannten Delikten wie der Wirtschaftskriminalität oder dem organisierten Verbrechen konfrontiert Trotz aller Regierungsmaßnahmen ist es bislang nicht gelungen, das Vertrauen der Bevölkerung in die innere Sicherheit wiederherzustellen
Zweifellos stellen die persönlichen Erfahrungen mit der Transformation eine Belastung der Demokratie in Litauen dar. Der Versuch, durch einen gradualistischen Systemwechsel soziale Härten möglichst zu vermeiden, muß als gescheitert betrachtet werden. Die Zustimmungsraten zu einzelnen Bereichen des öffentlichen Lebens machen dies deutlich: Parlament, Regierung und Präsident können nur bei etwas mehr als einem Drittel der Bevölkerung auf Zustimmung hoffen. Den Justiz-, Finanz-und Sicherheitsbehörden stehen mehr als 80 Prozent der Litauer mit Vorbehalten gegenüber. Dem Bankensystem trauen gar nur 5 Prozent der Bevölkerung So ist die Skepsis der Menschen gegenüber einer völligen Liberalisierung der Wirtschaftsbeziehungen deutlich ausgeprägt: 57 Prozent glauben, der Staat müsse die eigene Wirtschaft vor ausländischer Konkurrenz schützen, und 44 Prozent sind der Meinung, auch die Regelung der Arbeitsbeziehungen gehöre in den staatlichen Aufgabenbereich
Aufgefangen werden diese Hypotheken derzeit noch durch die wiedergewonnene Unabhängigkeit und die Erfahrungen während der 50jährigen sowjetischen Besatzung. Die Eigenstaatlichkeit ist die unumstrittene Legitimation der litauischen Republik: 60 Prozent der Litauer sind stolz auf die historische Vergangenheit ihres Landes Die sich abzeichnende Konsolidierung muß allerdings politisch gefestigt werden, um die Vorbehalte der Bevölkerung abzubauen und den Lebensstandard der Menschen zu sichern und langfristig zu heben. Nur dann kann die litauische Demokratie nicht nur auf eine emotionale, sondern auch auf rationale Zustimmung hoffen.
Die litauische Gesellschaft steht vor weiteren großen Wandlungen. Das derzeit noch paternalistisch ausgerichtete Vertrauen auf den Staat -verbunden mit einer paradoxen Geringschätzung staatlicher Einrichtungen -verhindert Eigeninitiative und Eigenverantwortung. Beispielhaft läßt sich das an der Steuermoral in Litauen belegen. Selbst Unternehmen deklarieren ein weitaus niedrigeres Gehalt ihrer Angestellten, als diese de facto erhalten. Nebenbeschäftigungen, in Litauen weit verbreitet, werden grundsätzlich nicht angegeben. So entzieht sich ein breiter Bereich der Wirtschaftsleistungen dem Fiskus, wobei eine stillschweigende Übereinkunft zwischen allen Beteiligten herrscht. Die Schattenwirtschaft wird inzwischen auf rund 18 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung Litauens geschätzt Während das Verständnis von Rolle und Funktion des Staates noch deutlich alte Vorstellungen aufweist, zeigen sich im demographischen Bereich erste klare Anzeichen des Systemwandels. Zwischen 1990 und 1996 ging die Zahl der Heiraten um 44 Prozent zurück, immer mehr Partner verzichten auf den Trauschein, ein zunehmender Teil der jungen Generation lebt als Single. Heirateten während der Sowjetperiode viele Litauer in jungen Jahren, was eine hohe Scheidungsrate (fast jede zweite Ehe wurde geschieden) bedingte, so zeigt sich nun ein deutlicher Trend, später zu heiraten, was offensichtlich auch zum Rückgang der Scheidungen und dem Sinken der Geburtenrate beiträgt. Diese Veränderungen weisen darauf hin. daß der traditionell patriarchalisch geprägten litauischen Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten große Umbrüche bevorstehen werden.
Das politische System
Litauen ist eine parlamentarische Demokratie. Die Verfassung garantiert die Menschenrechte, die Unabhängigkeit der Justiz, sichert nationalen Minderheiten ihre Rechte, garantiert Glaubens-, Gewissens-und Religionsfreiheit. Das Parlament, der Seimas, wird auf vier Jahre gewählt, Parteien der nationalen Minderheiten unterliegen nicht der Fünf-Prozent-Klausel. Neben dem Seimas wird der Staatspräsident vom Volk gewählt, und zwar für fünf Jahre. Auch er besitzt Gesetzesinitiativrecht und schlägt dem Seimas den Ministerpräsidenten vor. Ein Spezifikum der litauischen Verfassung ist das Recht des Präsidenten, das Parlament aufzulösen, das aber dadurch eingegrenzt wird, das der neu-gewählte Seimas mit einer 3/5-Mehrheit neue Präsidentschaftswahlen beschließen kann (Art. 87). Bisher wurde von Art. 87 noch kein Gebrauch gemacht. Die Stellung des Präsidenten gegenüber Parlament und Regierung ist zwar stärker als beim rein repräsentativen deutschen Bundespräsidenten, reicht aber weder an die des französischen Staatsoberhauptes noch gar an die des amerikanischen Präsidenten heran. Die stärkste Funktion des Amtes bezeichnet der Art. 84 der Verfassung, denn der Präsident . . soll die Grundlagen außenpolitischer Fragen festlegen und die Außenpolitik, zusammen mit der Regierung, durchführen“. Diese „Richtlinienkompetenz“ bedarf der immer neuen Austarierung zwischen Staatsoberhaupt und Regierung, was bislang aber keine Probleme aufwarf
Die Wahlen zum Parlament brachten immer wieder Überraschungen. Nachdem die litauischen Wähler im Februar 1990 Sjudis mit einer breiten Mehrheit ausgestattet hatten und der damalige Parlamentspräsident Vytautas Landsbergis zur Galionsfigur des litauischen Unabhängigkeitskampfes geworden war, rechnete man für den Herbst 1992 eigentlich mit einem Sieg der Landsbergis-Fraktion.
Statt dessen gelang der ehemaligen kommunistischen Partei, die sich seit Dezember 1990 Demokratische Arbeitspartei Litauens nennt (LDDP = Lietuvos demokratine darbo partija), ein erdrutschartiger Wahlsieg. Im Gegensatz zum konservativen Lager verfügte die LDDP über eine entwickelte Infrastruktur auch in den ländlichen Gebieten, hatte mit Algirdas Brazauskas einen überaus populären Parteivorsitzenden und stand unzweifelhaft für ein unabhängiges Litauen. Im Wahlkampf mahnte die LDDP einen sozial verträglicheren und langsameren Systemwandel an, was bei vielen Wählern Zustimmung fand. Der Sieg der sozialdemokratisch orientierten Reform-kommunisten war deshalb auch keine Rückkehr zum sozialistischen System alter Prägung. Im Februar 1993 wurde Brazauskas dann folgerichtig mit 60 Prozent der Stimmen zum litauischen Präsidenten gewählt Doch konnte die LDDP ihren großen Erfolg nicht in eine dauerhafte Unterstützung umwandeln. Zum einen war Brazauskas aufgrund seines Amtes zur Überparteilichkeit verpflichtet und mußte daher den Parteivorsitz abgeben und aus der LDDP austreten, zum zweiten erschütterten immer wieder Skandale Regierung und Partei, und zum dritten konnte die LDDP ihre Versprechungen einer sozial verträglicheren Transformation nicht einlösen. Die Verlangsamung der Reformen in manchen Schlüsselbereichen wie etwa der Privatisierung wurde im Westen sehr kritisch beurteilt was aber zumindest teilweise auf die unsinnige Einschätzung der LDDP als kommunistische Partei zurückzuführen ist. Auch unter der LDDP wurde der Kurs nach Westen nicht verlassen, über die prinzipielle innere und äußere Ordnung Litauens herrschte und herrscht eine parteiübergreifende Überein-stimmung. Die herbe Niederlage 1992 führte 1993 zur Gründung einer aus Sajudis hervorgehenden konservativen Partei. Die Vaterlandsunion/Konservatie Litauens (TS/LK = Tvyns sajunga/Lietuvos konservatoriai) verkörpert unter ihrem Parteivorsitzenden Landsbergis noch prononcierter das national-konservative Lager als die litauischen Christdemokraten (LKDP = Lietuvos krikioni demokratp partija). Das Wiedererstarken der Konservativen zeichnete sich bereits bei den Kommunalwahlen im März 1995 ab und führte bei den Parlamentswahlen am 20. Oktober 1996 zu einer katastrophalen Niederlage der LDDP. Die Vaterlandsunion und die Christdemokraten bildeten eine Koalition, die über eine breite Mehrheit verfügt. Zum Ministerpräsidenten wurde Gediminas Vagnorius gewählt, der das Amt bereits vom Januar 1991 bis Juli 1992 innehatte; Landsbergis feierte ein Comeback als Parlamentspräsident. Die Tabelle zeigt das Ergebnis der Parlamentswahl 1996 für die wichtigsten Parteien und gibt zugleich Auskunft über die litauische Parteienlandschaft.
Auffällig bleibt, daß die politische Mitte im Parteienspektum unterdurchschnittlich repräsentiert ist. Dennoch hat sich in Litauen inzwischen ein ausdifferenziertes Parteiensystem entwickelt, das derzeit keine Anfälligkeit für extremistische Stimmungen zeigt. Hierzu trug und trägt sicherlich bei, daß die bisherigen Regierungswechsel die demokratische Ausrichtung der Parteien und politischen Eliten eindrucksvoll belegten. Das politische System hat seine ersten Bewährungsproben glänzend bestanden.
Dies zeigte sich auch während der Präsidentschaftswahlen. Lange war darüber gerätselt worden, ob der amtierende Präsident Brazauskas, der bei Meinungsumfragen auch heute noch die höchste Zustimmungsrate verzeichnen kann, eine Wiederwahl anstreben werde. Brazauskas gab seinen Verzicht im Oktober 1997 bekannt und begründete seine Entscheidung neben gesundheitlichen Gründen vor allem damit, daß seine Person zu sehr mit der kommunistischen Vergangenheit Litauens (seit 1988 war Brazauskas Chef der LKP) identifiziert werde, es sei Zeit für eine neue, unbelastete Generation, das Steuer in die Hand zu nehmen
Schließlich kam es zu einer Stichwahl zwischen dem 44jährigen Arturas Palauskas, der von den linken Kräften unterstützt wurde, und dem 71jährigen Valdas Adamkus, der ursprünglich von der Zentrumsunion nominiert worden war. Bereits im ersten Wahlgang war Landsbergis, dessen guter Ruf im Westen im krassen Gegensatz zu seiner Popularität in Litauen steht, mit 16 Prozent der Stimmen ausgeschieden. In einer äußerst knappen Entscheidung behielt Adamkus am 4. Januar 1998 mit 968032 Stimmen die Oberhand vor Palauskas (953 775 Stimmen). Adamkus selbst ist Exillitauer, seine Familie ging Ende des Zweiten Weltkrieges in die USA. Als früherer Chef einer dortigen Umweltbehörde verfügt der neue Präsident über Erfahrungen im Verwaltungswesen und steht wegen seiner Biographie für einen dezidiert westlichen Kurs Trotz des meist sachlichen und ruhigen Wahlkampfes betrug die Wahlbeteiligung bei der Stichwahl mehr als 70 Prozent -eine Quote, die zuletzt im Herbst 1992 erreicht worden war. Zwischen 1992 und 1997 war die Wahlbeteiligung von 50 auf 40 Prozent zurückgegangen, was sicherlich ein gewisses Indiz für die Stimmung der Bevölkerung darstellt, andererseits aber auch nicht überinterpretiert werden sollte.
Insgesamt läßt sich festhalten, daß die politischen Institutionen in Litauen fest verankert sind, Machtwechsel sich in demokratischer Weise abspielen und die politische Elite fest zur demokratischen Regierungsform steht.
NATO und EU: Eckpfeiler der Außenpolitik
Die grundsätzliche außenpolitische Zielsetzung ist in Litauen unumstritten: Man sucht die Integration in transatlantische und europäische Strukturen. Als erstes Land, das ehemals Teil der Sowjetunion gewesen war, stellte Litauen am 4. Januar 1994 den Antrag auf Vollmitgliedschaft in der NATO. Präsident Brazauskas erklärte dazu bei seinem ersten offiziellen Besuch in Brüssel am 27. Januar 1994: „Die Sicherheit und Stabilität eines Landes sind unbedingte Voraussetzungen, damit eine Demokratie und ein freier Markt funktionieren können. Wir sind überzeugt, daß Litauens nationale Sicherheit ein untrennbarer Bestandteil der europäischen Sicherheit als Ganzes ist. Litauen kann seine Sicherheit allein nicht garantieren. Wir meinen, daß die europäische und damit auch die litauische Sicherheit nur durch die politische, wirtschaftliche und militärische Integration der betroffenen Länder erreicht werden kann, wobei die wichtigsten Institutionen einer solchen Integration die Europäische Gemeinschaft und die NATO sind.“
Im Hintergrund des baltischen Strebens nach Sicherheit steht die russische Politik, die sich immer wieder zu verbalen Angriffen gegen die baltischen Staaten hinreißen läßt. Brazauskas sprach das Problem in seiner Brüsseler Rede klar an: „Rußlands Stellungnahmen über seine spezifischen Interessen und sein außergewöhnlicher Anspruch, den Frieden in dem sogenannten , nahen Ausland'und dem ehemaligen Gebiet der Sowjetunion aufrechterhalten zu wollen, entsprechen nicht völlig dem Geist des Völkerrechts oder der Partnerschaft für den Frieden 1. Verlautbarungen über spezifische russische Interessen in den baltischen Staaten sind außergewöhnlich schwer zu verstehen, allein schon deswegen, weil Litauen und die anderen baltischen Staaten niemals ein rechtmäßiger Bestandteil der Sowjetunion waren.“ Für Litauen stellt dabei nicht die russische Minderheit im Lande das eigentliche Problem dar, sondern die russische Exklave Kaliningrad, in der nach wie vor starke russische Militärkräfte konzentriert sind
Die Entscheidungen des Madrider NATO-Gipfels im Juli 1997 lösten daher in Litauen -auch wenn offiziell Zurückhaltung geübt wurde -Enttäuschung aus. Lag die Zustimmungsquote zum NATO-Beitritt im Februar 1997 noch bei 47, 7 Prozent, so sank sie bereits kurz vor dem Gipfel, als sich abzeichnete, daß die baltischen Staaten nicht in die erste Runde der Beitrittsländer aufgenommen würden, auf 36, 2 Prozent Inzwischen setzt Litauen, das als zweites osteuropäisches Land der „Partnerschaft für den Frieden“ beitrat, bei seinen Bemühungen neben den USA und den skandinavischen Staaten auch auf das neue NATO-Mitglied Polen. Die litauisch-polnischen Beziehungen, die unmittelbar nach der Unabhängigkeit Belastungen durch die jeweiligen Minderheiten in den beiden Staaten und den historischen Streit um Vilnius ausgesetzt waren, haben sich kontinuierlich verbessert. Zum 80. Jahrestag der litauischen Unabhängigkeitserklärung am 16. Februar 1998 weilte der polnische Präsident Alexander Kwasniewski als einziges ausländisches Staatsoberhaupt in Vilnius; den neugewählten Präsidenten Adamkus führte seine erste Auslandsreise nach Warschau Militärisch arbeiten die beiden Staaten inzwischen bei der Luftraumkontrolle zusammen; geplant ist ein gemeinsames polnischlitauisches Bataillon für internationale Friedensmissionen
Auch die EU wird vorerst keine Gespräche über einen Beitritt Litauens beginnen; von den baltischen Staaten wurde nur Estland zu Beitrittsverhandlungen aufgefordert. Die litauische Regierung machte für die Entscheidung der EU-Kommission zum einen veraltete Daten, auf denen die Entscheidung beruhe, verantwortlich, deutete zum anderen aber auch relativ klar an, daß die EU-Empfehlung nach politischen und nicht rein sachlichen Kriterien gefällt worden sei. Ende April 1998 reagierte die litauische Regierung scharf auf Äußerungen des estnischen Präsidenten Lennart Meri, der gegenüber polnischen Presse-vertretern gesagt hatte, Estland werde, falls die EU es fordere, eine Visumspflicht für lettische und litauische Staatsbürger einführen, wenn Estland damit schneller in die Gemeinschaft aufgenommen werde. In ihrer Stellungnahme wies die litauische Regierung darauf hin, daß die Entscheidung der EU das Baltikum spalte und damit innere und äußere Spannungen provoziere. Zugleich wurde nochmals betont, daß die EU Beitrittsverhandlungen mit Staaten beginne, deren Wirtschaftsdaten weit schwächer seien als die Litauens Aus der Luft gegriffen sind diese Befürchtungen sicherlich nicht, wie der Streit um die Telefontarife zeigte, als erstmals europakritische Argumente unter der Bevölkerung Wirkung zeigten, indem behauptet wurde, sowohl die Gebühren für Ortsgespräche als auch die Privatisierung der Telefongesellschaft sei Teil der Angleichung an EU-Standards.
So hofft man in Litauen weiterhin auf klare Signale aus dem Westen; Präsident Adamkus verpflichtete sich und sein Land bei seinem ersten Auftritt vor dem NATO-Rat am 23. April 1998 mit deutlichen Worten: „I am here to reconfirm the principle aspiration of our state and its people, which are: integration into the European and transatlantic structures, political and economic Cooperation and good neighbourly relations. During my term in office, I will make every effort to ensure that Lithuania becomes a member of NATO and the EU.“
Anwalt der Balten? Ein litauischer Blick auf die Bundesrepublik
Die Bundesrepublik genoß unmittelbar nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit großes Ansehen in Litauen. Als nächstgelegener westlicher Nachbar stellte und stellt sie das wichtigste Reiseziel der litauischen Bevölkerung in Westeuropa dar. Die Sympathien für Deutschland wurden auch durch die Vereinigung hervorgerufen, in der viele Litauer eine Parallele zum Freiheitskampf der baltischen Völker sahen, obwohl die Bundesregierung aus litauischer Sicht zuvor eine „vorsichtige Kaufmannspolitik“ betrieben hatte
Inzwischen gibt es rege Kontakte zwischen den beiden Staaten. Viel dazu beigetragen haben die vielfältigen vertraglichen Regelungen, der gegenseitige Kulturaustausch und die Hilfestellungen, die die Bundesrepublik in vielen Bereichen bietet. Besonders hervorzuheben ist auch das Engagement vieler Bundesländer, die Projekte in wirtschaftlichen und kulturellen Bereichen durchführen Das Engagement Deutschlands in Litauen wird zusätzlich durch viele private Initiativen unterstützt.
Im außenpolitischen Bereich setzte sich die Bundesrepublik dafür ein, daß Litauen den Status eines assoziierten Mitgliedes der EU erhielt und unterstützte den Abschluß eines Freihandelsabkommens mit der EU. Wichtig ist auch die regio-nale Initiative des Rates der Ostseeanrainerstaaten, dem Litauen wie die anderen baltischen Staaten als vollberechtigtes Mitglied angehört. So spielte Deutschland bei der Annäherung der baltischen Republiken an Europa zweifellos eine bedeutende Rolle, die auch Außenminister Klaus Kinkel im August 1996 klar zum Ausdruck brachte: „Deutschland versteht sich als Anwalt der Menschen dieser Region. Es ist deshalb Ziel deutscher Außenpolitik, Estland, Lettland und Litauen in den europäischen Institutionen noch stärker formell zu verankern. So wollen wir dazu beitragen, Unabhängigkeit und Stabilität dieser drei Länder zu stärken... Estland, Lettland und Litauen haben in ganz besonderer Weise die Last der europäischen Geschichte in diesem von zwei schrecklichen Kriegen und über vierzig Jahre Kalten Krieges gezeichneten Jahrhundert zu tragen gehabt. Sie waren Opfer einer verbrecherischen Politik, die diesen Ländern ihre Unabhängigkeit und Staatlichkeit raubte. Anschließend mußten sie über ein halbes Jahrhundert hinweg deren Folgen tragen ... Deutschland anerkennt mit Blick auf eben diese Geschichte seine besondere Verantwortung für die baltischen Staaten.“ Doch zeichnet sich inzwischen klar ab, daß die litauischen Hoffnungen auf die Bundesrepublik zwar nicht enttäuscht wurden, aber doch von Vilnius nunmehr pragmatischer eingeschätzt werden. Hauptansprechpartner sind die USA, die skandinavischen Länder und seit einiger Zeit Polen.
Ein anderes Problem hat das Ansehen der Bundesrepublik in Litauen in breiten Bevölkerungskreisen zumindest verringert, wenn nicht geschädigt. Noch immer können Litauer nicht ohne Visum nach Deutschland reisen. Bei der großen Zahl von Reisewilligen bilden sich vor der mitten im Zentrum von Vilnius gelegenen deutschen Botschaft täglich große Menschenmengen, die aus allen Teilen des Landes anreisen. Trotz jahrelanger Verhandlungen besteht die Visumspflicht nach wie vor. Das Problem hat inzwischen den Deutschen Bundestag aktiv werden lassen; am 9. Dezember 1997 stellte eine interfraktionelle Gruppe den Antrag, die Bundesregierung solle Verhandlungen mit den baltischen Staaten über gegenseitige Visumsfreiheit aufnehmen. Der Auswärtige Ausschuß des Deutschen Bundestages schloß sich am 29. April 1998 dieser Initiative an
Trotz der geschilderten Problematik läßt sich festhalten, daß Deutschland seit August 1991 bemüht war, Litauen in vielfältiger Weise zu unterstützen, so daß die vergangenen sieben Jahre ohne Übertreibung als beste Periode der deutsch-litauischen Beziehungen in diesem Jahrhundert bezeichnet werden können.
Fazit
Acht Jahre nach dem Beginn der Systemtransformation hat Litauen erstaunliche Fortschritte gemacht. Außenpolitisch ist die baltische Republik klar westlich orientiert. Das Land verfügt über ein funktionierendes politisches System, makroökonomische Daten zeigen seit geraumer Zeit klar positive Trends. Schwierig ist die Situation im sozialen Bereich; der Großteil der Bevölkerung mußte einen sinkenden Lebensstandard in Kauf nehmen, was zu einer teilweise extremen sozialen Ausdifferenzierung führte. Bereits 1996 wies das litauische Amt für Statistik auf die damit verbundenen Gefahren hin: „Wenn Litauen heute nicht einen Weg einschlägt, der allen seinen Bewohnern soziale Entwicklungschancen garantiert, kann unser Land morgen zu einer Region der Massenarmut und einer schmalen begüterten Schicht ohne politische Stabilität und ohne soziale Sicherheit seiner Bewohner werden.“ Ein schweres Stück des Weges nach Westen steht der litauischen Republik daher noch bevor.
Joachim Tauber, Dr. phil., geb. 1958; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Nordostdeutsches Kultur-werk in Lüneburg. Veröffentlichungen u. a.: Die Planung des Unternehmens „Barbarossa“. Bemerkungen zum Forschungsstand, in: Hans-Heinrich Holte (Hrsg.), Der Mensch gegen den Menschen. Überlegungen und Forschungen zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion, Hannover 1992; Die deutsch-litauischen Beziehungen im 20. Jahrhundert, Lüneburg 1993; (Hrsg. zus. mit Norbert Angermann) Deutschland und Litauen. Bestandsaufnahmen und Aufgaben historischer Forschung, Lüneburg 1995; Die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit in Litauen, in: Berichte des Bundesinstitutes für ostwissenschaftliche und internationale Studien, 28/1997.
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