Lettlands Weg von der sowjetischen Vergangenheit in die europäische Zukunft
Detlef Henning
/ 19 Minuten zu lesen
Link kopieren
Zusammenfassung
Lettland, die mittlere der baltischen Republiken, hat trotz schwerer Bevölkerungs-und Elitenverluste im 20. Jahrhundert nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit den politischen Reformprozeß weitgehend abschließen können. Defizite bilden die Korrumpiertheit der politischen Klasse und die innenpolitische Instabilität. Wirtschaftlich befindet sich Lettland mit sechs Prozent Wirtschaftswachstum (1997) jedoch auf Erfolgskurs. Vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrungen strebt Riga außenpolitisch den Eintritt in die Europäische Union sowie in die transatlantischen Sicherheitsstrukturen an. Der Wunsch nach verstärkter Westintegration bildet den Hauptgrund für ein gespanntes Verhältnis zu Rußland, das die aufgrund der seit den vierziger Jahren erzwungenen Russifizierung hervorgerufenen Menschenrechts-und Minderheitenfragen für seine Politik des „nahen Auslandes“ in der baltischen Region instrumentalisiert. Eine rasche Lösung der komplexen Staatsbürgerschaftsfrage und die Integration größerer russischsprachiger Bevölkerungsteile -vor allem in den Städten -in die lettische Gesellschaft werden daher zu einem vordringlichen innen-wie außenpolitischen Problem.
Geschichte
Die 1918 entstandene Republik Lettland ist eine staatliche Neugründung des 20. Jahrhunderts. Sie entsprach erstmals in der Geschichte territorial dem Siedlungsgebiet der Letten, die ethnisch und sprachlich zusammen mit den Litauern die baltische Völkerfamilie bilden.
Die Umbrüche des 19. Jahrhunderts (Bauernbefreiung, Industrialisierung und Urbanisierung) hatten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Kurland und Südlivland zum Entstehen einer lettischen Nationalbewegung geführt, die rasch in Gegensatz zur deutschbaltischen Oberschicht trat. Radikalisiert durch die Revolution von 1905 und dynamisiert durch die deutsche Besetzung des Baltikums im Ersten Weltkrieg, die russische Revolution und den Zusammenbruch der Monarchien Rußlands und Deutschlands, proklamierten führende bürgerliche und sozialdemokratische Politiker am 18. November 1918 in Riga eine unabhängige, demokratische Republik. Unterstützt von den Ententemächten konnte sie sich in einem anschließenden Freiheitskrieg bis zum Januar 1920 gegen lettische Anhänger Lenins und die rote Armee einerseits sowie Einheiten Weißer Russen und revisionistische deutsche Verbände andererseits auch militärisch durchsetzen
Mit der völkerrechtlichen Anerkennung Lettlands durch Sowjetrußland im lettisch-russischen Friedensvertrag vom 11. August 1920, in dem dieses „freiwillig und für ewige Zeiten allen Souveränitätsrechten . . . gegenüber dem lettischen Volke und Lande“ entsagte durch die Westmächte am 26. Januar 1921 sowie der Verabschiedung einer Verfassung am 15. Februar 1922 wurde die Phase der Staatsgründung abgeschlossen.
So sehr die junge Republik beim Wiederaufbau des im Ersten Weltkrieg stark zerstörten Landes erfolgreich war, so sehr belasteten strukturelle Probleme den jungen Nationalitätenstaat Historische Legitimationsdefizite -die Letten konnten im Gegensatz zu den Litauern und Polen nicht auf mittelalterliche oder neuzeitliche Staatsbildungen zurückblicken -, 18 Regierungswechsel bis 1934 und bis zu 27 im Parlament (Saeima) vertretene Parteien die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und die politischen Entwicklungen in Mitteleuropa führten am 15. Mai 1934 zu einem Umsturz durch den Staatsgründer Kärlis Ulmanis. Sein im europäischen Vergleich gemäßigt autoritäres Regime verstand sich zunehmend als Protagonist eines lettischen Nationalstaates anstelle eines lettländischen Nationalitätenstaates In Konflikten mit der deutschen Minderheit suchte es Integrationsdefizite unter den Letten selbst, vor allem im östlichen Landesteil Lettgallen zu verdecken. Andererseits genossen Deutsche, Juden, Russen, Weißrussen und Polen bis zur sowjetischen Besetzung die Vorzüge einer -nach 1934 allerdings beschnittenen -Schulautonomie, die auch Züge einer Kulturautonomie aufwies
Trotz Abschluß von Nichtangriffsverträgen mit der UdSSR (1932) und Deutschland (1939) wurde Lettland im geheimen Zusatzprotokoll zum „Hitler-Stalin-Pakt“ vom 23. August 1939 der sowjetischen Interessensphäre zugeteilt und deutscherseits ab Oktober mit der Umsiedlung der deutschen Minderheit in das deutsch besetzte Wartheland Polens begonnen Unter Bruch des lettisch-sowjetischen Beistandspaktes vom 5. Oktober 1939 besetzte die Rote Armee am 17. Juni 1940 das Land und inszenierte hier parallel zu Estland und Litauen am 14. /15. Juli 1940 Neuwahlen. Am 5. August 1940 wurde Lettland „auf Bitten“ der „Volksregierung“ als Unionsrepublik in den sowjetischen Staatsverband eingegliedert Am 25. August 1940 beschloß eine prosowjetische Marionettenregierung unter A. Kirchensteins die Umbenennung in eine Lettische Sozialistische Sowjetrepublik (LSSR).
Zu den dauerhaften Folgen der achtundvierzigjährigen sowjetischen Annexion -unterbrochen durch drei Jahre deutsche Okkupation im Zweiten Weltkrieg, der 1941/42 der Großteil der jüdischen Bevölkerung Lettlands und 1944 Teile der lettischen liberaldemokratischen Führung zum Opfer fielen -gehört die Vernichtung der lettischen Eliten, die 1936 unter den lettischen Kommunisten im sowjetrussischen Exil begann in mehreren Deportationswellen (1941 und 1945) fortgesetzt wurde und zuletzt der Bevölkerungsschicht der Bauern (1949) galt Nachdem Lettland bereits zwischen 1914 und 1920 etwa 30 Prozent der Bevölkerung durch Krieg und Flucht verloren hatte, wurde diese zwischen 1940 und 1955 durch Krieg, Terror, Deportationen, Flucht in den Westen und Partisanenkrieg gegen die Rote Armee abermals um etwa 36 Prozent dezimiert
Den traumatisierten Überlebenden einer geköpften Nation blieb nach 1953 zunächst nur die Anpassung. 1959 begegnete Moskau lettischer nationalkommunistischer Opposition gegen eine überzogene Industrialisierungs-und damit verbundene Einwanderungspolitik („Russifizierung“) mit Parteisäuberungen. Aktiver Widerstand beschränkte sich im folgenden auf kleinere Gruppen im Untergrund und den Bereich der Kultur, vor allem der Literatur. Eine für andere osteuropäische Staaten typische Dissidentenszene hat Lettland nicht entwickelt. Deren Funktionen übernahm teilweise das gut organisierte lettische Exil in Deutschland, Schweden und den USA
Formen kollektiven passiven Widerstands hingegen mündeten 1986 in den politischen Aufbruch Lettlands und seiner baltischen Nachbarrepubliken, für den die Reformen Gorbatschows seit 1985 die Grundlagen bildeten. Über kulturökologische Protestbewegungen und „Kalenderunruhen“ an Gedenktagen (Deportationen, Hitler-Stalin-Pakt, Unabhängigkeitstag) kam es am 7, /8. Oktober 1988 zur Bildung einer oppositionellen „Volksfront Lettlands“. Der Oberste Sowjet der LSSR deklarierte, dem estnischen Vorbild folgend, am 28. Juli 1989 die Souveränität Lettlands innerhalb der UdSSR und erklärte nach freien Wahlen am 4. Mai 1990 die Umwandlung der LSSR in die Republik Lettland, die nach einer Übergangsphase die völlige staatliche Unabhängigkeit erhalten sollte.
Nach blutiger Gewaltanwendung durch sowjetische Sondereinheiten am 21. Januar 1991 in Riga unterstrich die Gesamtbevölkerung Lettlands in einer Volksbefragung am 3. März 1991 mit 73, 7 Prozent der Stimmen noch einmal ihren Willen nach faktischer Unabhängigkeit. Während des Augustputsches in Moskau erklärte das Parlament in Riga am 21. August die Übergangsphase für beendet. Nach dem Scheitern des Putsches erkannten Rußland unter Jelzin (24. August 1991), die UdSSR unter Gorbatschow (6. September 1991) sowie die meisten westlichen Staaten die De-facto-Unabhängigkeit der baltischen Staaten an, die mit der Aufnahme in die Vereinten Nationen (17. September 1991) nach einem halben Jahrhundert in die internationale Völkergemeinschaft zurückkehrten.
Innenpolitik und Gesellschaft
Der politische Reformprozeß der Republik Lettland konnte bis 1994 strukturell abgeschlossen werden. Ziel der Reformen seit Gründung der Volksfront Lettlands war die Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit als Voraussetzung einer selbstbestimmten Innen-und Außenpolitik, die Neudefinition des Staatsvolkes durch gesetzliche Neuregelung der Staatsbürgerschaft sowie die Schaffung institutioneller Rahmenbedingungen für das Funktionieren einer parlamentarischen Demokratie und einer Marktwirtschaft. Die Reformen wurden unter Rückgriff auf die demokratischen Strukturen Lettlands zwischen 1918 und 1934 (1993 Wiedereinsetzung der Verfassung von 1922) und unter Aufnahme rechtlicher, wirtschaftlicher und sozialer Impulse der westlichen Demokratien durchgeführt. Zur Gewährleistung des staatlichen Funktionierens wurden vor allem im rechtlichen Bereich übergangsweise Regelungen aus der Sowjetzeit beibehalten.
Stagnierten während der Regierungszeit von Ivars Godmanis (1990-1993) zunächst die Reformen und konzentrierte sich nach dem Wahlsieg des Bündnisses „Lettlands Weg“ im Juni 1993 das Kabinett unter Valdis Birkavs (8. 7. 1994-16. 9. 1994) zunächst auf den Umbau der Legislative, so sah die Regierung unter Märis Gailis 9. 199421. 12. 1995) ihre Hauptaufgabe in der Verbesserung der Effizienz der Exekutive. Nach den Parlamentswahlen vom 30. 9. /1. 10. 1995, die Erfolge für linke und rechte Parteien erbrachten, und der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch den parteilosen Unternehmer Andris Sle (21. 12. 1995-6. 8. 1997) verlangsamte sich der Reformprozeß -abgesehen von Erfolgen bei der Privatisierung und der Haushaltspolitik -erneut. Seit dem Rücktritt les am 27. Juli 1997 und der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch Guntars Krasts am 7. August 1997 trägt die lettische Innenpolitik krisenhafte Züge. Ausgerechnet während der lettisch-russischen Krise im März/April 1998 traten Innenminister Ziedonis Cevers und vier weitere Minister zurück. Die Arbeitsfähigkeit der 6. Saeima ist gegenüber der 5. Legislaturperiode rückläufig, die Zahl der fraktionslosen Abgeordneten stieg auf inzwischen 19 von 100. Im Rahmen seiner beschränkten Kompetenzen versucht Staatspräsident Guntis Ulmanis (seit 7. Juli 1993, wiedergewählt am 18. Juni 1996), stabilisierend zu wirken.
Ein Parteiensystem im westlichen Sinne existiert in Lettland nicht. Zwar lassen sich die meisten Parteien ansatzweise in das Schema rechtspopulistisch, nationalkonservativ, liberal-konservativ, sozialdemokratisch und sozialistisch einordnen; unter Parteien sind jedoch eher Personen-und Interessenverbände auf Zeit zu verstehen, die selten mehr als die gesetzlich vorgesehenen 200 Mitglieder aufweisen 16.
Das Legitimationsdefizit der politischen Klasse und die Politikverdrossenheit der Bevölkerung werden durch häufige Korruptionsskandale verstärkt. Zwischen 1993 und 1995 sank die Wahlbeteiligung daher von 89, 9 auf 71, 9 Prozent. Das Vertrauen der Bevölkerung genießen hingegen vor allem die Medien, die Kirche und nichtstaatliche Organisationen. Politische Stabilität erhoffen viele -wie vor den Wahlen 1995 -von einem Wahlsieg neuer, unkompromittierter Parteien wie etwa der Volkspartei (TP, Andris le) oder der Neuen Partei (JP, Raimonds Pauls).
Wirtschaft
Stand nach 1991 zunächst der Übergang von der Plan-zur Marktwirtschaft im Vordergrund der wirtschaftlichen Reformen (Währungsreform 1993, Privatisierung, Bekämpfung der Inflation, Umorientierung des Außenhandels), so zielt Lettlands Wirtschaftspolitik seit dem Antrag auf EU-Mitgliedschaft (1995) vor allem auf Wettbewerbsfähigkeit, den Ausbau der Infrastruktur und die Vorbereitung auf den Europäischen Binnenmarkt.
Nach der Krise zwischen 1991 und 1995 zeigte die wirtschaftliche Entwicklung Lettlands 1996 mit einem durchschnittlichen Wachstum von 2, 8 Prozent erstmals wieder positive Tendenzen 1997 wurde ein Wirtschaftswachstum von 5, 9 Prozent erreicht, für 1998 werden 6, 0 Prozent prognostiziert. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) lag, nach Kaufkraft berechnet, 1997 bei 3 481 US-Dollar (USD) je Einwohner. Die Inflationsrate war 1997 mit 8 Prozent unter den baltischen Staaten am niedrigsten. 1997 entfielen 31, 8 Prozent der Wirtschaft auf das produzierende Gewerbe, 28, 9 Prozent auf den stetig wachsenden Bereich der Dienstleistungen (vor allem Banken und Telekommunikation) und 9, 9 Prozent auf den landwirtschaftlichen Sektor. 60 Prozent des BIP wurden im Privatsektor erwirtschaftet. Der Bestand an ausländischen Direktinvestitionen stieg von 26, 9 Mio. USD 1992 auf 847, 4 Mio. USD, darunter Deutschland mit 61, 6 Mio. USD.
Die Arbeitslosigkeit wurde trotz Stillegung zahlreicher, ehemals sowjetischer Großbetriebe zunächst nicht zu einem vorherrschenden sozialen Problem. Die offizielle Arbeitslosenquote (1997: 7, 0 Prozent) dürfte jedoch weniger die soziale Realität, die besonders auf dem Lande und in Lettgallen regionale Strukturentwicklungen notwendig macht, als vielmehr die während der sowjetischen Phase erlernten sozialen Fähigkeiten des Sichdurchwurstelns widerspiegeln.
Wie auch in Estland und Litauen bereitet in Lettland vor allem ein wachsendes Außenhandelsdefizit Sorgen, das 1997 mit 1 051 Mio. USD den ausgeglichenen Staatshaushalt von 960 Mio. USD überstieg. Im Export steht die Europäische Union mit 48, 9 Prozent (Import: 53, 2 Prozent), gefolgt von Rußland/GUS mit 29, 5 Prozent (Import: 19, 7 Prozent) an erster Stelle. Der Exportanteil nach Deutschland nahm von 7, 9 Prozent im Jahr 1992 auf 13, 8 Prozent im Jahr 1997 zu. Die Exporte nach Estland und Litauen stiegen im gleichen Zeitraum von 4, 9 Prozent auf 11, 7 Prozent.
Vor dem Hintergrund des zunehmenden innerbaltischen Wettbewerbs um den Transithandel zwischen Ost und West -vor allem um russische Rohstoffexporte -mißt Lettland dem Ausbau der Infrastruktur auf den Gebieten Verkehr, Telekommunikation und Energie eine wichtige Bedeutung zu. Die Integration in die europäische Infrastrukturplanung im Bereich der Ostsee („Via-Baltica" -Schnellstraße von Helsinki nach Warschau, Ausbau der Eisenbahnverbindungen zwischen dem Baltikum und Mittel-und Westeuropa, Elektrizitätsverbund „Baltischer Ring“ sowie „Nordischer Gasring“) erfordert allerdings erhebliche finanzielle Unterstützung westlicher Investoren.
Außen-und Sicherheitspolitik
Lettlands Außenpolitik ist in erster Linie eine Funktion seiner Sicherheitspolitik. Hauptziele bilden der Eintritt in die Europäische Union sowie die Einbindung in europäische und transatlantische Sicherheitsstrukturen. Nebenziele sind der Aufbau bilateraler Beziehungen, in erster Linie zu den USA, Deutschland und den skandinavischen Staaten. Lettland ist Mitglied der Vereinten Nationen, der OSZE, des Europarates, des Ostseerates, des Nato-Kooperationsrates, assoziiertes Mitglied der WEU und Vertragspartner der „Partnerschaft für den Frieden“.
Die lettisch-russischen Beziehungen sind durch das Bemühen Moskaus gekennzeichnet, eine Nato-Mitgliedschaft der baltischen Staaten zu verhindern, ihre Mitgliedschaft in der Europäischen Union und anderen europäischen Organisationen kalkulierbar zu gestalten sowie seine politische und ökonomische Einflußnahme in der baltischen Region im Rahmen einer Politik des „nahen Auslandes“ aufrechtzuerhalten Mit dem Abzug der letzten Militärangehörigen im April 1997 ist der am 30. April 1994 vereinbarte Abzug der ehemals sowjetischen Truppen aus Lettland zwar beendet Rußland verknüpft jedoch die Paraphierung des seit November 1997 ausgehandelten lettisch-russischen Grenzvertrages mit der Lösung vermeintlicher Menschen-und Minderheitenrechtsfragen in Lettland und beeinträchtigt damit den Prozeß der EU-Integration Lettlands.
Daneben hat Rußland vor allem Interesse an den baltischen eisfreien Häfen. Ein großer Teil des russischen Erdöl-, Mineraldünger-und Chemikalienexportes wird weiterhin über den Hafen Ventspils (Windau) abgewickelt -eine wichtige Einnahmequelle nicht nur für den lettischen Staatshaushalt
Sowohl Aspekte der Bankenkrise Lettlands im Sommer 1995 wie auch die lettisch-russische Krise seit März 1998 -beide Krisen jeweils ein halbes Jahr vor den lettischen Parlamentswahlen -deuten darauf hin, daß Rußland sich besonders in Lettland, dem innenpolitisch labilsten und strategisch wichtigsten der drei baltischen Staaten mit gleichzeitig der größten russischsprachigen Bevölkerungsgruppe, einer „Joystick-Politik“ bedient, die die Erprobung von Einflußszenarien und westlichen Reaktionen darauf sowie mittelfristig die Behinderung der Westintegration Lettlands zum Ziel haben könnte.
Dynamisch entwickelten sich hingegen die Beziehungen Lettlands, wie auch seiner beiden baltischen Nachbarstaaten, zur Europäischen Union Nach rascher Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Brüssel 1991 ersetzte bereits am 12. Juni 1995 ein Assoziierungsabkommen („Europa-Vertrag“, in Kraft seit dem 1. Februar 1998) das Handels-und Kooperationsabkommen vom 11. Mai 1992 sowie das Freihandelsabkommen vom 18. Juli 1994. Nach Beantragung der EU-Mitgliedschaft am 27. Oktober 1995 befindet sich Lettland gegenwärtig in der Vorbereitungsphase für Verhandlungen über die Aufnahme. Trotz Erfolgen vor allem auf ökonomischem Gebiet wird das Überprüfungsverfahren der EU-Kommission („Screening“) aufgrund der innenpolitischen Unstabilitäten, der offenen Frage der Staatsbürgerschaft sowie der getrübten Nachbarschaftsbeziehungen zu Rußland im Herbst 1998 wohl zu einer ungünstigeren Bewertung der Verhandlungsreife Lettlands als der Estlands oder Litauens kommen.
Von sicherheitspolitischer Bedeutung ist die militärische Kooperation Lettlands mit der NATO im Rahmen der „Partnerschaft für den Frieden“, die durch zahlreiche bilaterale Militärabkommen -vor allem mit Deutschland, Polen, den skandinavischen Staaten und den USA -gestützt wird. Auch die am 16. Januar 1998 zwischen den USA und den drei baltischen Staaten unterzeichnete Partnerschaftscharta („Baltic Charta“) sieht zwar keine ausdrückliche Sicherheitsgarantie vor, die USA bleiben jedoch „überzeugt, daß . .. die ersten zur Mitgliedschaft (in die NATO) eingeladenen Staaten nicht die letzten sein werden“ Das Dokument sieht neben politischer und ökonomischer Zusammenarbeit Unterstützung für eine neu zu schaffende „Beistandsgruppe für Sicherheit im Ostseeraum“ (BALTSEA) sowie die gesamtbaltische Verteidigungskooperation im Rahmen des Baltischen Bataillons (BALTBAT), des Baltischen Marineverbandes (BALTRON), des Baltischen Flugsicherungssystems (BALTNET) und einer Baltischen Verteidigungsakademie (BALTDEFCOLL) vor. Im militärischen Bereich bleibt Lettland jedoch mit einem Verteidigungshaushalt von nur 0, 7 Prozent des Staatshaushaltes Sorgenkind baltischer Sicherheitspolitik.
Lettland ist die treibende Kraft der innerbaltischen Zusammenarbeit im Rahmen des am 12. Mai 1990 gegründeten Baltischen Rates. Ziele sind die Koordinierung der Außen-und Sicherheitspolitik, die Harmonisierung der Rechtsgebung sowie des Vorgehens beim Schutz der Grenzen und der Bekämpfung der Kriminalität. Freihandelsabkommen über Industriegüter vom 13. September 1993 und landwirtschaftliche Produkte vom 17. Juni 1996 dienen der Vorbereitung eines innerbaltischen Marktes mit 7, 8 Millionen Menschen. Divergierende Interessen bei dem Bemühen um die EU-Mitgliedschaft lassen die baltische Zusammenarbeit in jüngster Zeit jedoch wieder in den Hintergrund treten.
Menschen-und Minderheitenrechte
Nach dem Beitritt Lettlands zur Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen (4. Mai 1990) und zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK, 10. Februar 1995) sowie der Ergänzung der Verfassung um ein Verfassungsgesetz über „Menschen-und Bürgerrechte und -pflichten“ (10. Dezember 1991) gelten die Menschenrechte in Lettland weitestgehend als garantiert Das im Januar 1995 angenommene „Programm zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte“ sowie die Schaffung eines „Staatlichen Büros für Menschenrechte“ mit Ombudsmann-Funktion im Juli gleichen Jahres vertieften den Schutz der Menschenrechte auch in der Praxis. Der Beschluß der Regierung Lettlands vom 26. Mai 1998 zur Unterzeichnung des 6. Zusatzprotokolls der EMRK und damit zur Abschaffung der Todesstrafe muß allerdings noch von der Saeima ratifiziert werden. Empfehlungen der Vereinten Nationen, des Europarates und der OSZE gelten allerdings weiterhin der Verbesserung des Strafvollzugs sowie der Absicherung der Rechte von Kindern, Flüchtlingen und Asylsuchenden.
Als unmittelbare Folge der sowjetischen Annexion, der Deportationen von Mai 1998 zur Unterzeichnung des 6. Zusatzprotokolls der EMRK und damit zur Abschaffung der Todesstrafe muß allerdings noch von der Saeima ratifiziert werden. Empfehlungen der Vereinten Nationen, des Europarates und der OSZE gelten allerdings weiterhin der Verbesserung des Strafvollzugs sowie der Absicherung der Rechte von Kindern, Flüchtlingen und Asylsuchenden.
Als unmittelbare Folge der sowjetischen Annexion, der Deportationen von Letten und der zwangsweisen Russifizierung ist der Begriff der Minderheit in Lettland ambivalent 25. Zwischen 1940 und 1989 sank der Anteil der Titularnation der Letten von 77 Prozent (1935) auf 52 Prozent, gleichzeitig wuchs der Anteil der Ostslawen (Russen, Weißrussen und Ukrainer) als Resultat der sowjetischen Industrie-, Siedlungs-und Herrschaftspolitik von 10, 3 Prozent auf 42 Prozent.
Zwar ist nach dem Rückzug der sowjetischen Armee und einer Ausreisewelle 1992/93 der Anteil der Letten an der Bevölkerung landesweit wieder auf 56, 7 Prozent gestiegen, die Begriffe Mehr-und Minderheit bleiben jedoch relativ; in sechs der sieben größten Städte des Landes bildeten die Letten 1997 gegenüber der russischsprachigen Gruppe der Russen, Ukrainer und Weißrussen die Minderheit, darunter in der Hauptstadt Riga mit 38, 5 Prozent, in Daugavpils (Dünaburg) mit 14, 2 Prozent und in der wichtigen Hafenstadt Ventspils mit 46, 9 Prozent 26. Sektoral wird im politischen und kulturellen Bereich ein lettisches, im ökonomischen Bereich ein slawisches Übergewicht vermutet. Viele Bestimmungen im Sprachen-oder Bildungsbereich haben daher gleichzeitig den Charakter von Schutzbestimmungen für die Titularnation.
Die Bevölkerung Lettlands kann gegenwärtig nach folgenden Merkmalen unterschieden werden
-historisch: die Titularnation der Letten, die kleine autochthone Gruppe der Liven, die Angehörigen der Minderheiten, die bereits zwischen den Weltkriegen die Staatsangehörigkeit des Landes besaßen (Russen, Weißrussen, Juden, Deutsche, Polen u. a.) sowie ab 1940/45 die sowjetischen Einwanderer;
-ethnisch: Letten, Russen, Personen ohne eindeutige Nationalität (z. B. aus Mischehen) Weißrussen, Ukrainer, Polen, Litauer, Juden, Roma, Deutsche, Tataren, Esten, Armenier, Liven und andere;
-sprachlich: Lettischsprachige, Russischsprachige, verschiedene kleinere Gruppen anderer Sprachen;
-rechtlich bezogen auf die Staatsbürgerschaft: Staatsbürger, Nichtstaatsbürger, Ausländer, Personen ohne gültige Dokumente („Illegale“). Die Grundlage der Minderheitenpolitik Lettlands bilden das „Gesetz über die freie Entwicklung nationaler und ethnischer Gruppen und deren Recht auf Kulturautonomie“ vom 19. März 1991, das Bildungsgesetz vom 19. Juni 1991 sowie die Novelle des Sprachengesetzes vom 31. März 1992. Demnach genießen Minderheiten Vereinigungsfreiheit, haben das Recht auf muttersprachlichen Schulunterricht und eingeschränkt die Möglichkeit, im amtlichen Verkehr neben der Staatssprache Lettisch auch die russische, deutsche oder englische Sprache zu verwenden. Vor Gericht ist die Muttersprache zugelassen. Demgegenüber sind Minderheiten nur partiell an der politischen Gestaltung des Landes beteiligt und nur als Staatsbürger wahlberechtigt. Klagen über Diskriminierungen haben ihren Grund häufig in unzureichender Unterscheidung zwischen Minderheiten-und staatsbürgerlichen Rechten.
Das staatliche Schulsystem Lettlands unterscheidet in bezug auf die Unterrichtssprache fünf Schultypen: Schulen mit lettischer Unterrichts-sprache, Schulen mit lettischer und russischer Unterrichtssprache, einzelne Klassen andersnationaler Unterrichtssprache an lettischen oder russischen Schulen, reine Minderheitenschulen mit andersnationalen Unterrichtssprachen (Polnisch, Ukrainisch, Weißrussisch, Litauisch, Estnisch, Hebräisch) sowie Schulen mit russischer Unterrichtssprache Da letztere aber von Kindern unterschiedlicher Nationalität besucht werden handelt es sich eher um postsowjetische als um russische Schulen im nationalen Sinne. Die Tendenz, Kinder nichtlettischer Herkunft auf lettischsprachige Schulen zu schicken, nimmt zu Mit seinem ausdifferenzierten, multisprachlichen Schulsystem steht Lettland -neben Estland und der Schweiz -in Europa führend da. Diskutiert wird allerdings ein allmählicher Übergang zur lettischen Unterrichtssprache an staatlich finanzierten Schulen.
Staatsbürgerschaft
Im Mittelpunkt der minderheitenpolitischen Diskussion steht in jüngster Zeit vor allem die Frage der Einbürgerung von Teilen der nach 1945 ins Land gekommenen Bevölkerung. Nach Inkrafttreten eines neuen Staatsbürgerschaftsgesetzes am 11. August 1994 besitzen etwa 28 Prozent der Bevölkerung -vergleichbar mit Luxemburg -nicht die Staatsbürgerschaft des Landes (vgl. Übersicht). Aufgrund einer bis zum Jahr 2003 geplanten altersgruppenbezogenen Einbürgerung („window-system“) konnten aber bis zum 31. 5. 1998 lediglich 8 125 Personen neu eingebürgert werden. Daneben erhielten allerdings zusätzlich etwa 60 000 Personen (aus Mischehen, mit lettischsprachiger Schulausbildung usw.) auf dem Wege der einfachen Registrierung die Staatsbürgerschaft. Bis zum 16. April 1998 lagen etwa 171 000 Anträge auf Nichtstaatsbürgerpässe (vergleichbar mit Heimatlosenpässen) vor, die deren Inhabern bis auf das Wahlrecht im wesentlichen die gleichen Rechte wie den Staatsbürgern Lettlands einräumen Als Gründe für das schleppende Interesse weiter Bevölkerungsgruppen an einer raschen Einbürgerung werden Ängste vor der Sprach-und Geschichtsprüfung, zu hohe Gebühren, als Folge Visazwang für Reisen nach Rußland sowie Einberufung zum Wehrdienst in Lettland angeführt. Aufgrund internationaler Empfehlungen, unter dem Eindruck russischer Forderungen sowie der zunehmenden innenpolitischen Einsicht, daß eine rasche Integration großer Bevölkerungsgruppen für die innenpolitische Stabilität und außenpolitische Sicherheit des Landes notwendig ist, beschloß die Saeima am 22. Juni 1998 Änderungen des Staatsbürgerschaftsgesetzes. Das umstrittene „window-system“ soll abgeschafft, die Einbürgerung von nach dem 21. August 1991 in Lettland geborenen Kindern (ca. 18 000) ermöglicht sowie die Sprach-und Geschichtsprüfung vereinfacht werden Gleichzeitig beantragten allerdings 36 Abgeordnete einen zweimonatigen Aufschub des Inkrafttretens der Gesetzesänderungen, um eine Volksabstimmung vorbereiten zu können.
Die Unentschiedenheit in der sehr komplexen Frage der Staatsbürgerschaft hat vor allem westliche Partner, die sich um eine Beilegung der lettisch-russischen Differenzen bemühen, verstimmt. Sie spiegelt aber einen Grundkonflikt lettischer Politik wider: Einerseits sollen unter dem Stichwort „Deokkupation“ die Folgen der sowjetischen Annexion und ihrer Siedlungspolitik für die lettische Nation gemildert werden, andererseits benötigt Lettland für das 21. Jahrhundert die Sicherheit europäischer und transatlantischer Strukturen, deren Gewährung durch den Westen wiederum von einem gutnachbarschaftlichen Verhältnis zu Rußland abhängig gemacht wird. Lettische Minderheitenpolitik wird so zusehends zu einer Funktion europäisch-russischer Beziehungen -und dies bedeutet für viele nationalgesinnte lettische Parlamentarier bereits wieder den Verlust innenpolitischer Souveränität.
So fragen sie beispielsweise vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen mit der deutschen Minderheit nach 1933, ob eine formale Zuerkennung der Staatsbürgerschaft auch automatisch staatliche Loyalität bedeute und ob die Tatsache, daß es in Lettland trotz der tragischen Vergangenheit im Unterschied zu einigen westeuropäischen Staaten bisher nicht zu ausländerfeindlichen Ausschreitungen gekommen ist, nicht gerade darauf hinweise, daß Lettland besondere Fähigkeiten entwickelt habe, jenseits formaljuristischer Defizite eine multiethnische Gesellschaft möglichst konfliktfrei zu gestalten. In der Tat haben jüngste soziologische Untersuchungen eine überraschende Übereinstimmung der Bevölkerung in sozialen und moralischen Fragen einerseits und eine relative Bedeutungslosigkeit nationaler Kriterien in Alltagsfragen andererseits bestätigt
Diese in Lettland langsam einsetzende Diskussion um eine demokratisch integrierte, einerseits multiethnische, andererseits überwiegend in lettischer Sprache sich verständigende politische Nation wird von der Hoffnung getragen, die tragische Geschichte Lettlands des 20. Jahrhunderts überwinden zu können. Gelingt das lettische Experiment, wäre dies im Falle einer Mitgliedschaft Lettlands in der Europäischen Union ein wichtiger Gewinn auch für das übrige Europa, Rußland eingeschlossen.
Detlef Henning, M. A., geb. 1959; Studium der Osteuropäischen und Neueren Geschichte sowie der Baltischen Philologie in Münster; 1989/90 Stipendiat der Kulturstiftung Lettlands (Riga); seit 1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter mit Schwerpunkt Baltische Staaten am Institut für Deutschland-und Osteuropaforschung in Göttingen. Veröffentlichungen u. a.: Der Weg Estlands, Lettlands und Litauens in die zweite Unabhängigkeit, in: Franz-Lothar Altmann/Edgar Hösch (Hrsg.), Reformen und Reformer, Regensburg 1994; Lettland, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Mittel-und Osteuropa auf dem Weg in die Europäische Union, Gütersloh 19962; Die Sprachen-politik und die Gewährleistung des Bildungswesens nationaler Minderheiten in Lettland, in: Boris Meissner u. a. (Hrsg.), Der Aufbau einer freiheitlich-demokratischen Ordnung in den baltischen Staaten, Hamburg 1995; Letten und Deutsche, in: Nordost-Archiv (1996); Die baltischen Staaten, in: Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels (Hrsg.), Jahrbuch der Europäischen Integration 1996/97, Bonn 1997.