Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Zweiter Tag: Dienstag, 5. November 2019 | Lessons & Legacies | bpb.de

Lessons & Legacies Tagungsbericht Erster Tag: Montag, 4. November 2019 Zweiter Tag: Dienstag, 5. November 2019 Dritter Tag: Mittwoch, 6. November 2019 Vierter Tag: Donnerstag, 7. November 2019 Veranstaltungsimpressionen

Zweiter Tag: Dienstag, 5. November 2019

Hendrik Gunz

/ 16 Minuten zu lesen

Der erste volle Konferenztag bot vormittags vier inhaltliche Angebote. Thematisiert wurden das Verhältnis von Genozidstudien zur Holocaustforschung, die juristische Aufarbeitung vor und während des Holocaust, Fotoalben als Quelle und das Holocaustgedenken in der Migrationsgesellschaft.

Impressionen vom zweiten Veranstaltungstag

Impressionen: Tag 2

(© bpb/BILDKRAFTWERK) (© bpb/BILDKRAFTWERK) (© bpb/BILDKRAFTWERK) (© bpb/BILDKRAFTWERK) (© bpb/BILDKRAFTWERK) (© bpb/BILDKRAFTWERK) (© bpb/BILDKRAFTWERK) (© bpb/BILDKRAFTWERK) (© bpb/BILDKRAFTWERK) (© bpb/BILDKRAFTWERK) (© bpb/BILDKRAFTWERK) (© bpb/BILDKRAFTWERK) (© bpb/BILDKRAFTWERK)

Workshop 2: Holocausterinnerung und -vermittlung – Migrierte und Geflüchtete

Im zweiten Workshop des Tages stellten drei Forscherinnen die Ergebnisse der von ihnen durchgeführten Studien vor.

Elisabeth Beck, Vermittlung des Holocaust in der Migrationsgesellschaft − Perspektiven der Erwachsenenbildung
Den Anfang machte die Erziehungswissenschaftlerin Elisabeth Beck von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Sie präsentierte in ihrem Vortrag die ersten Ergebnisse ihres laufenden Promotionsvorhabens und hob hervor, dass Deutschland zwar als Migrationsgesellschaft und Land mit einer spezifischen Erinnerungskultur gelte, die Verbindung zwischen Migration, Pluralisierungsprozessen und "dem" Erinnern aber wenig gezogen werde. Sie gehe in ihrer Forschung daher den Fragen nach, wie die Vermittlung des Holocaust in der deutschen Migrationsgesellschaft konzeptualisiert werde, und ob in der deutschen Erwachsenenbildung die Diversität der Ansichten, Hintergründe und Erfahrungen der Teilnehmenden integriert werde. Migration sei dabei als gesellschaftlicher Normalfall und das Holocaustgedenken als essenzielles Element des deutschen Selbstbildes anzusehen, betonte Beck. Als vorläufiges Ergebnis hielt sie fest, dass rund um Ereignisse wie Jahrestage oder Jubiläen das Bildungsangebot ansteige. Auch machte sie eine inhaltliche Verlagerung des Fokus aus: Während es 2014 noch viele Angebote mit Bezug auf den Holocaust oder Nationalsozialismus gegeben habe, würden sich die Angebote fünf Jahre später vor allem aktuellen Themen widmen, etwa dem "Brexit" oder der sogenannten Flüchtlingskrise. (Interner Link: Zum Expertinneninterview mit Elisabeth Beck)

Sina Arnold/Jana König, Eine neue Nation erinnern: Geflüchtete und Holocaustgedenken in Deutschland
Die beiden nachfolgenden Referentinnen, Sina Arnold von der Technischen Universität Berlin und Jana König von der Ruhr-Universität Bochum, hatten 2016 für den Expertenkreis Antisemitismus eine Studie erstellt, die sich unter dem Titel "Flucht und Antisemitismus" mit antisemitischen Einstellungen bei Geflüchteten beschäftigte. Arnold und König hielten fest, dass in Deutschland von einer Post-Migrationsgesellschaft gesprochen werden könne, da etwa ein Viertel der Bevölkerung einen Migrationshintergrund habe. Ein Teilaspekt ihrer Untersuchung war, die Wahrnehmung des Holocaust bei Geflüchteten zu analysieren. Obwohl je nach Studie zwischen 10 und 30 Prozent der deutschen Bevölkerung eine antisemitische Haltung attestiert werde, habe der öffentliche Fokus in den vergangenen Jahren vor allem auf "arabischem", "muslimischem" oder "importiertem" Antisemitismus gelegen. Dies lasse sich auch als Externalisierung werten, so Arnold und König. Das Wissen um die Shoah unter Geflüchteten sei gering, fragmentiert und teilweise falsch. Als hauptsächliche Informationsquellen dienten Geflüchteten die Medien und Alltagskommunikation. In der Konfrontation mit dem Holocaustgedenken in Deutschland machten Arnold und König verschiedene Reaktionen aus: (1) andere Themen würden als relevanter wahrgenommen, beispielweise der bürokratische Fortgang des eigenen Asylprozesses; (2) es habe kein Interesse bestanden ("Es war ein europäisches Problem, kein irakisches", wurde eine interviewte Person zitiert); (3) es gebe Geflüchtete, die aktiv nach Informationen suchen, aber schnell auf eine Sprachbarriere stoßen würden, da es kein Informationsmaterial zum Beispiel in Farsi oder auf Arabisch gebe. Ohne Englisch- oder Deutschkenntnisse sei die Suche nach Informationen sehr schwer. Geflüchtete würden, so Arnold und König, in der Bundesrepublik mit Rassismus und einer exklusiven deutschen Nationalidentität konfrontiert. Generell werde zu wenig bedacht, dass migrantische Perspektiven das verändern könnten, was als "deutsche Geschichte" gelte. Dabei könne die Anerkennung sowohl multipler Identitäten als auch sich wandelnder biografischer Bezüge Teil einer post-migrantischen Erinnerungspolitik sein. (Interner Link: Hier finden Sie ein Interview mit den beiden Referentinnen)

Panel 6: Probleme und Herausforderungen bei der Holocaustvermittlung

Krankheitsbedingt wurden die Panels "Neue Forschung zu den Gettos" und "Probleme und Herausforderungen bei der Holocaustvermittlung" zusammengelegt.

Simon Goldberg, Was wir wissen. Das Getto Kaunas und das Problem der historischen Evidenz
Den Anfang des Doppel-Panels machte Simon Goldberg, Doktorand an der Clark University. Ausgangspunkt seines Vortrags war die Beobachtung, dass die bisherige Forschung den Inhalt zeitgenössischer Berichte von Nicht-Täterinnen und -Tätern zu unkritisch übernommen habe. Konkret machte er dies an den facettenreichen Aufzeichnungen aus dem Getto Kaunas fest. Der jüdische Ordnungsdienst habe während des Krieges einen "bürokratischen Schatz" angehäuft, der Polizeiberichte, Gerichtsdokumente und ähnliches enthalte. Der Ältestenrat des Gettos habe zudem Statistiken und historiografische Monografien angesammelt. Diese Sammlung aber als Archiv zu bezeichnen, leite fehl – würde das doch bedeuten, dass es eine konzertierte Anstrengung gewesen sei, das Gettoleben zu dokumentieren. Dies sei nicht der Fall gewesen. Vielmehr gelte es, angesichts der disparaten Natur der oftmals undatierten Quellen Fragen nach der Provenienz und den ursprünglichen Funktionen zu stellen.

Besonders deutlich werde diese Problematik bei der Beschäftigung mit der "Großen Aktion", die im Oktober 1941 das Getto im Grunde auflöste. Während der Ältestenrat um die Ermordung eines großen Teils der Gettobevölkerung gewusst habe, treffe dies auf die bei der "Aktion" kollaborierende Gettopolizei nicht zu. Goldberg plädierte dafür, vermehrt Polizeiberichte, medizinische Akten und Überlebendenberichte der unmittelbaren Nachkriegszeit für die historiografische Arbeit heranzuziehen und sich auch mit vermeintlichen "Getto-Archiven" quellenkritisch auseinanderzusetzen.

Kathryn Huether, Führen oder Verschleiern. Treblinkas Audioguide und seine akustische Infrastruktur hinterfragen
Mit dem Audioguide der Gedenkstätte Treblinka und seiner akustischen Infrastruktur setzte sich Kathryn Huether von der University of Minnesota auseinander. Sie erinnerte daran, dass die Vernichtungslager der "Aktion Reinhardt" so konzipiert waren, dass es keine Spuren geben sollte, und dass die SS vor Kriegsende begonnen hatte, die Beweise ihrer Verbrechen zu beseitigen. So gebe es in Treblinka keine baulichen Überreste. Um dennoch über die Geschichte des Ortes zu berichten, wurde ein Audioguide für die Gedenkstätte konzipiert, der sich als App auf den Smartphones der Besucherinnen und Besucher installieren lässt. Wahlweise in polnischer oder englischer Sprache begleitet eine männliche Erzählstimme die Interessierten und liest Quellen von Überlebenden und Zeitzeugen vor. Häufig gebe es atmosphärische Musik zu hören. Diese solle laut Konzept des Audioguides "beruhigen", übertöne jedoch die Geräusche der Gedenkstätte, beispielsweise Vogelgezwitscher. Vor allem hinsichtlich der vorgelesenen Überlebenden- und Zeitzeugenberichte machte Huether Defizite aus. So gehe eine emotionale Bindung verloren, wenn die Zitate vom Erzähler vorgelesen werden, anstatt Aufnahmen aus Oral-History-Projekten zu nutzen, in denen Überlebende wie Samuel Willenberg ihre Geschichte selbst schilderten. Zwischen dem, was Willenberg selbst in seinen Memoiren und Oral-History-Aufnahmen hinterlassen habe, und dem im Audioguide vorgelesenen Text gebe es zudem inhaltliche Unterschiede.

Natalia Sineaeva-Pankowska, Narrative des Holocaust in historischen Ausstellungen in der Republik Moldau: Herausforderungen der Vermittlung
Im Themenfeld osteuropäischer Geschichtsvermittlung verbleibend, sprach die Soziologin Natalia Sineaeva-Pankowska über Holocaustnarrative in Museumsausstellungen in der Republik Moldau. Museen seien soziale Orte der Wissenskommunikation, und somit weder politisch noch ideologisch neutral. Sineaeva-Pankowska erinnerte daran, dass Moldau lange Teil von Rumänien und der Sowjetunion war. Diese, durch den Konflikt um Transnistrien noch verschärfte Gemengelage sei Grundlage verschiedener, zum Teil widersprüchlicher Identitäten und Narrative in der noch jungen Republik. So würden sich sowohl panrumänische als auch panslawische Narrative in den unterschiedlichen Museumsausstellungen finden. Die panslawische Erzählung knüpfe dabei stark an (post)sowjetische Diskurse an.

Im Nationalmuseum für Archäologie und Geschichte der Republik Moldau in der Hauptstadt Chișinău dominiere ein panrumänisches Narrativ. Minderheitenerzählungen werde dabei keine Bedeutung beigemessen, und die Verantwortung des rumänischen Diktators Ion Antonescu am Holocaust werde durch die Darstellung relativiert, dass die Verbrechen der Shoah zwar woanders, aber angeblich nicht auf dem Gebiet des heutigen Moldau begangen worden wären. Dies schließe, so Sineaeva-Pankowska, jedoch den "Holocaust durch Kugeln" aus, wie er in Bessarabien und Transnistrien an tausenden Jüdinnen und Juden begangen wurde. In den Museen im transnistrischen Bender und Tiraspol wiederum dominiere das sowjetische Narrativ, in dem sowohl (sowjetischer) Heroismus als auch allgemeines Leid besonders betont würden. Dem Holocaust komme auch dabei keine Bedeutung zu, er werde nicht einmal erwähnt, schloss Sineaeva-Pankowska.

Monika Vrzgulová, Wer, warum und wie? Augenzeuginnen und -zeugen des Holocaust in der Slowakei und die Bedeutung ihrer Berichte für Bildungsarbeit und öffentlichen Diskurs
Die Ethnologin Monika Vrzgulová von der Slowakischen Akademie der Wissenschaften hatte sich im Rahmen eines Oral-History-Projektes mit der Augenzeugenschaft des Holocaust in der Slowakei auseinandergesetzt und stellte ihre Ergebnisse vor. Geleitet wurde das Projekt von den Fragen, wer die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Projektes waren, und was ihre Motive für die Teilnahme waren. Voraussetzung für die Teilnahme sei es gewesen, dass die betreffende Person selbst Augenzeugin oder Augenzeuge sowie zum Zeitpunkt des beobachteten Geschehens nicht jünger als zehn Jahre gewesen war. Die Untersuchung habe ergeben, dass viele der Interviewten nicht katholischen Glaubens gewesen seien, was mit Blick auf die slowakische Soziodemografie überrasche. Häufig hätten die Teilnehmenden angegeben, einen freundschaftlichen Kontakt zu ihren jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn gepflegt zu haben. Diese guten Beziehungen zu Jüdinnen und Juden im persönlichen Umfeld seien auch häufig das Motiv für die Teilnahme an den Interviews. Doch nicht nur deren, sondern zumeist auch die eigene Geschichte werde im Oral-History-Projekt wiedergegeben. Dazu gehöre selbst erfahrenes Leid, aber auch die Selbstdarstellung als Helferin oder Helfer der Verfolgten.

Diese Zeugnisse, so war Vrzgulová überzeugt, könnten in der Slowakei gängige Stereotype infrage stellen und das kollektive Gedächtnis beeinflussen: Denn der Holocaust fand vor den Augen der Öffentlichkeit statt. Die Stereotypen des "unbekannten Täters" und der "lächelnden Slowakei" seien daher fehlgeleitet. Im Allgemeinen würden sich zwei Erinnerungspolitiken gegenüberstehen: eine offizielle ("von oben") und eine zivilgesellschaftliche ("von unten") getragene Erinnerungspolitik, in der Bildungsprojekte eine bedeutende Rolle spielen. Der slowakische Wunsch, Teil der EU und anderer europäischer Bündnisse zu sein, habe rückblickend die Auseinandersetzung mit der Shoah einfacher gemacht. Vrzgulová hoffte, dass die gesammelten Berichte sowie die Erinnerungen anderer slowakischer Zeitzeuginnen und -zeugen eine bisher ausgebliebene Diskussion in der Slowakei auslösen können.

Panel 10: Neue Forschung zum System nationalsozialistischer Lager

Nach der Mittagspause stellten Historikerinnen und Historiker aus Israel und Deutschland neue Forschungen über das nationalsozialistische Lagersystem vor. Moderiert wurde das Panel von Axel Drecoll, dem Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. (Interner Link: Zum Experteninterview mit Axel Drecoll)

Daniel Uziel, Jüdische Zwangsarbeit in der deutschen Luftfahrindustrie. Zwischen Mord und Ausbeutung
Daniel Uziel, Historiker und Mitarbeiter im Archiv von Yad Vashem, sprach über jüdische Zwangsarbeit in der deutschen Luftfahrtindustrie. Während 1931 lediglich 13 Flugzeuge in Deutschland gefertigt wurden, waren es 1939 bereits über 8.000. So wuchs die Flugzeugindustrie im Krieg zum größten Zweig der Rüstungsindustrie an. Der Mangel an Arbeitskräften, insbesondere an gut ausgebildeten, sei dabei chronisch gewesen. Deshalb begannen große Produzenten wie die Ernst-Heinkel-Flugzeugwerke ab Frühling 1942, im Generalgouvernement jüdische Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter im großen Stil einzusetzen. Heinkels frühere Versuche, Insassen des KZ Sachsenhausen für die Zwangsarbeit in seinen Werken einzusetzen, seien am schlechten Gesundheitszustand der sowjetischen Kriegsgefangenen gescheitert. Der Arbeitseinsatz jüdischer Häftlinge sei den Plänen ihrer Ermordung zuwidergelaufen, erklärte Uziel.

Die "Große Woche" ("Big Week") im Februar 1944, in der alliierte Angriffe auf 26 Flugzeugfabriken erfolgten, änderte die Ausgangslage. Mit dem "Jägerstab" sei ein interministerielles Komitee gegründet worden, welches die Luftfahrtindustrie reorganisieren sollte. Im April 1944 ordnete Hitler Himmler an, 100.000 jüdische Gefangene abzustellen, um bombensichere Fabriken zu errichten. Nur so sei das "Produktionswunder" 1944 ermöglicht worden. Der Zwangsarbeitseinsatz von Jüdinnen und Juden in der Flugzeugindustrie fiel in die letzte Phase des Holocaust und hatte beträchtlichen Einfluss auf diesen, schloss Uziel.

Frank Grelka, Am Rande des Holocaust. Polnische Jüdinnen und Juden in saisonalen Arbeitslagern im Bezirk Lublin
Mit nicht-industrieller Zwangsarbeit polnischer Jüdinnen und Juden setzte sich Frank Grelka auseinander, Osteuropahistoriker und Mitarbeiter am Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Er arbeitete die Bedeutung des jüdischen Zwangsarbeitseinsatzes bei Drainagearbeiten zur Trockenlegung von Ackerland im Raum Lublin für den Holocaust heraus. Jüdische Arbeiterinnen und Arbeiter hätten die Tätigkeit als ökonomisch sinnlos wahrgenommen. Ein von den Nazis verfolgtes Ziel sei es jedoch gewesen, die Jüdinnen und Juden durch ihre Zwangsarbeit vom gesellschaftlichen Leben auszuschließen. Die Kosten dafür seien ebenfalls Jüdinnen und Juden aufgebürdet worden. Dies wiederum habe die jüdische Wohlfahrt kollabieren lassen und so zu höheren Todesraten geführt, erklärte Grelka. Er betonte, dass landwirtschaftliche Zwangsarbeit, wie in den Lubliner Drainage-Lagern, neben der Gettoisierung für die Entwicklung des Holocaust entscheidend war.

Kerstin Schwenke, Transnationale Netzwerke – Besuche deutscher Konzentrationslager durch Repräsentanten ideologisch verbundener Länder
Dass die nationalsozialistischen Konzentrationslager nie völlig isoliert waren, sie mit ihrem Umfeld interagierten und auch besucht wurden, sei keine neue Erkenntnis, leitete Kerstin Schwenke ihren Vortrag ein. Die Mitarbeiterin des Zentrums für Holocaust-Studien am IfZ setzte sich dabei mit Besuchen von ausländischen Delegationen auseinander, deren Regime mit dem NS-Staat ideologisch verbunden waren. So habe es Besuche von Delegationen ausländischer Sicherheitsapparate, Polizeien und Geheimdienste gegeben. Beispielsweise habe eine bulgarische Delegation 1937 das KZ Dachau mit dem Ziel besucht, die deutsche Polizeiarbeit kennenzulernen. Auch das KZ Sachsenhausen sei Ziel verschiedener Polizei- und Geheimdienstdelegationen gewesen, etwa aus Italien, Polen, Portugal, Spanien und der Türkei. Hintergrund sei insbesondere das nationalsozialistische Ziel gewesen, ein antikommunistisches (Polizei-)Netzwerk zu bilden. Doch nicht nur polizeiliche oder geheimdienstliche Repräsentanten besuchten Konzentrationslager. Unter "rassischen" Gesichtspunkten sei etwa dem italienischen Rassentheoretiker Guido Landra das KZ Sachsenhausen vorgeführt worden – Fotos dieses Besuchs wurden sogar im nationalsozialistischen Illustrierten Beobachter abgedruckt. Auch der Ustascha-General Vjekoslav Luburić habe sich vom KZ Sachsenhausen für das KZ Uštica inspirieren lassen. Dies zeige, führte Schwenke aus, dass die Besuche nationalsozialistischer Konzentrationslager konkrete Auswirkungen auf die politische Praxis in anderen Ländern haben konnten. Als dritte und letzte Besuchsgruppe machte Schwenke ideologisch verbundene Organisationen aus. Beispielsweise habe Himmler selbst den niederländischen NSB-Funktionär Anton Mussert durch das KZ Dachau geführt.

Die Initiativen für die KZ-Besuche seien sowohl von deutschen Nazis als auch von den ausländischen Gästen ausgegangen. Vor Kriegsbeginn hatten auch demokratische Länder Delegationen für KZ-Inspektionen entsandt, diese kritisierten die dortigen Zustände. Beim Besuch nicht-demokratischer Delegationen habe zunächst der antikommunistische Kampf im Mittelpunkt gestanden, schließlich dann die Durchsetzung des NS-Repressionsapparates. Am häufigsten sei das KZ Sachsenhausen besucht worden, was sich jedoch vor allem durch dessen geografische Nähe zur Hauptstadt Berlin erklären lasse. Die KZ-Besuche ausländischer Delegationen, so schloss Schwenke ihren Vortrag, seien als Element einer transnationalen Kooperation nationalistischer und faschistischer Staaten und Organisationen in ihrem Kampf gegen Kommunismus und Judentum zu sehen.

Workshop 5: Lernen von Objekten: Innovative Forschung und Lehre mit Artefakten des Jüdischen Museums Berlin

Wie man anhand von Objekten statt Dokumenten den Holocaust im Unterricht thematisieren kann, und was materielle Kultur ausmacht, war Gegenstand des Workshops von Jeffrey Wallen, Professor für vergleichende Literaturwissenschaft am Hampshire College, und Aubrey Pomerance, Direktor des Archivs des Jüdischen Museums Berlin. Sie stellten Materialität als Faszinosum anhand von Beispielen vor. Wallen gab dabei nur einige Aspekte von Materialität zu bedenken: Meist würden Objekte anders altern als Menschen, was zu Irritationen führen könne, und häufig würde erst der Kontext ein Objekt ungewöhnlich erscheinen lassen. Ein eigentlich gewöhnlicher Gegenstand könne mit Bedeutung aufgeladen werden, wenn sich beispielsweise herausstelle, dass er sich im Besitz einer im KZ inhaftierten Person befand oder befindet. Die Transferierbarkeit von Objekten sei zudem ein bedeutender Aspekt, um sich der Objektbiografie zu nähern.

Den Fokus auf Objekte und die damit verbundenen pädagogischen Ansätze legte Pomerance. 2003 habe man im Jüdischen Museum Berlin ein Workshop-Programm gestartet, dessen Fokus sich zunehmend auf das Thema deutscher Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus zugespitzt habe. Die Möglichkeit für junge Menschen, sich dabei in Kleingruppenarbeit mit Objekten auseinanderzusetzen, sei zwar sehr ressourcenintensiv, habe sich aber als gewinnbringend erwiesen. Manchmal seien in den Workshops die Spenderinnen und Spender der entsprechenden Objekte involviert und könnten so selbst über die Objekte und ihre Geschichte sprechen, beispielsweise über: einen Matze-Teller aus Zinn, gefertigt von einem Emigranten; ein von Kindern bemaltes Stofftuch aus dem Flüchtlingslager in Zbąszyń 1939, das ein Abschiedsgeschenk für ein durch einen "Kindertransport" nach England gerettetes Kind war; oder ein Portemonnaie, hergestellt von der Berliner Firma eines jüdischen Eigentümers, das bei seiner Deportation weggeworfen und von Nachbarn aufbewahrt wurde. In der Diskussion über die Sinnlichkeit und Authentizität dieser und anderer Objekte wurden ihre Geschichte und Materialität als besonders interessant hervorgehoben.

November 1938 und 1939 in München: Geschichte und Erinnerung

Die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern hieß die Tagungsteilnehmenden sowie interessierte Bürgerinnen und Bürger in ihrem Gemeindezentrum in der Münchner Innenstadt willkommen. Die Geschichte des und das Erinnern an den 8. und 9. November der Jahre 1938 und 1939 in München, also an die Pogromnacht und das gescheiterte Attentat auf Hitler durch Georg Elser, standen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Durch den Abend führten Andrea Löw und Kim Wünschmann (Die Expertinneninterviews mit Andrea Löw und Kim Wünschmann finden Sie Interner Link: hier und Interner Link: hier), beide mitverantwortlich für die Organisation der Tagung.

Manuel Pretzl, Grußwort
In einem Grußwort betonte der Zweite Bürgermeister der Stadt München, Manuel Pretzl, die besondere Verbindung der Landeshauptstadt mit dem Nationalsozialismus: Sie sei die Geburtsstätte der NSDAP und Ort des Hitler-Ludendorff-Putsches gewesen. In München habe der "alte Kämpfer" der NSDAP, Karl Fiehler, fast den gesamten Nationalsozialismus über als Bürgermeister regiert. Als Münchner Polizeichef habe Himmler die Einrichtung des KZ Dachau angeordnet. In München habe Goebbels die Pogromnacht angeheizt. Und im Münchner Abkommen sei die Annexion des Sudetenlandes beschlossen worden. In dieser Stadt, von den Nazis als "Hauptstadt der Bewegung" und von Bertolt Brecht als "Stadt der deutschen Grabsteinlegung" bezeichnet, wisse man um die Verpflichtung, die Erinnerung an das "Dritte Reich" wach zu halten und daraus Lehren zu ziehen. Auch deshalb sei es eine große Ehre, so Pretzl, "Lessons and Legacies" erstmals außerhalb der USA beheimaten zu dürfen.

Charlotte Knobloch, Ein Wort zur Erinnerung
Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, Charlotte Knobloch, rief zu Beginn ihres Vortrages ins Gedächtnis, dass 2020 die 75. Jahrestage des Kriegsendes und der Befreiung von Auschwitz anstehen. Unmittelbar bevor stehe zudem der 81. Jahrestag des Novemberpogroms – "der Tag, an dem das Tor zu Auschwitz aufgestoßen wurde", so Knobloch eindrücklich. So alt wie das Erinnern sei auch die Diskussion um einen Schlussstrich. Als ein Argument für diesen Bruch werde üblicherweise angeführt, dass das Gedenken Gefahr laufe, zu einem Ritual zu verknöchern. Das sei nicht von der Hand zu weisen. Die häufig gehörte Frage "Was hat das mit mir zu tun?" impliziere häufig eine vermutete Schuldzuweisung. Knobloch antwortete deutlich: "Erinnern hat heute nichts mehr mit Schuld zu tun – aber alles mit Verantwortung." Diese Verantwortung gelte für alle Generationen und sei heute besonders groß, da sich "bestimmte Muster der 1920er und 30er zu wiederholen scheinen". Eine Kraft des rechten Randes erziele in Deutschland Wahlerfolge, und man sähe zu, wie die extreme Rechte die Werte der Demokratie in einem Maße angreife, wie es im Nachkriegsdeutschland unmöglich erschien. Diese Kräfte würden bei vielen Menschen Angst auslösen, und wenn sie, Knobloch, nur ein Wort zur "Erinnerung" mitgeben könne, so wäre es "Angst".

Knobloch schilderte lebhaft ihre Erinnerungen an die Münchner Novemberpogrome, die sie als sechsjähriges Kind mit ihrem Vater und als fürchterlichen Ausbruch von Gewalt und Hass erlebt habe. Sie hätten den Abend im Schutz der Anonymität der Öffentlichkeit auf der Straße verbracht, seien stundenlang ziellos in der Stadt herumgewandert und hätten herausgefunden, dass die Gestapo ihren Vater suchte. Sie erinnerte sich an Attacken auf Menschen, am eindrücklichsten sei ihr aber die brennende Synagoge in der Herzog-Rudolf-Straße im Gedächtnis geblieben. Sie habe es als Kind nicht begreifen können, so Knobloch. All das sei für sie viel mehr als "Erinnerung" – die "existenzielle Angst" des 9. November habe sie nie wieder völlig losgelassen.

Das Versprechen "Nie wieder!" bedürfe der Erinnerung. Wenn nun am 9. November in München des Pogroms gedacht werde, werde in Berlin der Mauerfall gefeiert. So sehr dies auch Anlass zur Freude sei – beim 9. November solle nicht nur an das Jahr 1989, sondern eben auch an 1938 erinnert werden, schloss Knobloch.

Vorstellung des historischen Filmmaterials "Abriss von Münchens Hauptsynagoge, Juni 1938"
Im Anschluss an Charlotte Knoblochs persönliche und bewegende Rede wurden historische Filmaufnahmen vom Abriss der Alten Hauptsynagoge Münchens im Juni 1938 gezeigt. Diese stand an der Herzog-Max-Straße und wurde Monate vor den Novemberpogromen auf Anordnung des bayerischen Innenministeriums zerstört. Auf dem Grundstück wurde ein Parkplatz angelegt. Dieser Abriss, so erklärten Löw und Wünschmann, habe die Pogromnacht vorweggenommen.

Alan E. Steinweis, Georg Elsers Attentatsversuch auf Hitler im Kontext des Novemberpogroms
In den Kontext des Novemberpogroms 1938 stellte Alan E. Steinweis, Historiker und Professor an der University of Vermont, auch das gescheiterte Attentat Georg Elsers auf Hitler im darauffolgenden Jahr. Am 8. November 1939 hielt Hitler eine Rede im Münchner Bürgerbräukeller, in der er versucht habe, die öffentliche Meinung gegen den Kriegsgegner Großbritannien einzuschwören. Wenige Minuten, nachdem er das Brauhaus verlassen hatte, explodierte eine selbstgebastelte Bombe des gelernten Kunstschreiners Georg Elser. Dieser wurde noch am gleichen Tag beim Versuch, in die Schweiz zu flüchten, gefasst. Gerüchte und die NS-Propagandamaschinerie machten, so Steinweis, sowohl den britischen Geheimdienst, "die Juden" als auch (ehemalige) innerparteiliche Gegner Hitlers als Attentäter aus. Dies habe auch nach der Bekanntgabe von Elsers Verhaftung und seinem unter Folter erzwungenen Geständnis nicht völlig aufgehört. So titelte die Deutsche Allgemeine Zeitung bei ihrer Suche nach Hintermännern: "Der Münchner Attentäter verhaftet. Georg Elser der Mörder, Intelligence Service der Auftraggeber, Otto Strasser der Organisator" – obwohl die Ermittlungsbehörden gewusst hätten, dass Elser allein handelte. Ein Einzeltäter, der ein fast erfolgreiches Attentat auf Hitler verübt hatte, wäre allerdings ein "schlechtes Narrativ" gewesen, so Steinweis.

Elser selbst, 1903 geboren, sei nicht dogmatisch gewesen, erklärte Steinweis. Er war kein KPD-Mitglied, aber deren Wähler und Teil des Rotfrontkämpferbundes. Noch kurz vor Kriegsende, am 9. April 1945, wurde Elser im KZ Dachau ermordet. Zu seinen Motiven für den Attentatsversuch zähle man unter anderem die generelle Unterdrückung durch das NS-Regime, besonders die Unterdrückung der Arbeiterklasse und die Angriffe auf die Kirche(n) und die Religionsfreiheit. In seinen Vernehmungsprotokollen durch die Gestapo sei kein Motiv genannt, das sich explizit auf den Antisemitismus des Regimes oder die Verfolgung der Jüdinnen und Juden beziehe. Der Gestapo gegenüber habe Elser den Entschluss für die Tat bereits vor dem Novemberpogrom datiert. Ein Jugendfreund Elsers, Eugen Rau, habe Jahrzehnte nach der Bombenexplosion berichtet, sich an ein Gespräch mit Elser zu erinnern, in dem dieser sich gegen die NS-Verfolgung von Jüdinnen und Juden gewandt habe. Doch selbst wenn dies stimme, so sei nicht klar, ob dies sein ausschlaggebendes Motiv war, ordnete Steinweis ein. Dass in der erhaltenen Zusammenfassung des Verhörs die Frage nach anti-antisemitischen Motiven Elsers nicht enthalten sei, bedeute zugleich aber auch nicht, dass dieses Thema nicht besprochen wurde, hielt Steinweis in seinen Überlegungen fest.

Fussnoten

Hendrik Gunz absolvierte seinen B.A. in Geschichte und Neuere Deutsche Literatur in Freiburg, studiert Interdisziplinäre Antisemitismusforschung in Berlin und Bildungswissenschaft in Hagen. Seit 2016 arbeitet er als freier Mitarbeiter u. a. für die bpb.