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Erster Tag: Montag, 4. November 2019 | Lessons & Legacies | bpb.de

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Erster Tag: Montag, 4. November 2019

Hendrik Gunz

/ 4 Minuten zu lesen

Nach den Grußworten der Organisatoren der internationalen Konferenz, hielt Natalia Aleksiun vom Touro College ihren Eröffnungsvortrag mit dem Titel: "In Extremis: Family Networks in the Holocaust".

Impressionen vom ersten Veranstaltungstag

Impressionen: Tag 1

(© bpb/BILDKRAFTWERK) (© bpb/BILDKRAFTWERK) (© bpb/BILDKRAFTWERK) (© bpb/BILDKRAFTWERK) (© bpb/BILDKRAFTWERK) (© bpb/BILDKRAFTWERK) (© bpb/BILDKRAFTWERK) (© bpb/BILDKRAFTWERK) (© bpb/BILDKRAFTWERK)

Auftakt

Frank Bajohr, Begrüßung
Sichtlich amüsiert teilte Frank Bajohr, Leiter des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte München – Berlin (IfZ), seine Vorstellung, wie schockiert Hitler und seine Schergen in der Hölle wohl darüber wären, dass mit "Lessons and Legacies" die weltweit größte Holocaust-Konferenz ausgerechnet in "ihrem" München stattfinden würde. Die vormalige "Hauptstadt der Bewegung" habe sich zu einem Zentrum der deutschen Holocaustforschung entwickelt, und man freue sich, dass die Konferenz nun erstmals dort abgehalten werde, wo der Holocaust stattfand: in Europa. Über 700 Forscherinnen und Forscher hatten sich, so Bajohr Interner Link: (zum Experteninterview), für eine Teilnahme beworben, sodass die ursprüngliche Kapazität erhöht werden musste.

Thomas Krüger, Grußwort
Politische Problemlagen, die Bedeutung von historisch-politischer Bildung und ihr Zusammenhang mit wissenschaftlicher Forschung standen im Mittelpunkt des Grußwortes von Thomas Krüger, dem Präsidenten der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Er erinnerte an den gescheiterten Mordversuch an der Yom Kippur feiernden jüdischen Gemeinde in Halle an der Saale und an die darauffolgenden Morde an einer Passantin und dem Kunden eines Imbisses. Die Mutter des Täters sagte, so zitierte Krüger, ihr Sohn habe "nichts gegen Juden in dem Sinne", sondern gegen jene Menschen, "die hinter der finanziellen Macht" stünden. "Wer hat das nicht?", habe sie anschließend rhetorisch gefragt. Krüger schloss daraus, dass Antisemitismus und Rassismus noch tief in der deutschen Gesellschaft verankert seien. Dies müsse auch die historisch-politische Bildung angehen. Die Konferenz biete daher eine gute Gelegenheit, von politischen Bildnerinnen und Bildnern weltweit zu lernen. Für eine differenzierte Bildung sei ihre enge Anbindung an die Forschung sehr wichtig. Die Forschung liefere ein immer detaillierteres und nuancierteres Bild der Dynamiken und Prozesse des Holocaust. Neue Quellen, neue Fragen und neue Perspektiven erweiterten den Wissenstand, was wiederum in die Bildung hineinwirke. So hieß Krüger die Tagungsteilnehmenden willkommen und bedankte sich bei den Organisatorinnen und Organisatoren.

Andreas Wirsching, Grußwort
Der Direktor des IfZ, Andreas Wirsching, erinnerte daran, dass nicht an solche Großveranstaltungen zu denken gewesen sei, als das Zentrum für Holocaust-Studien 2013 eingerichtet wurde. Kaum ein anderer historischer Gegenstand werde so sehr von internationalen Forscherinnen und Forschern untersucht wie der Holocaust. Die Holocaustforschung werde folglich detaillierter und zeige nuancierter die Auswirkungen des Holocaust auf die Menschen. Auch würden die Geschichten von Opfern sowie Täterinnen und Tätern immer weiter miteinander verschränkt. Dabei sei in Deutschland, dem Land der Täterinnen und Täter, explizite Holocaustforschung lange unterrepräsentiert gewesen. Wirsching dankte abschließend dem Organisationsteam und allen, die die Tagung ermöglicht hatten.

Eröffnungsvortrag

Natalia Aleksiun, In Extremis. Familiennetzwerke im Holocaust
Nach einer kurzen Einführung in ihre "beeindruckende Forschungsbiografie" durch Dorota Glowacka, Professorin an der University of Halifax, begann Natalia Aleksiun mit ihrem Vortrag. Die Professorin für Moderne Jüdische Geschichte am New Yorker Touro College fragte darin nach der Bedeutung von Familien und familienähnlichen Netzwerken für das Überleben im Holocaust.

Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941, dem Einsetzen der Morde durch die Einsatzgruppen und den beginnenden Deportationen ins Vernichtungslager Belzec 1942 hatten viele Jüdinnen und Juden im Rahmen ihrer Handlungsmöglichkeiten begonnen, sich zu verstecken. Obwohl diese Menschen häufig mit ihren Familien, aber auch mit Fremden untertauchten, sei der Charakter dieser Beziehungen bisher wenig in der Forschung beachtet worden. Dabei werde den Beziehungen zu biologischen Familienmitgliedern und zu anderen in den Selbstzeugnissen von Überlebenden eine große Bedeutung zugeschrieben. Auffallend sei dabei, dass die Art der Beziehungen in den Quellen nur wenig beschrieben werde, so Aleksiun. Zum Teil finde sich darin nicht einmal der Name der kurzzeitigen Gefährtin oder des Gefährten. Es sei möglich, dass die Autorinnen und Autoren um den Tod des Partners oder der Partnerin fürchteten.

Familiären Netzwerken kam eine große Bedeutung zu. Ihre Mitglieder standen vor der Frage, ob sie sich verteilen oder gemeinsam verstecken sollten. Wenn Nicht-Familienangehörige in Verstecken aufgenommen wurden, war fraglich, ob und wie diese in die familiären Strukturen integriert würden – diese Bindung sei häufig enger geworden, je mehr die Familien zerrissen wurden. Auch in den nationalsozialistischen Lagern wurden Familien getrennt, und auch dort habe es enge Bindungen mit Nicht-Familienmitgliedern gegeben. Im Lagersystem und im Untergrund reichten die Beziehungen von Ziehelternschaft über geschwisterliche bis hin zu eheähnlichen Beziehungen. Manche solcher Beziehungen wurden nach dem Krieg fortgeführt, andere endeten. So hätten manche Zieheltern weniger aufgrund einer persönlichen Bindung zum Kind als aus dem Gefühl einer allgemeinen Pflicht heraus geholfen, erklärte Aleksiun. Somit hätten weder familiäre noch emotionale Bande bestanden. Für jüdische Frauen, die aufs Land geflohen waren, konnte das Eingehen einer eheähnlichen Beziehung strategische Vorteile haben. Von der Zusammenlegung von Ressourcen und emotionalem wie physischem Beistand hätten Frauen und Männer sicherlich profitiert. Diese Mikrogeschichte von Familien und familienähnlichen Strukturen zu untersuchen, so kam Aleksiun zum Schluss, sei sowohl für die Alltagsgeschichte als auch für die Geschichte der Emotionen ein vielversprechender Ansatz.

Fussnoten

Hendrik Gunz absolvierte seinen B.A. in Geschichte und Neuere Deutsche Literatur in Freiburg, studiert Interdisziplinäre Antisemitismusforschung in Berlin und Bildungswissenschaft in Hagen. Seit 2016 arbeitet er als freier Mitarbeiter u. a. für die bpb.