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Die Bundestagswahl 1998: Ein Plebiszit gegen Kanzler Kohl? | APuZ 52/1998 | bpb.de

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APuZ 52/1998 Wer zu spät geht, den bestraft der Wähler. Eine Analyse der Bundestagswahl 1998 Die Bundestagswahl 1998: Ein Plebiszit gegen Kanzler Kohl? „Annäherung durch Wandel“? Das Wahlverhalten bei der Bundestagswahl 1998 in Ost-West-Perspektive Der Einfluß der Wirtschaftslage auf die Wahlentscheidung bei den Bundestagswahlen 1994 und 1998

Die Bundestagswahl 1998: Ein Plebiszit gegen Kanzler Kohl?

Oscar W. Gabriel/Frank Brettschneider

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Zusammenfassung

In den vergangenen Jahren wurde mit dem Schlagwort „Personalisierung der Politik“ eine Veränderung der für die Wahlentscheidung maßgeblichen Faktoren behauptet. Von Personalisierung wird gesprochen, wenn der Kandidatenorientierung eine wachsende Bedeutung als Bestimmungsfaktor des Wählerverhaltens zukommt oder wenn bei der Bewertung der Kanzlerkandidaten eine Verschiebung von selbstdarstellungs-zu persönlichkeitsbezogenen Eigenschaften eintritt. Bei Bundestagswahlen Wird die Stimmabgabe durch ein Zusammenspiel von Parteiidentifikation, Kandidatenorientierungen und Problemlösungskompetenz der Parteien bestimmt. Es wäre daher verkürzt, den Ausgang der Bundestagswahl 1998 alleine als Abwahl Helmut Kohls zu interpretieren. Allerdings waren die Kanzlerkandidaten diesmal für die Stimmabgabe vieler Wählerinnen und Wähler unbestreitbar von herausragender Bedeutung. Helmut Kohl hat zur schwersten Wahlniederlage der Union seit 1949 im erheblichen Umfang beigetragen. Nach einer Amtszeit von 16 Jahren schätzten die Wählerinnen und Wähler den Bundeskanzler zwar als einen verdienstvollen Politiker, zugleich sahen sie in ihm aber auch einen Mann, der seine Zeit hinter sich hatte. Der Wunsch nach politischem Wandel wirkte gegen Kohl. Anders als bei vorangegangenen Bundestagswahlen gelang es ihm nicht, im Verlaufe des Wahlkampfes einen Stimmungsumschwung zu seinen Gunsten herbeizuführen. Selbst das eigene Lager ließ sich nicht mehr in dem gewohnten Umfang von ihm mobilisieren. Vermutlich wären die Erfolgsaussichten der CDU/CSU mit Wolfgang Schäuble größer gewesen. Ob ein rechtzeitiger Führungswechsel jedoch zum Wahlsieg gereicht hätte, läßt sich kaum abschätzen. Gegen diese Annahme spricht, daß der SPD in zentralen Politikfeldern mehr Kompetenz zugesprochen wurde als den Christdemokraten. Ob sich in dem Wahlergebnis von 1998 ein langfristiger Trend zur Personalisierung der Politik widerspiegelt, kann derzeit nicht zuverlässig beantwortet werden. Zwar kam dem Kandidatenfaktor bei der Bundestagswahl 1998 eine größere Bedeutung zu als vier Jahre zuvor, jedoch wirkten auch die Themenorientierungen und der weitverbreitete Wunsch nach einem Wechsel zugunsten der SPD. Es wird sich bei den nächsten Bundestagswahlen zeigen, ob das Jahr 1998 eine erste Etappe auf dem Weg zur stärkeren Personalisierung der Politik darstellte.

I. Das Untersuchungsproblem

Abbildung 1: Die Entwicklung der Kanzlerpräferenz 1994 und 1998 Quelle: Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen.

Die Bundestagswahl 1998 brachte in der Geschichte der Bundesrepublik ein Novum: Zum ersten Mal seit der Staatsgründung resultierte ein Regierungswechsel nicht aus der koalitionspolitischen Neuorientierung einer Regierungspartei, sondern aus einem klaren Votum der Wählerschaft. Bereits lange vor dem Wahltermin hatten die SPD und Bündnis 90/Die Grünen ihre Bereitschaft bekundet, nach einer erfolgreichen Bundestagswahl gemeinsam die Regierung zu bilden. Am 27. September 1998 erhielten sie hierzu von den Wählerinnen und Wählern einen klaren Auftrag. Noch in einer weiteren Hinsicht wies das Wahlergebnis eine Besonderheit auf: Erstmals seit 1969 wurde der amtierende Bundeskanzler durch die Bevölkerung abgewählt. Der umgehende Rücktritt Bundeskanzler Kohls vom Parteivorsitz schien eine konsequente Antwort auf die schwerste Wahlniederlage der Union seit 1949 zu sein. Noch am Wahlabend hatte Helmut Kohl die Verantwortung für das Wahldebakel seiner Partei übernommen.

Abbildung 3b: Stimmenanteile der CDU/CSU bzw. der SPD nach Parteiidentifikation (PI), Themen-kompetenz und Kanzlerpräferenz 1998.

Quelle: DFG-Studie „Politische Einstellungen, politische Partizipation und Wählerverhalten im vereinten Deutschland“ 1998.

Auf den ersten Blick liegt die Vermutung nahe, daß der Kandidatenfrage eine besondere Bedeutung für den Wahlausgang zukam. Unabhängig von den bestehenden verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Regelungen haben sich Bundestagswahlen in Deutschland zu Kanzlerwahlen entwikkelt. Dies entspricht der vom Grundgesetz gewollten starken Position des Regierungschefs ebenso wie den von den Parteien praktizierten Wahlkampfstrategien, in denen die Kanzlerkandidaten stets eine exponierte Rolle spielen. Insbesondere der an politischen Streitfragen arme Bundestagswahlkampf beider großer Parteien und die als Themenersatz gewählte Personalisierungsstrategie sprechen für die Annahme, daß die Bundestagswahl 1998 an der „Kandidatenfront“ entschieden wurde.

Helmut Kohl selbst hatte im Wahlkampf die Zweitstimme als „Kanzlerstimme“ bezeichnet, während die SPD mit dem Slogan „Zweitstimme ist Schröder-Stimme“ warb. Auch in der Medien-berichterstattung über die Bundestagswahl 1998 spielte die Personalisierungsthese eine wichtige Rolle. Insbesondere dem SPD-Kanzlerkandidaten Schröder attestierten Wahlkampfbeobachter eine „Amerikanisierung des Wahlkampfes“, vor allem eine souveräne Nutzung des Fernsehens zu Wahlkampfzwecken. Läßt sich das Ergebnis der Bundestagswahl 1998 vor diesem Hintergrund also als Volksabstimmung über die Kanzlerkandidaten -insbesondere als ein Votum gegen Bundeskanzler Kohl -deuten?

So plausibel diese Sicht auf den ersten Blick auch scheinen mag, sie hat ihre Defizite: Erstens geht das Wahlverhalten von Individuen normalerweise nicht auf eine einzige Ursache, sondern auf ein Zusammenspiel von Parteiidentifikation, Themen-und Kandidatenorientierungen zurück Zweitens gehören -von der Bundestagswahl 1990 abgesehen -schlechte Umfrageergebnisse zu den ständigen Begleiterscheinungen der Kanzlerschaft Helmut Kohls, seinen Wahlsiegen standen sie bislang jedoch nicht entgegen. Drittens liefern die aus dem Jahre 1998 vorliegenden Umfragen Hinweise darauf, daß nicht allein das personelle Angebot, sondern auch die Problemlösungskompetenz der Union von den Wählern nicht besonders goutiert wurde. Schließlich gab es nach 16 Jahren christlich-liberaler Koalition in der Wählerschaft einen geradezu überwältigenden Wunsch nach einem Regierungswechsel.

Die Frage, welche Rolle den Einstellungen zu den Kanzlerkandidaten der CDU/CSU und der SPD für das Wählerverhalten bei der Bundestagswahl 1998 zukam, läßt sich nur durch eine empirische Analyse beantworten. Im folgenden Beitrag wird zunächst die Bedeutung des Konzepts der Kandidatenorientierungen in der empirischen Wahlforschung diskutiert. Im Anschluß daran untersuchen wir die Entwicklung der Kandidatenorientierun-gen der Wählerinnen und Wähler im Verlaufe des Wahljahres und vergleichen sie mit der bei der vorangegangenen Bundestagswahl beobachtbaren Entwicklung. Sodann nehmen wir einzelne Kandidateneigenschaften in den Blick und prüfen ihren Beitrag zur Erklärung der Kanzlerpräferenz. Im letzten Teil des Beitrages schließlich geht es darum, den Einfluß der Kandidatenorientierungen auf das Wählerverhalten zu bestimmen.

II. Personalisierung: Kandidatenorientierungen in der Analyse des Wählerverhaltens

Abbildung 2: Die Bewertung der Spitzenpolitiker und der Parteien 1997-1998. Quelle: Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen. Die Verfasser danken Matthias Jung für die Überlassung der Daten

Auch wenn Wahlanalysen die Kandidatenfrage stets mehr oder weniger ausführlich ansprechen, befassen sich bisher nur wenige Studien über das Wählerverhalten in der Bundesrepublik ausführlich und differenziert mit der Bedeutung der Kandidatenorientierungen für den Ausgang von Bundestagswahlen Dies ist vor allem deshalb erstaunlich, weil die Kandidatenorientierungen seit den fünfziger Jahren zu den zentralen Erklärungsfaktoren des Wählerverhaltens gehören und weil in Deutschland wie in den Vereinigten Staaten schon seit längerer Zeit eine intensive Debatte über die angebliche Personalisierung der Politik geführt wird

Bekanntlich führt der von Angus Campbell u. a. begründete sozialpsychologische Ansatz zur Erklärung des Wählerverhaltens die Stimmabgabe für eine bestimmte Partei auf drei Faktoren zurück: die langfristig stabile Parteiidentifikation sowie die kurz-und mittelfristig veränderlichen Themen-und Kandidatenorientierungen Unter den in der Bundesrepublik vorherrschenden politischen Bedingungen bezieht sich das Konzept der Kandidatenorientierungen auf die Wahrnehmung und Bewertung der Kanzlerkandidaten von CDU/CSU und SPD In der empirischen Forschung unterscheidet man zwischen mehreren Aspekten der Einstellungen zu den Kanzlerkandidaten, generalisierten Orientierungen wie die Kanzlerpräferenz und die Kandidatenbewertung mittels Skalometerfragen sowie spezifischeren Orientierungen wie die Einstellungen zu ihrer politischen Arbeit, ihrer Sachkompetenz, ihrer Vertrauenswürdigkeit usw.

Nach den Annahmen des sozialpsychologischen Ansatzes sind die Kandidatenorientierungen zahlreicher Wählerinnen und Wähler durch ihre langfristig stabile Parteibindung geprägt. Dennoch können die Einstellungen zu den Kandidaten unter bestimmten Voraussetzungen eine eigenständige Rolle als Bestimmungsfaktoren der Wahlentscheidung spielen. Diese Feststellung gilt zunächst für die große und im Verlaufe der letzten drei Jahrzehnte gewachsene Gruppe der Wähler ohne langfristig stabile Parteibindungen deren Wahl-entscheid primär von den Themen-und Kandidatenangeboten der Parteien oder von ihren generellen Einstellungen zum politischen System beeinflußt wird. Jedoch bevorzugen auch die soge-nannten Parteiidentifizierer -die festen Anhänger einer Partei -nicht bedingungslos die von ihren Parteien nominierten Kanzlerkandidaten. In besonderen Fällen veranlaßt sie vielmehr das Kandidatenangebot zu einer von der Parteiidentifikation abweichenden Stimmabgabe. Da sich die Wählerschaft von Wahl zu Wahl mit einer neuen politischen Agenda und mit einem neuen Kandidaten-angebot konfrontiert sieht, muß die Frage nach dem Einfluß der drei Komponenten des sozialpsychologischen Erklärungsmodells für jede Wahl neu beantwortet werden. Ebensowenig stehen die Kompetenz-und Persönlichkeitsprofile der Kanzlerkandidaten ein für allemal fest, sondern können sich aufgrund einer veränderten Kandidatenkonstellation oder veränderter Wahrnehmungen der Kandidaten von einer Bundestagswahl zur nächsten wandeln.

In den vergangenen Jahren wurde unter dem Schlagwort „Personalisierung“ eine Veränderung der für die Wahlentscheidung maßgeblichen Faktoren behauptet. Von einer zunehmenden Perso-nalisierung des Wahlentscheides sprechen wir, wenn der Kandidatenorientierung eine wachsende Bedeutung als Bestimmungsfaktor des Wählerverhaltens zukommt oder wenn bei der Bewertung der Kandidaten eine Verschiebung von performanz-zu persönlichkeitsbezogenen Eigenschaften eintritt Zwar konnten beide Formen der Personalisierung für die Bundesrepublik bislang nicht empirisch nachgewiesen werden jedoch sollte diese Feststellung in Anbetracht des unbefriedigenden Forschungsstandes nicht überbewertet werden.

Im folgenden wird zunächst die Entwicklung der Kanzlerpräferenz und der allgemeinen Kandidatenbewertungen in den Blick genommen. Es folgt die Darstellung einzelner Kandidateneigenschaften, bevor abschließend der Einfluß der Kandidatenorientierungen auf das Wählerverhalten bestimmt wird.

III. Die Entwicklung der Kandidatenorientierungen im Wahljahr

Tabelle 1: Die Entwicklung der Kandidateneigenschaften im Wahlkampf 1998

Quellen: EMNID-Wissenschaftspreis 1997; DFG-Studie „Politische Einstellungen, politische Partizipation und Wähler-verhalten im vereinten Deutschland“ 1998.

1. Die Kanzlerpräferenz Im Frühjahr 1983 bestritt Helmut Kohl den Wahlkampf erstmals aus der Position des Bundeskanzlers heraus. Mit einem Anteil von 48, 8 Prozent der abgegebenen gültigen Zweitstimmen und einem Zugewinn von mehr als vier Prozentpunkten erzielte die CDU/CSU das zweitbeste Bundestags-wahlergebnis in ihrer Geschichte. Das sehr gute Abschneiden der Union resultierte allerdings keineswegs aus einer großen Popularität ihres Spitzenkandidaten. In den Umfragen wurde Kohl in der Regel schlechter bewertet als seine Partei, und erst kurz vor der Wahl konnte er sich einen entscheidenden Popularitätsvorsprung vor dem damaligen Oppositionsführer Vogel sichern. In allen darauf folgenden Wahljahren wiederholte sich eine Entwicklung, die man als „Entzauberung des Oppositionskandidaten“ bezeichnen kann: Sämtliche Kanzlerkandidaten der SPD traten mit einem relativ großen Vorsprung vor dem amtierenden Kanzler in den Wettbewerb um die Wählergunst ein. doch alle verloren ihren Vorsprung im Verlaufe des Wahljahres. Auch wenn sich der zeitliche Ablauf dieses Prozesses in den einzelnen Jahren unterschiedlich darstellt, gleicht sein Ergebnis in allen . Fällen dem Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel. Zum Wahltermin hatte Helmut Kohl den anfänglichen Vorsprung seiner Herausforderer zumindest eingeholt Die in Abbildung I wiedergegebene Entwicklung der Kanzlerpräferenz im Jahr 1994 entspricht dem Verlaufsmuster fast aller Wahljahre seit 1983.

Im Vergleich mit den früheren Wahljahren brachte das Jahr 1998 ein Novum in der Entwicklung der Kanzlerpräferenz, das in der Gegenüberstellung mit der vorangegangenen Bundestagswahl deutlich zutage tritt: Etwa zehn Monate vor den jeweiligen Wahlterminen stellte sich die Verteilung der Präferenzen für die voraussichtlichen Spitzenkandidaten der SPD und der Union ziemlich ähnlich dar (vgl. Abb. 1). Im Dezember 1993 verfügte der damalige SPD-Vorsitzende Scharping über einen soliden Popularitätsvorsprung vor dem amtierenden Kanzler, der sich in der Größenordnung ähnlich darstellte wie die Differenz zwischen Schröder und Kohl im Dezember 1997. In beiden Fällen lagen zwischen den Bewerbern um das Amt des Bundeskanzlers knapp 25 Prozentpunkte, und dieser Vorsprung blieb in den darauf folgenden Monaten relativ konstant.

Dann setzten allerdings unterschiedliche Trend-verläufe ein. Zwischen Februar und April 1998 gelang es Schröder, den Abstand zu Kohl zunächst deutlich zu vergrößern -und zwar von 22 auf 4Ü Prozentpunkte. Darin schlugen sich vor allem sein Erfolg bei der niedersächsischen Landtagswahl und die unmittelbar danach vollzogene offizielle Nominierung als Kanzlerkandidat der SPD nieder. Vor vier Jahren hingegen hatte im gleichen Zeitraum ein Stimmungsumschwung zugunsten Kohls eingesetzt. Die Führung Scharpings war geschrumpft, und im Juni 1994 verfügte der Kanzler erstmals über einen knappen Vorsprung vor seinem Herausforderer, den er bis zum Wahltag halten konnte.

Gänzlich anders stellte sich die Entwicklung Mitte 1998 dar. Obgleich sich die Präferenz für Schröder zwischen April und September abschwächte und spiegelbildlich dazu Kohl an Unterstützung gewann, verfügte der SPD-Kandidat während des gesamten Jahres über einen klaren Vorsprung vor dem Kanzler. Unterschiede traten lediglich in der Größe der Distanz auf. Von einer Trendwende zugunsten Kohls konnte während des gesamten Wahlkampfes nicht die Rede sein 2. Die Gesamtbeurteilung mittels Kandidatenskalometer Ebenso kontinuierlich wie die Frage nach dem präferierten Bundeskanzler enthalten die Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen Skalometer zur Bewertung der Kandidaten. Isoliert betrachtet, vermittelt die Auswertung der Skalometerfragen gegenüber den bereits präsentierten Befunden zur Kandidatenpräferenz keine grundlegend neuen Informationen: Seit Beginn des Jahres 1997 wurde der SPD-Kandidat Schröder von der deutschen Wählerschaft mehrheitlich positiv bewertet. Er war deutlich populärer als der amtierende Kanzler, zu dem die Mehrheit der Bevölkerung fast während des gesamten Untersuchungszeitraumes negativ eingestellt war. Erst im August und September gab die Mehrheit der Befragten dem Bundeskanzler positive Werte, der große Popularitätsvorsprung Schröders blieb allerdings bestehen (vgl. Abb. 2).

Obgleich die Bewertung der Kanzlerkandidaten im Parteienstaat der Bundesrepublik eng mit der ihrer Parteien zusammenhängt, stimmen die Einstellungen zu den Personen und zu den entsprechenden Parteien nicht notwendigerweise überein. In Analysen aus Anlaß früherer Bundestagswahlen hatten sich in dieser Hinsicht vielmehr deutliche Unterschiede zwischen der Union und der SPD sowie zwischen einzelnen Wahljahren gezeigt. Bis zum Jahre 1989 schnitt Bundeskanzler Kohl im Urteil der Bevölkerung etwas schlechter ab als die CDU. Seither fielen die Werte Kohls und seiner Partei nahezu identisch aus -ein Umstand, der seine beherrschende Rolle für das Erscheinungsbild der Union überaus deutlich reflektiert. Mit Blick auf die SPD differenzierten die Wähler stärker zwischen dem Kandidaten und der Partei. Schmidt und Engholm fanden in der Öffentlichkeit mehr Zustimmung als ihre Partei, die anderen Spitzenkandidaten schnitten im Vergleich mit der SPD zumeist etwas schlechter ab

Auch in dieser Hinsicht erwies sich der Zeitraum 1997/98 als ein Sonderfall. Seit dem Herbst 1997 liefen die Bewertungen von Bundeskanzler Kohl und der Union stark auseinander. Anders als in den Vorjahren war die Partei deutlich populärer als ihr Spitzenkandidat. Die für die letzten Amts-jahre Kohls typische Identifikation von Kandidat und Partei schien zunehmend zu schwinden, der bereits in den ersten Jahren seiner Kanzlerschaft beobachtete „Kanzlermalus“ Helmut Kohls stellte sich wieder ein. Wie die Verlaufsdaten aus dem Jahr vor dem Regierungswechsel zeigen, konnte die Union nicht mehr vom Ansehen ihres Kanzlers profitieren, dieser erwies sich eher als eine Belastung für seine Partei.

In einem deutlichen Kontrast hierzu stehen die Einschätzungen Schröders und der SPD. Der Popularitätsgewinn des Kandidaten setzte früher ein als derjenige der Partei. Bis zum Beginn des Wahljahres schien Schröder die SPD in der Wählergunst mitzuziehen. Erst seit dem Frühjahr 1998 erzielte die SPD im Vergleich mit ihrem Spitzen-kandidaten bessere Werte (vgl. Abb. 2).

Die Bedeutsamkeit der bestehenden personellen Konstellation für die Bewertung der Union und der SPD tritt noch klarer zu Tage, wenn man zusätzlich die Skalometer der beiden Spitzenpolitiker berücksichtigt, die in der Öffentlichkeit lange Zeit als Alternativen zu Schröder und Kohl gehandelt worden waren: den SPD-Vorsitzenden Lafontaine und den CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Schäuble

Die Entscheidung der SPD für Gerhard Schröder als Kanzlerkandidaten wird durch die vorliegenden Daten eindeutig gestützt. Er verfügte nicht allein im Wettbewerb mit Helmut Kohl, sondern auch im Vergleich mit dem SPD-Vorsitzenden Lafontaine über einen großen Popularitätsvorsprung, der sich bereits lange Zeit vor der Festlegung der SPD auf einen der beiden Bewerber herauskristallisiert hatte. Auch in der Gegenüberstellung Kohl versus Lafontaine ergab sich keine so eindeutige Situation wie bei einer Entscheidung zwischen Kohl und Schröder. Zwar schnitt Lafontaine in den meisten Umfragen besser ab als Kohl, sein Vorsprung fiel aber meist nur knapp aus. Im Monat vor der Bundestagswahl hatte Kohl mit Lafontaine zunächst gleichgezogen und ihn dann überrundet. Zudem erreichte Lafontaine niemals auch nur annähernd das Niveau politischer Unterstützung, über das die SPD in der Wählerschaft verfügte.

Gänzlich anders stellt sich die Situation im Lager der CDU/CSU dar. Im Gegensatz zum amtierenden Bundeskanzler erhielt ihr Fraktionsvorsitzender Wolfgang Schäuble in sämtlichen 1997 und 1998 durchgeführten Umfragen positive Bewertungen. Sein Abstand auf Gerhard Schröder war meist nur gering, im August und im September erzielte er sogar bessere Werte als der SPD-Spitzenkandidat. Auch im Vergleich mit seiner eigenen Partei schnitt Schäuble erheblich besser ab. Dies impliziert natürlich nicht, daß die Nominierung Schäubles der Union zum Wahlsieg verholten hätte, zumal Schröder im September bei der Frage nach dem präferierten Kanzler knapp vor Schäuble lag aber der Wahlausgang wäre mit einem Kanzlerkandidaten Schäuble sicherlich offener gewesen. 3. Die wahrgenommenen Eigenschaften der Kanzlerkandidaten Die Beurteilung von Spitzenpolitikern ergibt sich zu einem erheblichen Teil aus der Wahrnehmung ihrer Eigenschaften. Diese Wahrnehmungen beruhen einerseits auf aktuellen, in der Regel medien-vermittelten Eindrücken andererseits müssen sie vor dem Hintergrund der über Jahre hinweg gewonnenen Erfahrungen mit den betreffenden Politikern gesehen werden. Schließlich spiegeln sich in ihnen auch andere politische Orientierungen wider -etwa die eigene Parteiidentifikation. In dem Wahlforschungs-Klassiker „The American Voter“ unterschieden Campbell u. a. zwischen persönlichen Qualitäten von Präsidentschaftskandidaten (Integrität, Sympathie, Vertrauenswürdigkeit, intaktes Familienleben etc.) und ihren politischen Fähigkeiten (Unabhängigkeit, Führungsstärke, Erfahrung etc.) Inzwischen ergaben sich in Untersuchungen der Kandidatenorientierungen in Deutschland vier relevante Eigenschaftsdimensionen: Problemlösungskompetenz, Managerfähigkeiten, Integrität und unpolitische Eigenschaften bzw. Persönlichkeitsmerkmale

Hinsichtlich der Problemlösungskompetenz ist die Bewertung der politischen Standpunkte der Kandidaten zu einzelnen Sachfragen von Interesse. Von besonderer Bedeutung sind hierbei jene Themenbereiche, die die Wähler als vordringlich ansehen. Bei den letzten Bundestagswahlen wurde von den Kandidaten stets erwartet, daß sie im Falle des Wahlsieges Maßnahmen zur Belebung der Wirtschaft sowie zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit einleiten. Zu den Managerfähigkeiten zählen u. a. Führungsstärke, Entscheidungsfreude und Tat-kraft. Diese Fähigkeiten beziehen sich zwar nicht auf konkrete politische Sachfragen, sie sind aber wichtig, wenn es um die Durchsetzung politischer Positionen geht. Die Integritätskomponente umfaßt den Eindruck, der zur Wahl stehende Politiker sei ein ehrlicher Mensch oder ein vertrauenswürdiger Politiker. Die unpolitischen Merkmale schließlich stehen nicht mit der Ausübung der politischen Rolle im engeren Sinne in Verbindung, gewinnen aber der Personalisierungshypothese zufolge in der „Mediendemokratie“ an Bedeutung. Für den Wahlerfolg eines Kandidaten ist demnach eine angenehme Ausstrahlung ebenso wichtig wie der Umstand, daß er als Mensch sympathisch wirkt.

Die Bewertungen von Kandidaten auf diesen Eigenschaftsdimensionen hängen relativ stark miteinander zusammen. Personen, die Kohl Problemlösungskompetenz absprechen, bezweifeln meist auch seine Managerfähigkeiten. Und diejenigen, die Schröder sympathisch finden, halten ihn in der Regel auch für vertrauenswürdig. Je vorteilhafter ein Kandidat hinsichtlich der genannten Eigenschaftsdimensionen beurteilt wird, desto positiver fällt seine Gesamtbewertung aus Allerdings können die einzelnen Dimensionen für die Gesamtbeurteilung von unterschiedlich großer Bedeutung sein, zudem kann sich diese Bedeutung im Laufe des Wahlkampfes verschieben.

Unmittelbar vor der Bundestagswahl 1994 sprach die Bewertung der Kandidateneigenschaften eine klare Sprache: Helmut Kohl erhielt den Vorzug vor Rudolf Scharping. Die Wählerinnen und Wähler schrieben dem amtierenden Kanzler vor allem eine größere Tatkraft zu als dem sozialdemokratischen Herausforderer. Darüber hinaus wurde Kohl als wirtschaftspolitisch kompetenter und als glaubwürdiger eingestuft. Dieses Bild verdichtete sich während des Wahlkampfes zunehmend Ein vergleichbarer Vorsprung Kohls war im Vorfeld der Bundestagswahl 1998 zu keinem Zeitpunkt gegeben. Vielmehr lag der Kanzler von Beginn an klar hinter seinem Herausforderer zurück. Im November 1997 wurde Kohl sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern von der Mehrheit der Wählerinnen und Wähler negativ bewertet. Am stärksten zogen die Befragten die Tauglichkeit seiner Vorstellungen zur Ankurbelung der Wirtschaft in Zweifel. Zudem wies er stark negative Sympathiewerte auf. Die Wähler in den neuen Bundesländern äußerten ferner -wohl auf der Basis nicht-erfüllter Erwartungen hinsichtlich versprochener „blühender Landschaften“ -erhebliche Zweifel an der politischen Vertrauenswürdigkeit des Kanzlers. Anders stellt sich das Bild des Herausforderers dar. Er erhielt im November 1997 fast nur positive Bewertungen. Lediglich in den alten Bundesländern liegen die Einschätzung seiner Vorstellungen zur Ankurbelung der Wirtschaft sowie seine politische Vertrauenswürdigkeit knapp unter dem neutralen Nullpunkt. Ein Jahr vor der Bundestagswahl wurde Gerhard Schröder in den alten und neuen Bundesländern deutlich positiver beurteilt als Helmut Kohl. In den neuen Bundesländern fiel sein Vorsprung besonders groß aus (vgl. Tab. 1).

Im Verlaufe des Wahlkampfes änderte sich diese Lage nicht wesentlich. Allerdings entwickelte sich eine positivere Beurteilung beider Kandidaten auf allen Eigenschaftsdimensionen. Die Wähler attestierten Gerhard Schröder unmittelbar vor der Wahl durchweg positive Eigenschaften, bei Helmut Kohl hielten sich positive und negative Einschätzungen nunmehr die Waage. Vor allem das eigene politische Lager scharte sich deutlich hinter seinem Spitzenkandidaten, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Helmut Kohl konnte diesmal nicht im gleichen Umfang wie bei vorangegangenen Wahlen die CDU/CSU-Anhänger für sich einnehmen, Gerhard Schröder hingegen fand bei den eigenen Anhängern eine größere Unterstützung als die früheren sozialdemokratischen Kandidaten.

Mit großer Wahrscheinlichkeit führte die durch den Wahlkampf bewirkte Mobilisierung ferner dazu, daß sich die Abstände zwischen Kohl und Schröder mit näherrückendem Wahltermin verringerten. Trotzdem galt Gerhard Schröder auch im September 1998 noch als der wirtschaftspolitisch kompetentere, sympathischere, tatkräftigere und -in den neuen Bundesländern -als der vertrauenswürdigere Kandidat. Neben der wirtschaftspolitischen Kompetenz schlug sich vor allem der Eindruck, Schröder sei tatkräftig, in der Kanzlerpräferenz nieder. Während der amtierende Kanzler in weiten Kreisen der Wählerschaft als Mann des politischenStillstands galt, konnte sein Herausforderer mit dem Image, politische Probleme unkompliziert und zügig anzupacken, die Wechselstimmung für sich nutzen. Seine Wertschätzung basiert also zum einen auf einer themenspezifischen Kompetenz -nämlich im Bereich der Wirtschaftspolitik -, zum anderen auf dem themenunspezifischen Eindruck, politischen Stillstand zu beenden. Entgegen der Personalisierungshypothese waren unpolitische Eigenschaften auch bei der Bundestagswahl 1998 nicht von herausgehobener Bedeutung für die Kanzlerpräferenz 4. Die Problemlösungskompetenz von Kandidaten und Parteien im Vergleich Wie die Eigenschaftsprofile der Kandidaten zeigen, beurteilten die Wählerinnen und Wähler bei der Bundestagswahl 1998 den Kanzlerkandidaten der Opposition positiver als den amtierenden Regierungschef. Damit unterscheidet sich die im Jahre 1998 gegebene Situation grundlegend von der des Jahres 1994, als Kohl in der Selbstdarstellung einen Vorteil gegenüber Scharping für sich verbuchen konnte, im Hinblick auf einzelne Persönlichkeitsattribute jedoch nicht wesentlich besser bewertet worden war als sein Herausforderer Für die Bundestagswahl 1998 stehen weitere Daten zur Zuweisung von Problemlösungskompetenzen auf einzelnen Politikfeldern zur Verfügüng. Sie ermöglichen zudem einen Vergleich der Kompetenzprofile der Kandidaten mit denjenigen ihrer Parteien. Auf diese Weise läßt sich untersuchen, ob Kohl und Schröder von den Wählerinnen und Wählern perzipierte Leistungsschwächen ihrer Parteien kompensieren konnten oder ob sie diese verstärkten.

Das Thema Vollbeschäftigung lag 1998 mit klarem Abstand an der Spitze der politischen Agenda, gefolgt von der Rentensicherung und der Verbrechensbekämpfung (vgl. Tab. 2). Für diese wie für die meisten anderen politischen Themen nahmen die ostdeutschen Wählerinnen und Wähler einen deutlich größeren Problemdruck wahr als diejenigen im Westen. Bei der Frage nach der Problemlösungskompetenz der Parteien zeigen sich die aus vielen Wahlstudien bekannten Profile. Aus der Sicht der Wählerinnen und Wähler bilden die traditionellen wohlfahrtsstaatlichen Aufgaben der sozialen Sicherheit, der Gesundheitsvorsorge und der Rentensicherung die Domänen der SPD. Auf allen diesen Gebieten traut ihr die Wählerschaft eher die Lösung der anstehenden Probleme zu als der Union. In deutlich abgeschwächter Form trifft dies auch für die Ausländerintegration und die Arbeitsmarktpolitik zu. Als Stärken der Union galten die Verbrechensbekämpfung sowie die Wirtschafts-und Finanzpolitik.

Mit einigen sehr typischen -und möglicherweise wahlentscheidenden -Besonderheiten findet sich diese Kompetenzzuweisung auch bei den Kanzler-kandidaten der beiden Parteien. Der wichtigste qualitative Unterschied betrifft die Zuweisung von Kompetenz bei der Ankurbelung der Wirtschaft: Während die Befragten die Lösung dieser Aufgabe eher der Union als der SPD zutrauen, gilt dies nicht für die Kandidaten: Im Vergleich mit Kohl wird Schröder deutlich als der kompetentere Politiker angesehen. Auch auf den meisten anderen Themenfeldern erhielt Kohl von den Wählerinnen und Wählern schlechtere Noten als die von ihm geführte Partei. Dagegen wurde Schröder im Vergleich mit seiner Partei lediglich auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit schlechter eingestuft. Dies geht aber weniger auf Vorbehalte gegen Schröders Eignung als vielmehr auf eine exorbitant positive Bewertung der SPD zurück. Kohl war somit kaum dazu in der Lage, perzipierte Leistungsdefizite seiner Partei aufzufangen, und selbst in den Domänen der Unionspolitik brachte er eher einen Malus als einen Bonus. Im Unterschied zu ihm schätzte die Bevölkerung Schröder nicht nur als den kompetenteren Kandidaten ein, auf den beiden kritischen Themenfeldern Vollbeschäftigung und Ankurbelung der Wirtschaft fand der Herausforderer zudem größere Zustimmung als die SPD. Wie schon bei der Kanzlerpräferenz erbrachte der Vergleich zwischen Schröder und Schäuble eine bessere Bilanz für das Unionslager (auf tabellarische Nachweise wird verzichtet).

IV. Die Bedeutung der Kandidatenorientierungen für den Wahlentscheid

Tabelle 2: Die Problemlösungskompetenz von Kandidaten und Parteien im August und September 1998 (Angaben in Prozent) Quelle: EMNID. Die Verfasser danken Dieter Walz für die Überlassung der Daten.

Wie alle bisher präsentierten Daten belegen, schnitt Gerhard Schröder als Spitzenkandidat der SPD im Urteil der Wähler deutlich besser ab als Helmut Kohl. Die meisten Befragten favorisierten ihn als künftigen Bundeskanzler, sie bewerteten seine Arbeit positiver als die Kohls, sie hatten mehr Vertrauen zu ihm, fanden ihn sympathischer und wiesen ihm die größere Führungskompetenz zu. Zugleich waren sie davon überzeugt, daß er eher als der amtierende Kanzler dazu in der Lage sei, die anstehenden politischen Probleme zu lösen. Aber auch zwischen den beiden großen Parteien bestand ein klares Popularitätsgefälle zugunsten der SPD, das durch eine deutlich größere Problemlösungskompetenz ergänzt wurde.

In einer Situation, in der sämtliche kurz-und langfristig wirksamen Bestimmungsfaktoren des Wählerverhaltens die SPD begünstigten, stellt sich die Frage nach dem relativen Gewicht der drei Einflußfaktoren Parteiidentifikation, Problemlösungskompetenz und Kanzlerpräferenz mit besonderer Schärfe. Jedoch treten bei ihrer Beantwortung einige Schwierigkeiten auf. Die drei im sozialpsychologischen Erklärungsmodell des Wählerverhaltens enthaltenen Komponenten sind nämlich auf vielfältige Weise miteinander verflochten. Feste Anhänger einer Partei, die sogenannten Parteiidentifizierer, tendieren dazu, ihre Partei für besonders kompetent zu halten, im Regelfälle bewerten sie auch den Kandidaten ihrer Partei positiver als seinen Opponenten. Umgekehrt tragen positive Kandidaten-und Themenorientierungen langfristig zur Stabilisierung der Parteibindüngen bei. Auf Grund dieser starken Wechselwirkung der drei Faktoren ist es ausgesprochen schwierig, das Gewicht der einzelnen Erklärungsfaktoren, in unserem Falle der Kanzlerpräferenz, präzise zu bestimmen.

Wegen dieses Dilemmas ist der empirische Gehalt der Personalisierungsthese nicht exakt zu überprüfen. Man kann jedoch die Bandbreite angeben, innerhalb deren sich der Kandidateneinfluß bewegt. Wenn man bei der Erklärung der Partei-präferenz ausschließlich die Kandidatenorientierung berücksichtigt und die beiden anderen Größen nicht in die Analyse einbezieht, dann erreicht man den oberen Schwellenwert, der den originären Kandidateneffekt allerdings deutlich überschätzt Kontrolliert man vor einer Prüfung der Kandidateneffekte die Parteibindungen und gegebenenfalls noch die den Parteien zugeschriebene Problemlösungskompetenz, dann definiert man den unteren Schwellenwert, setzt aber den Einfluß der Kandidatenorientierungen mit Sicherheit zu niedrig an (vgl. Abb. 3a und 3b), weil sie ihrerseits auf die beiden anderen Größen wirken

Da sich das angesprochene Problem nicht zufriedenstellend lösen läßt, haben wir in den folgenden Teilen dieses Beitrages einen Mittelweg beschritten und bei der Analyse der Bedeutung von Kandidateneffekten zwischen Befragten mit einer langfristig stabilen Bindung an die CDU/CSU bzw. die SPD auf der einen Seite und solchen ohne Parteibindung auf der anderen Seite unterschieden. Das Vorgehen ist insofern konservativ, als die Problemlösungskompetenz der beiden Parteien vor der Kandidatenpräferenz in die Analyse einbezogen wurde.

In den Abbildungen 3a und 3b sind die Stimmen-anteile dargestellt, die bei der Wahlabsichtsfrage unmittelbar vor den Bundestagswahlen 1994 und 1998 auf die Union und die SPD entfielen. Demnach bekundeten 85 bis 98 Prozent derjenigen Wähler, die sich mit der SPD oder der Union identifizieren, die Absicht zur Wahl „ihrer“ Partei. Die zusätzlichen Stimmengewinne durch die Zuschreibung von Problemlösungskompetenz oder durch die Kanzlerpräferenz fallen dementsprechend gering aus. Diese Wählergruppe umfaßt knapp zwei Drittel sämtlicher Wählerinnen und Wähler.

Ein deutlich größeres Potential für Kandidateneinflüsse besteht bei denjenigen Personen, die sich keiner Partei verbunden fühlen. 1994 waren dies 14 Prozent (West) bzw. 25 Prozent (Ost), 1998 19 Prozent (West) bzw. 21 Prozent (Ost) sämtlicher Wählerinnen und Wähler. Vor vier Jahren hatte ein Drittel dieser Personengruppe die SPD favorisiert, die CDU/CSU kam auf 27 (West) bzw. 35 (Ost) Prozent. Der überwiegende Teil der Wähler ohne Parteiidentifikation wies entweder der Union oder den Sozialdemokraten die Kompetenz zur Lösung der als wichtig erachteten Probleme zu. Dadurch stieg der SPD-bzw.der Unions-Anteil in diesen Gruppen auf 71 bis 95 Prozent an. Ein weiterer Zuwachs aufgrund der Kanzlerpräferenz war 1994 lediglich in den alten Bundesländern durch Helmut Kohl zu verbuchen. 86 Prozent der Personen, die keine Parteiidentifikation aufwiesen, aber die CDU/CSU als kompetenteste Partei betrachteten und Kohl als Kanzler präferierten, wollten die Union wählen. Die Personengruppe ohne Parteiidentifikation und ohne Kompetenzzuweisung an eine Partei, bei der man die stärksten Kandidateneffekte erwarten darf, ist 1994 für weiterführende Analysen zu klein (ein Prozent der Wähler im Westen bzw. vier Prozent der Wähler im Osten).

Anders stellte sich die Situation vor der Bundestagswahl 1998 dar. In der Personengruppe ohne Parteiidentifikation sprachen sich im Westen 53 und im Osten 42 Prozent für die SPD aus -gegenüber einem CDU/CSU-Anteil von 21 Prozent in den alten und in den neuen Bundesländern. Dieser Sachverhalt könnte eine ausschlaggebende Rolle für den Ausgang der Bundestagswahl gespielt haben, denn er bringt die generell günstige Stim29 mung für die SPD zum Ausdruck -und zwar unabhängig von den Kompetenzzuschreibungen und der Kanzlerpräferenz. Die Erklärung für diesen bemerkenswerten Tatbestand dürfte in dem überwältigenden Wunsch nach einem Regierungswechsel liegen, den sämtliche 1998 durchgeführten Umfragen dokumentieren.

Anders als vor vier Jahren fühlte sich 1998 ein relativ großer Anteil der Wählerschaft nicht nur keiner Partei verbunden, sondern wies auch keiner der Parteien eine besondere Problemlösungskompetenz zu. Dies trifft auf knapp zehn Prozent der Wähler in den alten und 12 Prozent der Wähler in den neuen Bundesländern zu. Ihre Stimmabgabe läßt sich nach der Logik des sozialpsychologischen Modells des Wählerverhaltens auf die Kanzlerpräferenz zurückführen. Insbesondere in dieser Personengruppe kam die Zugkraft von Schröder zum Tragen: Etwa die Hälfte präferierte Schröder, nur knapp 20 Prozent bevorzugten Kohl. Eine Präferenz für Kohl bzw. Schröder führte zu einem deutlichen Anstieg des Stimmenanteils der CDU/CSU bzw.der SPD, jedoch war die Gruppe der Befragten, die Schröder den Vorzug gab, mehr als doppelt so groß wie die Gruppe der Kohl-Anhänger. Dort, wo die Kandidateneffekte unverzerrt wirksam werden konnten, fielen sie 1998 sehr stark aus.

V. Zusammenfassung und Ausblick

Abbildung 3a: Stimmenanteile der CDU/CSU bzw. der SPD nach Parteiidentifikation (PI), Themenkompetenz und Kanzlerpräferenz 1994

Quelle: DFG-Studie „Politische Einstellungen, politische Partizipation und Wählerverhalten im vereinten Deutschland“ 1994

Bei Bundestagswahlen wird die Stimmabgabe durch ein Zusammenspiel von Parteiidentifikation, Kandidatenorientierungen und Problemlösungskompetenz der Parteien bestimmt. Es wäre daher verkürzt, den Ausgang der Bundestagswahl 1998 alleine als Abwahl Helmut Kohls zu interpretieren. Allerdings gewinnen Kandidatenorientierungen, bedingt durch den sozialen Wandel in westlichen Demokratien, mehr Einfluß auf das Wahlverhalten. Unbestreitbar waren die Kanzler-kandidaten diesmal für die Stimmabgabe vieler Wählerinnen und Wähler von herausragender Bedeutung.

Unumstritten ist, daß Helmut Kohl zur schwersten Wahlniederlage der Union seit 1949 einen erheblichen Beitrag geleistet hat. Nach einer Amtszeit von 16 Jahren schätzten die Wählerinnen und Wähler den Bundeskanzler zwar als einen verdienstvollen Politiker, zugleich sahen sie in ihm aber auch einen Mann, der seine Zeit hinter sich hatte. Der Wunsch nach politischem Wandel wirkte gegen Kohl. Anders als bei vorangegangenen Bundestagswahlen gelang es ihm nicht, im Verlaufe des Wahlkampfes einen Stimmungsumschwung zu seinen Gunsten herbeizuführen. Selbst das eigene Lager ließ sich nicht mehr in dem gewohnten Umfang von ihm mobilisieren.

Vermutlich wären die Erfolgsaussichten der CDU/CSU mit Wolfgang Schäuble größer gewesen. Ob ein rechtzeitiger Führungswechsel jedoch zum Wahlsieg gereicht hätte, läßt sich kaum abschätzen. Gegen diese Annahme spricht, daß der SPD in zentralen Politikfeldern mehr Kompetenz zugesprochen wurde als den Christdemokraten -bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, der Sicherung der Renten und der Gesundheitsvorsorge sowie bei der Herstellung sozialer Gerechtigkeit. Helmut Kohl konnte dieses Defizit nicht kompensieren, er hat es sogar noch vergrößert.

Die Frage, ob dieses Ergebnis einen langfristigen Trend zur Personalisierung der Politik und der Wahlentscheidung widerspiegelt, kann derzeit nicht zuverlässig beantwortet werden. Zwar kam dem Kandidatenfaktor bei der Bundestagswahl 1998 eine größere Bedeutung zu als vier Jahre zuvor, jedoch wirkten auch die Themenorientierungen und der weitverbreitete Wunsch nach einem Wechsel zugunsten der SPD. In Analysen der zurückliegenden Bundestagswahlen konnte eine wachsende Bedeutung der Kandidatenorientierungen für den Wahlentscheid ebensowenig nachgewiesen werden wie ein höherer Stellenwert „unpolitischer“ Persönlichkeitsmerkmale. Es wird sich bei den nächsten Bundestagswahlen zeigen, ob das Jahr 1998 eine erste Etappe auf dem Weg zur stärkeren Personalisierung der Politik darstellte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Angus Campbell/Philip E. Converse/Warren E. Miller/Donald E. Stokes, The American Voter, New York u. a. 1960; zur Rezeption des Modells durch die deutsche Wahl-forschung u. a.: Jürgen W. Falter/Siegfried Schumann/Jürgen Winkler, Erklärungsmodelle von Wählerverhalten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 37-38/90, S. 3-13.

  2. Vgl. Oscar W. Gabriel/Angelika Vetter, Bundestagswahlen als Kanzlerwahlen? Kandidatenorientierungen und Wahlentscheidungen im parteienstaatlichen Parlamentarismus, in: Max Kaase/Hans-Dieter Klingemann (Hrsg.), Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1994, Opladen 1998, S. 505-536.

  3. Vgl. Max Kaase, Is There Personalization in Politics? Candidates and Voting Behavior in Germany, in: International Political Science Review, 15 (1994). S. 211-230; Jürgen Lass, Vorstellungsbilder über Kanzlerkandidaten. Zur Diskussion um die Personalisierung von Politik. Wiesbaden 1995: für die USA: Martin P. Wattenberg, The Rise of Candidate-Centered Politics. Presidcntial Elections of the 1980s, Cambridge -London 1991.

  4. Vgl. A. Campbell u. a. (Anm. I).

  5. Vgl. O. W. Gabriel/A. Vetter (Anm. 2), S. 508.

  6. Vgl. u. a. Angelika Vctter/Frank Brettschneider. „Idealmaße“ für Kanzlerkandidaten, in: ZUMA-Nachrichten. 43 (1998).

  7. Vgl. Jürgen W. Falter/Hans Rattingcr. Die deutschen Parteien im Urteil der öffentlichen Meinung 1977-1994, in: Oscar W. Gabriel/Oskar Niedermayer/Richard Stöss (Hrsg.).

  8. Vgl. u. a. J. Lass (Anm. 3).

  9. Vgl. O. W. Gabriel/A. Vetter (Anm. 2); M. Kaase (Anm. 3).

  10. Vgl. O. W. Gabriel/A. Vetter (Anm. 2), S. 513-516.

  11. Dieser Trend ergab sich in den Umfragen sämtlicher Institute, und er fiel in den neuen Bundesländern noch markanter aus als in den alten.

  12. Vgl. O. W. Gabriel/A. Vetter (Anm. 2), S. 514-515.

  13. Die entsprechenden Werte befinden sich nicht in Abbildung 2, sondern in der ergänzenden Tabelle.

  14. Nach dem Ergebnis der EMNID-Umfrage vom 15. /16. 9. 1998 entfielen auf Schröder 45 und auf Schäuble 43 Prozent der Nennungen; im Vergleich Schröder -Stoiber entschieden sich 49 Prozent für Schröder und 38 Prozent für Stoiber. Die Verfasser danken Dieter Walz (EMNID) für die Überlassung der Daten.

  15. Vgl. zum Einfluß der Medienberichterstattung auf die Wahrnehmung von Kandidateneigenschaften: Frank Brett-schneider, Kohls Niederlage: Kandidatenimages und Medienberichterstattung vor der Bundestagswahl 1998, in: Peter Winterhoff-Spurk/Michael Jäckel (Hrsg.), Politische Eliten in der Mediengesellschaft. Rekrutierung -Darstellung -Wirkung, München i. E.; ders., Medien als Imagemacher? Bevölkerungsmeinung zu den beiden Spitzenkandidaten und der Einfluß der Massenmedien im Vorfeld der Bundestagswahl 1998, in: Media Perspektiven, 8/98, S. 392-401.

  16. Vgl. A. Campbell u. a. (Anm. 1), S. 55.

  17. Vgl. u. a. J. Lass (Anm. 3); A. Vetter/F. Brettschneider (Anm. 6).

  18. Vgl. Frank Brettschneider, Kohl oder Schröder: Determinanten der Kanzlerpräferenz gleich Determinanten der Wahlpräferenz?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 29 (1998), S. 401-421.

  19. Vgl. O. W. Gabriel/A. Vetter (Anm. 2), S. 518-523.

  20. Vgl. F. Brettschneider (Anm. 18), S. 417-420.

  21. Vgl. O. W. Gabriel/A. Vetter (Anm. 2), S. 518-523.

  22. Dieser „erklärt“ für Westdeutschland 67 % (1994: 66 %) und für Ostdeutschland 57 % (1994: 53 %) des Wahlentscheides.

  23. Für die Analysen haben wir die entsprechenden Variablen mit den folgenden, eingeführten Standardfragen der Wahlforschung erfaßt. Parteiidentifikation (PI): „Viele Leute neigen in der Bundesrepublik längere Zeit einer bestimmten Partei zu, obwohl sie auch ab und zu eine andere Partei wählen. Wie ist das bei Ihnen: Neigen Sie -ganz allgemein gesprochen -einer bestimmten Partei zu? Wenn ja, welcher?“ Codierung: -1 = Parteineigung zugunsten der SPD oder Bündnis 90/Die Grünen, 0 = keine Parteineigung, + 1 = PI zu Gunsten der CDU/CSU oder der FDP. Die wenigen Befragten mit einer Neigung zugunsten einer anderen Partei bleiben in den Analyse unberücksichtigt. Themenorientierungen: „Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Probleme, die es heute in der Bundesrepublik zu lösen gilt?“ Anschließend: „Das für Sie wichtigste Problem ist. . . Welche Partei ist Ihrer Meinung nach am besten geeignet, dieses Problem zu lösen?“ Und: „Das für Sie zweitwichtigste Problem ist . .. Welche Partei ist Ihrer Meinung nach am besten geeignet, dieses Problem zu lösen?“ Codierung: -1 Problemlösungskompetenz der SPD oder Bündnis 90/Die Grünen, 0 = keine Partei, + 1 = Problemlösungskompetenz der CDU/CSU oder der FDP. Kanzlerpräferenz: Fragewortlaut vgl. Tab. 1. Codierung: -1 = Schröder, 0 = keiner von beiden, + 1 Kohl. Pearsons R für den Zusammenhang zwischen der PI und der Parteikompetenz beträgt . 74 (West) bzw. . 68 (Ost); zwischen PI und Kanzlerpräferenz = . 73 (West) bzw. . 65 (Ost); zwischen Parteikompetenz und Kanzlerpräferenz = . 75 (West) bzw. . 65 (Ost).

Weitere Inhalte

Oscar W. Gabriel, Dr. rer. pol., geb. 1947; seit 1992 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Stuttgart, zuvor an den Universitäten Bamberg und Mainz; 1998/99 Gastprofessor an der Universität Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen zur politischen Kultur und zur Wahlforschung. Frank Brettschneider, Dr. rer. pol., geb. 1965; seit 1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart. Veröffentlichungen zur politischen Kommunikation und zur Wahl-und Einstellungsforschung.