Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Wer zu spät geht, den bestraft der Wähler. Eine Analyse der Bundestagswahl 1998 | APuZ 52/1998 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 52/1998 Wer zu spät geht, den bestraft der Wähler. Eine Analyse der Bundestagswahl 1998 Die Bundestagswahl 1998: Ein Plebiszit gegen Kanzler Kohl? „Annäherung durch Wandel“? Das Wahlverhalten bei der Bundestagswahl 1998 in Ost-West-Perspektive Der Einfluß der Wirtschaftslage auf die Wahlentscheidung bei den Bundestagswahlen 1994 und 1998

Wer zu spät geht, den bestraft der Wähler. Eine Analyse der Bundestagswahl 1998

Matthias Jung/Dieter Roth

/ 36 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Bundestagswahl 1998 haben in erster Linie Helmut Kohl und die Union verloren. Da es sich jedoch um ein Nullsummenspiel handelt, wenn es um die Umsetzung der gültigen Stimmen in politische Macht geht, hat die SPD und die neue Koalition zwangsläufig diese Wahl gewonnen. Bei dieser Wahl ging es nicht um einen grundsätzlichen Politikwechsel -zumindest läßt sich eine solche Zielsetzung nicht aus den Einstellungen der Wähler zu den Parteien, den Politikern und den zu lösenden Problemen ablesen -, sondern es ging um einen Wechsel der verantwortlichen Politiker in der Regierung. Da die Union den Wählern keine anderen Kandidaten als Kohl angeboten hat, haben die Wähler Schröder die Macht übereignet. Da der Kanzler aber nicht direkt wählbar ist, mußten die Wähler Parteien ihre Stimme geben. Dabei war es bis zuletzt unklar, mit welcher Koalition der Wechsel im Kanzleramt kommen würde. Das Harmoniebedürfnis in großen Teilen der Wählerschaft und das mangelnde Verständnis für Politik als die notwendige Auseinandersetzung um beste Lösungsmöglichkeiten in demokratischen Ordnungsformen haben vor der Wahl dazu geführt, daß eher eine große Koalition als die wünschenswertere Alternative zur alten CDU/CSU/FDP-Regierung angesehen wurde. Die Wahl hat jedoch die eigentlich mehrheitlich nicht gewünschte rot-grüne Koalition klar an die Macht gebracht. Wenn die neue Regierung ihrem Anspruch gerecht wird, eine bessere Politik zu machen und nicht nur eine andere, wird ihr aus diesem Sachverhalt kein Problem erwachsen.

I. Einleitun

Schaubild 1: Zufriedenheit mit Regierung und SPD-Opposition Quelle: Forschungsgruppe Wahlen e. V.: Politbarometer.

Bei der Bundestagswahl am 27. September 1998 haben zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik die Wähler einen Regierungs-und Machtwechsel herbeigeführt. Alle früheren Veränderungen der Regierungen auf Bundesebene waren durch den Wechsel des Koalitionspartners oder eine Neuorientierung eines Koalitionspartners ausgelöst worden. Mit einem Vorsprung von 21 Sitzen, davon 13 aufgrund von Überhangmandaten zugunsten der SPD, verfügt die rot-grüne Koalition über eine vergleichsweise komfortable Mehrheit im neuen Bundestag. Da die neue Regierungskoalition im Bundesrat gleichzeitig über eine deutliche und durch die Ergebnisse der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern, die am gleichen Tag wie die Bundestagswahl stattfand, nochmals vergrößerte Mehrheit verfügt, hat die Regierung unter Gerhard Schröder, anders als die unter Helmut Kohl nach 1991, eine institutionell abgesicherte Machtfülle wie kaum eine Regierung in der Nachkriegsgeschichte.

Tabelle 4: Parteianteile in traditionellen Wählermilieus bei der Bundestagswahl 1998 (in Prozent)

Wenn trotzdem Zweifel an der Stabilität der neuen Koalition angebracht sein mögen, so sind diese eher genereller Art. Es gibt in den Programmen von SPD und Grünen Unterschiede, die zu Konflikten führen können, insbesondere im Bereich der Steuerpolitik oder auch in der Außenpolitik. Darüber hinaus gibt es in beiden Parteien, sowohl was die Führungspersonen als auch einzelne Gruppen mit stärker abweichenden Vorstellungen angeht, machtpolitisches Krisenpotential, das die Stabilität der Regierung beeinträchtigen könnte. Dennoch werden ähnlich wie im Wahlkampf 1998 alle an dieser Koalition beteiligten Kräfte die Chance, den Politikwechsel in Deutschland zu etablieren, nicht gefährden wollen. Zumindest im Verhältnis zu den Grünen verfügt die SPD zudem über das disziplinierende Element einer rein rechnerisch möglichen sozialliberalen Koalition, die allerdings nur über eine Mehrheit von 13 Sitzen verfügen würde.

Bundestagswahlen 1949-1998 Zweitstimmen-Anteil der Parteien in Prozent. Quelle: Erich Schmidt Verlag

Bei der Beurteilung der Erfolgschancen einer rot-grünen Regierung spielt die Bewertung des Wahlergebnisses und seiner Ursachen eine zentrale Rolle. Ist das Wahlergebnis Ausdruck eines Wunsches nach einem grundsätzlichen Politikwechsel oder in erster Linie nach einem Wechsel an der Spitze der Regierung nach 16 Jahren Kanzlerschaft Kohl? Zeigt dieses Wahlergebnis, daß in Deutschland -nicht zuletzt aufgrund der einheitsbedingten Veränderungen -die strukturelle bürgerliche Mehrheit zerfällt? Und wenn dies der Fall ist, gibt es dann eine neue links-alternative Mehrheit in Deutschland, oder sind die ideologischen Positionen der Parteien Ende dieses Jahrtausends so weit aufgelöst und mit ihnen die entsprechenden Partei-bindungen, daß politische Mehrheiten heute von der weiter wachsenden Zahl der Wechselwähler diktiert werden? Und wenn dieser Befund richtig ist, was bedeutet dies für die Präsentation von Politik, bis hin zu der Gestaltung von Wahlkämpfen, und was bedeutet es für die Regierungen? Weiterhin bleibt die Frage nach einem möglichen dauerhaften ostspezifischen Wahlverhalten auf der Untersuchungs-Agenda ebenso wie die nach Angleichungsprozessen zwischen Ost und West acht Jahre nach der Vereinigung. Auch wenn die Bundestagswahl nicht, wie von den verschiedensten Medien vermutet, im Osten entschieden wurde, so muß dem Phänomen PDS im Osten verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt werden, weil die etablierten Westparteien nach wie vor nicht über die notwendigen personellen und organisatorischen Potentiale sowie die (emotionale) Anziehungskraft verfügen, um die Unzufriedenheit aufgrund des schwierigen Einigungsprozesses innerhalb des zweifelsfrei demokratischen Parteienspektrums aufzufangen und zu kanalisieren.

II. Die politische Ausgangslage dieser Wahl

Schaubild 2: WEST: Eine starke Parteiidentifikation haben ... Quelle: Forschungsgruppe Wahlen e. V.: Politbarometer (Jahresdurchschnittswerte).

Wahlen werden nicht aus dem Stand heraus gewonnen, und sie werden nicht zufällig verloren. Wie bei jeder anderen Wahl ist auch das Ergebnis vom 27. September 1998 nur aufgrund seiner Geschichte zu erklären. Im vorliegenden Fall ist sie 16 Jahre alt und sehr eng mit der Person Helmut Kohl verbunden. Das Wahlergebnis 1998 hat eine Reihe von Einmaligkeiten, die im Widerspruch zu stehen scheinen mit der bisherigen langfristigen Stabilität im Wahlverhalten der Deutschen, die ja schließlich die Basis für die lange Regierungszeit der bisherigen Koalition unter Helmut Kohl bildete. Jetzt aber gab es die größten Veränderungen bei Bundestagswahlen überhaupt, und ein Großteil des zu beobachtenden Wechsels fand zwischen den beiden großen Volksparteien statt. Gleichzeitig aber haben zum ersten Mal drei kleine Parteien die Fünf-Prozent-Hürde überschritten und weitere 27 Parteien den Einzug ins Parlament verfehlt, aber zusammen immerhin 5, 9 Prozent der gültigen Zweitstimmen erreicht, der höchste Anteil „sonstiger Parteien“ seit 1957. Dies sind erstaunliche Veränderungen in einem Land mit mehrheitlich bürgerlich-konservativen Einstellungen, in einem reichen Land, in dem ein wichtiges Ziel die Erhaltung des Status quo ist und man bisher davon ausgehen konnte, daß die sozialen und ökonomischen Strukturen eher die Union als die Sozialdemokraten begünstigten. Gleichzeitig gab es aber auch -zumindest seit sich diese Republik Ende der siebziger Jahre vom alten Zweieinhalb-Parteiensystem verabschiedet hat -ein stetig steigendes Potential wechselbereiter Wähler, das die Wahrscheinlichkeit eines Regierungswechsels erhöhte.

Die Parteien im Bundestag. Abgeordnetensitze 1949-1998. Quelle: Erich Schmidt Verlag

Der vielfach thematisierte Rückgang der Partei-bindungen (vgl. Schaubild 2: Parteiidentifikation von 1977-1998, S. 6) konnte vor allem mit dem generellen Strukturwandel der bundesrepublikanischen Gesellschaft begründet werden. Der stetig wachsende Anteil wechselbereiter Wähler im Elektorat war also keine Überraschung, aber die Frage blieb, warum die beiden großen Parteien ihre großen Anteile an den Wählerstimmen behielten und es ihnen auch nicht gelang, in die Klientel der jeweils anderen Partei mehrheitsverändernd einzudringen.

Man muß die 16jährige Regierungszeit der unionsgeführten Bundesregierung wohl in zwei Phasen einteilen. Benutzt man als ein schlichtes Kriterium für den abnehmenden Erfolg einer Regierungspartei die Stimmenanteile der Union über die vier Legislaturperioden, so muß man feststellen, daß die CDU/CSU seit der Übernahme der Regierungsmacht 1982/83 stetig verloren hat, und dies selbst bei der Wahl 1990, die ja nur zwei Monate nach der vollzogenen Einheit stattfand. Die Entwicklung zur Einheit hatte der Union damals (ab dem Frühjahr 1990) einen starken Stimmungsaufschwung gebracht und ihr aller Wahrscheinlichkeit nach den Machterhalt gesichert. Denn wenn man die Umfragedaten von 1989 bis Anfang 1990 betrachtet sowie die davor aktuellen Probleme und die den Parteien damals zugeschriebenen Lösungskompetenzen, dann gibt es gute Argumente für die Hypothese, daß ein Regierungswechsel 1990 ohne die deutsche Einheit sehr wahrscheinlich gewesen wäre. Ein dadurch entstehender Achtjahresrhythmus hätte durchaus auch der gewachsenen Veränderung im Wahlverhalten entsprochen und auch den Möglichkeiten einer Regierung, Veränderungen in einer Gesellschaft zu entsprechen bzw. Bemühungen um Statussicherungen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu begegnen oder sie sogar zu erfüllen. Verstärkt wird das Argument durch die Tatsache, daß am Ende der achtziger Jahre, zumindest auf der Ebene der Landtagswahlen, tatsächlich die Wähler verstärkt für Regierungswechsel gesorgt haben. Bis 1987 gab es nach HO Bundestags-und Landtagswahlen nur siebenmal einen Wechsel der Regierung oder der Koalition, seit 1987 wechselte die Regierung bzw. die Koalition bei 40 Wahlen achtzehnmal. Durch die außerordentliche Situation als Folge der Einheit konnte die Bundesregierung 1990 noch einmal neu starten. Dies wurde vor allem durch das Wahlverhalten der Ostdeutschen möglich, die die Regierungsparteien in unerwartet hohem Maße und mit hoher Stabilität auf allen Wahlebenen des Jahres 1990 stützten -bei der ersten freien Wahl zur Volkskammer in der DDR, den Kommunalwahlen und Landtagswahlen in den neuen Ländern und schließlich bei der Bundestagswahl. Es waren vor allem die Hoffnungen, die in die Bundesregierung bei der Bewältigung der mit der Einheit verbundenen wirtschaftlichen Probleme gesetzt wurden, die hier verhaltensrelevant wurden. Aber wie ist es um die Dauer solcher Einschätzungen bestellt?

Bei der zweiten gesamtdeutschen Bundestagswahl konnten die Regierungsparteien CDU/CSU und FDP nur äußerst knapp ihre parlamentarische Mehrheit verteidigen. Ihr Vorsprung vor den Oppositionsparteien SPD, Grüne und PDS betrug 0, 3 Prozentpunkte, und die Ergebnisse zeigten bereits damals die hohe Bereitschaft der Wähler, insbesondere im Osten, auf veränderte ökonomische und gesellschaftliche Bedingungen mit der Wahl einer anderen Partei zu reagieren. Die Veränderungen im Osten waren sehr viel stärker als im Westen. Doch der Union war es 1994 hauptsächlich wegen der positiven Erwartungen im Hin- blick auf die ökonomische Entwicklung und der mangelnden Attraktivität des sozialdemokratischen Spitzenkandidaten nochmals gelungen, das Blatt zu ihren Gunsten zu wenden. Die Dominanz wirtschaftlicher Probleme, vor allem in den neuen Bundesländern, und die traditionell der Union zugeschriebene höhere Kompetenz, diese Probleme zu lösen, haben ihr damals trotz des schwierigen wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozesses und der hohen Arbeitslosigkeit nochmals zu relativ guten Ergebnissen verholfen.

Nach dem denkbar knappen Sieg von 1994 entstand ein untypisches Stimmungsmuster: Entgegen dem sonst beobachteten Schema, nach dem eine bürgerliche Regierung im Umfeld einer Wahl Bestnoten erhält, nach einer erfolgreichen Wahl sich aber ziemlich schnell dem politischen Zustimmungstief nähert, war die Zufriedenheit mit der Bundesregierung im ersten Jahr nach dem knappen Wahlsieg vergleichsweise hoch (vgl. Schaubild 1). Der Grund war jedoch weniger eine besonders erfolgreiche Politik als vielmehr der desolate Zustand, in dem sich die SPD als Oppositionspartei präsentierte. Sie hatte sich in dieser Zeit weitgehend von der Darstellung alternativer Konzepte zur Regierungspolitik verabschiedet und sich mit innerparteilichen Führungsproblemen beschäftigt. Die Wende für die SPD kam mit dem Wechsel im Parteivorsitz am Jahresende 1995. Danach war die Partei sowohl in der Beurteilung ihrer Oppositionsarbeit als auch was die politische Stimmung anging, in einer steten Aufwärtsbewegung, die schließlich zum Wahlsieg 1998 führte. Die Zufriedenheit mit der Regierung sank im Gegenzug von Anfang 1996 bis Mitte 1997 auf ein bis dahin nicht gemessenes Tief, das bis zum Frühsommer 1998 anhielt. Danach konnten sich zwar die Union und auch der Kanzler in den verschiedenen Phasen des Wahlkampfs durchaus verbessern, jedoch keineswegs im gleichen Ausmaß wie 1994.

Betrachtet man die Entwicklung der Zufriedenheit mit Regierung und SPD-Opposition in den zwei zurückliegenden Legislaturperioden, so ergeben sich deutliche Ähnlichkeiten. Die Regierung wird spätestens im zweiten Jahr nach dem Wahlerfolg sehr kritisch beurteilt, und ihre Leistungen sinken aus der Sicht der Bevölkerung ab Mitte der Legislaturperiode auf ein lange anhaltendes Tief, aus dem sie sich erst im Wahljahr selbst -und 1998 besonders spät -wieder erholen kann. Die Beurteilung der Opposition ist nicht diametral entgegengesetzt, aber die Chancen für sie, sich positiv abzuheben, sind groß.

Die wichtigste Erkenntnis aus derartigen Messungen liegt jedoch darin, daß die Regierung selbstunter großen Anstrengungen in den verschiedenen Mobilisierungsphasen des Wahlkampfs das Ausgangsniveau der jeweils letzten Wahl in der Beurteilung nicht mehr erreichen kann. Das war in dem betrachteten Zeitraum der Fall. Trotz einer erstaunlichen Aufholjagd der Unionsparteien und des Kanzlers in der Beurteilung durch die wahlberechtigte Bevölkerung -sowohl 1994 als auch 1998 -gelang es der unionsgeführten Regierung jeweils nicht, das vorausgegangene Beurteilungsniveau wieder zu erreichen. Aufgrund des extrem knappen Vorsprungs 1994 war somit ein Scheitern der christlich-liberalen Bundesregierung vorprogrammiert, was allerdings nicht zwangsläufig eine Mehrheit für Rot-Grün implizierte.

Bei den Landtagswahlen seit 1995 hat die CDU zwar in den Stadtstaaten ihre Position relativ verbessert, doch wirkliche Durchbrüche erzielte sie nicht. Sie blieb in Nordrhein-Westfalen auf bescheidenem Niveau, und es gelang ihr lediglich in Baden-Württemberg, sich aus der großen Koalition zu befreien und zusammen mit FDP die Regierung zu bilden. In Schleswig-Holstein erreichte sie trotz Zugewinnen nicht ihr altes Niveau, und sie stagnierte trotz SPD-Verlusten in Rheinland-Pfalz. Im Bundestagswahljahr 1998 ging Niedersachsen klar an die SPD, Sachsen-Anhalt war für die CDU ein Desaster, in Bayern jedoch hielt die CSU ihre Position. Die Bilanz: Kein befreiender Trend auf der Landesebene, keine Verbesserung der Position im Bundesrat, die zur Durchsetzung von zustimmungsbedürftigen Gesetzesvorhaben notwendig gewesen wäre. Die Ausgangslage der Union für die Bundestagswahl war damit äußerst bescheiden.

Für den Koalitionspartner FDP war die Situation keineswegs günstiger. Die Liberalen blieben bei allen Landtagswahlen, außer in Hessen 1995 und bei den Wahlen im März 1996 in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein, unter der Fünf-Prozent-Hürde. Im Osten erreichten sie außer in Thüringen immer weniger als drei Prozent. Die FDP hatte trotz teilweise sehr niedrigen Ausgangsniveaus bei zehn der 16 Landtagswahlen zum Teil erhebliche Verluste; wo sie zugelegt hat, waren die Gewinne, außer in Baden-Württemberg, sehr bescheiden. Auf der Bundesebene wurde die FDP im Politbarometer bei der Wahlabsicht während der gesamten Legislaturperiode unterhalb der Fünf-Prozent-Marke gemessen. Die FDP hat keine ausreichende eigene Basis, um in irgendeinem Bundesland oder auch auf der Bundesebene ins Parlament zu kommen. Dort, wo sie auf der Landesebene erfolgreich war, wurde sie in beträchtlichem Umfang von unionsnahen Wählern gestützt; dasselbe Bild ergab sich auch bei derBundestagswahl 1998: Mehr als die Hälfte der Wähler der FDP stehen den Unionsparteien deutlich näher als der FDP, für die sie sich am Wahltag aus taktischen Überlegungen entschieden haben. Diese Situation ist nicht neu, auch 1994 kam die FDP nur mit Hilfe dieser Koalitionswähler zum Erfolg. Die taktischen Überlegungen dieser unionsnahen Wähler werden sich allerdings bei einer FDP in der Opposition wohl anders entwickeln. Die Frage nach der Überlebensfähigkeit der Freien Demokraten stellt sich also erneut, aber diesmal in bisher ungekannter Schärfe.

Die Ausgangssituation für die Grünen stellt sich deutlich anders dar. Ihre Bilanz in den Landtagswahlen seit 1995 ist zumindest bis zum März 1998 positiv. Bei allen Wahlen bis dahin hatte die Partei Zuwächse zu verzeichnen und erreichte in sechs von acht Wahlen zweistellige Ergebnisse. Auf der Bundesebene zeigte das Politbarometer ebenfalls im gesamten Zeitraum zweistellige Stimmungswerte. Diese Stimmung änderte sich dramatisch im März 1998. Bei geringen Verlusten erreichte die Partei in Niedersachsen noch sieben Prozent der Stimmen. Auf der Bundesebene sank die Sympathie für die Grünen nach ihrem Bundesparteitag in Magdeburg, auf dem sie den vieldiskutierten Beschluß gefaßt hat, den Benzinpreis in jährlichen Stufen bis auf fünf D-Mark anheben zu wollen, rapide.

Der Hauptgrund für den Rückgang der Stimmungswerte für die Grünen war jedoch darin zu sehen, daß viele Wähler, die gleichzeitig Sympathien für die Grünen und die SPD haben, nach der für Gerhard Schröder und die SPD so erfolgreichen Wahl in Niedersachsen und der Klärung der Frage des SPD-Kanzlerkandidaten eine realistische Alternative zu der damals amtierenden Bundesregierung sahen. Im gleichen Ausmaß, in dem die Stimmungswerte für die Grünen zurückgingen, stiegen diejenigen für die SPD. Die Ausgangsbasis für die Grünen war also im Wahljahr 1998 geschwächt, nicht aber die Chancen für eine alternative Koalition.

Für die PDS gab es kaum Wahlergebnisse, auf denen sie hätte aufbauen können. Im Oktober 1995 hat die PDS zwar in Berlin deutlich dazugewonnen. Daraus konnten jedoch kaum Schlüsse auf ihren generellen Stand bei den Bürgern in den neuen Ländern gezogen werden. Im April 1998 hat sie in Sachsen-Anhalt nur knapp ihr Vorwahl-ergebnis gehalten. Da diese Wahl aber unter besonderen Bedingungen verlief (hohe Wahlbeteiligungssteigerung = + 16, 7 Prozentpunkte, hoher Anteil von DVU-Wählern = 12, 6 Prozent), war sie wenig aussagekräftig. Allerdings zeigte die Sachsen-Anhalt-Wahl ein beachtliches Protestpotential, das durchaus auch für die PDS erreichbar war.

III. Die wirtschaftliche Lage und die wirtschaftlichen Erwartungen

Schaubild 3: Lieber als Bundeskanzler... Quelle: Forschungsgruppe Wahlen e. V.: Politbarometer.

Ohne Zweifel waren die positiven Erwartungen der ökonomischen Entwicklungen in der Bevölkerung im Jahre 1994 und die traditionell den Unionsparteien zugeschriebenen Kompetenzen zur Lösung wirtschaftlicher Probleme entscheidende Faktoren für den nochmaligen Erfolg der Regierung. Es war nicht das erste Mal in der Erfolgsgeschichte der Unionsparteien, daß sie die Gelegenheit wahrnahmen, die „ökonomische Karte“ zu spielen. Sie konnte die ihr traditionell zugeschriebene Kompetenz in dieser Frage bereits bei den Bundestagswahlen 1983 und 1987 nutzen (1990 war das nicht nötig). Wenn man mit solchen Strategien erfolgreich ist, dann versucht man, sie auch erneut einzusetzen. Und die Wahlkämpfer der Unionsparteien versuchten es auch 1998. Dies war nicht von Erfolg gekrönt, weil sich die Situation in wichtigen Beurteilungsbereichen verändert hat. Zwar gab es in der Einschätzung der ökonomischen Situation seit dem Frühjahr 1998 aus der Sicht der Bevölkerung eine Verbesserung, doch waren diese Hoffnungszuwächse in bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung nicht so eindeutig wie 1994, und die Stimmungswerte für die Union blieben davon weitgehend abgekoppelt. Der Grund hierfür ist, daß in den Jahren 1996 und 1997, in denen sich die Beurteilung der wirtschaftlichen Situation in Deutschland nur wenig änderte, die Kompetenzzuschreibungen für die von der Union geführte Regierung ständig abnahmen, die zugunsten einer alternativen SPD-geführten Regierung zumindest im Jahre 1997 deutlich zunahmen, aber vor allem die Gruppe derjenigen, die keiner der beiden alternativen Regierungen zutrauten, die anliegenden ökonomischen Probleme zu lösen, immer größer wurde und bereits im Spätsommer 1996 die größte Gruppe bildete. Unter solchen Bedingungen konnte die alte Strategie der Unionsparteien, sich als wirtschaftliche Problemloser darzustellen, nicht aufgehen. Die Union war in diesen Fragen unglaubwürdig geworden. Zwar hat sie in der Schlußphase des Wahlkampfes die SPD in der Frage der Wirtschaftskompetenz nochmals eingeholt und sogar leicht überholt, allerdings waren selbst zu diesem Zeitpunkt weniger Wähler der Meinung, daß eine unionsgeführte Regierung diegrößere Wirtschaftskompetenz hat, als bei der Wahl die Union gewählt haben.

Beeinträchtig wurde das wirtschaftspolitische Image der Union in hohem Maße durch das glücklose Agieren des Bundesfinanzministers Theo Waigel. Da die Union ja seit Beginn ihrer Regierungszeit im ökonomischen Bereich lediglich den Finanzminister stellte, kommt ihm in dieser Hinsicht eine zentrale Bedeutung zu. In Hinblick auf die Haushaltspolitik hat er jedoch kontinuierlich das Ansehen der Regierung beeinträchtigt, indem er in allen kritischen Situationen jeweils haltlos optimistische Positionen vertreten hat, die sich meist schon nach kurzer Zeit als unrealistisch erwiesen. Ebenfalls primär auf sein Konto geht das Scheitern der Steuerreform. Waigel hat sich lange aufgrund einer buchhalterischen anstelle einer wachstumspolitischen Mentalität gegen eine grundlegende Steuerreform gewehrt. Dadurch kam die Steuerreform so spät ins Gesetzgebungsverfahren, daß ihr Scheitern im Bundesrat unabwendbar war. Lediglich mitten in der Legislaturperiode wäre ein Kompromiß mit der SPD möglich gewesen, nicht aber in der beginnenden Wahlkampfphase. Eine Steuerreform, wie sie die alte Bundesregierung geplant hatte, hätte auch nur indirekt über die von ihr ausgehenden Wachstums-effekte zur politischen Stimmungsverbesserung beitragen können. Die dafür notwendigen Maßnahmen sind nicht unbedingt mehrheitsfähig und vergrößern die Distanz der Bevölkerungsmehrheit zur Bundesregierung. Das war auch im Herbst 1997 so. Die Reformmaßnahmen wurden auch bei der Steuerreform mehrheitlich abgelehnt. Deshalb war es auch konterproduktiv, der SPD vorzuwerfen, im Bundesrat eine Politik verhindert zu haben, die von der Bevölkerungsmehrheit abgelehnt wurde. Zustimmung zu unpopulären Maßnahmen kann man nur durch entschlossenes Handeln erreichen.

Aber selbst wenn es der Bundesregierung gelungen wäre, wieder einen zu 1994 vergleichbaren Kompetenzvorsprung beim Thema Wirtschaft zu erzielen, wäre es noch lange nicht ausgemacht gewesen, daß davon ein vergleichbar positiver Effekt wie 1994 für die politische Zustimmung zu erzielen gewesen wäre. In der Zeit nach 1994 hat sich nämlich zunehmend gezeigt, daß auch nennenswert hohes Wirtschaftswachstum nicht unbedingt mit einem substantiellen Rückgang der Arbeitslosigkeit verbunden sein muß.

Das Thema Arbeitslosigkeit aber beherrschte die politische Agenda während der gesamten Legislaturperiode. Im Osten war die Arbeitslosigkeit schon seit der Einheit Thema Nummer eins, ab Herbst 1993 führte es auch im Westen die Themenliste an und gewann noch höhere Bedeutung im Laufe des Jahres 1995. Seit Anfang 1997 nennen über 80 Prozent der Befragten des Politbaroineters

im Jahresdurchschnitt Arbeitslosigkeit als das wichtigste Problem in der Bundesrepublik (offene Frage, zwei Antwortmöglichkeiten). Zwar ist es richtig, daß nach wie vor nur eine Minderheit in der Bevölkerung eine unmittelbare Betroffenheit durch Arbeitslosigkeit empfindet. Rund drei Viertel der Berufstätigen geben an, einen sicheren Arbeitsplatz zu haben. Etwa ein Sechstel sieht den eigenen Arbeitsplatz als gefährdet an, und weitere zehn Prozent sind bereits arbeitslos. Allerdings führt die anhaltende Diskussion über dieses ungelöste Thema in den Medien und durch die Politiker selbst zu hoher Unsicherheit über die Auswirkungen auf die Wirtschaft und damit auch auf die eigene Situation der Wähler. Die versprochene Halbierung der Arbeitslosigkeit durch Helmut Kohl war aus der Sicht der Wähler zu allen Zeiten unglaubwürdig und hat die Position der Bundesregierung in bezug auf ökonomische Problemlösungen deutlich geschwächt. In der Frage der Über-windung der Arbeitslosigkeit war eine Mehrheit der Bevölkerung bis Anfang 1998 der Meinung, daß weder eine unionsgeführte noch eine SPD-geführte Bundesregierung in der Lage sei, Arbeitsplätze zu schaffen. Der unionsgeführten Regierung traute man hierbei fast überhaupt nichts zu, während die relative Mehrheit einer SPD-geführten Regierung hier die Kompetenzen zuordnete. Dieser Vorsprung hat sich zwar unmittelbar vor dem Wahltermin etwas verengt, trotzdem hatte die SPD bzw. eine SPD-geführte Regierung eindeutige Vorteile bei der Kompetenz zur Schaffung von Arbeitsplätzen.

IV. Andere politische Probleme

Schaubild 4: Was halten Sie von ... Quelle: Forschungsgruppe Wahlen e. V.: Politbarometer.

Im Vergleich zu den wirtschaftlichen Problemen treten auch 1998, wie schon 1994, weitere Themen im Bewußtsein der Bevölkerung deutlich in den Hintergrund. Etwa gleichrangig folgen nach der Arbeitslosigkeit als vordringlich zu lösende Probleme unmittelbar vor der Wahl die innere Sicherheit, die Alterssicherung, das Asyl-und Ausländerproblem sowie die offenen Fragen bei Steuern und Steuererhöhungen. Jeweils zwischen zehn und 13 Prozent der Befragten nennen diese Probleme spontan als die wichtigsten (bei zwei möglichen Nennungen). Ein Vergleich mit 1994 zeigt, daß vorallem das Ausländerproblem deutlich dringlicher eingestuft wurde.

Bei der Bekämpfung der Kriminalität wird der Union (34 Prozent) größere Kompetenz zugeordnet als der SPD (19 Prozent). Die Sicherung der Renten versprechen sich die Deutschen dagegen häufiger von der SPD (38 Prozent) als von der Union (28 Prozent). Bei der Lösung der staatlichen Finanzprobleme liegt die CDU/CSU (35 Prozent) leicht vor der SPD (30 Porzent). Bei Umweltproblemen hat keine der beiden Volksparteien das mehrheitliche Vertrauen. Vielmehr meinen 39 Prozent der Wahlberechtigten, daß am ehesten die Grünen eine Umweltpolitik in ihrem Sinne machen. Von Union und SPD sagen dies jeweils weniger als ein Fünftel. In der Frage der Stabilität der Währung und im Bereich der Außen-und Sicherheitspolitik besitzt die Union das eindeutig größere Vertrauen der Wählerschaft. Allerdings stehen diese Problembereiche nicht an prominenter Stelle in der Rangfolge der Wichtigkeit. Darüber hinaus hat eine Oppositionspartei bei diesen Themen wenig Chancen der Profilierung und fast keine für einen wirklichen Leistungsnachweis. Nicht unerheblich für den Ausgang der Wahl war sicherlich, daß der größere Teil der Deutschen eher der SPD als der Union zutraut, die künftigen Probleme des Landes zu lösen. Der Vorsprung der Sozialdemokraten war zwar nicht allzu groß, aber das Ergebnis unterstreicht, daß in der Bevölkerung eine Stimmung für Veränderung vorgeherrscht hat, denn gerade bei der Lösung der Zukunftsprobleme hat eine amtierende Regierung in der Regel Vorteile. Daß die SPD als die zukunftsfähigere Partei angesehen wurde, steht im Einklang mit dem mehrheitlichen Wunsch, daß andere Parteien in Bonn regieren sollten.

Bei allen erwähnten Problemen trauen zwischen einem Achtel und einem Fünftel der Wahlberechtigten keiner Partei eine Lösung zu. Diese Nennungen sind während der Legislaturperiode in der Regel deutlich höher gewesen. Im Wahlkampf gelang es den Parteien, ihre Kompetenzen zur Lösung der Probleme besser darzustellen oder zumindest ihre Klientel von ihrer Leistungsfähigkeit zu überzeugen.

Insgesamt muß man jedoch festhalten, daß der Kompetenzvorsprung der SPD vor der Union nicht so eindeutig war, daß man daraus das Wahlergebnis erklären könnte. Vielmehr muß man davon ausgehen, daß nicht hauptsächlich die Orientierung der Wähler an den Problemen und deren Lösungen durch die Parteien zum Vorsprung der SPD vor der Union und zum Regierungswechsel geführt hat, sondern darüber hinaus andere Motive für den Wechsel zu suchen sind, die in erster Linie in den Personenalternativen liegen, die bei dieser Wahl angeboten wurden.

V. Die Kanzlerkandidaten

Tabelle 1: Parteianteile nach Alter und Geschlecht bei der Bundestagswahl 1998 (in Prozent)

Der Einfluß der Spitzenkandidaten wird in der Fachliteratur, zumindest für Deutschland, eher nachrangig hinter den Problemlösungskompetenzen der Parteien und den sozialstrukturell verankerten und langfristig tradierten Bindungen an die Parteien eingestuft.

In den Medien und auch bei den Politikern besteht hingegen eine Tendenz, den Einfluß der Kandidaten bei Wahlen grundsätzlich zu überschätzen. Allerdings müssen wir feststellen, daß dieser Einfluß sowohl durch die Strategien der Parteien als auch durch die veränderten Kommunikationsmöglichkeiten und vor allem durch die reduzierten Parteibindungen in den letzten Jahren zugenommen hat. Zusätzlich hat sich die Situation durch das größer gewordene Deutschland verändert. Ohne Zweifel ist der Personeneinfluß auf das Wahlverhalten in den neuen Bundesländern wegen der dort fehlenden sozialisierten Bindungen an die Parteien größer. Das häben z. B. die Ergebnisse bei den Landtagswahlen 1994 in Sachsen und Brandenburg deutlich gezeigt. Beide Wahlen fanden am gleichen Tag statt, und es kam bei nicht allzu unterschiedlichen Problemlagen in diesen Ländern zu jeweils absoluten Mehrheiten verschiedener Parteien, die überwiegend auf die Spitzenkandidaten zurückgeführt werden können. Allerdings handelt es sich dabei um Landtagswahlen, in denen „Landesfürsten“ besondere Möglichkeiten auch einseitiger Mobilisierung haben. Trotzdem zeigen die kurz vor der Bundestagswahl erhobenen Daten auch 1998, daß die. Personeneffekte in den neuen Bundesländern immer etwas stärker ausfallen als in den alten Bundesländern. So wurde z. B. Kohl als Bundeskanzler im Osten deutlich weniger gewünscht als im Westen, obwohl seine Leistungsbewertung im Osten und Westendiesselbe ist. Umgekehrt wurde Schröder im Osten deutlich stärker als Bundeskanzler gewünscht, bei ebenfalls gleichen Leistungsbewertungen in den neuen und alten Bundesländern. Aber auch im Westen haben sich die relativen Gewichte der Einflußfaktoren auf das Wahlverhalten zugunsten der Personenkomponente zumindest bei dieser Wahl verändert. Bei der stärkeren Konzentration auf die Kandidaten gibt es eine seltsame Koalition zwischen den Parteien und den Medien. Beide glauben aus dieser Entwicklung Nutzen zu ziehen. Bei der Vereinfachung von Politik im Wahlkampf treffen sich die Interessen. Die Medien, insbesondere die elektronischen, brauchen Bilder, und dabei steigen die Chancen der Politiker, diesen Bedarf zu decken, weil Politik mit und an Personen leichter darzustellen ist als ohne sie. Damit erhöhen sich auch die Möglichkeiten der Inszenierung von Politik, was hauptsächlich hinter dem Schlagwort der „Amerikanisierung des Wahlkampfes“ steht.

Im Wahlkampf 1998 haben die beiden Volksparteien ihre Kandidaten für das Bundeskanzleramt besonders stark in den Mittelpunkt gerückt. Es gab auch bei früheren Wahlen den Versuch, insbesondere von Seiten der Amtsinhaber, den Wahlkampf stark zu personalisieren („Auf den Kanzler kommt es an!“); neu ist jedoch, daß der Herausforderer bzw. die große Oppositionspartei die Personenkomponente derart ins Zentrum der politischen Diskussion stellt und die Medien so willig darauf eingehen. Schließlich hat die SPD Presse und Fernsehen mehr als ein Jahr damit beschäftigt, indem sie die Frage, wer nun Kanzlerkandidat werden sollte, nicht entschied. Da Zweikämpfe oder vermeintliche Zweikämpfe aus der Sicht der Medien besonders interessant sind, bot diese Nichtentscheidung der SPD immer wieder reichlich Stoff für Spekulationen, und die Beobachtung der beiden möglichen Kandidaten band viele Kapazitäten, die dann für die Beschäftigung mit Inhalten nicht mehr zur Verfügung standen.

Andererseits hatte zunächst einmal Helmut Kohl diese Chancen der SPD selbst eingeleitet. Nachdem er seine Zusage, die er völlig unerwartet gegen Ende des Wahlkampfes 1994 gemacht hatte, 1998 nicht noch einmal anzutreten, zurücknahm, erhielt die SPD ein weiteres Mal eine Chance, mit einem neuen Spitzenkandidaten gegen den zwar zunehmend respektierten, aber immer unbeliebten Kanzler Kohl anzutreten. Gerhard Schröder ist der fünfte Kandidat der SPD in fünf aufeinander folgenden Wahlen. Nachdem sich Kohl im Frühjahr 1997, bezeichnenderweise in einer Fernsehsendung aus seinem Urlaubsort, endgültig dafür entschied, daß er nochmals zur Wahl antritt, entstand ein vermeintlicher Druck auf die Opposition, ihrerseits einen Kandidaten zu präsentieren. Dies zu artikulieren und einzufordern machten die Medien zu ihrer Aufgabe.Nach der Landtagswahl in Niedersachsen am 1. März 1998, bei der es wegen der Frage des Kanzlerkandidaten der SPD auch noch zu einer einseitigen Mobilisierung in der Wählerschaft zugunsten der Sozialdemokraten kam, war die Konzentration auf die Kandidaten von Seiten der Medien noch stärker und wurde wegen des deutlichen Sympathievorsprungs von Gerhard Schröder vor Helmut Kohl von Seiten der SPD noch aggressiver betrieben. Nach den Erfahrungen der beiden vorherigen Bundestagswahlen, insbesondere aber der Wahl von 1994, erschien die Unionsstrategie, auf die „Lokomotive“ Kohl zu setzen, erfolgversprechend. Die Qualitäten Helmut Kohls als Wahlkämpfer und sein immer wieder vorgetragener und nicht zu erschütternder Optimismus im Hinblick auf eine ökonomische Aufwärtsentwicklung und damit den Erfolg der Union ließen den gleichzeitig in der Bevölkerung gemessenen mehrheitlichen Verdruß über den Bundeskanzler zumindest bei Unionspolitikern immer wieder in den Hintergrund treten. Auch die Entscheidungsstrukturen in der Union ließen es nicht zu, auf sich abzeichnende Verluste, die zum großen Teil ihre Ursachen in der Person Kohls und seiner schon 16jährigen Regentschaft hatten, zu reagieren.

Helmut Kohl war 1994 unzweifelhaft ein bedeutender Faktor bei der Verteidigung der Regierungsmehrheit. Zunächst schienen die hohen Sympathiewerte nach seiner „Wiedergeburt“ im Wahlkampf 1994 auch noch im Jahre 1995 zu halten und sich sogar zu stabilisieren. Aber auch diese Entwicklung war nur die Resultante aus der schlechten und immer schlechter werdenden Beurteilung des damaligen Oppositionsführers Rudolf Scharping. Mit dem Wechsel an der Parteispitze der SPD veränderte sich auch die Einschätzung von Helmut Kohl, der neue, sehr viel mehr Erfolg versprechende Gegner bekommen hatte. Die Kritik am Bundeskanzler wuchs, seine Beurteilungswerte sanken nahezu stetig. Mit Beginn der zweiten Hälfte der Legislaturperiode sank Kohls Einschätzung in den negativen Bereich der Beurteilungsskala von + 5 bis -5 (vgl. Schaubild 4). Gleichzeitig stiegen die Werte für Gerhard Schröder, der, obwohl noch weit entfernt von einer Nominierung, bereits 1996 Helmut Kohl erreicht hatte und ihn 1997 immer deutlicher überflügelte. Allerdings gab es auch in der CDU einen Politiker, der nicht nur das große Vertrauen der Unionsanhänger, sondern auch beachtliches Ansehen bei den Anhängern aller anderen Parteien und ebenauch bei der SPD genoß: Wolfgang Schäuble. Während Helmut Kohl die Wählerschaft deutlich polarisierte, konnte Wolfgang Schäuble viele Wähler, die weniger starke Bindungen an eine bestimmte Partei hatten, für sich einnehmen.

Die gute Beurteilung von Wolfgang Schäuble nach der gewonnenen Wahl 1994 blieb ziemlich konstant über die gesamte Legislaturperiode, er verbesserte sich sogar mit dem Herbst 1997 und lag damit weit vor dem Bundeskanzler. Fragen einer Kanzlerkandidatur Schäubles anstelle von Helmut Kohl wurden in den Medien immer wieder ventiliert und diskutiert, insbesondere während der langanhaltenden schlechten Berurteilungsphase von Kohl und der Partei, doch fanden sich bekanntlich keine „Königsmörder“ in der Union. Helmut Kohls schlechte Bewertungen hielten bis zum Frühsommer 1998, er war ohne Zweifel eine starke Belastung für die Partei. In der Frage nach dem gewünschten Kanzler hatte Gerhard Schröder seit dem Frühjahr 1997 einen soliden Vorsprung, der nach seiner Nominierung zum Spitzenkandidaten nie vorher gemessene Dimensionen annahm (vgl. Schaubild 3). Zeitweilig (April und Mai 1998) betrug der Abstand zwischen beiden Bewerbern 40 Prozentpunkte. Zwar konnte Helmut Kohl in der heißen Phase des Wahlkampfes und der dann natürlicherweise einsetzenden Polarisierung diesen Vorsprung des Herausforders deutlich verringern, doch blieb auch am Wahltag eine Differenz zugunsten Schröders (13 Prozentpunkte), die bei bisherigen Wahlen nie vorgekommen war. Im Osten betrug der Vorsprung von Schröder vor Kohl sogar 21 Prozentpunkte.

Während Kohl im Wahljahr 1994 verlorenes Terrain gegenüber dem damaligen Herausforderer Scharping rechtzeitig zurückholen konnte und auch im Profil der politischen Eigenschaften kurz vor der Wahl wieder dominierte, gelang ihm dies 1998 in den entscheidenden Zuordnungen nicht mehr. Zwar sahen die Deutschen Helmut Kohl eher als den integeren, seriösen Politiker an. Er galt als verantwortungsbewußter, als derjenige, der deutsche Interessen besser vertritt, und er hatte auch noch leichte Vorteile bei den Eigenschaften Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit. Aber Gerhard Schröder war ohne Zweifel der populärere Politiker mit der Ausstrahlung des Machers sowie der Aura des Siegertyps, ein Sympathieträger par excellence, der außerdem eben auch eindeutig als derjenige gesehen wurde, der eher die zukünftigen Probleme Deutschlands lösen kann. Bei einer derartigen Beurteilung der politischen Eigenschaften von Kanzler und Herausforderer sowie der beschriebenen Problemlage aus der Sicht der Wähler überrascht dann der Vorsprung von Gerhard Schröder in der Frage nach dem gewünschten Bundeskanzler nicht mehr. Die generelle Stimmung, daß die Regierung in Bonn und die sie tragenden Parteien, aber auch der Bundeskanzler die anstehenden Probleme nicht mehr mit der notwendigen Kraft anpacken oder sogar lösen könnten, hatte sich schon früh herausgebildet, und auch Helmut Kohl konnte diese Grundstimmung nicht mehr wenden. Insbesondere wäre dazu spätestens im Herbst 1997 eine umfassende Umbildung des Bundeskabinetts notwendig gewesen, die die Perspektiven für die Zukunft auf der Ebene der Personalpolitik hätte aufzeigen müssen. Für Kohl war diese Wahl somit auch eine klare persönliche Niederlage. Daß er mit aller Macht darauf bestanden hat, alles auf eine Karte zu setzen, noch nicht einmal ein gemeinsames Plakat Kohl/Schäuble den Wählern angeboten hat, wird auch in der Retrospektive die zweifelsfreien großen Verdienste Kohls für seine Partei empfindlich schmälern. Auch wenn der Verlust der Mehrheit für die christlich-liberale Koalition kaum zu verhindern gewesen wäre -daß die Union so weit hinter die SPD gefallen ist, geht zum überwiegenden Teil auf das Konto Kohls und seines Realitätsverlustes.

VI. Wechsel im Wahlverhalten sozialer Gruppen

Tabelle 2: Parteianteile nach Alter und Geschlecht (in Prozent) Nur neue Bundesländer inkl. Berlin

Bei so starken Veränderungen wie bei dieser Wahl ist es besonders interessant, der Frage nachzugehen, ob dies ein genereller Trend in der Gesellschaft ist oder ob er in bestimmten sozialen Gruppen stärker auftritt. Wenn es richtig ist, daß die traditionellen Bindungen an die beiden großen Volksparteien sich lockern, dann müßten die Veränderungen vor allem dort auftreten, wo diese Bindungen wegen des starken gesellschaftlichen Wandels auch besonders deutlich sind.

Die Basis der folgenden Analysen ist die Befragung von Wählern am Wahltag durch die Forschungsgruppe Wahlen, unmittelbar nachdem die Wähler das Wahllokal verlassen haben. InWestdeutschland nahmen 15 570 Wähler an der Befragung teil, in Ostdeutschland 5 424 Wähler. In der Auswertung für die Bundesrepublik insgesamt wurden die Ergebnisse so gewichtet, daß die Befragten in Ost und West den tatsächlichen Anteilen entsprechen. Dadurch ergeben sich rein rechnerisch die in den Tabellen und Grafiken ausgewiesenen Zahlen. Für den Vergleich zu 1994 wurde die damals durchgeführte Befragung am Wahltag herangezogen, bei der sich in den alten Bundesländern 14 478 und in den neuen Bundesländern 5 458 Wähler beteiligt hatten. Alle Ergebnisse und Differenzen werden in ganzen Prozenten bzw. in Prozentpunkten dargestellt, um den Zahlen nicht eine Präzision zu verleihen, die sie bei Umfragen dieser Art nicht erreichen können. 1. Alter Die SPD ist nach der Bundestagswahl 1998 in allen Altersgruppen, außer den über 60jährigen, stärkste Partei (vgl. Tabelle 1). Der Vorsprung der Unionsparteien bei den über 60jährigen schmolz allerdings von 15 Prozentpunkten auf vier Prozentpunkte. Der Vorsprung der SPD in den anderen Altersgruppen ist unterschiedlich groß; bei den unter 25jährigen beträgt er nur vier Prozentpunkte, bei den 25-bis 34jährigen ist er mit 13 Prozentpunkten am höchsten, bei den 35-bis 44-jährigen macht er zwölf und bei den 45-bis 49jährigen sieben Prozentpunkte aus.

Die größten Veränderungen gab es bei den 45-bis 59jährigen. In dieser Altersgruppe verlor die Union neun Prozentpunkte, die SPD dagegen gewann sechs Prozentpunkte hinzu. Auch die Grünen gewannen in dieser Altersgruppe einen Prozentpunkt dazu. Die FDP dagegen verlor einen Prozentpunkt. Auch bei den über 60jährigen sind die Veränderungen überdurchschnittlich hoch. Die Unionsparteien verloren sechs Prozentpunkte, und die SPD gewinnt im gleichen Umfang.

Wenn in früheren Wahlen im stärkeren Umfang wechselndes Wahlverhalten zu beobachten war, dann in der Regel in den Altersgruppen zwischen 25 und 44 Jahren, in den Gruppen also, in denen wir die höchste Mobilität registrieren und in denen auch am häufigsten Statusveränderungen vorkommen. Bei dieser Wahl war das anders. In den unteren Altersgruppen war der Wechsel vor allem zwischen den beiden großen Parteien deutlich geringer als in den höheren Altersgruppen. In der Gruppe der 45-bis 59jährigen haben sich durch den starken Wechsel die Mehrheitsverhältnisse zwischen der SPD und den Unionsparteien umgedreht. Während 1994 hier die Unionsparteien noch acht Punkte vor der SPD lagen, liegt diese jetzt sieben Prozentpunkte vor der Union. Etwas überspitzt läßt sich formulieren, daß vor allem die älteren einen neuen Kanzler wollten.

Die Grünen, bei denen 1994 noch das gewohnte Bild galt; je jünger die Wähler desto besser die Ergebnisse für die Grünen, erhielten jetzt einheitlich rund zehn Prozent von Wählern zwischen 18 und 44 Jahren. Erst danach nimmt die Unterstützung der Grünen deutlich ab. Insofern läßt sich ein weiteres „Ergrauen“ der Wähler der Grünen feststellen: Sie behalten entgegen den bekannten Lebenszykluskonzepten ihre Parteipräferenz auchmit zunehmendem Alter bei, wobei gleichzeitig das Abschneiden der Grünen bei den ganz Jungen nicht mehr so gut ist, wie es in der Vergangenheit der Fall war.

Für die FDP gibt es in den einzelnen Altersgruppen kaum unterschiedliche Unterstützung. Gleiches gilt wie 1994 auch für die PDS. Die sonstigen Parteien haben deutliche Zuwächse in den jüngeren Altersgruppen. Dies betrifft insbesondere die drei Parteien am rechten Rand. 2. Geschlecht Während es insgesamt beim Wahlverhalten von Männern und Frauen kaum Unterschiede gibt -lediglich bei den Wählern der Grünen sind Frauen überproportional vertreten und bei den sonstigen Parteien Männer sind bei allen Parteien beachtenswerte Differenzen zu verzeichnen, sobald man das geschlechtspezifische Verhalten in den einzelnen Altersgruppen näher betrachtet (vgl. Tabelle 2).

Die Unionsparteien erzielen bei Frauen, außer bei den über 60jährigen, schlechtere Ergebnisse als bei Männern. Am deutlichsten ist dies bei den 25-bis 34jährigen Frauen. Lediglich bei den über 60jährigen Wählerinnen, die bisher zu den treuesten Wählerinnen der Unionsparteien gehörten, gibt es noch einen kleinen Vorsprung gegenüber den Männern, der allerdings im Vergleich zu 1994 von fünf Prozentpunkten auf einen Prozentpunkt geschmolzen ist. In dieser Altersgruppe verlor die CDU/CSU neun Prozentpunkte bei den Frauen, bei den Männern nur fünf Punkte. Da die Gruppe der über 60jährigen Frauen aber besonders stark ist, war auch hier der Verlust für die Union besonders schmerzlich. Die höchsten Verluste überhaupt hat die Union bei den über 60jährigen Frauen in den neuen Bundesländern. Sie verliert hier 15 Prozentpunkte. die SPD dagegen gewinnt deren zehn.

In der Bundesrepublik sind insgesamt die Verluste der Unionsparteien am stärksten bei Frauen zwischen 45 und 59 Jahren (zehn Prozentpunkte), aber auch bei den Männern verliert die Union erheblich (acht Prozentpunkte). Relativ gut dagegen hält sich die CDU/CSU bei den jüngeren Frauen. Sie bestätigt ihr Ergebnis bei den unter 25jährigen, verliert nur zwei Prozentpunkte bei den 25-bis 34jährigen. Bei den Männern in diesen Altersgruppen sind die Verluste der Union zwar unterdurchschnittlich, aber doch deutlich stärker als bei den gleichaltrigen Frauen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung des Wahlverhaltens der Frauen im Hinblick auf die Unionsparteien bei den bisherigen Bundestagswahlen. Während in den frühen Jahren der Bundesrepublik Frauen in beträchtlichem Umfang stärker die Unionsparteien wählten als Männer, reduzierte sich dieser Überhang sehr deutlich mit und nach der Wahl von 1972, er stieg jedoch in den Wahlen seit 1987 wieder an. Bei die-ser Bundestagswahl gibt es überhaupt keinen Unterschied mehr im Wahlverhalten der Frauen und Männer gegenüber den Unionsparteien, wenn man nur die Gesamtheit betrachtet.

Die SPD verbessert sich bei den Frauen bis 34 Jahre überhaupt nicht, wohl aber bei den Männern, insgesamt in den beiden ersten Altersgruppen etwa durchschnittlich. Bei den 35-bis 44jährigen Männern schneidet die SPD zwar besser ab als bei den gleichaltrigen Frauen, aber die Zuwächse sind bei Männern und Frauen gleich, was auch für die nächste Altersgruppe, die 45-bis 59jährigen, gilt, während bei den über 60jährigen die Zuwächse für die SPD bei den Frauen doppelt so hoch ausfallen wie bei den Männern. Dies führt zu der neuen Situation, daß in dieser Altersgruppe die SPD bei den Frauen besser abschneidet als bei den Männern. Insgesamt führten die Veränderungen im Wahlverhalten dazu, daß die Unterschiede zwischen Männern und Frauen in den verschiedenen Altersgruppen bei der SPD geringer geworden sind, als sie noch 1994 waren.

Die Unterschiede im Wahlverhalten von Männern und Frauen bei den Grünen sind beträchtlich. Insbesondere werden die Grünen von Frauen bis 44 Jahre deutlich stärker unterstützt als von Männern. Danach sind die Unterschiede nicht mehr so stark. Dies war zwar auch 1994 bereits der Fall, doch ist das relative Gewicht der Frauen insbesondere in den beiden unteren Altersgruppen noch stärker geworden.

Die Unterschiede im Wahlverhalten von Männern und Frauen bei der PDS sind gering, lediglich bei den über 60jährigen gibt es einen bemerkenswerten, bereits von früheren Wahlen bekannten Unterschied. Die PDS erreicht bei den über 60jährigen Frauen deutlich schlechtere Ergebnisse als bei den gleichaltrigen Männern. Das ist zum einen durch das besonders männerdominierte SED-Image und zum anderen durch die für die Frauen im Osten aufgrund ihrer im Vergleich zum Westen längeren Lebensarbeitszeit günstigere Rentenregelung bedingt.

Da sich unter den sonstigen Parteien auch die männlich dominierten Parteien der extremen Rechten verbergen, gibt es hier erhebliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Sie treten am deutlichsten bei den unter 25jährigen auf, weil hier auch die extreme Rechte ihren größten Erfolg hat. Bei den unter 25jährigen Männern erreichen die drei Parteien am rechten Rand insgesamt neun Prozent der gültigen Zweitstimmen, bei den Frauen in der gleichen Gruppe nur vier Prozent.

In den neuen Bundesländern erreicht die extreme Rechte insgesamt bei den unter 25jährigen Männern 15, bei den Frauen nur sieben Prozent (vgl. Tabelle 2). Die Erfolge der radikalen rechten Parteien nehmen in den höheren Altersgruppen deutlich ab, aber immer sind diese Parteien bei den Männern jeweils erfolgreicher als bei den Frauen. Dies ist das gewohnte Bild bei allen Wahlen, bei denen extreme rechte Parteien bisher in der Bundesrepublik Erfolge hatten, sowohl auf der Landes-als auch auf der Bundesebene.

Bei der Betrachtung dieser Ergebnisse sollte man berücksichtigen, daß die Altersgruppen unterschiedlich groß sind. Die Gruppe der 45-bis 59jährigen und die der über 60jährigen sind jeweils mit 27 Prozent besonders groß, wobei wiederum bei den über 60jährigen der Anteil der älteren Frauen in der Gruppe deutlich höher ist als der der älteren Männer. Die Gruppe der 25-bis 34jährigen und die Gruppe der 35-bis 44jährigen machen jeweils 18 Prozent der gesamten Wählerschaft aus, die sogenannten Jungwähler, diejenigen unter 25 Jahren, hingegen nur zehn Prozent. Das Gewicht der Älteren wird in der Gesamtwählerschaft auch dadurch hervorgerufen, daß ihre Wahlbeteiligung traditionell deutlich höher ist als die der Jüngeren. 3. Berufsgruppen Erklärtes Ziel der SPD und ihres Kanzlerkandidaten war es, die Wähler der „neuen Mitte“ zu erreichen. Da dies kein wahlsoziologischer Begriff ist, ist es etwas schwierig, den Erfolg genau zu messen. Die „neue Mitte“ ist eine Erfindung der KAMPA, der Wahlkampfzentrale der SPD. Den Begriff hat Gerhard Schröder in vielfältiger Weise im Wahlkampf genutzt und ihm auch immer wieder eine neue Deutung gegeben. Eigentlich handelt es sich nur um zwei Worte mit positiver Konnotation, die zu einem Kunstbegriff zusammengeführt wurden. Die so kreierte unbestimmte Menge wurde zur Zielgruppe erklärt und damit, insbesondere in den Medien, eine Diskussion entfacht, die große Aufmerksamkeit fand und auch entsprechende Kapazitäten band.

Versucht man, die „neue Mitte“ in das Begriffsfeld der empirischen Wahlsoziologie zu übertragen und entsprechend zu messen, so wird dies am ehesten gelingen, wenn man versucht, die Veränderungen in den verschiedenen Berufsgruppen nachzuvollziehen. Tatsächlich hat die SPD bei der großen Gruppe der Angestellten -sie umfaßt nahezu die Hälfte der Berufstätigen und ist gleichzeitig eine besonders mobile Gruppe -überdurchschnittliche Gewinne und die CDU/CSU überdurchschnitt15liehe Verluste im Vergleich zur Wahl 1994. Das heißt, aus einem kleinen Vorsprung, den die Union 1994 bei den Angestellten vor der SPD hatte (zwei Prozentpunkte), wurde ein deutlicher Vorsprung von elf Prozentpunkten der SPD vor der CDU/CSU im Jahre 1998. Unabhängig davon, ob nun in dieser Gruppe Bindungen an eine Gewerkschaft bestanden, also eine etwas stärkere Identifikation mit Arbeitnehmerinteressen vorlagen oder nicht, kam es zu den gleichen Verschiebungen zugunsten der SPD, allerdings auf deutlich unterschiedlichem Niveau. Während bei der kleinen Gruppe der gewerkschaftlich gebundenen Angestellten sich der Vorsprung der SPD von 18 Prozentpunkte auf 31 Prozentpunkte vergrößerte, gewann die SPD in der großen Gruppe der Angestellten ohne gewerkschaftliche Bindung zum ersten Mal, seit wir dies messen können, die Mehrheit. Zumindest seit den fünfziger Jahren hatte die Union in dieser Gruppe einen klaren Vorsprung, zuletzt 1994 von sieben Prozentpunkten. 1998 führt nun die SPD auch hier mit fünf Prozentpunkten.

Durch die Erfolge der SPD in den besonders mobilen Gruppen der Angestellten erhebt sich die Frage, ob sich die Wählerschaft der SPD damit grundlegend verändert-hat und diese Veränderungen von Dauer sind. Zunächst gilt, daß die SPD-Zuwächse bei den Arbeitern insgesamt deutlich unterdurchschnittlich sind, obwohl die Union bei Arbeitern, wo sie traditionell eher schwach ist, sogar leicht überdurchschnittlich verloren hat. Hier haben vor allem die rechtsextremen Parteien profitiert. Die Rechtsextremen haben unter den Arbeitern einen doppelt so hohen Anteil wie in der Gesamtheit aller Wähler (vgl. Tabelle 3).

Bei Arbeitern mit Gewerkschaftsbindung hat die CDU/CSU auf ohnehin niedrigem Niveau weit überdurchschnittlich verloren, während die SPD auf sehr hohem Niveau nochmals überdurchschnittlich ihre Position verbessern konnte. Aus einem Vorsprung der SPD 1994 von 25 Prozentpunkten in ihrer Kernwählerschaft -den gewerkschaftlich gebundenen Arbeitern, die allerdings immer weniger werden -wurde 1998 ein Vorsprung von 41 Prozentpunkten vor der Union. Im Osten ist die Veränderung bei den Arbeitern, die dort noch eine relativ größere Gruppe als im Westen darstellen, besonders deutlich. Während 1994 die Union nach dem Überraschungsergebnis von 1990 noch stärkere Unterstützung bei Arbeitern fand als die SPD (Vorsprung fünf Prozentpunkte), hat sich jetzt die traditionelle Vorstellung einer Interessenvertretung der Arbeiter durch die SPD auch im Osten durchgesetzt. Die Sozialdemokraten führen dort mit einem Vorsprung von 15 Prozentpunkten, d. h., es gab einen Zugewinn zugunsten der SPD von 20 Prozentpunkten. Die alten, strukturell bedingten Verhaltensweisen haben sich durchgesetzt. Man kann in diesem Punkt von einer deutlichen Angleichung im Wahl-verhalten von Ost und West sprechen.

Bei den Selbständigen, der zweiten Gruppe, auf die der Wahlkampf der Sozialdemokraten zielte, hat die CDU/CSU überdurchschnittlich verloren, und die SPD, die hier traditionell schwach ist, hat durchschnittlich dazugewonnen. Die Grünen haben hier ebenfalls ihr Ergebnis deutlich verbessert.

Bei den Beamten waren die Veränderungen verhältnismäßig gering; die Union hat weit unterdurchschnittlich verloren, aber auch die SPD hat unterdurchschnittlich gewonnen. Lediglich die FDP hat überdurchschnittlich bei den Beamten Stimmen eingebüßt; die Bewegungen zugunsten oder zu Lasten aller anderen Parteien waren gering.

Alle Veränderungen, die auftraten, waren im Osten etwas heftiger als im Westen. Insgesamt führte dies trotzdem zu einem Angleichen des Wahlverhaltens, selbst wenn man so starke Veränderungen annimmt wie bei den Arbeitern. 1990 hatte dort die Union noch einen Vorsprung von 25 Prozentpunkten vor der SPD, 1994 noch einen Vorsprung von sechs Prozentpunkten, jetzt führt die SPD mit 15 Prozentpunkten.4. Konfession In der Vergangenheit hat die konfessionelle Bindung von Wählern bei ihrer Entscheidung zugunsten einer Partei eine große Rolle gespielt. Vor allen Dingen die Unionsparteien erreichen bei Katholiken immer weit überdurchschnittliche Ergebnisse. Dies ist ihnen auch 1998 gelungen, trotzdem hat die Union auch bei den Katholiken Verluste, aber nur durchschnittliche, während die SPD ebenso durchschnittliche Gewinne in dieser Gruppe hat.

Besonders gut hatte die Union bisher bei Katholiken, die über die bloße Konfessionszugehörigkeit hinaus auch noch eine starke Bindung an die Kirche haben, abgeschnitten. Auch bei dieser Wahl hat sich das nicht verändert. Die Union erreicht eine Zustimmung von 70 Prozent aus dieser Gruppe, die SPD wird nur von 20 Prozent der Katholiken mit starker Kirchenbindung gewählt (vgl. Tabelle 4). Trotzdem hat es auch hier eine Veränderung gegenüber der Vorwahl gegeben, bei der die SPD auf niedrigstem Niveau leicht überdurchschnittliche Zugewinne zu verzeichnen hat und die Unionsverluste leicht unter dem Durchschnitt blieben. Erstaunlicherweise gibt es keinerlei Veränderungen bei den Katholiken, die keine Bindung zur Kirche haben. Bei den Protestanten sind die Verluste der Unionsparteien etwa durchschnittlich, die Gewinne der SPD allerdings eher unterdurchschnittlich. Bei Wählern, die keiner Konfession angehören -im Osten sind das immerhin 60 Prozent, im Westen 13 Prozent aller Wähler -, hat die Union insgesamt in der Bundesrepublik einen überdurchschnittlichen Verlust zu verzeichnen, die SPD gewinnt durchschnittlich. Insgesamt kommt die Union in dieser Gruppe auf 21 Prozent, die SPD liegt bei ihrem Bundesdurchschnitt, aber die PDS erreicht 16 Prozent, betrachtet man den Osten allein, so sind es sogar 26 Prozent. Zu bemerken ist in dieser Gruppe auch noch, daß die rechtsextremen Parteien weit überdurchschnittlich abschneiden, sie sind in dieser Gruppe fast doppelt so stark wie im Bund insgesamt. 5. Traditionelle Wählermilieus?

Die großen Veränderungen bei dieser Wahl werfen die Frage auf, ob die Grundsockel der beiden Volksparteien, die sich auf relativ stabile Präferenzen bestimmter großer sozialer Gruppen über lange Zeit in Deutschland stützen konnten, ins Wanken geraten. Wie gezeigt, konnte die SPD ihre hohen Anteile unter den Gewerkschaftsmitgliedern sogar noch ausbauen, das gilt sowohl für die gewerkschaftlich gebundenen Arbeiter als auch für die gewerkschaftlich gebundenen Angestellten. Trotzdem muß man sehen, daß diese beiden Grup pen nur ein Viertel der SPD-Wählerschaft ausmachen, die alte Kerntruppe der SPD. die gewerkschaftlich gebundenen Arbeiter, sogar nur noch elf Prozent. Umgekehrt hat auch die Union ihre äußerst starke Stellung bei den Katholiken mit starker Kirchenbindung nahezu gehalten. Immerhin 70 Prozent dieser Gruppe wählen die Unionsparteien, und auch bei Katholiken, die ab und zu zur Kirche gehen, sind es immerhin noch 50 Prozent (vgl. Tabelle 4). Die Kernwähler der Union, also die kirchlich gebundenen Katholiken, machen aber inzwischen nur noch 15 Prozent der Unionswähler insgesamt aus.

Dort, wo es also noch die alten Milieus gibt, wirken die strukturellen Bindungen an die großen Parteien nach wie vor. Da aber diese Gruppen so klein geworden sind, muß jede der beiden Volksparteien ihr Glück bei den weniger gebundenen Wählern und bei den potentiellen Wechselwählern suchen.

VII. Fazit

Tabelle 3: Parteianteile in den Berufsgruppen bei der Bundestagswahl 1998 (in Prozent)

Die Bundestagswahl 1998 haben in erster Linie Helmut Kohl und die Union verloren. Da es sich jedoch um ein Nullsummenspiel handelt, wenn es um die Umsetzung der gültigen Stimmen in politische Macht geht, hat die SPD und die neue Koalition zwangsläufig diese Wahl gewonnen. Es war offensichtlich eine wichtige Wahl für die Deutschen. Das zeigt die erhöhte Wahlbeteiligung, vor allem im Osten ist die Wahlbeteiligung weit überproportional gewachsen. Dies ist bereits ein Hinweis darauf, welche politischen Probleme bei dieser Wahl im Vordergrund standen, nämlich Sicherheitsaspekte in verschiedensten Ausprägungen und die Bewältigung der zukünftigen Probleme. Die Angleichung der Wahlbeteiligung der Ostdeutschen an die der Westdeutschen ist ein weiterer Schritt hin zu einer Normalisierung in Deutschland. Es gibt viele zusätzliche Informationen aus dem veränderten Wahlverhalten der Ostdeutschen in den verschiedenen Berufs-und Altersgruppen, die auf einen Anpassungsprozeß des Ostens an den Westen schließen lassen, so z. B. das Wahlverhalten der Arbeiter, aber auch die Gewinne der Grünen oder die Anpassungen bei den über 60jährigen. Trotzdem gibt es nach wie vor die PDS als dritte Kraft im Osten, die sogar gestärkt aus dieser Wahl hervorging und die sich selbst im Westen, allerdings hier nur geringfügig, verbessern konnte. Der neue Fraktionsstatus der PDS eröffnet ihr neue Darstellungsmöglichkeiten, trotzdem bleiben die Unsicherheiten über die Zukunft der Partei bestehen. Die einzig wirkliche verläßliche Anhängerschaft sind die treuen Überbleibsel aus der alten DDR-SED, die wegen ihrer Nähe zur alten Machtelite große Schwierigkeiten haben, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Sie kämpfen gegen die Zeit. Andere Verlierer der Einheit werden sich mit zunehmender „Normalität der Verhältnisse“ den etablierten politischen Parteien annähern.

Bei dieser Wahl ging es nicht um einen grundsätzlichen Politikwechsel, zumindest läßt sich eine solche Zielsetzung nicht aus den Einstellungen der Wähler zu den Parteien, den Politikern und den zu lösenden Problemen ablesen, sondern es ging um einen Wechsel der verantwortlichen Politiker in der Regierung. Da die Union den Wählern keine anderen Kandidaten als Kohl angeboten hat, haben die Wähler Schröder die Macht übereignet. Da der Kanzler aber nicht direkt wählbar ist, mußten die Wähler Parteien ihre Stimme geben. Dabei war es bis zuletzt unklar, mit welcher Koalition der Wechsel im Kanzleramt herbeigeführt werden würde. Das Harmoniebedürfnis in großen Teilen der Wählerschaft und das mangelnde Verständnis für Politik als die notwendige Auseinandersetzung um beste Lösungsmöglichkeiten in demokratischen Ordnungsformen haben vor der Wahl dazu geführt, daß eher eine große Koalition als die wünschenswertere Alternative zur alten CDU/CSU/FDP-Regierung angesehen wurde. Die Wahl hat die eigentlich mehrheitlich nicht gewünschte rot-grüne Koalition klar an die Macht gebracht. Wenn die neue Regierung ihrem Anspruch gerecht wird, eine bessere Politik zu machen und nicht nur eine andere, wird ihr aus diesem Sachverhalt kein Problem erwachsen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Matthias Jung, Dipl. -Volkswirt, geb. 1956; Mitglied des Vorstands der Forschungsgruppe Wahlen. Veröffentlichungen zur Wahlforschung, Methoden der Umfrageforschung und zur Militärsoziologie. Dieter Roth, Dr. phil., geb. 1938; Mitglied des Vorstands der Forschungsgruppe Wahlen; Lehrbeauftragter an der Universität Heidelberg. Veröffentlichungen u. a.: Empirische Wahlforschung, Opladen 1998; zahlreiche Artikel zu den Themenbereichen Elitenforschung und Wahlsoziologie.