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Workshop 1: Die europäische "Zeitenwende" aus der Sicht Ostmitteleuropas | 18. Bensberger Gespräche 2023 | bpb.de

18. Bensberger Gespräche 2023 Einführende Bemerkungen Eröffnungsvortrag: Gedanken zum Verständnis und zu den Auswirkungen des Ukrainekrieges Podiumsdiskussion: Von der Friedens- zur Konfliktordnung? Perspektiven für eine (neue) europäische Sicherheitsstruktur Vortrag und Bilder des (Foto-)Journalisten Till Mayer Workshop 1: Die europäische "Zeitenwende" aus der Sicht Ostmitteleuropas Workshop 2: NATO, EU und die transatlantische Perspektive Workshop 3: Verteidigungs- und Wertediskussion in Deutschland: Dienen wofür? Workshop 4: Audiovisuelle Materialien für die politische Bildung Workshop 5: Der Schutz kritischer Infrastrukturen Workshop 6: Die Sicht Russlands Die Rolle von Desinformation und "Fake News" Politische Bildung in der "Zeitenwende": Was kann politische Bildung in Zeiten des Krieges leisten?

Workshop 1: Die europäische "Zeitenwende" aus der Sicht Ostmitteleuropas Olivia Kortas, freie Journalistin.

/ 3 Minuten zu lesen

Die Journalistin Olivia Kortas gab im Workshop Einblicke in die Wahrnehmung des russischen Angriffs auf die Ukraine und der deutschen Reaktionen aus der Sicht ostmitteleuropäischer Länder, vor allem Polens.

Die Journalistin Olivia Kortas berichtete davon, dass Ängste vor Russland und Warnungen aus mittel- und osteuropäischen Ländern nicht ernstgenommen worden seien. Auch in energiestrategischen Gesprächen seien warnende Stimmen beispielsweise von polnischen Expertinnen und Experten übergangen worden. Besonders kritisch sehe man die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands, bei denen es insbesondere um Gas- und Energieverträge mit Russland gegangen sei. (© Bundeswehr/Caldas Hofmann)

Olivia Kortas wuchs als Kind polnischer Eltern in Deutschland auf. Als freie Journalistin berichtet sie aus verschiedenen Regionen der Welt. Von 2018 bis 2021 lebte und arbeitete sie in Warschau, und im Jahr 2022 hielt sie sich insgesamt 11 Wochen an der ukrainisch-polnischen Grenze und in der Ukraine auf und berichtete von dort.

In vielen mittel- und osteuropäischen Ländern herrsche der Eindruck vor, dass Deutschland sich nie wirklich für die Ukraine interessiert habe, sondern nur für Russland, und dass Polen, Tschechien, die Slowakei, die baltischen Staaten usw. als eine Art Pufferzone betrachtet wurden. Die Ängste vor Russland und die Warnungen aus diesen Ländern seien nicht ernstgenommen worden. Auch in energiestrategischen Gesprächen seien warnende Stimmen von polnischen Expertinnen und Experten übergangen worden. Besonders kritisch sehe man die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands, bei denen es insbesondere um Gas- und Energieverträge mit Russland gegangen sei. Kortas belegte dies mit Zitaten aus polnischen und tschechischen Medienberichten.

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hätten 80 Prozent der Menschen in Polen Angst gehabt, dass auch das Territorium ihres Landes angegriffen werde. Heute sehe Polen für sich selbst die historische Chance und Verpflichtung, eine Führungsrolle in einer starken Koalition von Ländern zu übernehmen, die die Ukraine auch mit der Lieferung von Waffen unterstützen. Es werde Druck auf Deutschland ausgeübt, etwa in Bezug auf die Lieferung von Panzern. Das Misstrauen infolge der deutschen Haltung werde noch Jahrzehnte in der Region verbleiben, so zitiert Kortas verschiedene Medien.

Der Krieg habe in den Ländern Mittel- und Osteuropas viele Änderungen mit sich gebracht. Viele Geflüchtete aus der Ukraine wurden aufgenommen, besonders in Polen. Dies führe zu einer angespannten finanziellen Lage, denn etwa das polnische Bildungs- und Gesundheitssystem seien schon vorher unterfinanziert gewesen. Menschen in baltischen Ländern und in Polen spürten angesichts des russischen Angriffs ein ähnliches Bedrohungsgefühl und Ängste vor einer Ausweitung des Krieges. In der Slowakei und Ungarn gebe es starke innenpolitische Zerwürfnisse, die Menschen und Parteien seien teilweise auch prorussisch eingestellt.

Viele Staaten rüsteten militärisch auf. Polen etwa habe Rüstungsdeals mit Südkorea und den USA abgeschlossen, so Kortas. Dabei gebe es kaum politische Diskussionen oder Kritik an den Waffenkäufen. Die Entscheidungen würden zügig gefällt. Woher das Geld kommen solle, sei jedoch unklar.

Auch die Energiesicherheit spiele in den mittelosteuropäischen Staaten eine wichtige Rolle. Polen habe in den vergangenen Jahren auf eine Unabhängigkeit von russischen Energieträgern wie Gas oder Kohle gesetzt und Verträge mit Norwegen abgeschlossen, LNG-Terminals gebaut, zudem würden jetzt Atomkraftwerke gebaut. Die deutsche Energiepolitik werde von MOE-Staaten häufig als arrogant empfunden, auch jetzt in der Krise: Deutschland zahle viel und treibe so die Preise für Energie auch für andere in die Höhe. Die staatlichen und privaten Haushalte leiden sehr unter den hohen Preisen.

Der Blick auf die Rolle Deutschlands sei insgesamt sehr kritisch, es gebe gerade in Sozialen Medien vielfach eine Art "Deutschland-Bashing".

Kortas warf einen Blick auf die bevorstehenden Parlamentswahlen in Polen Ende 2023 – der Ausgang werde wahrscheinlich sehr knapp. Inflation, Energiesicherheit, Justizreform, Gesundheitsversorgung und der Krieg in der Ukraine seien wichtige Themen. Bei den letzten Wahlen hätten die Vertreter der PiS-Partei zum Ende des Wahlkampfs bei einigen Teilen der Bevölkerung stark mit anti-deutschen Ressentiments und Forderungen nach Reparationszahlungen gepunktet. Dies sei auch diesmal wieder möglich. Das polnische öffentlich-rechtliche Fernsehen sei "zu einem Propagandakanal geworden", so Kortas.

Insgesamt werde in Polen die öffentliche Debatte in Deutschland sehr genau verfolgt, viele Medienberichte würden umfangreich zitiert. Andersherum sei es leider nicht so. Das Interesse am Nachbarland sei einfach nicht so groß, und leider blieben oft negative Schlagzeilen hängen, etwa über das Justizsystem, antidemokratische Bestrebungen oder erzkonservative Jugendliche.

Einige Workshopteilnehmende berichteten von verschlechterten deutsch-polnischen Beziehungen anhand verschiedener Beispiele, so seien zum Beispiel einige polnische Archive für Ahnenforschung nicht mehr zugänglich.

Kortas sieht in der jetzigen Situation jedoch auch eine Chance, dass Polen und Deutschland sich als Partner auf Augenhöhe begegnen.

Quellen / Literatur

Dokumentation: Katharina Reinhold

Fussnoten

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