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Politische Bildung in der "Zeitenwende": Was kann politische Bildung in Zeiten des Krieges leisten? | 18. Bensberger Gespräche 2023 | bpb.de

18. Bensberger Gespräche 2023 Einführende Bemerkungen Eröffnungsvortrag: Gedanken zum Verständnis und zu den Auswirkungen des Ukrainekrieges Podiumsdiskussion: Von der Friedens- zur Konfliktordnung? Perspektiven für eine (neue) europäische Sicherheitsstruktur Vortrag und Bilder des (Foto-)Journalisten Till Mayer Workshop 1: Die europäische "Zeitenwende" aus der Sicht Ostmitteleuropas Workshop 2: NATO, EU und die transatlantische Perspektive Workshop 3: Verteidigungs- und Wertediskussion in Deutschland: Dienen wofür? Workshop 4: Audiovisuelle Materialien für die politische Bildung Workshop 5: Der Schutz kritischer Infrastrukturen Workshop 6: Die Sicht Russlands Die Rolle von Desinformation und "Fake News" Politische Bildung in der "Zeitenwende": Was kann politische Bildung in Zeiten des Krieges leisten?

Politische Bildung in der "Zeitenwende": Was kann politische Bildung in Zeiten des Krieges leisten? Podiumsdiskussion

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Praktiker aus der politischen Bildung und eine Analystin diskutierten über die neuen Herausforderungen und Aufgaben der politischen Bildung in Zeiten des Krieges in der Ukraine.

Joachim Bussiek, Direktor der Akademie Schwerin e.V., berichtet, dass seit Februar 2022 die meisten Veranstaltungen seiner Akademie, auch mit Bundeswehrangehörigen, den Angriffskrieg, seine Ursachen und Auswirkungen zum Inhalt haben. Andere Themen seien dagegen in den Hintergrund gerückt. (© Bundeswehr/Hunold)

Die russische Invasion in der Ukraine hat die Arbeit aller Diskussionsteilnehmenden stark beeinflusst. Joachim Bussiek berichtete, dass seit Februar 2022 die meisten Veranstaltungen seiner Akademie, der Akademie Schwerin e.V., auch mit Bundeswehrangehörigen, den Angriffskrieg, seine Ursachen und Auswirkungen zum Inhalt haben. Andere Themen seien weitgehend verschwunden. In Mecklenburg-Vorpommern seien weite Teile der Gesellschaft empfänglich für russische Narrative, und auch für andere Narrative, die den Staat und seine Kräfte delegitimierten. Es sei wichtig, dass man mit diesen Menschen in Dialog bleibe oder komme und sich positioniere. Er nehme eine verstärkte Polarisierung wahr: sehr schnell werde in Freund und Feind unterschieden, nach dem Motto: "Entweder bist du meiner Meinung oder du bist mein Gegner". Auch in Seminargruppen gebe es Verwerfungen und Konflikte. Es gebe Situationen, in denen einzelne Teilnehmende ihre zum Teil kruden Themen setzen und Unfrieden stiften wollten. Es sei in solchen Situationen wichtig, keine falschen Behauptungen stehen zu lassen, auf Fakten zu bestehen und wertegebunden zu agieren.

Oberstleutnant Dr. Andreas Wolfrum vom Zentrum Innere Führung der Bundeswehr sagte, dass auch die politische Bildung in Fortbildungslehrgängen der Bundeswehr sich nun vor allem um den Krieg, die Interessen und Positionen der Parteien und völkerrechtliche Grundlagen drehe. Seit 2021 bietet sein Mobiles Trainingsteam Ganztagesseminare zum Thema Desinformation an. Dieses wurde entwickelt als Reaktion auf die zunehmende Verbreitung von Verschwörungserzählungen zu den Themen Corona und Impfen. Nun hätten sich dieselben Akteure den russischen Desinformationskampagnen zugewandt. Das Seminarkonzept arbeitet mit dem Online-Abstimmungstool Mentimeter und die Teilnehmenden können anonym über den Fortgang und die Vertiefung bestimmter Themen abstimmen sowie ihre Meinung äußern. Dies sei wichtig, weil dadurch alle Teilnehmenden unabhängig vom Dienstgrad die gleiche Stimme haben und weil so auch Dinge geäußert würden, die man in anderen Settings nicht sage.

Die Analystin Julia Smirnova vom Institute for Strategic Dialogue berichtete, dass der Peak russischer Desinformation bereits vor der Invasion begonnen hätte. Die russische Desinformation und Propaganda sei mit dem Krieg zunehmend aggressiver geworden und widme sich verstärkt europäischen und anderen Ländern. Man habe neue Strukturen aufgebaut, vermehrt tauchten auch andere, nicht-staatliche Akteure auf. Die Narrative hätten sich gewandelt. Wurde zunächst die "Spezialoperation" gerechtfertigt mit der nötigen "Entnazifizierung" der Ukraine, würden seit einigen Monaten zunehmend ukrainische Soldaten "als Satanisten, als Inbegriff des Bösen" dargestellt. Je länger der Krieg dauere, desto mehr würde er nicht als Krieg gegen die Ukraine, sondern gegen die NATO dargestellt, bei dem der russische Staat sich selbst verteidige. Das Bewusstsein in den Medien, bei Politik und Bevölkerung in Deutschland für die Desinformationskampagnen sei zwar 2022 geschärft worden. Es sei dennoch wichtig, Bildungsangebote in Schulen und für Erwachsene zu schaffen, zum Beispiel zu kritischer Medienkompetenz. Junge Menschen informierten sich nicht mehr primär über klassische Medien und könnten oft den Unterschied zwischen faktenbasiertem Qualitätsjournalismus und Social Media Beiträgen nicht einschätzen.

Jugendoffizier Hauptmann Jean-Pascal Östreich nimmt bei Jugendlichen ein stärkeres Interesse an Sicherheitspolitik und internationalen Beziehungen wahr. Jugendliche informierten sich vor allem auf TikTok und Instagram. Dies greife er auch in seinen Vorträgen an Schulen auf. (© Bundeswehr/Hunold)

Jugendoffizier Hauptmann Jean-Pascal Östreich sprach über seine Bildungsangebote an Schulen, in denen es seit dem Februar 2022 vor allem um Themen rund um den Krieg in der Ukraine gehe. Er nehme bei den Jugendlichen ein stärkeres Interesse an Sicherheitspolitik und internationalen Beziehungen wahr. Der Wissensstand sei jedoch sehr heterogen. Jugendliche informierten sich vor allem auf TikTok und Instagram. Dies greife er auch in seinen Vorträgen auf, etwa mit Videobeispielen, in denen Analysten die Echtheit von Videos prüften. Er wolle die Jugendlichen dafür sensibilisieren, wie TikTok funktioniere. Die Bundeswehr habe keinen offiziellen TikTok-Kanal. Es sei ein Dilemma, denn die Jugendlichen seien nun einmal vor allem in Social Media unterwegs, das Community Management und die rechtliche Seite für staatliche Stellen aber sehr komplex und schwierig. Es gebe jedoch Kollegen, die privat auf TikTok unterwegs seien und Content veröffentlichten. Beispielhaft wurde ein solches TikTok-Video über die Geschichte der Bundeswehr gezeigt.

Joachim Bussiek bekräftigte, dass die Methoden der politischen Bildung sich in den vergangenen Jahren stark gewandelt hätten hin zu mehr digitalen und interaktiven Formaten wie Online-Seminaren oder Podcasts. Die klassische außerschulische politische Bildung erreiche nicht die Breite der Bevölkerung, vielleicht müsse dies aber auch nicht der Anspruch sein, man könne sich auch auf Multiplikator/-innen fokussieren. Politische Bildung sei ein Prozess, der Zeit brauche und Entschleunigung. Ob man Inhalte nun digital oder analog transportiere – der eigentliche Bildungsprozess vertrage keine beliebige Verkürzung. Für Bussiek ist das Ausdiskutieren verschiedener Meinungen unter einer guten Moderation sehr wichtig. Er plädierte zudem für eine langfristige Stärkung der Ressourcen der zivilgesellschaftlichen politischen Bildungsarbeit in Deutschland. Dies sei auch im Kontext der Zeitenwende von großer Bedeutung.

Auch Oberstleutnant Dr. Andreas Wolfrum ist davon überzeugt, dass politische Bildung vom persönlichen Austausch lebe und viel mit Sicherheit, Vertrauen und ehrlichem Interesse aneinander zu tun habe. Er betonte die Bedeutung einer demokratischen Streitkultur, wenn es um gesellschaftliche Resilienz und die Herausforderungen der Zukunft gehe.

Befragt nach Möglichkeiten der Prävention, "vor die Welle" der Desinformation zu kommen, antwortete Julia Smirnova, dass dies eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sei. Für die Bildungsarbeit sei es aus ihrer Sicht wichtig, dass sie nicht ausschließlich unter Sicherheitsaspekten stattfinden dürfe, auch wenn diese derzeit im allgemeinen Fokus stünden. Es sei ebenso wichtig, sich beispielsweise mit Werten und mit Themen wie Menschenrechten oder Meinungsfreiheit auseinanderzusetzen.

In der Diskussion wurden viele Aspekte vertieft und vor allem verschiedene Perspektiven auf die Rolle und die zukünftigen Aufgaben der politischen Bildung dargelegt – angesichts einer hybriden Kriegsführung, zu der auch die Beeinflussung der öffentlichen Meinung gehört. Auch die Themen wehrhafte Demokratie und die Rolle der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in der Landes- und Bündnisverteidigung kamen dabei zur Sprache.

Quellen / Literatur

Dokumentation: Katharina Reinhold

Fussnoten

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